Im Morgen wächst ein Birnbaum - Fikri Anıl Altıntaş - E-Book

Im Morgen wächst ein Birnbaum E-Book

Fikri Anıl Altıntaş

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Beschreibung

„Ich bin mehr als die Projektion der anderen.“

Fikri Anıl Altıntaş wächst als Sohn türkischer Eltern in einer hessischen Kleinstadt auf. Sein Vater arbeitet als Türkischlehrer, seine Mutter als Reinigungskraft. Es ist eine Kindheit inmitten von Sozialwohnblocks, geprägt von dem drängenden Wunsch, »deutsch« zu sein und der bitteren Enttäuschung über die Realität in Deutschland. Beständig wächst die Sehnsucht, gesehen zu werden und einen eigenen Weg als türkisch-muslimischer Mann zu finden. Dabei ist es vor allem die Beziehung zu seinem Vater, die ihn letztlich vor die Frage stellt: Was bedeutet Männlichkeit überhaupt und wie kann sie jenseits der Klischees verstanden und gelebt werden?

Inmitten von festgefahrenen Narrativen sucht Fikri Anıl Altıntaş nach den Zwischentönen. Radikal ehrlich blickt er auf sich und seine Familiengeschichte zurück, um die Gegenwart besser zu verstehen.

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Zum Buch

»Ein Birnbaum war es, der mich zu dem Mann machte, der ich heute bin. Mein Vater schenkte ihn mir, er stand rechts neben unserem Sommerhaus in der Türkei, in unserem Garten. Ein kleiner Baum, den mein Vater am Rande der Landstraße gekauft hatte, er sollte mich ständig daran erinnern: Wer ich bin, wohin ich gehöre und wohin ich wachsen sollte. Wann immer der Wind gegen seine Blätter fuhr, weckte er in mir eine Sehnsucht, die mich fortan begleitete.«

Zum Autor

Fİkrİ Anıl Altıntaş wächst als Sohn türkischer Eltern in einer hessischen Kleinstadt auf. Sein Vater arbeitet als Türkischlehrer, seine Mutter als Reinigungskraft. Es ist eine Kindheit inmitten von Sozialwohnblocks, geprägt von dem drängenden Wunsch, »deutsch« zu sein und der bitteren Enttäuschung über die Realität in Deutschland. Beständig wächst die Sehnsucht, gesehen zu werden und einen eigenen Weg als türkisch-muslimischer Mann zu finden. Dabei ist es vor allem die Beziehung zu seinem Vater, die ihn letztlich vor die Frage stellt: Was bedeutet Männlichkeit überhaupt, und wie kann sie jenseits der Klischees verstanden und gelebt werden?

Inmitten von festgefahrenen Narrativen sucht Fikri Anıl Altıntaş nach den Zwischentönen. Radikal ehrlich blickt er auf sich und seine Familiengeschichte zurück, um die Gegenwart besser zu verstehen.

Fİkrİ Anıl Altıntaş

Im Morgen wächst ein Birnbaum

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Originalausgabe April 2023

Copyright © 2023 Fikri Anıl Altıntaş

Copyright © 2023 btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Fikri Anıl Altıntaş

Covermotiv: © privat

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28574-6V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Die Menschen dachten, sie würden mich kennen.Wie ich mir ihr Leben vorstellte,so stellten sie sich meins vor.Wir orientierten uns an Versprechen, die, aus der Luft gegriffen,auf dem Boden der Tatsachen landeten.

Für Anne und Baba

1

»Ellerin armut mu topluyor?«

»Sammeln deine Hände Birnen?«

Ein Birnbaum war es, der mich zu dem Mann machte, der ich heute bin. Mein Vater schenkte ihn mir, er stand rechts neben unserem Sommerhaus in der Türkei, in unserem Garten. Ein kleiner Baum, den mein Vater am Rande der Landstraße gekauft hatte, er sollte mich ständig daran erinnern: Wer ich bin, wohin ich gehöre und wohin ich wachsen sollte. Wann immer der Wind gegen seine Blätter fuhr, weckte er in mir eine Sehnsucht, die mich fortan begleiten sollte.

Ich liebte das Haus. An jeder Seite stand ein anderer Obstbaum, und neben dem weiß lackierten Eingangstor ragte die kleine Palme über den langen Holzsteg, wie sie es schon seit meiner Geburt tat. Sie spendete Schatten für die Porzellanhunde und Plastikgänse, die mein Vater aus dem Industriegebiet in der Nähe von Akbük mitbrachte. Die in zwei Stufen angelegten Terrassen waren so groß, dass jeder von uns bequem sein Bett daraufstellen konnte. Von dort grüßte mich meine Mutter morgens beim Wäschemachen, wenn ich am Kiosk Zeitung und Brot holen ging. Sie zeigte auf die Weinreben, auf den Feigenbaum, auf den Pfirsichbaum direkt hinter der Palme und die Aloe Vera vor dem großen Tannenbaum. Ich liebte die Sorglosigkeit, mit der ich dort aufwachte und wieder einschlief. Die Bäume, das Meer, die Sonne. Dort fühlte ich mich angekommen. Melancholie überkam mich, wenn überhaupt, nur nachts, wenn mir unter der Decke zu kalt wurde.

Morgens lagen die Birnen meist schon auf einem Teller auf unserem Esstisch. Meine Mutter wusch sie gleich nach dem Aufstehen.

In Deutschland gab es auch viele Bäume, aber die sahen anders aus. Nicht wie mein Birnbaum, der noch heute an derselben Stelle rechts neben dem Aufgang zur Vordertür steht. Dessen runde Blätter spiegelten sich in der Sonne, so als ob sie eine subtile Aufforderung aussprächen, dass ich kurz mit meinen Händen darübergleiten sollte. So etwas passierte in Deutschland nicht. Durch Wälder mit Fichten und Birken zu spazieren brachte mir keine Ruhe. Hier gab es keine Birnen, die ich hätte essen wollen. Und unter den vielen Stimmen, zwischen denen ich hin und her lief, keine eigene Sprache.

Manchmal träumte ich davon, meinen Birnbaum mit nach Deutschland zu nehmen. Zumindest redete ich mir das ein. Wahr ist: Ich traute mich nicht, es zu tun. Mein Vater hätte es mir nicht erlaubt. Und ich wusste sehr wohl, wie ich mich als Sohn zu verhalten hatte.

Ich will von Veränderungen erzählen. Von den geteilten, den gemeinsamen, den notwendigen. Von meiner Familie und meiner Kindheit. Und davon, wie ich jetzt, mit dreißig, als muslimisch-türkischer Mann in Berlin ein anderes Leben jenseits von Klischees führe. Wie ich zu dem Mann wurde, der ich heute bin – mit und durch meinen Vater, wegen und trotz Deutschland. Mit und ohne meine Familie. Denn lange Zeit war mein Vater meine einzige Richtschnur, mein Vorbild. Lange Zeit hieß Mannsein für mich das, was er mir vorlebte: Ehrlichkeit, Direktheit, vor allem aber: keine Schwäche und keine Emotionen zeigen. Dabei hatte ich ihn manchmal dabei ertappt, wie er ein Gespräch plötzlich abbrach und in der Küche verschwand. Nicht, um etwas zu trinken oder zu essen, sondern um zu weinen. Er wollte nicht, dass ich das sah. Aber ich habe es trotzdem mitbekommen. Und es hat etwas in mir losgetreten. Ich erkannte: Es tut gut, Gefühle zu zeigen, verletzlich zu sein. Genau das macht Männlichkeit für mich erträglicher. Es geht darum, die Kraft zu finden, selbst gebaute Mauern einzureißen. Oder es zumindest zu versuchen.

Davon will ich erzählen. Weil viele ein Bild von mir zeichneten, bevor ich selbst einen Stift in der Hand halten konnte. Weil ich mehr bin als ihre Projektion. Aber der Weg dorthin brauchte Zeit.

Mein Vater kam in den achtziger Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Er stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Dinar, von wo aus man entweder nach Ankara oder Istanbul durchfahren konnte; er wurde als eines von vier Geschwistern in eine Bauernfamilie geboren. Nach Abschluss der Lehrerschule ging er ans Schwarze Meer. Dort wurde er von den politischen Umwälzungen der Zeit erfasst. Er wurde Aktivist und floh. Aus Angst und weil er keine andere Wahl hatte. Unsere Familie sollte es einmal besser haben. Nicht wie er in Armut und ständiger Angst aufwachsen. Nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei drohten ihm und seinen Freunden Folter und Verfolgung. Jeden Tag wurden Menschen erschossen, verschleppt, vertrieben, ins Gefängnis gesteckt. Wenn er diese eine Chance zur Flucht nicht genutzt hätte, hätte ihn das gleiche Schicksal getroffen. Er ließ seine erste Tochter zurück.

In Deutschland arbeitete er als Türkischlehrer, engagierte sich in der SPD und in der Gewerkschaft, sie halfen ihm dabei, hier Fuß zu fassen und einen gesicherten Status zu erhalten. Wenn in Hessen Landtagswahlen anstanden, gingen wir in meiner Jugend gemeinsam auf Wahlkampfveranstaltungen in Stadthallen und bei kleinen Ortsverbänden. Wir hörten uns Reden an, nahmen Flyer mit und freuten uns, wenn wir auf die wenigen bekannten Gesichter trafen, die auch Türkisch sprachen. Mein Vater suchte das politische Treiben, die Reden, das Gefühl, die Veränderungen in der Gesellschaft mitbestimmen zu können. Es erinnerte ihn an seine Zeit in der Türkei. Hier in Deutschland aber betrafen ihn die Forderungen nach einer neuen Gesellschaft nicht persönlich. Denn Menschen ohne deutschen Pass konnten schließlich nicht zur Wahl gehen und nicht mitbestimmen. Ich dagegen würde das später können. Ich sollte es besser haben.

Wenn wir von unseren gemeinsamen Ausflügen nach Hause kamen, griff mein Vater als Erstes nach seiner Saz. In unserem Wohnzimmer spielte er sie jeden Tag. Im Hintergrund liefen dabei türkische Nachrichten. Er sang die Lieder von Arif Sağ, Ahmet Kaya und Musa Eroğlu. Es ging um Liebe, um Sehnsucht und Freiheit, die verloren gegangen waren. Nicht selten weinte er dabei. Eines dieser Lieder sang von lockigen Haaren, von Bergen, die Bilder seiner Heimat wachriefen. »Kıvırcık saçlarına, kar düşmüş uçlarına. Auf deine lockigen Haare ist Schnee gefallen, auf die Spitzen.« Es war das erste türkische Volkslied, das auch ich vor meinen Eltern sang. Damit trat ich offiziell in die Fußstapfen meines Vaters. Es war wie mein erster Bartwuchs. Ein Meilenstein, ein Schritt in die Richtung, die mich zum jungen Mann machte. Einer, der sich nicht schämt, vor anderen zu singen, zu zeigen, was er kann. Aber mein Vater wurde in der Türkei zum Mann, und ich musste es mit ihm in Deutschland erst noch werden.

Als ich geboren wurde, weinte mein Vater. Er hatte sich einen Jungen so sehr gewünscht. Meine große Schwester Ebru, die fast zwanzig Jahre älter ist als ich, sah ihn damals an und sagte, dass sein Sohn ihm sehr ähnlich sehe. Wenn er schon so lange auf mich hatte warten müssen, sei daran auch nichts verkehrt.

Meine Mutter sagte immer, dass ich die Locken meines Vaters hätte. Meine Augen wären ihre Zukunft. Und diese Zukunft lag in Deutschland.

Dass ich keine Träume haben konnte, weil mir das Leben in den Sozialbauten keine Luft zum Atmen ließ, stimmt nicht. Ich hatte beides – Träume und Luft zum Atmen. Ich fand dort Freund:innen, die zu mir passten. Sie sprachen Spanisch, Italienisch, Rumänisch. Auf dem Spielplatz blieben wir so lange, bis unser Pfirsich-Eistee leer war oder unser Ball in einem fremden Garten landete. Die Wetzlarer Straße, in der wir in Aßlar wohnten, war einen Kilometer lang. Es gab eine kleine Grünfläche für alle, die wie ich in den Sozialwohnungen lebten, am Anfang der langen Straße, zwischen den Häuserblöcken. Die ersten hundert Meter waren ein Meer aus kleinen Fenstern, noch kleineren Balkonen und großen Hausnummern. Von dort bis zur Kirche am Ende der Straße liefen wir dann an Einfamilienhäusern vorbei. Mit großen Gärten, Garagen und Bäumen, die von Weitem aussahen wie jene Olivenbäume, die in unserem Garten in der Türkei standen. Aber hier wuchsen keine Olivenbäume, also konnten die Häuser auch nicht uns gehören.

Bevor wir 1996 in die Wetzlarer Straße zogen, hatten wir in Hermannstein, dem Nachbarort von Aßlar, gewohnt. Meine Eltern hatten dort schon vor meiner Geburt im Untergeschoss eines Hauses gelebt und offensichtlich sehr konkrete Vorstellungen von ihrem neuen Zuhause gehabt – wo die vielen Teppiche ausgelegt werden und die selbst gemalten Bilder meines Vaters hängen sollten. Mein Vater versuchte es zunächst über Zeitungsanzeigen und Anrufe bei Wohnungsgesellschaften. Manchmal bekam er noch nicht einmal eine Antwort. Er verließ sich meist auf seine türkischen Freunde. Aber die suchten selbst. Erst nach mehreren Monaten wurde mein Vater endlich zu einer Hausbesichtigung eingeladen. Eine Erdgeschosswohnung mit Ausblick. Das Haus hatte einen Garten, den man mitbenutzen konnte. Aufgeregt zogen wir unsere besten Klamotten an. Mein Vater kämmte mir trotz meiner Locken sorgfältig das Haar, damit es ordentlich aussah, wie er sagte.

Als wir klingelten, machte eine alte Dame die Tür auf und fragte verwundert, wer wir seien.

»Wir sind Familie Altıntaş. Wir haben heute Vormittag telefoniert«, sagte mein Vater laut.

»Nein, das kann nicht sein. Ich erwarte eine Lehrerfamilie.«

»Wir sind die Lehrerfamilie.«

Die alte Dame schaute uns verdutzt an, und während sie bereits wieder die Tür schloss, sagte sie: »Die Wohnung ist schon vergeben.«

*

Von der Seitenlinie aus zuzuschauen war nie mein Ding. Ich wollte im Mittelpunkt stehen. Alles andere wäre gelogen. Auch mein Vater stand gerne im Rampenlicht. Bei Hochzeiten, Familienfeiern oder einfach bei uns im Wohnzimmer. Wenn wir Gäste hatten, dauerte es meist nicht lange, bis er die Saz von der Wand nahm und spielte, während meine Schwester Fulya und Mutter den Tee servierten. Ich blieb meist regungslos auf meinem Stuhl sitzen. Wurde mein Vater müde, erzählte er Geschichten. Er war es gewohnt, dass man ihm zuhörte, und sah dabei immer glücklich aus. So wie er wollte ich auch einmal sein.

In der Grundschule kamen irgendwann die ersten Liebesbriefe aus der Parallelklasse. Die kleinen Küsschen, bevor wir in den Unterricht gingen. An manchen Tagen konnte ich vor Aufregung kaum schlafen. Ich perfektionierte mein Outfit, um mir die Aufmerksamkeit der Mädchen zu sichern. Ein hellgrüner Fubu-Pulli mit roter Aufschrift, die silbrig schimmernde Hose von Takko und die Adidas-Schuhe aus dem Winterschlussverkauf. Mein Vater gab mir dazu eine kleine Silberkette, die er in der Türkei gekauft hatte. Sie war viel zu groß, aber das war mir egal. Meine Freunde hatten auch welche. Ich war glücklich, ich dachte, der Schulhof gehörte mir.

Dass Bildung der einzige Weg war, wie ihre Kinder in Deutschland vorankommen könnten, davon waren meine Eltern fest überzeugt. Und so wurde unser Wohnungsflur zum Pausenhof, unser Kinderzimmer zum Klassenraum. Meine Schwester schrieb in einem kleinen Notizheft kurze Geschichten auf. Ich sollte sie vorlesen. Einfache Matheaufgaben durfte ich erst nach der Pause lösen. Das wäre sonst zu anstrengend, sagte Fulya. Sie war fünf Jahre älter als ich.

Bevor ich eingeschult wurde, 1998, brachte sie mir Lesen und Schreiben bei. Sobald sie vom Unterricht daheim war, warf ich mich an ihr Bein und forderte, dass wir Schule spielten. Ich weiß nicht, ob sie davon genervt war, spüren ließ sie es mich jedenfalls nicht. Unsere Küche lag direkt gegenüber von unserem Kinderzimmer. Meine Mutter lächelte zufrieden durch die beiden Türrahmen in unsere Richtung. Außer wenn ich mittendrin aufsprang und im Flur mit dem Ball spielte. Dann ermahnte sie mich, ich solle aufpassen. Die Fische im Aquarium mochten keinen Lärm.

Manchmal tat ich so, als ob ich mich verletzt hätte, um die Pausen hinauszuzögern. Meine Schwester sagte nur, ich solle aufstehen und mich nicht so anstellen. Das Pflaster könne ich mir später selbst holen, so viel Zeit habe sie nicht. Ihre Freundinnen warteten draußen auf sie.

Ich fragte meine Eltern nie nach ihren Träumen. Ich dagegen erzählte oft von den meinen. Dass ich auch eines Tages Lehrer sein wolle. Englisch und Geschichte. Studieren wollte ich, in den USA, in Frankreich, vielleicht auch in der Türkei. Sie hörten mir gerne zu. Aber irgendetwas zerbrach in diesen Momenten, besonders für meinen Vater. Wie damals an dieser Haustür. Die Reaktion der alten Dame bei der Wohnungsbesichtigung war nichts Neues für ihn gewesen. Ängste und Unsicherheiten versteckte er jedoch. Ihm war das adam olmak, ein Mann sein, immer eine Selbstverständlichkeit, eine Aufforderung, Haltung zu bewahren und zu zeigen. So sollte ich auch werden. Unausgesprochen, aber deutlich spürte ich, dass seine Vorstellungen auch meine sein sollten. Mir wurde irgendwann klar: Dem gebrochenen Deutsch meines Vaters waren zerbrochene Träume gefolgt.

Wenn jemand zu Hause bei uns anrief, antworteten meine Eltern mit: »Guten Tag, Altıntaş am Apparat.«

Sie tun das noch heute.

Ich weiß nicht, wo sie diese Formulierung aufgeschnappt hatten. Deutsches Fernsehen lief bei uns nicht, vor allem keine öffentlich-rechtlichen Sender. Aber es klang danach, nicht auffallen zu wollen. Nicht schon wieder an einer Tür abgelehnt zu werden. Auf türkischen Hochzeiten durfte mein Vater immer die Ansagen machen, wenn dem Brautpaar Geldgeschenke an ihre Schärpen gesteckt wurden. Wenn er sprach, war er ganz der Lehrer. Aus dem Zeigen und Erklären kam er nur schwer heraus. Wenn ich ihn so sah, gab er mir Sicherheit. Von Geldsorgen, Streitereien mit meiner Mama, von der Wohnung, die zu eng wurde, habe ich nur zufällig erfahren. Wenn sich meine Eltern stritten, hörte ich nur Gesprächsfetzen. »Çocuklar duymasın. Die Kinder sollen es nicht hören.«

Die Grenzen unserer Realität waren die unserer Wohnung im ersten Stock des Sozialwohnblocks. Bevor wir 2006 dort auszogen, sah ich von unserem Fenster aus oft die Busse vorbeifahren. Mein Vater fuhr nicht mit dem Bus, meine Mutter dagegen schon. Sie mochte es, weil sie dabei Freunde treffen konnte und den Stress mit dem Auto umging. Ihre Routen mit dem Bus waren mir bekannt. Sie nahm den 12er und stieg am Schwimmbad ein, zwei Parallelstraßen von unserer Wohnung entfernt. Unser Leben verlief in festgefahrenen Bahnen. Es gab nicht viel Veränderung. Nur die wechselnden Besuche bei Familienfreunden an den Wochenenden. Sie kamen selten mit dem Bus, denn das hätte auch ein Eingeständnis bedeutet – kein besseres Leben hier in Deutschland zu haben.

Wenn es regnete, brach die Verbindung ab. Die Bilder der reichen Istanbuler Familien bekamen Risse. Unseren alten Röhrenfernseher hätten meine Eltern gerne ersetzt. Trotzdem waren die türkischen Soaps auf den alten Bildschirmen noch deutlich zu erkennen. Dort schien die Sonne auf das blaue Wasser am Goldenen Horn. Wenn sie es bei uns tat, gingen wir auf Flohmärkte, die sonntags auf den leeren Parkplätzen von Supermärkten stattfanden.

Die Spielsachen, die ich dann sorgfältig auf eine alte Decke legte, waren nicht hochwertig. Ich hatte kein altes Fahrrad. Keine PlayStation und keinen CD-Player. Die gingen immer gut weg. Das sah ich bei meinen Freunden, die jeden Sonntag alte Sachen verkauften so wie ich. Einer von ihnen bekam sogar einmal fünfzehn Euro für alte Schuhe. Mit dem Geld wollte er später zu McDonald’s im Industriegebiet. Meine Eltern drehten ein paar Runden und kamen irgendwann wieder zu meinem Stand zurück.

Ich beschwerte mich, dass es so keinen Spaß machte. »Hiç bir şey satamadım. Niemand kauft was bei mir.« Ich suchte Trost in den Armen meiner Mutter.

Mein Vater half mir beim Abbauen und gab mir zwei Euro, damit ich mir einen McFlurry kaufen konnte und keinen günstigeren McSundae, so wie sonst. Meine Eltern hatten nie selbst einen Stand. Sie kauften zwar viele Klamotten und Kleinkram auf Flohmärkten. Aber an einem Sonntag auf eine kleine Extraeinnahme zu hoffen, das wollten sie nicht, obwohl wir das Geld hätten brauchen können. So viel Würde wollten sie sich bewahren.

Die Frage nach einem Übermaß an Dingen stellte sich meinen Eltern nicht. Bei Büchern war das anders. Wenn Freunde in unserer Wohnung in Aßlar zu Besuch waren, staunten sie darüber, wie viele Bücher bei uns im Wohnzimmer standen. Heute liegen sie im Keller unseres Hauses. Neben staubbedeckten Teppichen, unbenutzten Instrumenten und Bildern meines Vaters von alten Lesungen aus den Neunzigerjahren, als er mit türkischen Schriftstellern auf Lesereise war. Dort unten sieht es aus wie in einer Replik unserer alten Wohnung. Mein Vater geht nicht oft hinunter. Und er mag es nicht, wenn ich es tue. Er sagt, dann käme ich jedes Mal mit einer Frage zurück. Er müsse dann immer so weit ausholen. Er wollte seine Ruhe haben und antwortete deshalb meist nur knapp.

Im neuen Wohnzimmer ist alles rot gestrichen, aufgeräumter, mit neuen Gardinen aus der Türkei und einem neuen Fernseher. Flachbild. Weniger Bücher und dafür mehr selbst gemalte Bilder.

Nach dem Umzug fuhren wir beide mit heruntergelassenem Fenster durch hessische Dorfstraßen. Wir hielten Ausschau nach Möbeln, Spielzeug, kleinen Stühlen oder noch brauchbarem Besteck und Tellern. Ich bin mir sicher, es gab Menschen, die uns sahen und sich fragten, was wir da taten. Wir nahmen mit, was uns gefiel, und vergaßen, wer wir eigentlich sein wollten. Mein Vater sagte, das mache er nun schon seitdem er in Deutschland ist. Er erzählte stolz von Schränken aus Massivholz, Stühlen mit Lederbezug oder Hühnerfiguren aus Porzellan. Letztere stehen jetzt auf der Rasenfläche vor unserer Terrasse. Wenn wir nach Hause kamen, lächelte meine Mutter. Sie sah zu, wie wir ausstiegen und den Kofferraum aufmachten.

Heute kaufe ich mir vieles, was wir uns früher nicht hätten leisten können. Dinge, von denen ich immer geträumt habe. Ich habe längst meine eigene Realität geschaffen, in meiner eigenen Wohnung. Ich schreibe diese Sätze in einer kalten Frühlingsnacht in Berlin. Gegenüber in den Maisonettewohnungen laufen Menschen nackt durch ihre Flure. Manche trinken Weißwein. Wenn ich Alkohol trinke, laufe ich auch gerne einfach so durch meine Wohnung. Oft frage ich mich, was meine Eltern wohl davon halten würden.

Sie sagen heute, sie seien stolz auf mich. Sie bräuchten sich keine Gedanken um mich zu machen.

Lazım değil. Das ist nicht nötig.

Ich sollte nie vergessen, Danke zu sagen. Entweder ein kurzes teşekkür ederim, vielen Dank, wenn es etwas förmlicher sein sollte, oder çok sağolun,