Im Licht der Sonne - Nora Roberts - E-Book

Im Licht der Sonne E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Ein ruhiges Leben auf ihrer geliebten Insel der drei Schwestern ist alles, was die temperamentvolle Ripley Todd sich wünscht. Nachts aber holen ihre Träume sie ein. Als eines Tages der Wissenschaftler MacAllister Booke auf die Insel kommt, findet er heraus, dass Ripleys Träume der Schlüssel für die Geheimnisse der Insel sind. Doch obwohl beide wie magisch voneinander angezogen sind, muss sie ihm ja nicht gleich die Wahrheit – und ihr Herz – anvertrauen. Oder doch?

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Seitenzahl: 594

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Buch

Alles, was sich Ripley Todd wünscht, ist ein ruhiges, friedliches Leben auf ihrer geliebten Insel Three Sisters. Zusammen mit ihrem Bruder Zack, dem Sheriff der Insel, sorgt sie als seine Stellvertreterin für die gewünschte Ruhe und Ordnung auf der Insel. Doch in der Nacht kommen die Träume und mit ihnen das Wissen um eine magische Macht, die sie ängstigt und zutiefst verwirrt und die sie mit aller Gewalt ablehnt. Eines Tages taucht MacAllister Booke auf der Insel auf, ein Spezialist für unerklärliche Phänomene. Er will den Gerüchten über einen geheimnisvollen Zauber nachgehen, der die Three Sisters seit Jahrhunderten in Bann hält. Als er Ripley begegnet, ist er sofort fasziniert, denn anscheinend hält sie nicht nur den Schlüssel zur Wahrheit in der Hand, sondern sie ist auch die interessanteste, widersprüchlichste Frau, der er je begegnet ist. Auch Ripley ist angezogen von diesem ernsthaften, eindringlichen Mann, der sie so reizt und zum Lachen bringt wie kein anderer. Aber kann sie ihm ihr Geheimnis, kann sie ihm die Wahrheit – und ihre Liebe – anvertrauen?

Autorin

Nora Roberts schrieb vor rund zwanzig Jahren ihren ersten Roman und hoffte damals inständig, veröffentlicht zu werden. Heute, so hat man hochgerechnet, wird weltweit alle fünf Minuten rund um die Uhr ein Buch von ihr verkauft! Damit avanciert sie zu einer der meist verkauften Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J.D. Robb schreibt sie mit ebenso großem Erfolg auch Kriminalromane. Im Licht der Sonne ist der zweite Roman in Nora Roberts großer Insel-Trilogie.

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorinWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20Copyright

Für alle meine Schwestern –nicht blutsverwandt, sondern seelenverwandt.Da liegt die Magie.

Wie Schatten wandelbar, wie Träume kurz Schnell wie der Blitz, der in geschwärzter Nacht Himmel und Erd’ in einem Wink entfaltet: Doch eh’ ein Mensch vermag zu sagen »Schaut!«, Schlingt gierig ihn die Finsternis hinab. – So schnell verdunkelt sich des Glückes Schein.

William Shakespeare »Ein Sommernachtstraum«

Prolog

Three Sisters IslandSeptember 1699

Sie rief das Unwetter herbei.

Den Sturmwind, die grellen Blitze, das Toben des Meeres, das sowohl Kerker als auch Schutz war. Sie rief ihre inneren Kräfte an und jene anderen, die außerhalb ihres Ichs existierten. Die Mächte des Guten und die Mächte der Finsternis.

Schlank und hoch gewachsen, ihr Umhang wie Vogelschwingen hinter ihr flatternd, stand sie allein an dem sturmumtosten Strand. Allein mit ihrem Zorn und ihrem Schmerz. Und ihrer Macht. Es war diese Macht, die sie jetzt erfüllte, die in wilden, heftigen Stößen in sie eindrang wie ein wahnsinnig gewordener Liebhaber.

Und vielleicht war es ja Wahnsinn.

Sie hatte Ehemann und Kinder verlassen, um an diesen Ort zu kommen, hatte sie für eine Weile in einen Zauberschlaf versetzt, der sie behüten und in gnädiger Ahnungslosigkeit lassen würde. Und wenn sie erst einmal getan hatte, was zu tun sie hergekommen war, würde sie nie wieder zu ihnen zurückkehren können. Sie würde nie wieder ihre innig geliebten Gesichter in den Händen halten dürfen.

Ihr Ehemann würde um sie trauern, ihre Kinder würden sie schmerzlich vermissen. Aber sie konnte nicht mehr zu ihnen zurückkehren. Und sie konnte und würde nicht von dem Weg abweichen, den sie gewählt hatte.

Die Schuld musste gesühnt werden. Und am Ende würde der Gerechtigkeit, wie hart und schonungslos sie auch sein mochte, Genüge getan sein.

Sie stand hoch aufgerichtet da, die Arme dem brausenden Sturm entgegengestreckt, den sie heraufbeschworen hatte. Ihr Haar flatterte wild und ungebändigt um ihren Kopf, lange dunkle Bänder, die wie Peitschenschnüre nach der Nacht schlugen.

»Das darfst du nicht!«

Eine Frau erschien neben ihr, eine Gestalt, die so hell in dem Unwetter zu leuchten schien wie das Feuer, nach dem sie benannt worden war. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen von einem Ausdruck verdunkelt, den man als Furcht hätte deuten können.

»Es hat bereits angefangen.«

»Mach der Sache ein Ende, sofort. Mach ihr ein Ende, Schwester, bevor es zu spät ist. Du hast kein Recht, so etwas zu tun.«

»Kein Recht?« Sie, die Erde hieß, wirbelte herum, ihre Augen blitzten. »Wer hat ein größeres Recht dazu als ich? Als sie die Unschuldigen in Salem ermordeten, verfolgten und jagten und henkten, haben wir nichts getan, um der Sache ein Ende zu machen.«

»Wenn man der einen Flut Einhalt gebietet, löst man unweigerlich eine andere aus. Das weißt du. Wir haben diesen Ort schließlich erschaffen.« Feuer breitete die Arme aus, als wollte sie die Insel umfangen, die unter dem Ansturm der entfesselten Naturgewalten erzitterte. »Für unsere Sicherheit und unser Überleben, für unsere Zunft.«

»Sicherheit? Wie kannst du jetzt von Sicherheit, von Überleben sprechen? Unsere Schwester ist tot.«

»Und ich trauere genauso tief um sie wie du.« Feuer kreuzte in einer bittenden Geste die Hände zwischen ihren Brüsten. »Mein Herz vergießt Tränen, so wie auch dein Herz Tränen vergießt. Ihre Kinder sind jetzt in unserer Obhut. Willst du sie ebenso im Stich lassen wie deine eigenen?«

Sie war von Wahnsinn erfasst; er riss an ihrem Herzen, so wie der Sturm an ihrem Haar riss. Und dennoch – obwohl sie die Macht, die sie trieb, als Wahnsinn erkannte, konnte sie sie nicht bezwingen. »Er darf nicht ungestraft davonkommen. Er darf nicht leben, wenn sie nicht mehr lebt.«

»Wenn du Schaden anrichtest, wirst du deine Gelübde gebrochen haben. Du wirst deine Macht korrumpiert und missbraucht haben, und was du in die Nacht hinausschickst, wird wieder zu dir zurückkommen, dreifach.«

»Gerechtigkeit hat ihren Preis.«

»Nicht diesen Preis. Niemals diesen Preis. Dein Ehemann wird seine Frau verlieren, deine Kinder ihre Mutter. Und ich werde noch eine geliebte Schwester verlieren. Und mehr noch – du brichst dein Wort und versündigst dich an dem, was wir sind. Unsere Schwester würde das hier nicht gewollt haben. Dies wäre nicht ihre Antwort gewesen.«

»Sie ist lieber gestorben, statt sich zu schützen. Gestorben für das, was sie ist – für das, was wir sind. Unsere Schwester hat der Macht entsagt, hat ihr abgeschworen für etwas, was sie Liebe nannte. Und es hat sie getötet.«

»Es war ihre Wahl.« Eine, die noch lange, nachdem man sie heruntergeschluckt hatte, einen bitteren Geschmack auf der Zunge hinterließ. »Und trotzdem hat sie niemandem Schaden zugefügt. Wenn du das hier tust, wenn du deine besondere Gabe auf diese böse Art missbrauchst, verdammst du dich selbst. Du verdammst uns alle.«

»Ich kann hier nicht leben, so versteckt.« Jetzt standen Tränen in ihren Augen, und in dem Wetterleuchten des Sturms brannten sie so rot wie Blut. »Ich kann mich nicht von dieser Sache abwenden. Meine Wahl. Mein Schicksal. Ich nehme sein Leben für ihres und verdamme ihn für alle Zeit.«

Und getrieben von ihrem verzweifelten Verlangen nach Vergeltung, schoss sie, die als Erde bekannt war, ihre Rache wie einen tödlichen Pfeil ab und opferte ihre Seele.

1

Three Sisters IslandJanuar 2001

Gefrorener, mit Raureif überzogener Sand knirschte unter ihren Füßen, als sie den geschwungenen Strand entlanglief. Die heranrollenden Wellen hinterließen Gischt und Blasen auf dem Sand, die in einem an zerfetzte Spitze erinnernden Muster auf der verkrusteten Oberfläche liegen blieben. Über ihr am Himmel kreischten unablässig die Möwen.

Ihre Muskeln hatten sich inzwischen erwärmt und bewegten sich bei der zweiten Meile ihres Morgenlaufs so reibungslos wie ein gut geöltes Getriebe. Sie joggte in einem schnellen und disziplinierten Tempo, und ihr Atem – rhythmische Schnaufer – bildete kleine weiße Wölkchen in der frostklaren Luft. Und brannte beim Einatmen so scharf und kalt wie Eisscherben in ihrer Lunge.

Sie fühlte sich fantastisch.

Auf dem winterlichen Strand waren keine Fußspuren außer ihren eigenen zu sehen, und ihre waren tief eingeprägt, die neuen über den alten, als sie über den in einer sanften Kurve verlaufenden Strandabschnitt hin und zurück joggte.

Wenn sie es vorgezogen hätte, ihre drei Meilen in einer geraden Linie zu laufen, hätte sie Three Sisters an ihrer breitesten Stelle von einer Seite zur anderen überqueren können.

Diese Vorstellung machte ihr immer Freude.

Die kleine Insel vor der Küste von Massachusetts gehörte ihr, komplett mit jedem Hügel, jeder Straße, jeder Klippe und jeder schmalen Bucht. Deputy Ripley Todd empfand mehr als nur Zuneigung zu Three Sisters, der Inselgemeinde und ihren Bewohnern. Sie fühlte sich für ihr Wohlergehen verantwortlich.

Sie konnte die Strahlen der aufgehenden Sonne auf den Fensterscheiben der Ladenfronten in der High Street glitzern sehen. In ein paar Stunden würden die Läden öffnen, und Menschen würden die Straßen bevölkern und ihre täglichen Besorgungen erledigen.

Im Januar gab es keine sonderlich guten Geschäfte mit Touristen zu machen, aber ein paar würden mit der Fähre vom Festland herüberkommen, um in den Läden zu stöbern, zu den Klippen hinaufzufahren und frisch angelandeten Fisch direkt von der Pier zu kaufen. Meistens jedoch waren die Inselbewohner im Winter ganz unter sich.

Der Winter war die Jahreszeit, die Ripley am liebsten mochte.

Am Ende des Strandes, wo die Sandfläche an den Hafendamm direkt unterhalb des Dorfes stieß, kehrte sie um und lief wieder über den Sand zurück. Fischkutter pflügten durch die See, die in einem blassen Eisblau schimmerte. Die Farbe des Meeres würde sich verändern, wenn das Licht intensiver wurde und der Himmel eine andere Färbung annahm. Es faszinierte Ripley immer wieder aufs Neue, wie viele Farben Wasser haben konnte.

Sie sah Carl Maceys Boot, und eine Gestalt im Heck, so winzig wie eine Spielzeugfigur, hob grüßend die Hand. Ripley winkte zurück und joggte weiter. Bei weniger als dreitausend Insulanern, die das ganze Jahr über auf Three Sisters wohnten, kannte praktisch jeder jeden.

Sie verlangsamte ihr Tempo ein bisschen, nicht nur, um sich abzukühlen, sondern auch, um die Einsamkeit noch etwas zu verlängern. Sie nahm oft Lucy, den Hund ihres Bruders, mit, wenn sie morgens joggte, aber an diesem Morgen war Ripley allein aus dem Haus geschlüpft.

Alleinsein war noch etwas, was sie ganz besonders mochte. Und sie hatte einen klaren Kopf bekommen wollen. Es gab eine ganze Menge, worüber sie nachdenken musste. Über einiges davon wollte sie im Moment lieber nicht nachgrübeln, deshalb schob sie jene Ärgernisse und Probleme erst einmal beiseite. Es gab jedoch eine Sache, mit der sie sich unbedingt befassen musste, obwohl sie nicht direkt ein Problem war. Man konnte etwas, was einen eigentlich glücklich machte, wohl kaum als Problem bezeichnen.

Ihr Bruder war gerade aus den Flitterwochen zurückgekehrt, und nichts hätte Ripley froher stimmen können, als zu sehen, wie glücklich er und Nell miteinander waren. Nach allem, was sie durchgemacht hatten und was es sie beinahe gekostet hätte, war es die reinste Befriedigung, mitzuerleben, wie wohl sich die beiden in dem Haus fühlten, in dem Ripley und Zack aufgewachsen waren.

Und im Laufe der vergangenen Monate, seit dem Sommer, als Nells Flucht vor der Angst schließlich auf der Insel geendet hatte, waren sie und Ripley richtige Freundinnen geworden. Es war wirklich eine Freude zu sehen, wie Nell seitdem aufgeblüht war und sich nicht mehr so leicht unterkriegen ließ.

Aber abgesehen von all diesem gefühlsduseligen Kram, dachte Ripley, gibt es leider ein kleines Haar in der Suppe. Und dieses störende Haar hieß Ripley Karen Todd.

Jungverheiratete sollten ihr Liebesnest nicht mit der Schwester des Ehemannes teilen müssen.

Vor der Hochzeit hatte Ripley überhaupt keinen Gedanken an die Wohnsituation verschwendet, und selbst als die beiden für eine Woche auf die Bermudas geflogen waren und sie ihnen zum Abschied zugewinkt hatte, hatte sie das Problem noch nicht gesehen.

Aber als Nell und Zack zurückgekommen waren, ganz strahlendes Flitterwöchnerglück, hatte Ripley schlagartig begriffen.

Frischverheiratete brauchten ihre Ungestörtheit. Sie konnten wohl kaum heißen, spontanen Sex auf dem Wohnzimmerfußboden haben, wenn sie, Ripley, zu jeder Tages-oder Nachtzeit unvermutet ins Haus spazieren könnte. Nicht, dass einer von ihnen auch nur ein Wort darüber hätte verlauten lassen. Das würden sie auch niemals tun. Die beiden könnten sich die Brust mit »Wir sind unheimlich nette Leute«-Verdienstorden bepflastern. Und das, dachte Ripley, ist etwas, was ich mir wohl nie an mein Hemd stecken kann. Sie blieb stehen und benutzte die Felsnase am anderen Ende des Strandes als Stütze, als sie Dehnübungen machte und Waden, Achillessehnen und Quadrizeps streckte.

Ihr Körper war so schmal und voller Spannkraft wie der eines jungen Tigers. Sie war stolz darauf, stolz auf die Kontrolle, die sie über ihren Körper hatte. Als sie sich tief hinunterbeugte, fiel die Skimütze, die sie aufgesetzt hatte, in den Sand, und ihr Haar von der Farbe dunklen Eichenholzes löste sich.

Sie trug es lang, weil sie es auf diese Weise nicht regelmäßig stylen und nachschneiden lassen musste. Auch eine Form von Kontrolle, wenn auch anderer Art.

Ihre Augen waren von einem klaren Flaschengrün. Wenn sie Lust dazu hatte, fuhrwerkte sie gelegentlich mit Mascara und Eyeliner herum. Nach eingehender Selbstprüfung war sie zu dem Schluss gekommen, dass diese Augen der attraktivste Teil eines Gesichts waren, das aus schlecht zusammenpassenden Zügen und kantigen Linien bestand.

Sie hatte einen leichten Überbiss, weil sie sich immer dagegen gesträubt hatte, ihre Zahnklammer zu tragen, und die breite Stirn und die fast waagerechten dunklen Augenbrauen der Ripley’schen Seite der Familie.

Keiner hätte ihr nachsagen können, dass sie hübsch war. »Hübsch« war ein zu mildes, schlaffes Wort – und es hätte sie auf jeden Fall beleidigt. Es war ihr lieber zu wissen, dass ihr Gesicht markant und sexy war. Die Art von Gesicht, die Männer anziehen konnte. Wenn sie in Stimmung für einen Mann war.

Was ich jetzt schon seit ein paar Monaten nicht mehr gewesen bin, dachte sie versonnen.

Schuld daran waren zum Teil die Hochzeitspläne, die Urlaubspläne und die Zeit gewesen, die sie damit verbracht hatte, Zack und Nell zu helfen, das juristische Durcheinander zu entwirren, damit sie heiraten konnten. Und zum Teil, das musste sie notgedrungen zugeben, waren es auch ihr Verdruss und ihr Unbehagen, die noch von Halloween zurückgeblieben waren, als sie Taschen in ihrem Inneren aufgerissen hatte, die sie Jahre zuvor bewusst zugenäht hatte.

Was soll’s, es ging nun mal nicht anders, dachte sie jetzt. Sie hatte getan, was getan werden musste. Und sie hatte nicht die Absicht, das gleiche Theater noch einmal zu erleben. Ganz gleich, wie viele coole, süffisante Blicke Mia Devlin in ihre Richtung warf.

Der Gedanke an Mia brachte Ripley wieder zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zurück.

Mia hatte ein leer stehendes Cottage. Nell hatte es damals gemietet und war dann wieder ausgezogen, als sie Zack geheiratet hatte. Ripley hasste zwar die Vorstellung, irgendetwas mit Mia zu tun zu haben, selbst wenn es um ganz reelle Geschäfte ging, aber das gelbe Cottage war die perfekte Lösung für ihr Problem. Es war klein, einsam gelegen, einfach.

Es ist eine Lösung, die wirklich Hand und Fuß hat, entschied Ripley und stieg die ausgetretenen Holzstufen hoch, die steil vom Strand zum Haus hinaufführten. Es war zwar ärgerlich, aber praktisch. Trotzdem könnte es vielleicht nicht schaden, wenn sie erst noch ein paar Tage abwartete und die Leute wissen ließ, dass sie auf der Suche nach einem kleinen Haus war, das sie mieten konnte. Wer weiß, vielleicht fiel ihr ja etwas anderes – etwas, das nicht Mia gehörte in den Schoß.

Durch diese Möglichkeit aufgeheitert, sprang Ripley die Stufen hinauf und joggte zur hinteren Veranda.

Nell würde schon beim Backen sein, das wusste sie, genauso wie sie wusste, dass es in der Küche himmlisch duften würde. Der größte Vorteil war, dass sie nicht erst etwas zum Frühstück auftreiben musste. Es würde ganz einfach da sein. Lecker, wunderbar und auf Wunsch serviert.

Als sie nach dem Türknauf griff, sah sie Zack und Nell durch die Glasscheibe. Sie hielten sich eng umschlungen – wie Efeuranken, die sich um eine Fahnenstange gewickelt haben, dachte Ripley –, und sie waren vollkommen ineinander versunken.

»Oh, Mann!«

Sie fluchte unterdrückt, schlich leise den Weg zurück, den sie gekommen war, und betrat dann erneut die Veranda, diesmal laut stampfend und pfeifend. Es würde den beiden Zeit verschaffen, sich voneinander zu lösen, oder zumindest hoffte sie das.

Aber damit war ihr anderes Problem noch immer nicht gelöst. Ihr würde wohl am Ende doch nichts anderes übrig bleiben, als mit Mia zu verhandeln.

Sie würde die Sache lässig angehen, das Thema ganz beiläufig zur Sprache bringen. Ripley war davon überzeugt, wenn Mia wüsste, dass sie das gelbe Cottage wirklich haben wollte, würde sie sich glatt weigern, es ihr zu vermieten.

Die Frau war so grässlich halsstarrig.

Die beste Methode, um das Geschäft unter Dach und Fach zu bringen, wäre natürlich, wenn sie Nell bitten würde, sich für sie einzusetzen. Mia hatte eine Schwäche für Nell. Aber die Vorstellung, irgendjemanden zu benutzen, um ihre eigenen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, war doch zu ärgerlich. Nein, sie würde ganz einfach in Mias Buchhandlung herein schauen, so wie sie es fast jeden Tag getan hatte, seit Nell das Kochen und Backen für den Café-Trakt im Obergeschoss übernommen hatte.

Auf diese Weise könnte sie zu einem ordentlichen Lunch und zugleich zu einer neuen Bleibe kommen und damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Sie ging mit schnellen Schritten die High Street entlang, eher aus dem Grund, weil sie die Sache möglichst bald hinter sich bringen wollte, als deshalb, weil der Wind so kalt und stürmisch war. Er zerrte spielerisch an dem langen glatten Pferdeschwanz, den sie gewohnheitsmäßig durch die Öffnung auf der Rückseite ihrer Kappe gezogen hatte.

Als sie Café Book erreichte, blieb sie stehen und schürzte nachdenklich die Lippen.

Mia hatte das Schaufenster neu dekoriert – ein kleiner, mit Quasten geschmückter Hocker, eine leichte Decke aus weicher, dunkelroter Wolle und zwei hohe Kerzenleuchter mit dicken roten Kerzen waren in scheinbar willkürlicher Anordnung mit ein paar Bücherstapeln arrangiert. Sie wusste, dass Mia nie etwas auf willkürliche Art tat, und Ripley musste zugeben, dass das Ganze eine Atmosphäre einladender Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Und zugleich einen subtilen, sehr subtilen Hauch von Erotik.

Es ist kalt draußen, verkündete das Schaufenster. Kommen Sie doch herein, kaufen Sie sich ein paar Bücher und machen Sie es sich zu Hause damit gemütlich.

Was immer Ripley sonst noch über Mia sagen konnte – und sie konnte eine ganze Menge sagen –, die Frau verstand ihr Geschäft.

Sie betrat den Laden und wickelte dabei automatisch den Schal ab, den sie um den Hals geschlungen hatte. Die dunkelblauen Regale waren mit Büchern voll gestellt, geschäftlich-ordentlich aneinander gereiht. Glasvitrinen enthielten hübsche Kinkerlitzchen und interessante Staubfänger. Im Kamin flackerte eine niedrige goldene Flamme, und eine andere Wolldecke, diesmal eine blaue, war kunstvoll über einen der tiefen Sessel Marke »Versinke in mir« drapiert.

Ja, dachte Ripley, Mia hat schon was drauf, das muss man ihr lassen.

Und es gab noch mehr. Andere Regale enthielten Kerzen verschiedener Formen und Größen. Tiefe Glasschalen waren mit allen möglichen Steinen und Kristallen gefüllt, und hier und dort lagen farbenprächtige Schachteln mit Tarotkarten. Wieder alles sehr subtil, bemerkte Ripley stirnrunzelnd. Mia posaunte nicht direkt heraus, dass der Laden einer Hexe gehörte, aber sie verheimlichte diese Tatsache auch nicht. Ripley konnte sich vorstellen, dass der Neugierfaktor – sowohl bei Touristen als auch bei Einheimischen – einen nicht unbeträchtlichen Teil des jährlichen Profits der Buchhandlung ausmachte.

Wie auch immer, das ging sie nichts an.

Hinter dem langen geschnitzten Tresen beendete Lulu, Mias Assistentin, gerade ihr Telefongespräch mit einem Kunden, dann schob sie ihre silbern eingefasste Brille ein Stückchen die Nase hinunter, um Ripley über den Rand hinweg anzusehen.

»Na? Suchst du heute was für deinen Geist und für deinen Magen?«

»Nein. Ich habe reichlich genug, um meinen Geist zu beschäftigen.«

»Lies mehr und du weißt mehr.«

Ripley grinste. »Ich weiß schon alles.«

»Oder zumindest hast du dir das immer eingebildet. Wir haben ein brandneues Buch mit der heutigen Lieferung reinbekommen, das genau das Richtige für dich ist. 101 Aufreißsprüche … für sie und ihn.«

»Lu.« Ripley wackelte mit den Augenbrauen, als sie auf die Treppe zuschlenderte, die zu der oberen Verkaufsetage hinaufführte. »Ich habe das Buch selbst geschrieben.«

Lulu lachte meckernd. »So? Hab dich in letzter Zeit aber gar nicht in männlicher Gesellschaft gesehen«, rief sie Ripley nach.

»Mir ist in letzter Zeit einfach nicht nach männlicher Gesellschaft zu Mute gewesen.«

Im Obergeschoss des Ladens gab es noch mehr Bücher, mit noch mehr Schmökerecken zwischen den Regalen. Aber hier war das Café die große Attraktion. Ripley konnte bereits den köstlichen Duft der Tagessuppe riechen – irgendetwas Gehaltvolles und stark Gewürztes.

Die Morgenkundschaft, die Nells Muffins oder gefüllte Brötchen verdrückt haben würde oder welche Köstlichkeit auch immer sie sich für diesen Tag ausgedacht haben mochte, hatte inzwischen der Mittagskundschaft Platz gemacht. Ripley konnte sich vorstellen, dass die Leute an einem Tag wie diesem gerne etwas Heißes und Herzhaftes essen würden  – bevor sie sich eines von Nells sündhaft leckeren Desserts gönnten.

Sie ließ ihren Blick über die Auslage schweifen und seufzte. Windbeutel. Keiner, der auch nur halbwegs bei Verstand war, ließ delikat gefüllte Windbeutel stehen, selbst wenn die übrige Auswahl aus nicht minder verlockenden Eclairs, Obsttörtchen, Keksen und einer Torte bestand, die aus vielen Schichten purer, klebrig-süßer Sünde zusammengesetzt zu sein schien.

Die Künstlerin hinter all diesen Verlockungen tippte gerade eine Bestellung in die Kasse ein. Ihre Augen waren von einem leuchtenden und klaren Blau, ihr kurzes Haar ein goldblonder Heiligenschein um ein Gesicht, das Gesundheit und Lebensfreude ausstrahlte. Kleine Grübchen erschienen in ihren Wangen, als sie lächelte und einen Kunden zu einem der Kaffeetische winkte, die am Fenster standen.

Es gibt Leute, dachte Ripley, denen die Ehe gut bekommt. Nell Channing Todd war eine davon.

»Du siehst heute ziemlich munter und energiegeladen aus«, bemerkte Ripley.

»Ich fühle mich auch super. Der Tag verfliegt nur so. Als Tagessuppe haben wir heute Minestrone, als Sandwich …«

»Ich nehme nur die Suppe«, unterbrach Ripley sie. »Weil ich anschließend noch einen von deinen Windbeuteln brauche, um meine Glückseligkeit zu sichern. Ich werde einen Kaffee dazu trinken.«

»Kommt sofort. Ich backe für heute einen Schinken zum Abendessen«, fügte Nell hinzu. »Also stopf dich nicht mit Pizza voll, bevor du nach Hause kommst.«

»Okay. In Ordnung.« Das erinnerte Ripley wieder an die andere Sache, wegen der sie hergekommen war. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, während sie ihren Blick abermals suchend durch den Raum schweifen ließ. »Ich habe Mia heute noch nirgendwo gesehen.«

»Sie arbeitet in ihrem Büro.« Nell schöpfte Suppe in eine Tasse und legte ein knuspriges Brötchen auf den Teller, das an diesem Morgen frisch gebacken worden war. »Ich schätze, sie wird in Kürze fertig sein. Du bist heute Morgen so schnell ins Haus gekommen und wieder verschwunden, dass ich gar keine Gelegenheit gefunden habe, mit dir zu reden. Was ist los?«

»Nichts, überhaupt nichts.« Vielleicht war es ungehobelt, sich eine andere Bleibe zu suchen, ohne vorher etwas davon zu sagen. Ripley fragte sich, ob dies in den Bereich soziale Fähigkeiten und gute Umgangsformen fiel – eine schwierige Angelegenheit für sie.

»Stört es dich, wenn ich meine Suppe in der Küche verdrücke? « , fragte sie Nell. »Auf diese Weise können wir reden, während du das Futter für deine Gäste fabrizierst.«

»Klar. Komm mit.«

Nell trug das Essen in die Küche und arrangierte es, wie es ihre Angewohnheit war – auf gefällige Art auf ihrem Arbeitstisch. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

»Absolut«, versicherte ihr Ripley. »Es ist höllisch kalt draußen. Ich wette, dir und Zack tut es Leid, dass ihr nicht bis zum Frühling im Süden geblieben seid.«

»Unsere Hochzeitsreise war perfekt.« Der bloße Gedanke daran ließ Nells Gesicht vor Zufriedenheit aufleuchten. »Aber zu Hause zu sein ist noch schöner.« Sie öffnete den Kühlschrank und nahm den großen Behälter mit den Salaten des Tages heraus. »Alles, was ich mir wünsche, ist hier.« Sie stützte den Behälter auf ihrer Hüfte ab. »Zack, Familie, Freunde, mein eigenes Haus. Noch vor einem Jahr hätte ich niemals geglaubt, dass ich einmal so wie jetzt hier stehen und wissen würde, dass ein Zuhause auf mich wartet, wenn ich in ein oder zwei Stunden gehe.«

»Du hast es dir verdient.«

»Ja.« Nells Augen verdunkelten sich, und durch sie hindurch konnte Ripley den Kern der Stärke sehen – eine Stärke, die alle einschließlich Nell selbst, unterschätzt hatten. »Aber ich habe es nicht allein geschafft.« Das helle Klingeln der Tresenglocke sagte ihr, dass ein Kunde auf sie wartete. »Lass deine Suppe nicht kalt werden.«

Sie eilte aus der Küche und erhob die Stimme, als sie draußen jemanden begrüßte.

Ripley machte sich über ihre Suppe her und verdrehte genüsslich die Augen, als sie den ersten Löffel voll kostete. Sie würde sich erst einmal nur auf ihren Lunch konzentrieren und über den Rest später nachdenken.

Aber sie hatte noch kaum ein paar Löffel gegessen, als sie Nell Mias Namen rufen hörte.

»Ripley ist in der Küche. Ich glaube, sie wollte dich sprechen.«

Scheiße, Scheiße! Ripley starrte finster in ihre Suppentasse und beschäftigte sich damit, ihren Mund zu füllen.

»Ach, sieh einer an! Aber nur keine Hemmungen, fühl dich wie zu Hause.«

Mia Devlin, groß und schlank und mit einer wild gelockten roten Mähne, die über die Schultern eines langen, waldgrünen Kleides wallte, lehnte sich lässig gegen den Türrahmen. Ihr Gesicht war ein Wunderwerk, geformt aus hohen, scharf ausgeprägten Wangenknochen, vollen, fein gezeichneten Lippen, die in einem kühnen, zu ihrem Haar passenden Rot geschminkt waren, aus Haut, so glatt und cremeweiß wie Sahne, und Augen, so grau wie Hexenrauch.

Sie musterte Ripley träge aus ihren rauchgrauen Augen, eine perfekt geschwungene Braue spöttisch hochgezogen.

»Das tue ich.« Ripley aß ungerührt weiter. »Ich denke doch, um diese Tageszeit ist es Nells Küche. Wenn ich etwas anderes dächte, würde ich meine Suppe jetzt nach Fledermausgewölle oder Drachenzähnen durchsuchen.«

»Und dabei ist es doch um diese Jahreszeit so schwierig, Drachenzähne aufzutreiben. Was kann ich für Sie tun, Deputy?«

»Nichts. Aber ich habe flüchtig mit dem Gedanken gespielt, etwas für dich zu tun.«

»Da bin ich aber mal gespannt.« Mia ging zum Tisch und setzte sich. Sie trug diese hohen, nadelspitzen Pumps, die sie so liebte, wie Ripley bemerkte. Sie konnte einfach nicht begreifen, wie jemand seine unschuldigen Füße in solche Folterkammern zwängen konnte, ohne dass er mit Waffengewalt dazu gezwungen wurde.

Sie brach noch ein Stück von ihrem Brötchen ab und erklärte kauend: »Du hast einen Mieter verloren, als Nell und Zack geheiratet haben. Ich dachte mir, dass du wohl noch nicht dazu gekommen bist, irgendwas zu unternehmen, um das gelbe Cottage neu zu vermieten, und da ich vorhabe, mir eine eigene Behausung zu suchen, kann ich dir vielleicht aus der Verlegenheit helfen.«

»Ach, tatsächlich? Erzähl doch mal!« Mia, neugierig geworden brach ein Stück von Ripleys Brötchen für sich selbst ab.

»Hey, ich bezahle dafür!«

Mia ignorierte Ripleys Protest und knabberte an der Kruste. »Ist es dir zu eng in der Heimstätte geworden?«

»Es ist ein großes Haus.« Ripley zuckte betont gleichmütig mit den Achseln, dann entfernte sie den Rest ihres Brötchens hastig aus Mias Reichweite. »Aber du hast zufällig eines, das leer steht. Es ist zwar ein ziemlich popeliger Schuppen, aber ich brauche nicht viel. Ich wäre bereit, über einen Mietvertrag zu verhandeln.«

»Einen Mietvertrag wofür?« Nell kam wieder in die Küche und marschierte geradewegs zum Kühlschrank, um die Zutaten für eine Sandwich-Bestellung herauszunehmen.

»Für das gelbe Cottage«, erklärte Mia ihr. »Ripley ist auf der Suche nach einer eigenen Bleibe.«

»Oh, aber …« Nell fuhr herum. »Du hast doch eine Bleibe. Bei uns.«

»Machen wir die Sache doch nicht unnötig kompliziert«, sagte Ripley hastig. Es war zu spät, um zu bereuen, dass sie es nicht arrangiert hatte, unter vier Augen mit Mia zu sprechen. »Ich dachte nur, es würde cool sein, ein kleines Haus ganz für mich allein zu haben, und da Mia eines hat, das offenbar keine Interessenten findet …«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Mia selbstgefällig. »Weder ich noch meine Besitztümer können sich über einen Mangel an Interessenten beklagen.«

»Du willst nicht, dass ich dir einen Gefallen tue?« Ripley zuckte mit den Achseln. »Dann nicht. Mir soll’s egal sein.«

»Es ist ja so rücksichtsvoll von dir, an mich zu denken.« Mias Ton war zuckersüß. Immer ein schlechtes Zeichen. »Aber wie es der Zufall will, habe ich bereits einen neuen Mieter für das Cottage gefunden und gerade eben den Vertrag mit ihm perfekt gemacht – es ist noch keine zehn Minuten her.«

»Red kein Blech. Du bist nur oben in deinem Büro gewesen, und Nell hat nichts davon gesagt, dass jemand bei dir war.«

»Am Telefon«, fuhr Mia fort. »Mit einem Gentleman aus New York. Einem Doktor. Wir haben einen Drei-Monats-Mietvertrag für das Cottage per Fax abgeschlossen. Ich hoffe, das beruhigt dich.«

Ripley war nicht schnell genug, um ihren Ärger zu verbergen. »Wie schon gesagt, mir soll’s egal sein. Aber was zum Teufel will ein Doktor drei Monate auf Three Sisters machen? Wir haben doch schon einen Arzt auf der Insel.«

»Er ist kein Doktor der Medizin. Sondern Doktor der Philosophie – und da du so interessiert bist, er kommt hierher, um zu arbeiten. Dr. Booke ist Forscher auf dem Gebiet der Parapsychologie, und er brennt darauf, eine Zeit lang auf einer Insel zu verbringen, die von Hexen erschaffen wurde.«

»So ein Schwachsinn.«

»Immer so kurz und prägnant«, meinte Mia amüsiert und stand auf. »So, meine Arbeit hier ist getan. Ich muss jetzt gehen und sehen, ob ich noch in jemandes anderen Leben Freude bringen kann.« Sie schlenderte zur Tür und wartete einen flüchtigen Moment, bevor sie sich wieder umdrehte. »Ach, und übrigens, er wird morgen hier sein. Ich bin sicher, er würde dich liebend gerne kennen lernen, Ripley.«

»Halt mir bloß deine dämlichen Gespensterjäger vom Leib. Verdammt noch mal.« Ripley biss in ihren Windbeutel.

»Geh nicht weg, Ripley.« Nell griff nach dem Tablett mit ihrer Bestellung. »Peg kommt um fünf. Ich möchte mit dir reden.«

»Ich habe Streifendienst.«

»Warte einfach hier, bis ich zurückkomme.«

»Das blöde Weib bringt es doch glatt fertig, einem den Appetit zu verderben«, schimpfte Ripley vor sich hin, schaffte es jedoch, ihren Windbeutel zu verzehren.

Fünfzehn Minuten später stolzierte sie wieder aus der Tür, begleitet von Nell, die nicht von ihrer Seite wich.

»Wir müssen über diese Sache reden.«

»Hör mal, Nell, es ist wirklich nichts, worum man ein großes Theater machen müsste. Ich dachte nur …«

»Ja, du dachtest nur.« Nell zog sich ärgerlich ihre Wollmütze über die Ohren. »Und du hast kein Wort zu mir oder zu Zack gesagt. Ich möchte wissen, warum du plötzlich das Gefühl hast, du kannst nicht mehr in deinem eigenen Haus bleiben.«

»Okay, okay.« Ripley setzte ihre Sonnenbrille auf und zog die Schultern hoch, als sie die High Street in Richtung Polizeirevier hinuntergingen. »Ich finde einfach nur, dass Leute, die gerade geheiratet haben, ihr Privatleben und ihre Ungestörtheit brauchen.«

»Es ist ein großes Haus. Wir sind uns gegenseitig nicht im Weg. Wenn du der häusliche Typ wärst, könnte ich ja noch verstehen, dass du dich irgendwie ausgebootet fühlen würdest, weil ich so viel Zeit in der Küche verbringen muss.«

»Das ist noch die geringste meiner Sorgen.«

»Eben. Du kochst ja nicht. Ich hoffe nur, du glaubst nicht, dass es mir keinen Spaß macht, für dich zu kochen.«

»Nein, das glaube ich ganz bestimmt nicht. Und ich weiß es sehr zu schätzen, Nell, wirklich, das tue ich.«

»Ist es deshalb, weil ich so früh aufstehe?«

»Nein.«

»Weil ich eines der Gästezimmer genommen und in ein Büro für Sisters Catering verwandelt habe?«

»Nein. Herrgott noch mal, kein Mensch hat das Zimmer je benutzt.« Ripley fühlte sich, als ob sie einem systematischen Verhör unterzogen würde. »Hör zu, es hat nichts mit Kochen oder Gästezimmern oder mit deiner verwirrenden Angewohnheit zu tun, noch vor Sonnenaufgang aus dem Bett zu kriechen. Es geht einzig und allein um Sex.«

»Wie bitte?«

»Du und Zack, ihr habt Sex miteinander.«

Nell blieb abrupt stehen und legte den Kopf schief, als sie Ripleys Gesicht musterte. »Ja, allerdings. Das streite ich gar nicht ab. Tatsächlich haben wir sogar eine Menge Sex.«

»Siehst du, da hast du’s.«

»Ripley, schon bevor ich offiziell in das Haus zog, hatten Zack und ich oft dort Sex. Ich hatte nie den Eindruck, dass das ein Problem für dich war.«

»Das war ja auch was anderes. Das war richtiger Sex. Jetzt habt ihr ehelichen Sex.«

»Ich verstehe. Nun, ich kann dir versichern, dass der Vorgang so ziemlich genau der Gleiche ist.«

»Har-har.« Nell hat sich sehr verändert, dachte Ripley. Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre sie selbst vor der Andeutung einer Konfrontation schon zurückgeschreckt.

»Es ist einfach nur eine sonderbare Situation, okay? Du und Zack, ihr seid jetzt auf dem Mister-und-Missus-Trip, und ich hocke euch ständig auf der Pelle, und das finde ich nicht richtig. Was, wenn ihr den horizontalen Tango auf dem Wohnzimmerteppich tanzen oder einfach nur mal abends nackt beim Dinner sitzen wollt?«

»Das Erstere haben wir tatsächlich schon gemacht, aber jetzt werde ich auch mal ernsthaft über das Letztere nachdenken. Ripley.« Nell strich Ripley sanft über den Arm. »Ich möchte nicht, dass du ausziehst.«

»Gott, Nell, es ist eine winzige Insel. Es ist ja nicht so, als ob ich schwer zu erreichen sein würde, wo immer ich auch landen werde.«

»Ich möchte nicht, dass du ausziehst«, wiederholte Nell. »Ich spreche für mich, nicht für Zack. Du kannst ja gesondert mit ihm reden, wenn du das möchtest, und herausfinden, wie er darüber denkt. Ripley … ich hatte vorher nie eine Schwester.«

O Mann.« Ripley zuckte zusammen und ließ ihren Blick hinter den dunklen Brillengläsern besorgt durch die Gegend schweifen. »Bitte werd jetzt nicht gefühlsduselig, nicht hier auf offener Straße.«

»Ich kann nun mal nichts dafür. Es ist so ein schönes Gefühl für mich, zu wissen, dass du da bist, dass ich jederzeit mit dir reden kann. Ich hatte nur ein paar Tage mit deinen Eltern, als sie zu unserer Hochzeit gekommen sind, aber nun, da ich sie kenne und dich habe, habe ich endlich wieder eine Familie. Können wir die Dinge nicht einfach so lassen, wie sie sind, wenigstens vorläufig?«

»Sagt Zack eigentlich jemals Nein zu dir, wenn du diese großen blauen Strahler auf ihn richtest?«

Nells Augen blitzten amüsiert. »Nicht, wenn er weiß, dass es wirklich wichtig für mich ist. Und wenn du bleibst, verspreche ich dir, dass Zack und ich so tun werden, als ob wir nicht verheiratet sind, wenn wir Sex haben.«

»Das könnte vielleicht helfen. Außerdem, da mir irgendein Idiot aus New York das Cottage vor der Nase weggeschnappt hat, werde ich den Dingen wohl sowieso einfach ihren Lauf lassen müssen.« Ripley stieß einen gequälten Seufzer aus. »Ein Parapsychologie-Forscher, es ist doch nicht zu fassen! Doktor der Philosophie, ts.« Sie grinste spöttisch und fühlte sich wieder eine Idee aufgeheitert. »Ein akademischer Blindgänger, wenn du mich fragst. Mia hat ihm das Cottage wahrscheinlich nur vermietet, um mich auf die Palme zu bringen.«

»Das bezweifle ich, aber ich bin sicher, sie genießt diese kleine Nebenwirkung. Ich wünschte, ihr beide würdet nicht dauernd aufeinander herumhacken. Ich hatte wirklich gehofft, dass ihr nach … dass ihr nach dem, was an Halloween passiert ist, wieder Freundinnen sein würdet.«

Ripley verschloss sich augenblicklich. »Jede von uns hat getan, was getan werden musste. Jetzt ist es vorbei. Für mich hat sich nichts geändert.«

»Es ist nur eine Phase, die vorbei ist«, korrigierte Nell sie. »Wenn die Legende …«

»Die Legende ist Quatsch.« Allein der Gedanke daran genügte, um Ripleys Laune einen Dämpfer zu verpassen.

»Aber nicht das, was wir sind. Das, was in uns ist. Das ist kein Quatsch.«

»Und was ich mit dem mache, was in mir ist, ist meine Privatangelegenheit. Rühr bitte nicht an dieses Thema, Nell.«

»In Ordnung.« Aber Nell drückte Ripleys Hand, und selbst durch die dicken Handschuhe, die sie beide trugen, war ein Energiefunke spürbar. »Wir sehen uns dann beim Abendessen.«

Ripley ballte die Hand zur Faust, als Nell davonging. Ihre Haut prickelte noch immer von Nells Berührung. Hinterlistige kleine Hexe, dachte sie.

Das musste sie bewundern.

Die Träume kamen immer spät in der Nacht, wenn ihr Geist offen und empfänglich war und ihr Wille ruhte. Bei Tag konnte sie es verdrängen, sich davor verschließen und zu der Wahl stehen, die sie vor über zehn Jahren getroffen hatte.

Aber der Schlaf war eine Macht ganz eigener Art, und er verleitete zu Träumen.

In ihren Träumen stand sie an dem Strand, wo sich die Wellen wie gigantische Ungeheuer aus der nächtlichen Dunkelheit erhoben. Sie schlugen donnernd ans Ufer, schwarz und heftig, wie tausend wilde Herzschläge unter einem blinden Himmel.

Das einzige Licht kam von den grellen, zickzackförmigen Blitzen, die jedes Mal durch die Wolken zuckten, wenn sie die Arme hob. Und das Licht, das von ihr ausstrahlte, war ein zorniges Gold, umrandet von todbringendem Rot.

Der Sturm heulte und toste.

Seine Gewalt, seine pure, ungezügelte Macht elektrisierte sie an irgendeinem tiefen und geheimen Ort in ihrem Inneren. Sie war jetzt jenseits von allem, jenseits von Recht, jenseits von Regeln. Jenseits von Hoffnung.

Und ein Teil von ihr, etwas in ihrem Inneren, das noch nicht erloschen war, weinte bittere Tränen um den Verlust. Sie hatte getan, was sie hatte tun müssen, und jetzt war das Unrecht gesühnt. Tod zu Tod zu Tod. Ein Kreis, geformt aus Hass. Ein mal drei.

Sie schrie triumphierend auf, als der dunkle Rauch schwarzer Magie in sie hineinströmte, als er verwischte und erstickte, was sie gewesen war, was sie gelobt hatte. Was sie geglaubt hatte.

Das hier, dachte sie, als ihre hohlen Hände unter der Wucht und der Gier erzitterten, ist besser. Sehr viel besser. Was vorher gekommen war, war bleich und schwach, ein Nichts im Vergleich zu der Kraft und Macht dessen, was jetzt war.

Sie konnte alles und jedes tun. Sie konnte nehmen, und sie konnte herrschen. Es gab nichts und niemanden, der sie daran hindern könnte.

In einem wilden, wahnsinnigen Tanz wirbelte sie über den Sand ihre Arme wie Schwingen ausgebreitet, während sich ihr langes Haar wie Schlangen um ihre Schultern ringelte. Sie konnte den Tod des Mörders ihrer Schwester auf der Zunge schmecken, den warmen, süßen Geschmack des Blutes, das sie vergossen hatte, und sie wusste, sie hatte noch nie etwas so Köstliches geschmeckt. Sie lachte triumphierend, ein schrilles Lachen, das wie Blitzstrahlen aus ihrem Mund herausschnellte und Risse in die schwarze Wölbung des Himmels sprengte. Sintflutartiger dunkler Regen strömte herab und zischte wie ätzende Säure auf dem Sand.

Er rief nach ihr.

Von irgendwo durch die stürmische Nacht und ihren eigenen Zorn hörte sie seine Stimme. Das kleine Flackern dessen, was noch in ihr gewesen war, mühte sich verzweifelt ab, heller zu brennen.

Sie sah ihn, nicht mehr als ein Schatten, der sich durch den Sturm und den Regen kämpfte, um zu ihr zu gelangen. Liebe rang und weinte in einem Herzen, das erkaltet war.

»Zurück! Geh zurück!«, schrie sie ihn an, und ihre Donnerstimme ließ die Welt erzittern.

Aber er kam trotzdem näher und immer näher, die Hände nach ihr ausgestreckt – um sie an sich zu ziehen, um sie zurückzubringen. Und sie sah, nur für einen flüchtigen Augenblick, das Funkeln seiner Augen in der dunklen Nacht, sah den Glanz, der Liebe und Furcht war.

Plötzlich kam eine Lanze aus Feuer aus dem Himmel herabgeschossen  – grelles Gold, umrahmt von tödlichem Rot. Und noch während sie gellend aufschrie, noch während jenes kleine Licht in ihr aufflackerte, wurde er von der Lanze durchbohrt.

Sie fühlte seinen Tod in ihrem Inneren. Der Schmerz und der Horror dessen, was sie ausgesandt hatte, kehrten zu ihr zurück, trafen sie mit dreifacher Gewalt.

Und das Licht in ihrem Inneren erlosch. Und hinterließ eine eisige Kälte in ihr.

2

Er sah eigentlich nicht so viel anders aus als die anderen Passagiere auf der Fähre. Sein langer dunkler Mantel flatterte im Wind. Sein Haar, ein gewöhnliches Dunkelbond wehte um sein Gesicht und hatte keinen besonderen Schnitt.

Er hatte daran gedacht, sich zu rasieren, und hatte sich bloß zweimal dabei geschnitten, direkt unter der starken Linie seines Kinns. Sein Gesicht – und es war ein attraktives Gesicht  – war hinter einer seiner Kameras versteckt, als er mit einem Teleobjektiv Schnappschüsse von der Insel machte.

Seine Haut wies noch immer die tropische Sonnenbräune auf, die er sich auf Borneo geholt hatte. Seine Augen in dem sonnengebräunten Gesicht waren von dem leuchtenden Goldbraun von frisch in Gläsern abgefülltem Honig; seine Nase war gerade und schmal, sein Gesicht ein bisschen dünn und hohlwangig.

Seine Wangen neigten dazu, noch ein wenig hohler zu werden, wenn er sich über lange Zeiträume ganz in seiner Arbeit verlor und jeden Gedanken an regelmäßige Mahlzeiten vergaß. Es verlieh ihm ein interessantes Darbender-Gelehrter-Aussehen.

Sein Mund mit der sinnlich vollen Unterlippe lächelte gerne und häufig.

Er war ziemlich groß, ziemlich schlaksig. Und ziemlich unbeholfen.

Er musste sich mit beiden Händen an der Reling festklammern, um zu verhindern, dass er kopfüber über Bord fiel, als die Fähre plötzlich erzitterte. Natürlich hatte er sich viel zu weit vorgebeugt. Er wusste das, aber die Erwartung ließ ihn oft die Realität des Augenblicks vergessen.

Er richtete sich wieder auf und griff in seine Manteltasche, auf der Suche nach einem Streifen Kaugummi.

Statt des Kaugummis brachte er einen uralten Zitronendrops zum Vorschein, ein paar zerknüllte Notizzettel, eine abgerissene Kinokarte – was ihn vor ein Rätsel stellte, da er sich nicht so recht daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal im Kino gewesen war – und eine Schutzkappe für ein Objektiv, von der er geglaubt hatte, er hätte sie verloren. Er begnügte sich mit dem leicht angestaubten Zitronenbonbon und betrachtete die Insel.

Er hatte sich mit einem Schamanen in Arizona beraten, hatte einen Mann in den Bergen Ungarns besucht, der behauptete, ein Vampir zu sein, und war nach einem bedauerlichen Vorfall in Mexiko von einem Voodoo-Priester verflucht worden. Er hatte in einem Cottage in Cornwall unter Geistern gelebt und die Rituale eines Totenbeschwörers in Rumänien dokumentiert.

Seit fast zwölf Jahren war MacAllister Booke damit beschäftigt, das Unmögliche zu erforschen, zu protokollieren und mitzuerleben. Er hatte Hexen und Geister interviewt, Menschen, die sich angeblich in einen Werwolf oder ein anderes wildes Tier verwandelten, Menschen, die überzeugt waren, von Außerirdischen entführt worden zu sein, und solche, die medial veranlagt waren. Achtundneunzig Prozent davon litten unter Wahnvorstellungen oder waren schlichtweg Schwindler. Aber die restlichen zwei Prozent … nun, die waren der Grund dafür, weshalb er unermüdlich weitermachte. Er glaubte nicht nur an das Außergewöhnliche. Sondern er hatte die Erforschung paranormaler Phänomene auch zu seiner Lebensaufgabe gemacht.

Die Vorstellung, die nächsten paar Monate auf einem Stück Land zu verbringen, von dem die Legende behauptete, dass es einst von einem Hexentrio vom Festland von Massachusetts abgerissen und als Zufluchtsort im Meer angesiedelt worden war, faszinierte ihn ungeheuer.

Er hatte umfassende Nachforschungen über Three Sisters Island angestellt und jede noch so dürftige Information ausgegraben, die er über Mia Devlin – die derzeitige Inselhexe – finden konnte. Sie hatte es abgelehnt, ihm Interviews zu geben oder einen Einblick in ihr Wirken zu gewähren. Aber er hoffte, sie doch noch dazu überreden zu können.

Ein Mann, der es dank seiner Überredungskunst geschafft hatte, an einer von Neo-Druiden abgehaltenen Zeremonie teilzunehmen, sollte eigentlich auch in der Lage sein, eine einsame Hexe davon zu überzeugen, ihn zuschauen zu lassen, wenn sie ihre Magie betrieb.

Außerdem stellte er sich vor, dass sie ein Tauschgeschäft machen könnten. Er hatte nämlich etwas, das sie unter Garantie interessieren würde – sie und jeden anderen, der irgendetwas mit dem dreihundert Jahre alten Fluch zu tun hatte.

Er hob wieder seine Kamera ans Auge und stellte die Entfernung ein, um den schlanken weißen Leuchtturm und das düster wirkende alte Steinhaus aufzunehmen, die sich beide an die hohen Klippen anschmiegten. Er wusste, dass Mia dort wohnte, hoch über dem Inseldorf, in unmittelbarer Nähe eines dichten Waldstücks.

Genauso wie er wusste, dass sie die Inhaberin der Dorfbuchhandlung war und dass sie das Geschäft recht erfolgreich führte. Eine praktisch veranlagte Hexe, entschied er, die – allem Anschein nach – zu leben verstand und in beiden Welten gut lebte. Er konnte es kaum noch erwarten, sie persönlich kennen zu lernen.

Das Tuten der Schiffssirene ermahnte ihn, sich auf das Anlegen vorzubereiten. Er ging zurück zu seinem Landrover und verstaute seine Kamera in der Tasche, die in einem Haufen von anderen Taschen und Beuteln auf dem Beifahrersitz lag.

Die Objektivkappe in seiner Manteltasche war wieder einmal vergessen.

Während dieser letzten paar Minuten, die er noch für sich hatte, brachte er ein paar Notizen auf den neuesten Stand, dann vervollständigte er seine Tagebucheintragungen.

Die Fahrt auf der Fähre war angenehm. Der Tag ist klar und kalt. Ich konnte eine Reihe von Aufnahmen von verschiedenen Aussichtspunkten aus machen, obwohl ich mir wohl ein Boot werde mieten müssen, um einen Ausblick auf die Windseite der Insel zu bekommen.

Geografisch und topografisch gesehen hat Three Sisters Island nichts Ungewöhnliches an sich. Ihre Fläche beträgt ungefähr neun Quadratmeilen, und die Anzahl ihrer Bewohner  – hauptsächlich im Fischereigewerbe, im Einzelhandel oder in der Tourismusbranche tätig – beläuft sich auf weniger als dreitausend. Die Insel hat einen kleinen Sandstrand und zahlreiche kleine Meeresarme, schmale Buchten und flache Kiesstrände. Sie ist teilweise bewaldet, und zu der heimischen Fauna gehören Rotwild, Kaninchen, Waschbär. Außerdem sieht man für diese Zone typische Seevögel, sowie Eulen, Habichte und Buntspechte, die in den bewaldeten Gebieten zu finden sind.

Es gibt ein einziges Dorf. Die Mehrheit der Inselbewohner lebt im Dorf selbst oder in einem Umkreis von einer halben Meile um das Dorf, obwohl es weiter draußen noch einige Häuser und Pachthöfe gibt.

Dem äußeren Anschein nach zu urteilen gibt es hier nichts, was darauf hindeuten würde, dass die Insel eine Quelle paranormaler Aktivitäten ist. Aber ich habe festgestellt, dass der äußere Anschein ein unzuverlässiges dokumentarisches Hilfsmittel ist.

Ich brenne darauf, Mia Devlin kennen zu lernen und mit meiner Untersuchung zu beginnen.

Er fühlte den leichten Ruck, als die Fähre an der Kaje anlegte, blickte jedoch nicht von seinem Tagebuch auf.

Haben im Hafen von Three Sisters Island angelegt. 6. Januar 2001. Mit einem Blick auf seine Armbanduhr fügte er hinzu: Zwölf Uhr drei.

Die Dorfstraßen waren bilderbuchmäßig sauber, der Verkehr schwach. Mac fuhr durch das Dorf hindurch und im Kreis herum, während er verschiedene Punkte auf seinem Kassettenrecorder festhielt. Er konnte eine uralte Maya-Ruine im Dschungel mit Hilfe einer Karte finden, die auf eine zerknüllte Papierserviette gekritzelt war, hatte jedoch die Angewohnheit, Ortsbeschreibungen der prosaischeren Art einfach zu vergessen. Bank, Post, Supermarkt – ah, und die Pizzeria, na, wer sagt’s denn!

Er fand ohne Schwierigkeiten einen Parkplatz, der nur wenige Schritte vom Café Book entfernt war. Das Aussehen des Ladens gefiel ihm auf Anhieb – das fantasievoll dekorierte Schaufenster, der Blick aufs Meer. Er kramte in dem Durcheinander auf dem Beifahrersitz nach seiner Aktentasche, warf den Minirecorder hinein – nur für den Fall – und stieg aus.

Das Innere des Ladens gefiel ihm sogar noch besser. Das heiter anmutende Feuer in dem Steinkamin, der große, mit geschnitzten Monden und Sternen verzierte Tresen aus dunklem Holz. Siebzehntes Jahrhundert, entschied er, und für ein Museum geeignet. Mia Devlin hatte offensichtlich sowohl Geschmack als auch Talent.

Er strebte auf den Tresen zu und auf die kleine, gnomartige Frau, die auf einem hohen Hocker dahinter saß. Eine plötzliche Bewegung und ein Aufleuchten von Farbe erregten seine Aufmerksamkeit. Mia trat zwischen den Bücherregalen hervor und lächelte.

»Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?«

Sein erster klarer Gedanke war: Wow!

»Ich … äh … hmmm. Ich suche Miss Devlin. Mia Devlin.«

»Und Sie haben sie gefunden.« Sie kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin. »MacAllister Booke?«

»Ja.« Ihre Hand war lang und schmal. Ringe funkelten an ihren Fingern, glitzerten wie Juwelen auf weißer Seide. Er fürchtete sich davor, ihre Hand zu fest zu drücken.

»Willkommen auf Three Sisters. Warum kommen Sie nicht mit ins Obergeschoss hinauf? Ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein und vielleicht möchten Sie ja auch einen kleinen Lunch. Wir sind sehr stolz auf unser Café.«

»Ich, äh … nun ja, ich hätte wirklich nichts gegen eine Kleinigkeit zu essen einzuwenden. Ich habe nur Gutes über Ihr Café gehört.«

»Perfekt. Ich hoffe, Ihre Überfahrt war ruhig und ereignislos.«

Bis jetzt, dachte er. »Sie war angenehm, danke.« Er folgte ihr die Treppe hinauf. »Ihre Buchhandlung gefällt mir.«

»Mir auch.« Mia blickte über ihre Schulter zurück und bedachte ihn abermals mit einem Lächeln, ließ ihn in den Genuss eines weiteren flüchtigen Blicks auf dieses atemberaubende Gesicht kommen, das von einer sinnlichen Explosion dunkelroten Haares eingerahmt war. »Ich hoffe, Sie machen während Ihres Aufenthalts auf der Insel ausgiebig Gebrauch davon. Dies ist meine Freundin und die Kochkünstlerin unseres Cafés, Nell Todd. Nell, dies ist Dr. Booke.«

»Freut mich, Sie kennen zu lernen.«

Nell zeigte ihre Grübchen und beugte sich über den Tresen, um Mac die Hand zu schütteln.

»Dr. Booke ist gerade vom Festland herübergekommen, und ich nehme an, dass er etwas zu essen vertragen könnte. Der Lunch geht auf Kosten des Hauses, Dr. Booke. Sagen Sie Nell einfach, was Sie haben möchten.«

»Ich nehme das Spezial-Sandwich und einen großen Cappuccino, danke. Sind Sie auch für das Backen zuständig?«

»Das bin ich. Ich empfehle heute den gedeckten Apfelkuchen. « »Gut, dann würde ich gerne ein Stück davon probieren.«

»Und du, Mia?«, fragte Nell.

»Nur eine Tasse von der Tagessuppe und Jasmintee.«

»Kommt sofort. Ich bringe euch das Essen an den Tisch.«

»Ich sehe schon, dass ich mir keine Sorgen um meine nächste Mahlzeit machen muss, solange ich hier bin«, bemerkte Mac, als sie an einem der Fenstertische Platz nahmen.

»Nell ist auch Inhaberin und Geschäftsführerin von Sisters Catering. Sie liefert ins Haus.«

»Gut zu wissen.« Er blinzelte zweimal, aber Mias Gesicht  – die reine, unglaubliche Pracht ihres Gesichts – verblasste nicht. »Okay, ich muss es einfach loswerden, und ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich einfach so damit herausplatze. Sie sind die schönste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen habe.«

»Danke.« Sie lehnte sich zurück. »Und ich nehme es Ihnen nicht im Geringsten übel.«

»Das ist gut. Ich möchte nämlich nicht, dass die Dinge zwischen uns einen schlechten Start haben, da ich hoffe, mit Ihnen zu arbeiten.«

»Ich habe Ihnen doch schon am Telefon erklärt, dass ich nicht vor Zuschauern – arbeite.«

»Ich hoffe doch sehr, dass Sie sich anders besinnen werden, wenn Sie mich etwas besser kennen gelernt haben.«

Er hat ein gewinnendes Lächeln, dachte Mia. Charmant schief, täuschend harmlos. »Das werden wir dann ja noch sehen. Was Ihr Interesse an der Insel selbst und an ihrer Geschichte betrifft, wird es Ihnen nicht an Auskünften und Informationen mangeln. Die Mehrheit der Leute, die das ganze Jahr über hier wohnen, stammen aus Familien, die schon seit Generationen auf Three Sisters ansässig sind.«

»Mrs Todd, zum Beispiel«, sagte Mac und blickte zum Tresen zurück.

»Nell hat einen Todd geheiratet, vor knapp zwei Wochen, um genau zu sein. Zachariah Todd, unseren Sheriff. Nell ist zwar … neu auf der Insel, aber die Todds leben tatsächlich schon seit Generationen hier.«

Mac wusste, wer Nell war – die frühere Ehefrau von Evan Remington. Ein Mann, der früher einmal beträchtliche Macht und großen Einfluss in der Unterhaltungsindustrie gehabt hatte. Ein Mann, der sich schließlich als gewalttätiger Wahnsinniger entpuppt hatte. Und der jetzt offiziell und rechtsgültig für geisteskrank erklärt worden war und hinter Schloss und Riegel saß.

Es war Sheriff Todd gewesen, der Remington festgenommen hatte, und zwar nach Ereignissen in der Halloween-Nacht, die dem Vernehmen nach äußerst seltsam gewesen waren.

Der Sabbat von Samhain.

Das war eines der Ereignisse, die Mac bis in alle Einzelheiten zu erforschen gedachte.

Doch als er begann, das Thema zur Sprache zu bringen, erschien ein Ausdruck in Mias Augen – ein warnender und abweisender Ausdruck –, der ihm riet, in diesem Fall besser erst einmal Zurückhaltung zu üben und abzuwarten. Er brach ab und bedachte Nell, die ihnen ihren Lunch servierte, stattdessen mit einem freundlichen Lächeln.

»Das sieht ja köstlich aus, danke.«

»Guten Appetit. Mia, bleibt es bei heute Abend?«

»Absolut.«

»Gut, dann komme ich so gegen sieben. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sonst noch etwas brauchen, Dr. Booke.«

»Nell ist gerade erst von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt«, sagte Mia leise, als sie wieder allein mit Mac war. »Ich halte es nicht für ratsam, sie gleich jetzt mit Fragen über gewisse Bereiche ihres Lebens zu bestürmen.«

»In Ordnung.«

»Sind Sie immer so kooperativ, Dr. Booke?«

»Nennen Sie mich doch Mac. Und um Ihre Frage zu beantworten … nein, wahrscheinlich nicht. Aber ich möchte nicht, dass Sie prompt sauer auf mich sind.« Er biss in sein Sandwich. »Gut«, murmelte er kauend. »Wirklich gut.«

Mia beugte sich vor, spielte mit ihrer Suppe herum. »Was bezwecken Sie eigentlich damit? Wollen Sie die Einheimischen einlullen?«

»Sie sind übrigens auch wirklich gut«, erwiderte er. »Haben Sie übersinnliche Fähigkeiten?«

»Haben wir die nicht in gewisser Weise alle? Haben Sie nicht in einer Ihrer wissenschaftlichen Abhandlungen die Entwicklung dessen erforscht, was Sie den vernachlässigten sechsten Sinn nannten?«

»Sie haben meine Aufsätze gelesen?«

»Richtig, das habe ich. Was ich bin, Mac, ist nicht etwas, das ich vernachlässige. Und es ist auch nicht etwas, das ich ausnutze oder ausnutzen lasse. Ich habe mich bereit erklärt, Ihnen das Cottage zu vermieten und mich mit Ihnen zu unterhalten, wenn mich die Lust dazu überkommt, und zwar aus einem simplen Grund.«

»Okay. Und der wäre?«

»Sie sind ein hervorragender Kopf und, noch wichtiger, mit einem sehr flexiblen Verstand begabt. Das bewundere ich. Was mein Vertrauen in Sie angeht, nun, das wird die Zeit erweisen.« Sie blickte an ihm vorbei und lächelte vor sich hin. »Und hier ist jemand mit einem ziemlich hellen, aber sehr unflexiblen Verstand. Deputy Ripley Todd.«

Mac drehte sich um und beobachtete, wie die attraktive Brünette auf langen Beinen zum Tresen des Cafés schlenderte, sich dagegen lehnte und mit Nell schwatzte. »Ripley ist auch ein häufig anzutreffender Familienname auf der Insel«, bemerkte er.

»Ja, sie ist Zacks Schwester – ihre Mutter war eine Ripley. Die Bande, die ihre Familie sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits mit Three Sisters verbinden, reichen weit in die Vergangenheit zurück. Sehr weit zurück«, murmelte Mia. »Wenn Sie nach einer Zynikerin suchen, um ihre Ansichten in Ihre Forschungsarbeit einfließen zu lassen, dann ist Ripley genau die Richtige für Sie.«

Unfähig, der Versuchung zu widerstehen, machte Mia Ripley auf sich aufmerksam und winkte sie zu sich.

Normalerweise hätte Ripley nur spöttisch gelächelt und wäre schnurstracks in die entgegengesetzte Richtung marschiert. Aber der Mann an Mias Tisch erregte ihre Neugier, und es konnte nie schaden, ein fremdes Gesicht auf der Insel näher zu inspizieren. Ein gut aussehender Typ, dachte sie, als sie zum Tisch schlenderte. Auf eine bücherwurmmäßige, leicht weltfremd wirkende Art. Kaum war ihr dieser Gedanke durch den Kopf geschossen da zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. Bücherwurm? Weltfremd? Mias spinnerter Gespensterjäger!

»Dr. MacAllister Booke, Deputy Ripley Todd.«

»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Er erhob sich von seinem Stuhl und überraschte Ripley mit seiner Größe, als er seine langen Glieder auseinander faltete. Das meiste von seiner Körpergröße, entschied sie, war Bein.

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Heaven and Earth« bei Jove Books, The Berkley Publishing Group, a division of Penguin Putnam Inc., New York.

Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House.

Taschenbuchausgabe April 2003

Copyright © der Originalausgabe 2001 by Nora Roberts

Published by arrangement with Eleanor Wilder Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Covermotiv: bürosüd Satz: DTP Service Apel, Hannover

Lektorat: Maria Dürig Herstellung: Heidrun Nawrot

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eISBN 978-3-641-09918-3

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