Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl -  - E-Book

Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl E-Book

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Beschreibung

Massive Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt und dem Landesjugendheim Rosental dokumentiert die Arbeit der Opferschutzkommissionen des Landes Kärnten für die Jahre 1950 bis 2000. Wie kam es zu diesem Ausmaß an Gewalt in Institutionen, deren gesellschaftlicher Auftrag Behandlung, Betreuung, Bildung, Erziehung und Pflege ist? Wie war es möglich, dass heilpädagogische Fachkräfte über Jahrzehnte die Gewalt nicht wahrnahmen und/oder die betroffenen Kinder und Jugendlichen zum Schweigen zwangen? Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit diesem schmerzlichen Teil der österreichischen Geschichte und verfolgt das Ziel, dem Tabu und der dahinter liegenden destruktiven Kraft der Gewalt ihre Wirkmächtigkeit zu nehmen. Indem die schmerzlichen Erfahrungen von vielen Hunderten Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sowie die gesellschaftlichen Hervorbringungsbedingungen dieser Gewalt Teil des kollektiven Gedächtnisses werden und öffentliche Anerkennung als Menschenrechtsverletzung erfahren, werden neue, hoffnungsvolle Formen sozialer Teilhabe (für die Betroffenen und alle anderen) möglich.

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Ulrike Loch, Elvisa Imširović, Judith Arztmannund Ingrid Lippitz

Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl

Inhalt

Kindermund

Vorwort

Wir sagen Danke!

1 Über Gewalt gesellschaftlich ins Gespräch kommen

1.1. Menschenwürde

1.2. Gewaltprävention ist ohne Aufarbeitung historischer Gewalt nicht möglich

1.3. Historischer Kontext

1.4. Wie mit dem Ausmaß von Gewalt umgehen?

1.5. Wer sind die Opfer dieser Gewalt?

1.6. Sprechen über Gewalt

1.6.1. Vor der Inhaftierung: Sprechen, Drohen und Witzeln

1.6.2. Strafverfahren und Folgen: Entscheidung zwischen Mitwirken und Erinnerungslücken?

1.6.3. Öffentliche Aufmerksamkeit für sexualisierte Gewalt in Institutionen in Europa

1.6.4. Heute: Öffentliche Anerkennung des Systemversagens

1.7. Sprachliche Vereinfachungen

1.8. Forschungsdesign

1.8.1. Forschungsfragen, Zeitraum und Datenbasis

1.8.2. Interviews

1.8.3. Auswertung

1.9. Allgemeines

2 Grundinformationen zum Landesjugendheim Rosental und zur Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt

2.1. Eckdaten zum Landesjugendheim Rosental

2.1.1. Strukturelle und personelle Rahmenbedingungen des Landesjugendheims Rosental

2.1.2. Heilpädagogische Betreuung im Landesjugendheim

2.1.3 Leiter des Landesjugendheims Rosental

2.2. Eckdaten zur Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt

2.2.1. Vorläufer der Heilpädagogischen Abteilung

2.2.2. Ambulante heilpädagogische Versorgung

2.2.3. Heilpädagogisch angeleitete Zusammenarbeit mit dem Jugendamt

2.2.4. Kärntens heilpädagogische Strukturen im Kontext österreichischer Entwicklungen

2.2.5. Die Heilpädagogische Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt

2.2.6. Das Personal der Heilpädagogischen Abteilung

2.2.7. LeiterInnen der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt

3 Heilpädagogik und ihr gesellschaftlicher Kontext

3.1. Anfänge der österreichischen Heilpädagogik

3.2. Heilpädagogik in der Jugendfürsorge in Wien

3.2.1. Erwin Lazar und Julius Tandler – Heilpädagogik und Politik in den Anfängen

3.2.2. Heilpädagogische Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung der Jugendfürsorge

3.2.3. Forschungen an der Kinderübernahmestelle (KÜSt)

3.2.4. Heilpädagogische Monopolstellung in der Wiener Jugendfürsorge

3.3. Heilpädagogik als Teildisziplin von Medizin oder Pädagogik? Eine politische Frage

3.3.1. Heilpädagogik und/oder Kinder- und Jugendpsychiatrie?

3.3.2. Von der medizinischen Heilpädagogik zur psychologischpädagogischen Heil- und Sonderpädagogik

3.3.3. Universitäre bildungswissenschaftliche Heilpädagogik und ihre Auswirkungen

3.4. Hans Aspergers Konzeption der österreichischen Heilpädagogik

3.4.1. AdressatInnen der heilpädagogischen Literatur

3.4.2. Behandlungsgründe

3.4.3 AdressatInnenkonstruktion

3.4.4. Heilpädagogik – Disziplin ohne Methoden

3.5. Heilpädagogik strebt religionsähnliche Macht an

3.6. Heilpädagogik als disziplinierende Macht

4 Heilpädagogische Theorien und ihre Praxisrelevanz in Kärnten

4.1. Die Konstitutionslehre als theoretischer Bezug

4.2. Anwendung der Konstitutionslehre in der Heilpädagogischen Abteilung

4.3. Erhebung der Tanner-Stadien

4.4. Erinnerungen von Kindern und Jugendlichen an schmerzvolle ‚Genitaluntersuchungen‘

4.5. Gewalterinnerung „überwächst sich“

4.6. Heilpädagogische Theorien zur sogenannten „sexuellen Verwahrlosung“

4.6.1 Manipulatives Theoretisieren zum Verankern der Täter-Opfer-Umkehr

4.6.2 Bekämpfung von Sexualität durch Isolation, Medikalisierung und Verhütungsmittel

4.6.3 Unglaubwürdigkeit als implizierter Bestandteil der Diagnose „sexuell verwahrlost“

5 Heilpädagogische Krankenakten und Berichtswesen in der Jugendwohlfahrt

5.1. Die heilpädagogische Krankenakte

5.1.1. Deckblatt, Anamnesebogen und medizinischer Status

5.1.2. Das Teambesprechungsprotokoll

5.1.3. Andere Dokumente in der Krankenakte

5.1.4. Das heilpädagogische Gutachten

5.2. Diagnostik und Behandlungsmethoden in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt

5.2.1. Die Diagnose Neurose

5.2.2. Heilpädagogische Behandlungsmethoden

5.3. Führungsberichte des Landesjugendheims Rosental

5.4. Erziehungsthemen

5.5. Parallelen zwischen Führungsbericht und heilpädagogischem Gutachten

6 Ausgrenzungen aus der Gesellschaft – Biografische Erfahrungen von Richard Weber

6.1. Kurzbiografie

6.2. Lebenssituation bis zur Fremdunterbringung

6.3. Inobhutnahme

6.4. Aufenthalt in der Heilpädagogischen Abteilung

6.5. Fremdunterbringung in einer Pflegestelle

6.6. Wie kam es zur Fremdunterbringung?

6.6.1. Konstruktion der Eltern und des Kindes als ‚kriminell‘ durch das Jugendamt

6.6.2 Einweisungsauftrag „Entfernung aus dem Milieu“

6.6.3. Institutionelles Macht-Ohnmacht-Handeln

6.6.4. Ausgrenzung der Eltern in der Heilpädagogischen Abteilung

6.6.5. Prozess der Entscheidung über Fremdunterbringung

6.6.6. Legitimierung der Fremdunterbringung

6.7. Zusammenfassung

7 Gewalt als entindividualisierende Erfahrung – Institutionelle Biografie von Klaus Schmidt

7.1. Kurzbiografie

7.2. Aufwachsen mit häufigen Wechseln von Bezugspersonen und Orten

7.3. Unterbringung im Schülerheim

7.4. Rückkehr in die Herkunftsfamilie

7.5. Vorladung ins Jugendamt

7.6. Aufenthalt in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt

7.7. Fremdunterbringung im Landesjugendheim Rosental

7.8. Ausbildung als Flucht und Anker

7.9. Strukturen der totalen Institution

7.10. Zusammenfassung

8 „Hätte man mir 1979 geglaubt, dann hätte es alle anderen Opfer bis 2000 ja nicht mehr gegeben“ – Biografische Erfahrungen von Günther Pachler

8.1. Kurzbiografie

8.2. Lebenserfahrungen in der Familie bis zur Fremdunterbringung

8.2.1. Männergewalt gegen die Mutter und soziale Gewalt gegen das ledige Kind

8.2.2. Versteckte Prostitution

8.2.3. Physische Gewalt gegen die Mutter und gegen das Kind

8.2.4. Sexualisierte Gewalt gegen den Jungen im familiären Umfeld

8.2.5. Flucht aus der Herkunftsfamilie

8.3. Aufenthalt in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt

8.4. Flucht aus der Heilpädagogischen Abteilung

8.5. Aufenthalt im Landeserziehungsheim Rosental

8.6. Das Leben nach der Fremdunterbringung

8.7. Zusammenfassung

9 Weshalb soll ein Antrag auf Behindertenhilfe gestellt werden? – Biografische Erfahrungen von Tim Steiner

9.1. Institutionelle Kurzbiografie

9.2. Kindeswohlgefährdung in der Heilpädagogischen Abteilung?

9.3. Verflechtung von Bildungsbenachteiligung und Fürsorgeerziehung

9.4. Sprechen über die Gewalt des Primars

9.5. Gewalt als Erziehungshandeln

9.6. Zusammenfassung

10 Von welcher Gewalt ‚sprechen‘ Betroffene, Fachkräfte und die Akten?

10.1. Schaffen von Gewaltstrukturen

10.2. Physische Gewalt

10.3. Psychische Gewalt

10.3.1. Demütigung

10.3.2. Manipulation

10.3.3. Angst

10.4. Missbräuchliche Medikamentenvergabe

10.5. Sexualisierte Gewalt

10.5.1. Routineuntersuchungen im Schul- und Gesundheitswesen und für die Jugendwohlfahrt

10.5.2. Steigerung der sexualisierten Gewalt

10.5.3. Sexualisierte Gewalt durch weitere Fachkräfte

10.5.4. Sexualisierte Gewalt durch andere Menschen

10.6. Epistemische Gewalt und missbräuchliche Verwendung der Gutachterposition

10.7. Gewalt gegen die eigene Person und weitere lebensbegleitende Auswirkungen der erlittenen Gewalt

11 Totale Institutionalisierung

11.1. Gesellschaftlich-politischer Kontext

11.1.1. Gesellschaftliche Unantastbarkeit

11.1.2. Manipulation, Tabu und willentliches Nichtsehen

11.1.3. Undemokratische Machtakkumulation

11.1.4. Geteilte Weltanschauung, Gewalt und Exklusion

11.1.5. Stigmatisierende Menschenbilder in Landespolitik, Sozialund Gesundheitssystem und ihre Auswirkungen

11.2. Heilpädagogische Ausbildung in Kärnten

11.2.1. Fachlicher Monopolanspruch

11.2.2. Das Bild vom Kind in der heilpädagogischen Ausbildung

11.2.3. Hermetik als Bildungsideal

11.3. Totale Institutionen fußen auf Disziplinierung und erzeugen Gewalt

11.3.1. Institutionen nach außen absichern

11.3.2. Institutionsinterne Schulen verstärken Bildungsbenachteiligung

11.3.3. Entindividualisierung als Teil der Erziehung zur Unterwerfung

11.3.4. Widerstand der Kinder und Jugendlichen ist systemerhaltend für totale Institutionen

11.4. Gewalt galt als Kavaliersdelikt

11.4.1. Nur ein „kleiner Touch daneben“

11.4.2. Akzeptanz von Gewalt an Frauen

11.4.3. Willentliches Nichtsehen als Konsens der Elite

11.5. Drohen und Beschämen statt politischer Verantwortungsübernahme

11.5.1. Umgang mit relevanten anonymen Hinweisen von innen

11.5.2. Umgang mit fachlich relevanten Nachfragen von außen

11.5.3. Umgang mit direkten Beschwerden

11.6. Durchlässigkeit der totalen Institutionen wird zur Gewaltspirale

11.6.1. Spirale der Gewalt

11.6.2. Institutionsorientierung

11.7. Zirkularität der Perspektivenbildung

11.8. Verantwortungsdiffusion

11.8.1. Stigmatisieren reduziert Verantwortungsbewusstsein

11.8.2. Stigmatisierung von Eltern

11.8.3. Kontrollfunktion in Form von angekündigten Besuchen

11.8.4. Hohe Personalfluktuation und Mangel an Personal

11.8.5. Verschweigen und andere Formen der Geheimhaltung

11.8.6. Nepotismus, Seilschaften, heikle Loyalitäten

11.8.7. Personalisieren von strukturellen Problemen

11.8.8. Fachwissen

11.8.9. Delegation von Verantwortung

11.9. Wie mit diesem Geheimnis umgehen?

11.10. Auflösen der Institutionen

12 Folgerungen und Herausforderungen

12.1. Kollektives Gedächtnis und die Macht der Verschwiegenheit

12.2. Stärkung der Verantwortung von Leitungsebenen

12.3. Mehrperspektivität

12.4. Ombudsstellen

12.5. Recht auf gesellschaftliche Teilhabe

12.6. Stärkung vulnerabler Menschen

12.7. Wissensbildung

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Transkriptionsregeln

Presseecho

Die Autorinnen

Kindermund1

Anna Baar

Vom Schweigen, sagte man mir, als man mich bat, zu Ihnen zu sprechen, solle die Rede sein. Und je länger ich darüber nachdachte, was darüber gesagt sein kann, gesagt sein soll, gesagt sein muss, desto unmöglicher schien es mir, ins Banale zu flüchten, das Schweigen nur zu umkreisen, mit Worten herauszuputzen.

Der Mensch, wir wissen das alle, hat eine Sehnsucht nach Heil. Etwas in uns sträubt sich dagegen, Verdrängtes zutage zu bringen. Und wenn es schon sein muss, reden wir lieber aus scheinbar sicherer Entfernung, reden wie Unbeteiligte von den Senkgruben des Vergessens, in der Art der Berichterstatter und Kommentatoren. Wer aber nicht hineinwühlt, mitten ins schwärzeste Schweigen hinein, dem steht es, glaube ich, nicht zu, hier ein Wort zu ergreifen.

Nach allem, was ich selbst gesehen, gelesen und gehört habe über das Verschwiegene, ist es mir nicht möglich, vom Schweigen zu reden, vom Totschweigen, wie ich es nennen will, ohne es anzugreifen, es nämlich so anzugreifen, dass es am Ende bricht. Sie werden deshalb hier und heute von mir keine schönen Worte hören, sondern unbeholfenes Gestammel. Jeder Begriff wird klein und lächerlich in Anbetracht des Unerhörten. Überhaupt: Vergessen wir die schönen, die schönenden, schonenden Worte! Vergessen wir Worte wie Missbrauch! Sagen wir Vergewaltigung, sagen wir Hungern- und Frieren-Lassen, reden wir von Kopfnüssen, von Faustschlägen ins Gesicht, vom Haarereißen und Ohrenlangziehen, vom Verdreschen mit Stöcken, Gürteln, Kleiderhaken, Schuhen, vom Verbrennen mit Zigarettenstummeln, vom Verbrühen mit heißem Wasser, vom Abspritzen mit eiskaltem Wasser, vom Aufessen-Müssen bis zum Erbrechen, vom Aufessen-Müssen des Erbrochenen, vom stundenlangen Strammstehen und Scheitelknien, vom Sich-nackt-ausziehen-Müssen. Nennen wir alles beim hässlichsten Namen, spielen wir nichts herunter mit den kleinen, harmlosen Worten, die nichts verraten von den Verstümmelungen an Leib und Seele! Und wenn wir von Schändung reden, so sagen wir gleich dazu: Es ist unsere Schande, die Schande des Wegschauens, Nicht-wahrhaben-Wollens.

Bricht das Schweigen etwa, wenn man vom Schweigen spricht? Nein, das glaube ich nicht. Lassen Sie mich also erzählen, wie einmal die Polizei anrückte, nachdem die Kinder unserer Siedlung sich darüber beklagt hatten, dass der Nachbar von Zeit zu Zeit seinen Hintern aus dem Fenster streckte. Und wie sich die Kinder Tage später beim Nachbarn entschuldigen und gegenüber der Polizei angeben mussten, die Sache erfunden zu haben. Kindern, so hieß es, muss man nicht glauben. Sie bilden sich manches ein.

Nicht einmal denken, hieß es, wenn wieder etwas aufkam, das nicht aufkommen durfte. Es ist doch überall so: Die Großen bringen den Kleinen bei, was sie für wichtig halten, Schreiben und Rechnen zum Beispiel, den Bocksprung, das Vaterunser … Und, als eine Art elftes Gebot, dass man, ja: man, über manches nicht spricht.

Kindermund tut Wahrheit kund – also verbietet man ihn.

Ich könnte Ihnen erzählen: Wo ich aufwuchs, sagten die Leute Den Kindern geht es zu gut. Und wirklich, die Kinder hatten es gut, immer genug zu essen, immer ausreichend warm. Sie taten, was Kinder so tun, Himmel-und-Hölle spielen oder auf Bäume klettern, im Winter Schneemänner bauen … Ärger bekamen sie höchstens, wenn sie aufmüpfig waren. Denn für das Schöne und Gute hatte ein Kind sich erkenntlich zu zeigen, durch Gehorsam und Disziplin, Ehrfurcht, wie manche sagten.

Meine Damen und Herren! Nirgendwo gedeiht Gewalt so üppig wie auf dem Boden von Autorität und Hörigkeit. Das Recht des Stärkeren ist das stärkste Unrecht, sagte die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach. Aber wir müssen hier gar keine Dichterinnen oder Dichter bemühen. Fragen wir nur die, die ausgesperrt und geknebelt und deren Stimmen erstickt wurden hinter den Mauern des Schweigens! Sie haben Gewalt und Erniedrigung erlitten anstatt Liebe, Schutz und Fürsorge zu erfahren. Und ausgerechnet von jenen, die doch schon von Berufs wegen Heilung, Stärkung und Schutz versprachen – Ärzten, Schwestern, Pflegern, Erzieherinnen, Kirchenleuten, Seelsorgern …

Und wenn wir uns heute fragen, wie das passieren konnte, so vergessen wir nicht, dass es immer noch passiert, wo sich die Zeugen eines Unrechts von der Gleichgültigkeit ihres Umfelds infizieren lassen, anstatt ihr Gewissen zu befragen. Wo andere keine Betroffenheit zeigen, wo niemand aufmuckt, aufzeigt oder in Panik gerät, wo niemand einschreitet, hilft, fällt es leicht, zu glauben, alles sei halb so schlimm.

Oft ist es die Sorge um sich selbst, die den Menschen unmenschlich macht, sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung, die Angst, aus dem Kreis der Gemeinschaft zu fallen, seine Arbeit zu verlieren oder seinen Ruf, indem er in den Verdacht kommt, ein Verräter zu sein. Aber kein System, kein Kleinmut, keine Pflicht oder Religion enthebt uns der eigenen Verantwortung, schändliche Verbrechen an- und aufzuzeigen. Und diese Verantwortung trifft nicht nur intime Mitwisser. Sie trifft uns alle als Gesellschaft, gerade wenn es um die Schwächeren und Schwächsten geht, die kleingehalten, unterdrückt, malträtiert, bedroht und erpresst wurden – Wenn du nicht spurst, kommst du zum Wurst.

Und da wir schon von ihm reden: Den Doktor kannte bald jeder hier, die meisten vom Hörensagen. Doch keiner wollte den Kindern erklären, weshalb es denn Strafe sei, zu diesem Doktor zu gehen. Und die Kinder fragten nicht nach, ahnten wohl die Gefahr, auf große Dinge zu stoßen, über die man nicht sprach und die man nicht denken durfte.

Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf bekleidete Leut’!, hieß es in jener Zeit. Auch wenn nur die Geltung kleidet, die eigene Eitelkeit und die des feigen Gefolges. Es ist wie im Märchen, in dem alle vorgeben, die schönen Gewänder des Herrschers zu bewundern, um nicht als dumm zu gelten. Selbst als ein Kind bei einem Festumzug damit herausplatzt, dass der Herrscher doch gar keine Kleider anhabe, setzt der Hofstaat die Parade fort. Aus Furcht um Stellung, Wohlstand und Ruf spricht nicht einmal der treueste Minister die offensichtliche Wahrheit aus.

Wie oft, meine Damen und Herren, entscheiden sich Menschen zum eigenen Vorteil gegen die Wahrheit? Und wie oft verkennen sie die Wahrheit, geblendet von denen, zu denen sie gerne aufschauen, weil sie von ihrem Glanz profitieren – oder von ihrer Gunst? Auch Doktor Wurst war Herrscher, Befehlshaber, Würdenträger – mit Lorbeer und Ehrenring. Etliche aus seinem Hofstaat, hörte ich später sagen, nannten ihn „lieber Gott“.

Und ich könnte Ihnen erzählen: Felix aus meiner Klasse hat „Gott“ leibhaftig gesehen. Hat ihn alles geheißen, hat ins Erziehungsheim müssen. Damals hat es geheißen: Man nennt „Gott“ nicht ungestraft Schwein. Jahrzehnte später hat Felix erzählt, „Gott“ sei vor ihm gestanden, die Hose bis zu den Knien, ein großes Dings in der Hand. Und dann die Frage der Fragen, warum er so lange geschwiegen hat, die Sache sei doch lang her, sei doch schon fast nicht mehr wahr.

Wo der Schrecken namenlos ist, bleibt aber jede Wahrheit zu groß – selbst für den Kindermund.

Wir können nichts ungeschehen machen, aber wir können den Kindern von einst endlich Gehör und Glauben schenken, die an ihnen begangenen Verbrechen endlich benennen, Mitschuld eingestehen. Doch reden wir nicht von Entschädigung, sondern von Gesten der Anteilnahme und Verantwortung. Dass sich das Land Kärnten dieser Verantwortung stellt, ist ein großer und wichtiger Schritt, für den ich allen Entscheidungsträgern und Beteiligten danke. Jetzt bleibt uns noch, aus der Vergangenheit zu lernen, wachsam zu sein, die Kinder in Schutz zu nehmen, unbestechlich dazwischenzugehen, wo die Gewalt sich zeigt.

Es bleibt, darüber zu reden. Das Schweigen nämlich, sooft man es auch bricht, fügt sich schnell wieder zusammen.

____________________

1 Rede anlässlich des Landesakts „Geste der Verantwortung“, der sich im Januar 2020 an Menschen richtete, die als Kinder und/oder Jugendliche in Kärnten Opfer von Gewalt in Institutionen der Jugendwohlfahrt und/oder des Gesundheitswesens wurden.

Vorwort

„Wir hatten niemanden, zu dem wir gehen hätten können oder der uns geglaubt hätte, niemanden!“ Diese Feststellung haben wir in der Opferschutzstelle des Landes Kärnten schon oft gehört. Es sind viele Personen, die z.T. viele Jahre nach ihren Heimaufenthalten oder nach ihren Patientenkontakten mit Dr. Wurst den Weg in diese Opferschutzstelle suchen und finden, um dann oftmals das erste Mal in ihrem Leben mit jemandem über ihre traumatischen Erfahrungen im Jugendheim, in der Pflegefamilie oder im Krankenhaus zu sprechen.

Es waren nicht nur die erschütternden Einzelschicksale, die uns in der Opferschutzstelle erzählt wurden, es waren vor allem die Strukturen, in denen die berichtete Gewalt geschehen konnte, und die vielen hilflosen Kinder und Jugendlichen in diesen Strukturen, die uns bewogen haben, eine fundierte, objektive, wissenschaftliche Aufarbeitung der Fremdunterbringung im Rahmen der Kärntner Jugendwohlfahrt von 1950 bis 2000 sowie der damit in Zusammenhang stehenden Ära Wurst anzuregen. Über zu viel, so schien uns, gab es Vermutungen, über die nicht gesprochen wurde und die nicht weiter hinterfragt wurden. Immer wieder stellten wir uns die Frage, warum so unvorstellbar erschütternde Gewalt an so vielen Kindern so lange Zeit unwidersprochen möglich war und warum niemand da war, der diesen Taten bzw. dem Wegschauen und dadurch weiteren Taten nachhaltig Einhalt geboten hätte. Wir stellten uns die Frage, ob denn keine Kontrolle da war oder ob Kontrolle bis in die 1990er-Jahre möglicherweise gar nicht erwünscht war. Wir wollten mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung einen Prozess in Gang bringen, um verstehen zu können, wie es zu dieser jahrzehntelangen Gewalt kommen konnte und um daraus für die Gegenwart und Zukunft der Fremdunterbringung sowie der Kooperation zwischen den Systemen Kinder- und Jugendhilfe, Bildungs- und Gesundheitswesen zu lernen.

Artikel 2 Absatz 2 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBL I Nr 4/2011, gewährleistet, dass „jedes Kind, das dauernd oder vorübergehend aus seinem familiären Umfeld, welches die natürliche Umgebung für das Wachsen und Gedeihen aller ihrer Mitglieder, insbesondere der Kinder ist, herausgelöst ist, Anspruch auf besonderen Schutz und Beistand des Staates hat.“ Auch die UN-Kinderrechtskonvention gewährt allen Kindern, die nicht in einem familiären Umfeld aufwachsen können, den besonderen Schutz und Beistand des Staates (Art. 20). Vor dem Hintergrund dieser verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte und der Erkenntnisse aus der vorliegenden Forschungsarbeit ist es unsere Pflicht und unser Auftrag, alles dafür zu tun, um Kindern, die nicht in ihren Familien bleiben können, ein Aufwachsen unter bestmöglichen Bedingungen mit höchstmöglichen Qualitätsstandards, best aus- und fortgebildeten MitarbeiterInnen und einer transparenten und routinekritischen Fachaufsicht zu ermöglichen. Es braucht hier zum einen entsprechende personelle und finanzielle Rahmenbedingungen, zum anderen braucht es Verantwortungsbewusstsein, Verantwortungsübernahme und Haltung jedes/r einzelnen MitarbeiterIn im Bereich der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, der privaten Träger der Kinder- und Jugendhilfe sowie aller Fachpersonen aus dem Bildungs- und Gesundheitsbereich, die mit und für Kinder und Jugendliche arbeiten.

Als Kinder- und Jugendanwaltschaft haben wir den Appell etlicher Betroffener aufgegriffen und stehen seit April 2020 mit regelmäßigen kinderanwaltlichen Sprechstunden und der sogenannten kinderanwaltlichen Vertrauensperson allen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung, die in Kärnten fremduntergebracht sind. Kein Kind, das fremduntergebracht ist oder nicht in seiner Familie aufwachsen kann, soll später mehr sagen müssen, dass niemand da gewesen wäre, dem/der es sich mit seinen Sorgen oder Problemen anvertrauen hätte können!

Es ist mir ein Anliegen, mich bei Ulrike Loch und ihren Mitarbeiterinnen für die hervorragende Zusammenarbeit, die vielen tiefgreifenden und hinterfragenden Gedankenaustausche, die viele Fragen aufwerfenden und Zusammenhänge herstellenden persönlichen Gespräche auf das Herzlichste zu bedanken. Es war am Beginn dieser Zusammenarbeit nicht im mindesten absehbar, wie tief die Forscherinnen die Geschichte der Kärntner Jugendwohlfahrt von der Nachkriegszeit bis in die 1990er-Jahre, eingebettet in Politik und Verwaltung, Bildungs- und Gesundheitswesen, aufrollen, Zusammenhänge aufzeigen und erklären würden.

Es ist viel in Bewegung gekommen: durch die mutigen Betroffenen, die sich im Verfahren vor der Opferschutzkommission ihrer Vergangenheit stellen. Durch die Geste der Verantwortung im Jänner 2020, in der Landeshauptmann Dr. Peter Kaiser sich bei allen ehemaligen Kindern und Jugendlichen im Namen des Landes Kärnten für die unfassbare Gewalt entschuldigt hat, die sie erleiden mussten und vor der man sie nicht geschützt hat bzw. nicht schützen konnte. Und nicht zuletzt durch die vorliegende Aufarbeitung „Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Institutionen“. Ulrike Loch und ihre Kolleginnen haben den Betroffenen in dieser Arbeit mit großem Respekt und viel Empathie den Raum gegeben, sich ihre gewaltbehaftete Kindheit und Jugend anschauen zu können und dabei zu erfahren, dass ihnen zugehört und geglaubt wird.

„Jetzt bleibt uns noch, aus der Vergangenheit zu lernen, wachsam zu sein, die Kinder in Schutz zu nehmen, unbestechlich dazwischenzugehen, wo die Gewalt sich zeigt. Es bleibt, darüber zu reden. Das Schweigen nämlich, sooft man es auch bricht, fügt sich schnell wieder zusammen“ (Anna Baar, in diesem Band, S. 16).

Klagenfurt, den 15. Juli 2021

Astrid Liebhauser

Kinder- und Jugendanwältin des Landes Kärnten

Wir sagen Danke!

Es ist uns ein großes Anliegen, uns bei all jenen Menschen und Institutionen zu bedanken, die das Forschungsprojekt „Gewalt an Kärntner Kindern und Jugendlichen in Institutionen“ begleiteten und unterstützten. Einige möchten wir an dieser Stelle namentlich nennen.

Unser Dank und unsere Wertschätzung gelten allen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, die mit ihren Erinnerungen zur Erforschung dieser gewaltvollen Vergangenheit beigetragen haben. Die interviewten Menschen, die als Kinder und/oder Jugendliche in den hier erforschten Institutionen Gewalt erlitten haben, ermöglichten uns tiefe und schmerzvolle Einblicke in ihre Lebensgeschichte und ließen das Ausmaß der Gewalt an Heranwachsenden innerhalb der Jugendwohlfahrt und des Gesundheitswesens sichtbar werden.

Diese Studie geht zurück auf die Initiative der Kinder- und Jugendanwältin des Landes Kärnten Astrid Liebhauser, deren Anliegen es war, die Causa Wurst für die Betroffenen sowie für die Gesellschaft in Kärnten aufzuarbeiten. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft ermöglichte gemeinsam mit den Menschen, die sich an die Opferschutzstelle des Landes Kärnten wandten, dass die Akten der Opferschutzkommissionen der ehemals von der Gewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen Gegenstand der Forschung wurden.

Herzlichst bedanken wir uns bei der Steuerungsgruppe, die sich seit 2014 bis in die Gegenwart für die gesellschaftliche Bearbeitung der schmerzlichen Vergangenheit in der Kärntner Geschichte einsetzt und die Arbeit des Forschungsprojekts konstruktiv begleitete. Mitglieder der Steuerungsgruppe waren Astrid Liebhauser, Rudolf Winkler (Fachgruppenobmann für Kinderund Jugendpsychiatrie der Ärztekammer für Kärnten), Wolfgang Wladika (Primar der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters im Klinikum Klagenfurt) und Sigrid Zeichen (Psychotherapeutin sowie Vorsitzende der Unabhängigen Opferschutzkommissionen des Landes Kärnten). Die Steuerungsgruppe vermittelte u.a. den Kontakt zum Ehrenpräsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) Ernst Berger, der die Forschung durch sein fachspezifisches Wissen unterstützte.

Auch den finanziellen Förderern des Forschungsprojekts gilt unser Dank: Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Ärztekammer für Kärnten, KABEG/ Klinikum Klagenfurt, Kärnten Privatstiftung, Land Kärnten, ÖGKJP sowie private SpenderInnen und Wirtschaftsunternehmen. Ohne diese Förderung wäre die Studie nicht möglich gewesen.

Weiterhin danken wir den Archiv-MitarbeiterInnen und WissenschaftlerInnen, die uns bei historischen Recherchen und der Kontextualisierung der zur Verfügung gestellten Daten unterstützten: Archiv der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Archiv der Universität Wien, Archiv des Landesgerichts Klagenfurt, Bundesarchiv Berlin, Kärntner Landesarchiv und die Archive des Klinikums Klagenfurt.

Eine Studie, die sich auch mit der Geschichte der eigenen Organisation auseinandersetzt, braucht die Unterstützung innerhalb der Organisation, um den Zugang zu Daten und finanziellen Mitteln sowie Forschungsfreiheit zu gewährleisten. Hierfür danken wir dem Rektorat und dem Senat der Alpen-Adria-Universität, dem Dekanat der Fakultät für Kulturwissenschaften, dem Forschungsservice sowie den Mitgliedern des Instituts für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung sowie des Instituts für Psychologie. Stellvertretend für alle KollegInnen nennen wir an dieser Stelle den Rektor Oliver Vitouch und die Senatsvorsitzende Larissa Krainer. Unser Dank gilt ebenfalls der Landesregierung und dem Klinikum Klagenfurt. Hier danken wir besonders dem Landeshauptmann Peter Kaiser und der Landesrätin für Soziales Beate Prettner, dem KABEG-Vorstand Arnold Gabriel, der Präsidentin der Ärztekammer für Kärnten Petra Preiss, Günther Pöschl für die Kärnten Privatstiftung sowie allen unterstützenden Klinik- und LandesmitarbeiterInnen.

Die Forschung entstand zwischen 2016 und 2021. Beteiligt waren daran neben den Studienautorinnen zeitweise auch Alma Brkić-Elezović als wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie Alexander Leitner und Irmgard Hoi (Transkription) als studentische MitarbeiterInnen. Vladimir Wakounig wurde während der Bürogemeinschaft zum assoziierten Berater, der die Forschung achtsam und reflexiv begleitete. Ilona Oestreich koordinierte und lektorierte mit großer Kompetenz das vorliegende Buch. Für die Publikation erteilten uns die KünstlerInnen Ina Loitzl, Tanja Prušnik und Reimo Wukounig die Druckerlaubnis für ihre Werke. Anna Baar stimmte dem Abdruck des Textes zu, den sie anlässlich des Landesakts „Geste der Verantwortung“ schrieb. So verbinden sich in der vorliegenden Veröffentlichung Lebenserfahrungen mit Kunst, Literatur und Wissenschaft.

Die vielfältigen, verantwortungsvollen und engagierten Kooperationen der vergangenen Jahre ermöglichten die Ergebnisse der vorliegenden Studie.

Wir danken Ihnen von Herzen für die Unterstützung!

Brixen und Klagenfurt, im Juli 2021

Ulrike Loch, Elvisa Imširović, Judith Arztmann und Ingrid Lippitz

1 Über Gewalt gesellschaftlich ins Gespräch kommen*

1.1. Menschenwürde

„Alle Menschen sind gleich an Würde und Rechten geboren“ lautet das oberste Prinzip der Menschenrechte als Konsequenz aus den Verbrechen an der Menschlichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damit ist der Auftrag verknüpft, in der Gegenwart und für die Zukunft eine menschenwürdige Welt zu gestalten.

Die vorliegende Studie dokumentiert Gewalt an Heranwachsenden, die in Kärnten von der Jugendwohlfahrt betreut und/oder im Gesundheitswesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts behandelt wurden. Aufgezeigt werden fortgesetzte Menschenrechtsverletzungen, die oft als unvorstellbar gelten und von denen heute viele Menschen wünschen, sie wären nie geschehen. Im Zentrum der Studie stehen zwei Institutionen, die ihrem gesellschaftlichen Auftrag zufolge – so müsste man annehmen – das Kindeswohl schützen sollten. Jahrzehntelang wurden sie jedoch für Hunderte Kinder und Jugendliche zu Orten unermesslicher Gewalt: das Landesjugendheim Rosental in Görtschach (Ferlach) und die Heilpädagogische Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt (vgl. Kap. 2). Ausgehend von diesen beiden Institutionen wird die Dimension dieses gewaltvollen Teils der österreichischen Geschichte sichtbar gemacht.

Die Akten der beiden Opferschutzkommissionen des Landes Kärnten (2013– 2015, ab 2020) und die vorliegende Studie zeigen in aller Deutlichkeit ein Systemversagen von (Sozial- und Gesundheits-)Politik, Sozialverwaltung und jenen Institutionen auf, deren Aufgabe die Betreuung, Heilung, Bildung und/oder Unterstützung von Kindern und Jugendlichen war. Mit dem bewegenden Landesakt „Geste der Verantwortung“ übernahmen im Januar 2020 der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser und weitere LandespolitikerInnen nachträglich die politische Verantwortung für dieses Systemversagen gegenüber den ehemals von Gewalt betroffenen Menschen. Das Anerkennen der Gewalt als Menschenrechtsverletzung in dieser und anderen Veranstaltungen (u.a. in der Landesregierung, im Klinikum Klagenfurt und in der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) ist grundlegend, um gesellschaftliche (politische und fachliche) Veränderungen im Sinne der Kinderrechte und des Kindeswohls zu realisieren. Verantwortungsübernahme und menschenrechtsorientierte Handlungen ermöglichen, dass anstelle des täterloyalen (Ver-)Schweigens und des einvernehmlichen ‚Nicht-Erinnerns‘ die Stimmen hinter dem Schweigen hörbar werden: die Stimmen der damaligen Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien. Dies ermöglicht eine Mehrperspektivität innerhalb des kollektiven Gedächtnisses in Kärnten und darüber hinaus auf nationaler Ebene, die mit Prozessen der Demokratisierung einhergeht.

Mittels Wertschätzung und Transparenz intendiert die vorliegende Publikation, demokratische Entwicklungen dort zu stärken, wo Kinder und Jugendliche im vergangenen Jahrhundert durch das Wirken von Jugendwohlfahrt sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie Exklusion und Gewalt erlitten. Sichtbar wird dabei ein heilpädagogisches Gewaltregime in Kärnten und weiteren Teilen Österreichs, das auf Basis pseudowissenschaftlicher Theorien durch Medizin (Psychiatrie), Psychologie, Sozialarbeit und Pädagogik sowie Hochschulen, Politik und Justiz abgesichert wurde. Eine Orientierung an Menschen- und Kinderrechten setzt voraus, sich von der im vergangenen Jahrhundert in Österreich etablierten medizinisch-psychologischen Heilpädagogik zu verabschieden. Denn diese begründete ideologisch jenen Machtmissbrauch von Psychiatrie und Wissenschaft (vgl. Kap. 3 und 4), der den gesellschaftlichen Rahmen für die sprachlos machende Gewalt bildete, die diese Studie aufzeigt.

Gewalt an Kindern und Jugendlichen wurde seitens der Heilpädagogik durch missbräuchlichen Bezug auf ‚Kindeswohlinteressen‘, durch Verweise auf vermeintlich innovative Fachpraxen und Wissenschaftlichkeit sowie das Sammeln von gesellschaftlichen Ehrungen vertuscht. Hierin liegt u.a. die Verantwortung von Wissenschaft und Bildungssystem am Aufrechterhalten des Gewaltsystems. Seitens der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt wurde diese Verantwortung von Rektor Oliver Vitouch und der Senatsvorsitzenden Larissa Krainer durch Initiativen zur Neuinterpretation des damaligen Handelns der Universität übernommen. Auf der Ebene der Kinder- und Jugendpsychiatrie als disziplinärer Nachfolgerin der medizinisch-psychologischen Heilpädagogik erinnert ihr Ehrenpräsident Ernst Berger kontinuierlich an die gewaltvollen Wurzeln der Disziplin und an die Notwendigkeit, sich mit diesen fachlich als Disziplin auseinanderzusetzen. Diese gesellschaftlich notwendigen Anstrengungen wirken in das kollektive Gedächtnis im Sinne des Kindeswohls und der Menschenrechte hinein; es werden weitere gesellschaftliche Auseinandersetzungen notwendig sein. In einer Demokratie gibt es hierzu – angesichts dieses historischen Machtmissbrauchs der Heilpädagogik als wissenschaftlicher Teildisziplin und als Handlungsorientierung des damaligen Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens – keine Alternative zur verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

1.2. Gewaltprävention ist ohne Aufarbeitung historischer Gewalt nicht möglich

Institutionelle Gewalt, wie die Gewalt in öffentlichen Institutionen der Fürsorge, Heilung, Bildung und Betreuung, verliert ihre zerstörerische Wirkung erst, wenn die Gewalthandlungen beendet werden und über die erlittene Gewalt und ihre Auswirkungen öffentlich so gesprochen werden kann, dass sie als Menschenrechtsverletzung anerkannt und darüber mit individueller, struktureller und politischer Unterstützung realisierbare gesellschaftlichen Veränderungen verbunden werden. Auf diesen Zusammenhang und die gesamtgesellschaftliche Verantwortung weist u.a. der Bericht der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UKASK 2020:6) hin. Dabei wird die gesamtgesellschaftliche Bearbeitung als Ergänzung zu individueller Bearbeitung von Traumata z.B. in Therapien oder sozialpädagogischen Begleitungen sowie zur juristischen Aufklärung von Straftaten verstanden.

„Gesellschaftliche Aufarbeitung basiert auf der Annahme, dass erlebte, verschwiegene und vertuschte Gewalt die Gegenwart beeinträchtigt und Unrecht gegenüber betroffenen Menschen ist. [...] Aufarbeitung soll aufdecken, in welcher Kultur sexueller Kindesmissbrauch in einer Institution stattgefunden hat, welche Strukturen unter Umständen mit dazu beigetragen haben, dass Täter und Täterinnen Kindern und Jugendlichen Gewalt angetan haben, wer davon gewusst hat, aber sie nicht oder spät unterbunden hat. Sie soll sichtbar machen, ob es unter den Verantwortlichen in den Institutionen zu dem Zeitpunkt des Missbrauchs eine Haltung gab, die Gewalt begünstigt und Kinder oder Jugendliche abgewertet hat, und sie will klären, ob und wenn ja, warum sexueller Kindesmissbrauch in einer Einrichtung vertuscht, verdrängt, verschwiegen wurde. Auf der Basis dieser Erkenntnisse zielt Aufarbeitung auf Anerkennung des Leids und auf die Rechte und Unterstützung erwachsener Betroffener. Sie will einen Beitrag dazu leisten, Kinder und Jugendliche besser zu schützen und ihre Rechte zu etablieren [...]. Durch öffentliche Berichterstattung und Empfehlungen kommt Aufarbeitung zu einem Ergebnis, an das für Prävention angeknüpft werden kann“ (UKASK 2020:8).

Diese kinderrechtsorientierte Haltung ist auch das zentrale Anliegen der vorliegenden Studie. Wir laden Sie ein, sich aus einer menschenrechtsorientierten Perspektive, die Hoffnung verantwortungsvoll mit realisierbaren gesellschaftlichen Veränderungen verbindet (vgl. Scherling 2019), mit diesem Teil der Kärntner (und der weiteren österreichischen!) Geschichte zu beschäftigen.

1.3. Historischer Kontext

Die Daten der an der Kinder- und Jugendanwaltschaft angesiedelten ersten Opferschutzkommission des Landes Kärnten (2013–2015) zeigen, dass Kinder und Jugendliche über mehrere Jahrzehnte Gewalt in Institutionen erlitten. Die meisten Menschen, die sich an die Opferschutzstelle wandten, erinnerten sich an Gewalt, die vom Heilpädagogen Franz Wurst und weiteren Fachkräften ausging. Als Orte wurden vor allem die Heilpädagogische Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt, das Landesjugendheim Rosental sowie ambulante Settings, wie z.B. die Privatpraxis von Primar Franz Wurst und ambulante heilpädagogische Beratungen im Kontext der Jugendwohlfahrt genannt (vgl. Liebhauser/Laurer 2015; Liebhauser 2017).

Das Landesjugendheim Rosental war eine ländlich gelegene Großeinrichtung für Jungen. Der dortigen Fremdunterbringung ging in der Regel eine (stationäre) heilpädagogische Diagnostik und Begutachtung voraus. Basierend auf diesen heilpädagogischen Gutachten verfügte die Jugendwohlfahrt Heimeinweisungen von Kindern und Jugendlichen. In der Fremdunterbringung übernahmen erneut Fachkräfte des Landeskrankenhauses die heilpädagogische Versorgung der Heranwachsenden. Heilpädagogische Diagnostik, medizinisch-psychologische Gutachten und Führungsberichte der Jugendwohlfahrt waren somit entscheidungsweisend für den weiteren Verbleib der Kinder und Jugendlichen im Landeskrankenhaus, im Jugendheim und auch für ihre Entlassung aus dem Fürsorgesystem (vgl. Kap. 5). Zudem hatten heilpädagogische Empfehlungen weitreichende Auswirkungen im Hinblick auf Familienkontakte und Zugang zu Bildung. Und nicht zuletzt enthielten Gutachten und Führungsberichte – und dies war im Erleben der Kinder und Jugendlichen sicher kurzfristig die bedeutsamste Konsequenz – die implizite Entscheidung über das Verbleiben oder Verlassen der gewaltförmigen Institutionen (vgl. Kap. 6–9). Hier zeigt sich die strukturell-heilpädagogische Verknüpfung der beiden gesellschaftlichen Teilsysteme Jugendwohlfahrt und Kinder- und Jugendpsychiatrie, die sich im (Er-)Leben der damaligen Heranwachsenden als Ohnmacht manifestierte. Sie hatten kaum Chancen, der heilpädagogischen Umklammerung zu entkommen, außer durch auffälliges Verhalten (indem sie die Einschätzung „Erziehungsunfähigkeit“ provozierten) oder durch das Erreichen der Volljährigkeit, die das Ausscheiden aus der Betreuung der Jugendwohlfahrt implizierte (vgl. Kap. 11).

Besonders auffällig ist in den Akten der Opferschutzkommissionen die mehrheitliche Nennung von sexualisierten Gewalthandlungen, die von Franz Wurst im Zusammenhang mit medizinischen Untersuchungen ausgingen. Franz Wurst war neben Hans Asperger einer der einflussreichsten HeilpädagogInnen in Österreich. Seine sexualisierten Untersuchungsmethoden galten als innovativ, seine heilpädagogischen Vorstellungen hatten durch seine ausgedehnte (universitäre) Lehrtätigkeit und seine intensive Zusammenarbeit mit der damals etablierten (heute kritisch hinterfragten) Wiener Heilpädagogik eine orientierende Wirkung in der Fachwelt (vgl. Kap. 3).

In Kärnten war Franz Wurst zunächst leitender Arzt für Jugendwohlfahrtsund Schuluntersuchungen (1951–1968) beim Vorgänger der heutigen Arbeitsvereinigung der Sozialhilfe (AVS) und später bis zu seiner Pensionierung Primar der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt (1968–1985). Bis zu seiner Inhaftierung im Jahr 2000 wirkte er in seiner Privatordination. Ferner war er Universitätsprofessor in Klagenfurt und Wien. Sein gesellschaftliches Prestige und seine Machtstellung waren so einflussreich, dass Kinder und Jugendliche mit ihren gewaltvollen Erfahrungen in der Fachwelt und den Kontroll- und Entscheidungsorganen der Jugendwohlfahrt bzw. in der Sozialverwaltung kaum Gehör fanden. Torpediert wurde die Perspektive der Heranwachsenden zusätzlich durch die Verbreitung von biologistischen ‚heilpädagogischen Theorien‘, die heute als epistemische Gewalt gelten (vgl. Kap. 3 und 4).

Im Dezember 2000 wurde Hilde Wurst ermordet. Im Jahr 2002 wurde Franz Wurst wegen Beteiligung an der Ermordung seiner Ehefrau sowie wegen sexualisierter Gewalt zu 17 Jahren Haft verurteilt. Die Verurteilung wegen sexualisierter Gewalt bezieht sich auf Gewalthandlungen des Primars in den Jahren 1968 bis 1999. Franz Wurst wurde u.a. verurteilt, „teils unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber seiner Aufsicht unterstehenden minderjährigen Personen, teils als Arzt einer Krankenanstalt unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber in der Anstalt betreuten Personen diese zur Unzucht missbraucht“2 zu haben. Da es nicht allen ZeugInnen möglich war, dieses belastende Strafverfahren psychisch durchzustehen, konnten in der Folge ihre Aussagen aufgrund der Gesetzeslage nicht in der Urteilsfindung berücksichtigt werden. Insgesamt wurde Franz Wurst wegen sexualisierter Gewalthandlungen an neun Kindern bzw. Jugendlichen verurteilt. Darunter befand sich ein Junge, der vom neunten Lebensjahr bis zum Erreichen der Volljährigkeit (1990–1999) sexualisierte Gewalt durch den Primar erlitt und während dieser Zeitspanne u.a. medizinisch-heilpädagogisch und von der Jugendwohlfahrt betreut wurde.

Auch wenn sich infolge der Verurteilung die öffentliche Aufmerksamkeit auf Franz Wurst konzentrierte, ist es historisch wichtig zu betonen, dass der Primar nicht die einzige gewaltausübende Fachkraft in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt und im Landesjugendheim Rosental war. Im Schatten des mächtigen Heilpädagogen waren viele andere Personen – Männer und Frauen – ungehindert gewalttätig gegenüber Kindern und Jugendlichen in Institutionen und darüber hinaus. Dies zeigen die Akten der Opferschutzkommissionen ebenso wie die Verurteilung eines weiteren ehemaligen Mitarbeiters der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses sowie die Erinnerungen der Männer und Frauen, die als Heranwachsende Gewalt erlitten. Bis zum Herbst 2021 sind 450 Anträge von Gewalt betroffenen Menschen bei der Opferschutzstelle des Landes Kärntens eingegangen.

1.4. Wie mit dem Ausmaß von Gewalt umgehen?

Die Studie dokumentiert unterschiedliche Formen von physischer, psychischer, sexualisierter, struktureller und epistemischer Gewalt sowie missbräuchliche Medikamentenvergabe mit teilweise unvorstellbaren Dimensionen (vgl. Kap. 10). Die Kinder und Jugendlichen haben diese Gewalt als Individuen erlitten. Ihre individuellen Leiden wurden – aufgrund der etwa 50-jährigen Kontinuität der Gewaltausübung – zur kollektiven Erfahrung mehrerer Kinder- und Jugendgenerationen. Somit dokumentiert die vorliegende Studie die strukturelle Dimension der Gewalt in der Jugendwohlfahrt und der kinderpsychiatrischen Versorgung in Kärnten. Darüber hinaus wird die heilpädagogische Vernetzung in Österreich sichtbar.

Infolge der Traumatisierung und des sozialen Verlassenseins nahmen die damaligen Kinder und Jugendlichen oftmals eigensinnige Wege, um mit den belastenden Erfahrungen und Erinnerungen umzugehen. Die Begegnung mit der Gewalt in den Lebensgeschichten der ehemaligen Kinder und Jugendlichen benötigt und erzeugt Respekt vor den individuellen Anstrengungen und dem jeweils entwickelten Umgang mit der erlittenen Traumatisierung. Nicht allen ehemals von Gewalt betroffenen Menschen war ein Leben mit den schmerzvollen körperlichen und psychischen Erinnerungen an die erlittene Gewalt möglich. Die Auswirkungen der Gewalt auszubalancieren und mit den Schmerzen zu leben, stellt eine lebenslange Aufgabe dar für die Menschen, mit denen wir gesprochen haben. Die Folgen der erlittenen Gewalt zeigen sich auch im Familienleben der Betroffenen und in ihren Freundschaften.

In diesem Buch werden wir die strukturelle Dimension der Gewalt darstellen sowie biografische Beispiele geben, um die Erfahrungen der Betroffenen für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen (vgl. Kap. 6–9). Aus Rücksicht auf die Würde der ehemals von Gewalt betroffenen Menschen und aus Gründen der Lesbarkeit wird auf das Darstellen von besonders extremen (Gewalt-)Situationen verzichtet. So hoffen wir, allen interessierten Menschen eine Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit zu ermöglichen.

1.5. Wer sind die Opfer dieser Gewalt?

Opfer dieser Gewalt waren Jungen und Mädchen jeden Alters, aus allen sozialen Schichten und unabhängig davon, ob die Eltern bzw. Familien die TäterInnen persönlich kannten, mit ihnen befreundet waren und/oder gemeinsam arbeiteten. Ausgenommen waren jene Kinder, deren Familien die Macht hatten, sich gegen das System zu wehren und die ihren Kindern glaubten und sich zur Wehr setzten. Diese drei Kriterien erfüllten nur sehr wenige Familien im untersuchten Zeitraum. Somit sprechen wir über Gewalterfahrungen, die viele Familien in Kärnten (und anderen Bundesländern) betreffen, die sich in die Kinderkörper und in soziale (Familien-)Beziehungen eingeschrieben haben und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart nachwirken. Dies zeigt sich in vielen Reaktionen von Familienmitgliedern gegenüber der Opferschutzstelle und dem Forschungsprojekt. In diesen E-Mails und Anrufen werden z.B. Veränderungen des Bruders oder der Schwester erinnert, die damals nicht verstanden wurden und die bis in die Gegenwart emotional belastend sind. Es konnte auch den besten Freund, die beste Freundin oder KlassenkameradInnen betreffen. In Kontakt mit diesem System kamen die Kinder und Jugendlichen damals vorwiegend, weil sie der Schule oder der Jugendwohlfahrt auffielen oder weil die Eltern die Bildungsverläufe ihrer Kinder durch (prophylaktische) Behandlungen in der Privatordination eines angesehenen Primars unterstützen wollten.

Einige Menschen, mit denen wir gesprochen haben, sind in der Zwischenzeit verstorben. Viele haben Kinder, die bald in den Ruhestand gehen und sich ihr ganzes Leben für den Vater oder die Mutter verantwortlich fühlen. Als Folge der erlittenen Gewalt fällt es vielen Betroffenen schwer, Beziehungen aufrechtzuerhalten. In solchen Situationen von Einsamkeit werden Eltern-Kind-Beziehungen (über)lebenswichtig. Andere ehemalige Opfer der Gewalt sind heute etwa 40 Jahre alt und Eltern von Kindern, die den Kindergarten und/oder die Schule besuchen. Sie sehen oft ohnmächtig zu, wie sehr das Leben der eigenen Kinder durch transgenerationale Traumatisierung belastet ist, obschon sie die zerstörerischen Auswirkungen der erlittenen Gewalt auf die nächste Generation unterbinden oder wenigstens abmildern wollen. Andere weisen darauf hin, dass sie nach dem Erleiden von Gewalt in Institutionen Angst vor einer erneuten Institutionalisierung im Alter haben. Sie haben Angst vor Erinnerungen, die durch ein Leben in einer Institution getriggert werden. Einige Menschen ziehen aufgrund dieser Angst ein Leben auf der Straße vor.

Die ehemals von Gewalt betroffenen Menschen, mit denen wir im Rahmen der Forschung in Kontakt waren, sind heute im Alter zwischen Anfang 40 und 80 Jahren. Vielen von ihnen gelang es eine Zeit lang, die Erinnerungen an die Gewalt aus dem Bewusstsein auszuschließen. Sie erinnerten sich wieder an die Gewalt,

▪ als sie Eltern wurden und/oder die eigenen Kinder in das Alter kamen, in dem sie selbst Opfer von Gewalt wurden,

▪ als sie als Eltern denselben MitarbeiterInnen im Gesundheitssystem oder in der Kinder- und Jugendhilfe begegneten, die sie aus ihrer Kindheit oder Jugend als nicht unterstützend kannten,

▪ als sie sich dem Ende ihrer Berufszeit näherten, da in dieser Lebensphase die Reflexion des bisherigen Lebens sozial als biografische Arbeit erwartet wird. Vielen Opfern wird in dieser Phase auch bewusst, dass sie aufgrund von vielen Bildungs- und Berufsabbrüchen und hohen Krankenständen, die auch auf institutionelle Gewalt zurückgehen, nur wenig Pensionsansprüche erworben haben.3

Zusammenfassend lässt sich sagen: Wir haben mit vielen Menschen gesprochen, die sich Antworten wünschen auf die Frage, wie diese lang anhaltende Gewalt möglich war, und gesellschaftliche Handlungen zur nachhaltigen Veränderung dieser Situationen erwarten.

1.6. Sprechen über Gewalt

Innerhalb der vergangenen etwa 70 Jahre lassen sich vier unterschiedliche Phasen des Sprechens und Erinnerns der Gewalt in Institutionen erkennen. Bei deren genauerer Betrachtung wird sichtbar, welche nachhaltigen Auswirkungen gesellschaftliche Reaktionen auf das kollektive Gedächtnis eines Landes – auf Erinnern und Vergessen – haben.

1.6.1. Vor der Inhaftierung: Sprechen, Drohen und Witzeln

Über mehrere Jahrzehnte wurden Jungen und Mädchen von Eltern, LehrerInnen und anderen Erwachsenen mit der Drohung erzogen, „Wenn du schlimm bist, kommt du zum Wurst“. Unter Erwachsenen gab es Witze wie, „der Wurst und seine Pimpalan“. Angst vor Franz Wurst bzw. der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses und das Wissen um die Sexualisierung der Untersuchungen waren Teil des sozialen Wissens bzw. des kollektiven Gedächtnisses, wie viele Zitate in dieser Studie zeigen. Bei aller Gesprächigkeit wurde zu selten der Inhalt der Drohung hinterfragt: Was geschah denn wirklich, während ein Junge oder ein Mädchen beim Primar Wurst war? Wie ging es weiter? Welche Auswirkungen hatte dies?

Eltern und manche Fachkräfte erinnern sich, dass die Jungen und Mädchen irgendwie verändert waren, wenn sie von der Heilpädagogik kamen, d.h., wenn sie nach dem Aufenthalt in der Heilpädagogischen Abteilung nach Hause oder in eine Fremdunterbringungseinrichtung zurückkehrten. Auch in Erinnerungen ehemaliger Fachkräfte der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses werden die Belastungen von Mädchen und Jungen sichtbar, wenn z.B. Franz Wurst Patienten für seine nächsten ‚Untersuchungen‘ auswählte:

„Und, jedenfalls die Burschen haben halt gesagt, […] wenn der Wurst dort eine marschiert ist […] ›Wenn diese Sau mich angreift erschlag ich ihn‹ also das ist der Tenor gewesen, also die Größeren die 14-Jährigen 15-Jährigen also die haben schon, ein murds Dings und die Kleinen haben aber Angst gehabt, weil sie wehrlos waren, also ( ) klein mein ich zwischen acht und zwölf Jahren, ga?“ (IF29)4

Trotz solcher Beobachtungen wirkten Machtgebaren und erlernte soziale Unterordnung, Nepotismus und Loyalitätsverstrickungen so stark, dass das Sprachtabu über Jahrzehnte wirksam blieb und viele Menschen u.a. mit Wegschauen, Vergessen, Nichtwahrnehmen reagierten bzw. aufwuchsen. Das Leiden der Kinder und Jugendlichen wahrzunehmen und zu benennen, erforderte eine bewusste Entscheidung zwischen Orientierung am Sozialprestige der Machtelite und damit dem Erleben sozialer Anerkennung auf der einen Seite und dem Mut auf der anderen Seite, u.U. eine Exklusion in Kauf zu nehmen. Wenige Menschen benannten die Gewalt und strebten Veränderungen an. Sie erhielten leider keine ausreichende Unterstützung durch KollegInnen (MitarbeiterInnen, Vorgesetzte) bzw. andere Fachkräfte. Dies gilt unabhängig davon, ob sie im Landeskrankenhaus, in der Landesverwaltung oder -politik, in Jugendämtern, in Heimen oder bei der Polizei um Hilfe ansuchten.

1.6.2. Strafverfahren und Folgen: Entscheidung zwischen Mitwirken und Erinnerungslücken?

Mit den polizeilichen Ermittlungen gegen Franz Wurst (und einen Jugendlichen) im Jahr 2000 und dem anschließenden Strafverfahren veränderte sich die Situation grundlegend für jene Fachkräfte, die als ZeugInnen einvernommen, und für ehemalige Opfer von der sexualisierten Gewalt, die nun auch vereinzelt als ZeugInnen gehört wurden.

Die öffentliche Aufmerksamkeit richtete sich auf die MitarbeiterInnen der Heilpädagogischen Abteilung aufgrund der polizeilichen Ermittlungen gegen den ehemaligen Primar. Der Mordfall, die Ermittlungen und die Anklage wegen sexualisierter Gewaltdelikte und das rund einjährige Gerichtsverfahren mit der Verurteilung des Primars sowie die laufende Dokumentation in der (Tages-)Presse machten die Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Landeskrankenhaus öffentlich. Dies trug zur Enttabuisierung des Themas in einer breiteren Öffentlichkeit bei.

Für die am Strafverfahren beteiligten Menschen, wie polizeiliche Ermittler oder JournalistInnen, wurden diese Monate zu prägenden Lebenserfahrungen. Im Mittelpunkt des Strafverfahrens stand zunächst Franz Wurst als ehemaliger Primar des Landeskrankenhauses und als Mediziner mit Privatordinationen. Im Laufe des Gerichtsverfahrens wurden für viele Verfahrensbeteiligte weitere Gewaltkontexte sichtbar(er), u.a. das Wirken des Primars in Institutionen der Jugendwohlfahrt. Diese Gewaltkontexte wurden mehrheitlich nicht Teil des Strafverfahrens. Aufgrund des Alters des Angeklagten – Franz Wurst war bei seiner Inhaftierung 80 Jahre alt – wurde jede Ausweitung bzw. Verkomplizierung des Verfahrens vermieden, um den Abschluss des laufenden Strafverfahrens nicht zu gefährden.5

Dies hatte zur Folge, dass vorwiegend MitarbeiterInnen der Heilpädagogischen Abteilung über ihren ehemaligen Vorgesetzten, über heilpädagogische Behandlungsmethoden sowie zu ihrem Wissen über Gewalthandlungen gerichtsöffentlich befragt wurden:

▪ Die Fachkräfte konnten sich an der Aufklärung der Gewalt an Kindern und Jugendlichen beteiligen, indem sie sich bereit erklärten, auszusagen und Details zur Gewalt zu berichten. Für dieses Vorgehen wurde sich jedoch selten entschieden. Es finden sich vereinzelte Aussagen von Fachkräften der Pflege, Pädagogik, Psychologie und Medizin.

▪ Vereinzelt machten Fachkräfte Gebrauch vom Recht zur Aussageverweigerung.

▪ Mehrheitlich sagten die Fachkräfte aus, vor der Inhaftierung des ehemaligen Primars keine Kenntnisse von der Gewalt gehabt zu haben bzw. sich nicht zu erinnern. Nichtwissen bzw. -erinnern schützt vor einer eventuellen Anklage wegen Mitwisserschaft.

Wer öffentlich im Gerichtssaal Nichtwissen kundgetan hatte, braucht viel Mut, um heute öffentlich das Schweigen zu brechen und sich damit von den damaligen Aussagen zu distanzieren. Dies gilt, obschon die damaligen Zeugenaussagen heute verjährt sind. Fachkräfte, die im Verfahren mit der Intention der Unterstützung der von Gewalt betroffenen Menschen aussagten, sprechen auch heute über die damalige Gewalt, z.B. in Forschungsinterviews oder zur Unterstützung der Arbeit der Opferschutzkommission. Die Mehrheit jedoch schweigt, da das Gerichtsverfahren zur Gegenwartsschwelle wurde und damit ihr Sprechen prägt (vgl. Brkić-Elezović/Loch 2018).

Im Schatten dieser Fokussierung auf die medizinisch-psychologische Heilpädagogik agierten das Schul- und Sozialwesen sowie das weitere Gesundheitswesen in Kärnten so, als erinnerten sich die Leitungen nicht an die Zusammenarbeit mit Franz Wurst in ihrem Aufgabenbereich. In diesen Institutionen fand daher keine Auseinandersetzung mit den dort ausgeübten Gewalthandlungen statt, obschon diese bei Gericht thematisiert wurden. Zusammenfassend bedeutet dies: Während das Thema Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Allgemeinheit durch das Gerichtsverfahren weiter enttabuisiert wurde, etablierte sich (zunächst wahrscheinlich aus Angst vor möglichen Ermittlungen) eine Kultur des Nichtwissens und Nichterinnerns der nahen Vergangenheit in weiten Teilen der Kärntner Jugendwohlfahrt und des Gesundheitswesens über alle Verantwortungsebenen hinweg.

1.6.3. Öffentliche Aufmerksamkeit für sexualisierte Gewalt in Institutionen in Europa

Nach dem Bekanntwerden der sexualisierten Gewalt an Kindern und Jugendlichen, zunächst in Irland (vor allem in kirchlichen Einrichtungen) und in Deutschland (vor allem ab 2010 im Canisius-Kolleg in Berlin), wurde auch in Österreich medial zunehmend Gewalt in Einrichtungen der Jugendwohlfahrt thematisiert. Auch in Kärnten meldeten sich betroffene Männer und Frauen. Nach mehreren Anläufen (u.a. dem Bearbeiten der Beschwerden wegen Gewalt innerhalb der Jugendwohlfahrt durch die Jugendwohlfahrt selbst und ohne Hinzuziehung einer Clearinginstanz) richtete das Land Kärnten 2013 eine unabhängige Opferschutzstelle ein. Die Arbeit der Opferschutzstelle zeigte bald eine Systematik der Gewalt auf, die eine weitergehende gesellschaftliche Auseinandersetzung erforderte. Dies führte auf Initiative der Kinder- und Jugendanwältin Astrid Liebhauser u.a. zur Einrichtung der Steuerungsgruppe zur fachlichen Auseinandersetzung mit der dokumentierten Gewalt (2014) und zur Beauftragung der vorliegenden Studie.

1.6.4. Heute: Öffentliche Anerkennung des Systemversagens

Die öffentliche Anerkennung des damaligen Systemversagens durch die Landesregierung im Jahr 2020 und die Arbeit der zweiten Opferschutzkommission des Landes Kärnten (seit 2020) öffnet den Weg zur weiteren gesellschaftlichen Auseinandersetzung und dient damit der sozialen Gerechtigkeit. Die vorliegenden Forschungsergebnisse verstehen sich als ein Beitrag hierzu, indem sie u.a. Verstrickungen von Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Praxis sowie soziale Praxen (z.B. Verschweigen) aufzeigen, die Gewalt ermöglichten (vgl. Kap. 11). Eine kritische Auseinandersetzung mit den Ermöglichungsstrukturen von Gewalt stärkt Zivilcourage sowie fachliche Weiterentwicklung, in der Wellbeing und Schutz von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt stehen (vgl. Kap. 12).

Deutlich wurde in dieser Phase: Zur künftigen Entwicklung des Sprechens über Gewalt und von Gewaltprävention trägt jeder erwachsene Mensch in seiner Position und mit seiner Verantwortungsübernahme bei. Denn Kinderschutz kann nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gelingen.

1.7. Sprachliche Vereinfachungen

Der sprachlichen Vereinfachung wegen sprechen wir von „Jugendfürsorge“, wenn wir die Zeit vor 1945 meinen. Den Begriff „Jugendwohlfahrt“ verwenden wir für den Zeitraum, den die Studie untersucht (ca. 1950–2000), sowie für historische Kontinuitäten, die beide Zeiträume betreffen. Die sprachliche Ungenauigkeit, die durch die Vereinfachung entsteht, ist uns bewusst, denn das Jugendwohlfahrtsgesetz löste erst im Jahr 1954 das (auf den Nationalsozialismus zurückgehende) Jugendfürsorgegesetz ab. Im Falle inhaltlicher Relevanz weisen wir auf die Unterschiede hin. 2013 wurde das Bundes-Kinder-und-Jugendhilfegesetz eingeführt, das den Terminus „Jugendwohlfahrt“ durch den Begriff „Kinder- und Jugendhilfe“ ersetzte. Wenn wir in der vorliegenden Studie von Kinder- und Jugendhilfe sprechen, stellen wir gegenwärtige Bezüge her. Vereinzelt verweisen wir auch auf Verbindungen zum „Behindertenwesen“ und „Sonderschulwesen“ oder sprechen übergreifend von „Sozialverwaltung“. Die Institutionen für Menschen mit Beeinträchtigungen bzw. Lernschwierigkeiten und das Schulwesen wurden jedoch nicht systematisch untersucht.

In den uns vorliegenden Patienten- und Jugendwohlfahrtsakten wurden z.T. mehrere Termini für die gleiche Institution oder das gleiche Angebot verwendet, z.B. „Heilstättensonderschule“ und „Heilstättenschule“. Zur sprachlichen Vereinfachung benutzen wir nur den Begriff „Heilstättenschule“. Vergleichbares gilt für die heilpädagogischen Beratungen in den Jugendämtern, diese bezeichnen wir zusammenfassend als „Heilpädagogische Sprechtage“. Ferner sprechen wir allgemein von „Jugendamt“ und „Landesverwaltung“ bzw. „Landessozialverwaltung“, auch wenn z.T. spezifischere Bezeichnungen existieren. Viele Eigennamen der Institutionen haben sich über die Jahrzehnte des untersuchten Zeitraums wiederholt verändert, u.a. wurde die „Heilpädagogische Abteilung des Landeskrankenhauses“ (vgl. Kap. 2.2) mehrmals umbenannt. Vergleichbares gilt für die Namen und Zuschnitte der relevanten Bundesministerien, der Fachabteilungen auf der Landesebene und der Abteilungen in den Magistraten bzw. Bezirkshauptmannschaften. Deshalb sprechen wir beispielsweise zusammenfassend von Jugendämtern oder Wissenschaftsministerium. Aus dem gleichen Grund verkürzen wir auf „Universität Klagenfurt“: Die Klagenfurter Universität wurde 1970 als „Hochschule für Bildungswissenschaften“ gegründet, 1975 in „Universität für Bildungswissenschaften“ umbenannt, 1993 in „Universität Klagenfurt“, und seit 2004 trägt sie ihren heutigen Namen „Alpen-Adria-Universität Klagenfurt“ (vgl. AAU o.J.). Diese Vereinfachungen dienen der leichteren Lesbarkeit der Studie.

Als geschlechtergerechte Sprache verwenden wir das „Binnen-I“ (Binnen-Majuskel; z.B. MedizinerInnen, PädagogInnen, PsychologInnen), wenn beide Geschlechter gemeint sind. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die vorliegende Untersuchung als historische Studie einen Zeitraum umfasst, in dem viele Positionen wie Primar, Professur vorwiegend männlich besetzt waren. So schreiben wir beispielsweise von „Wissenschaftlern“ oder „Politikern“, wenn die Zusammensetzung des Gremiums ausschließlich männlich war. Auch die geschlechtergetrennte Fremdunterbringung von Jungen und Mädchen durch die Jugendwohlfahrt wird sprachlich berücksichtigt. In der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt wurden sowohl Mädchen als auch Jungen stationär aufgenommen.

1.8. Forschungsdesign

1.8.1. Forschungsfragen, Zeitraum und Datenbasis

Das qualitativ-rekonstruktive Forschungsprojekt „Gewalt an Kärntner Kindern und Jugendlichen in Institutionen“ beschäftigte sich mit folgenden Fragen:

▪ Welche Strukturen ermöglichten die jahrzehntelange Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Landesjugendheim Rosental und in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses?

▪ Welchen Anteil hatte die Wissenschaft am Aufrechterhalten der Gewalt?

▪ Welche Erkenntnisse ergeben sich aus der Studie für zukünftige Entwicklungen im Kinderschutz, in der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie?

Der Forschungszeitraum bezog sich zunächst auf die Jahre, zu denen sich ehemals von Gewalt betroffene Männer und Frauen an die erste Opferschutzkommission gewandt hatten. Dies betraf anfangs schwerpunktmäßig die Amtszeit von Franz Wurst als Primar der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt (1968/1969–1985). Um den Kontext zu verstehen, wurde die Forschung jedoch mit zunehmender Dichte der Daten auf die Zeit zwischen 1950 und 2000 ausgeweitet. Letztlich entspricht dies weitgehend den Jahren, aus denen Meldungen bei den Opferschutzkommissionen eingegangen sind.

Zentrale Datenbasis der Studie bildeten die Akten der Opferschutzkommission des Landes Kärnten, sofern die Menschen, die sich dorthin gewandt hatten, der Verwendung dieser Akten (A) für wissenschaftliche Zwecke zustimmten. Dies traf für die Mehrheit zu. Seitens der ehemals von Gewalt betroffenen Menschen besteht ein großes Interesse an gesellschaftlicher Bearbeitung des Themas in unterschiedlichen Formen (z.B. Forschung, Kultur). Das Heraustreten aus Isolation, Anonymität und Stigmatisierung hilft, die Folgen der Traumata zu mildern. Diese Akten setzen sich zusammen aus fallbezogenen fürsorgeärztlichen bzw. kinder- und jugendpsychiatrischen Dokumenten, Jugendwohlfahrtsakten sowie den Erkenntnissen der jeweiligen Opferschutzkommission. Insgesamt wurden 26 Akten mit heilpädagogischen Dokumenten hermeneutisch ausgewertet. Hinzu kamen Ergebnisse der Analyse von PatientInnenakten der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses, die Judith Arztmann (2019) im Rahmen ihrer Masterarbeit durchführte (vgl. Kap. 5). Beforscht wurden ferner die Akten des Strafverfahrens gegen Franz Wurst, Akten der Landesverwaltung im Landesarchiv Klagenfurt und Akten der Alpen-Adria-Universität. Des Weiteren erhielten wir Archivauskünfte von der Universität Wien, dem Bundesarchiv Berlin und dem Klinikum Klagenfurt.

1.8.2. Interviews

Darüber hinaus wurden für die Studie zwischen 2016 und 2020 insgesamt 90 offene Leitfadeninterviews geführt.6 Für jedes Interview wurden offene Fragen entwickelt, die den Erfahrungshintergrund bzw. das Arbeitsfeld der interviewten Person mit Bezug zu den Themen der Forschung berücksichtigten. Dies liegt an der breiten Auswahl von InterviewpartnerInnen, z.B. mussten die Fragen an ehemalige Leitungen von Institutionen andere sein als jene an die Opfer der Gewalt. Nachfragen im Interview wurden vorwiegend erzählgenerierend gestellt. Die geführten Interviews dauerten bis zu sechs Stunden. Mit einigen Befragten wurde ein zweites (Nachfrage-)Interview geführt. Die Interviews wurden wörtlich transkribiert und ebenfalls hermeneutisch ausgewertet.

Die Interviews wurden in drei Phasen durchgeführt. Die Mehrphasigkeit entstand, da es nach der Befragung der ehemals von Gewalt betroffenen Menschen durch die Opferschutzstelle ethisch fragwürdig gewesen wäre, unmittelbar im Anschluss die gleichen Personen für Forschung zu befragen. Anhörungen für Kommissionen und Forschungsinterviews sind aufwühlend für die Betroffenen selbst und für ihre Familien, auch wenn sie traumasensibel geführt werden. Unter Beachtung von Resilienz entschied die Steuerungsgruppe des Forschungsprojekts daher, zunächst Interviews mit Fachkräften durchzuführen.

Interviews mit Fachkräften. Basierend auf Erkenntnissen der Aktenauswertung wurden insgesamt 67 Interviews mit Fachkräften (IF) aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern (einschließlich Wissenschaft) geführt. Mit weiteren zehn ExpertInnen (G) fanden die Erstinterviews in der Regel gemeinsam mit mehreren wissenschaftlichen Projektmitarbeiterinnen statt. Darüber hinaus standen diese ExpertInnen (G) dem Forschungsprojekt für weiteren Austausch und inhaltliche Rückfragen zur Verfügung, da sie aufgrund ihrer beruflichen Positionen über weitergehende Erkenntnisse verfügen. Befragt wurden (ehemalige) Fachkräfte aus dem Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, die mindestens in einer der beiden Institutionen (in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt oder im Landesjugendheim Rosental), in der Landessozialverwaltung oder in einem Jugendamt beschäftigt waren bzw. sind. Interviewt wurden darüber hinaus TherapeutInnen und GutachterInnen, die die Arbeit der Opferschutzkommission und/oder ehemals von Gewalt betroffene Menschen unterstütz(t)en. Weitere Interviews wurden mit Menschen geführt, die beruflich in unterschiedlichen Positionen (u.a. Ermittlungsbehörden, Gericht, Bewährungshilfe) am Strafprozess gegen Franz Wurst beteiligt waren. Ferner wurden PolitikerInnen befragt. Diese Breite der Experteninterviews sollte eine möglichst weite Perspektive auf das Forschungsfeld eröffnen.

Interviews mit WissenschaftlerInnen. Die Studie wurde auf Basis der ersten Zwischenergebnisse um die zweite Fragestellung erweitert, da wissenschaftliche Theorien, Ehrungen, Netzwerke sowie vermeintliche Forschungen die Machtstellung des Heilpädagogen Franz Wurst und damit das Gewaltsystem absicherten. Zur Erforschung dieses Teils wurden offene Interviews mit (ehemaligen) WissenschaftlerInnen (IF) der Universität Klagenfurt geführt. Es zeigten sich viele Querverweise in die Praxis, da insbesondere das Landesjugendheim Rosental ab den 1970er-Jahren Gegenstand von Forschungen, Praxisentwicklungsprojekten und Supervisionen war. Die Übergänge zwischen Forschung, Praxis, Verwaltung und Politik waren im untersuchten Zeitraum z.T. fließend, wie sich in den Interviews bzw. Dokumenten zeigte.

Interviews mit Menschen, die als Kinder und/oder Jugendliche Gewalt erlitten. Insgesamt führten wir 13 biografische Interviews mit Menschen (IB), die ehemals ambulant oder stationär im Landeskrankenhaus, in der Privatordination und/oder im Landesjugendheim Rosental von Gewalt betroffen waren. Viele von ihnen erlitten Gewalt zudem in weiteren Institutionen, z.B. während der Heilpädagogischen Sprechtage in einem Jugendamt, in der Heilpädagogischen Untersuchungsstelle (AVS) oder in einer anderen Fremdunterbringung. Ermöglicht wurde diese dritte Erhebungsphase auch durch das große Engagement von einigen ehemals von Gewalt betroffenen Menschen, die sich an die Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und die Landesregierung wandten, da sie an der Fortsetzung der Forschung und ihrer Einbeziehung interessiert waren.

Des Weiteren erhielten wir seit dem ersten Bekanntwerden der Forschung im Jahr 2016 bis in die Gegenwart – in Form von Anrufen, Briefen und E-Mails – viele Reaktionen auf Veröffentlichungen von Projektergebnissen sowie auf Vorträge. Viele dieser Menschen führten weitere für die Forschung relevante Details an, andere bedankten sich für die Studie oder bekundeten ihre Bereitschaft zu einem Interview. Wiederholt wurden dem Forschungsprojekt mehrseitige biografische Aufzeichnungen mit Erinnerungen an Gewalt oder heilpädagogische (Gerichts-)Gutachten zur Verfügung gestellt. All diesen Interessierten danken wir, auch wenn wir nicht alle Interviewanfragen und Gesprächswünsche erfüllen konnten. Diese Anfragen und zusätzlichen Materialien kamen vor allem von Menschen, die selbst Gewalt erlitten hatten, und von ihren Familienangehörigen. Die zur Verfügung gestellten Dokumente und Informationen wurden analytisch in die Forschung einbezogen.

Seit 2019 melden sich zunehmend auch Menschen mit Beeinträchtigungen wie Mehrfachbehinderungen und Menschen aus der slowenischen Sprachgruppe. Beiden Personenkreisen war es wichtig, die Forschung länger zu beobachten, bevor sie Vertrauen fassen konnten. Manche von ihnen hatten über mehrere Jahre Zeitungsartikel gesammelt, ehe sie Kontakt zum Forschungsteam aufnahmen. Daher führten wir bis Ende 2020 weitere Interviews.

Offene Interviewanfragen. Dem stehen 22 Interviewanfragen gegenüber, ohne dass Gespräche zustande kamen. Manchmal gab es mehrere Telefonate, in denen sich abzeichnete, dass viel Wissen vorhanden war. Mitunter wurden diese Telefonate unterbrochen durch mithörende Familienmitglieder, sobald detaillierte Erzählungen begannen, mit der Begründung, die betroffene Person sei zu alt und könne sich nicht erinnern. Unter den nicht zustande gekommenen Interviews waren überproportional viele Anfragen an ehemalige Leitungskräfte aus der Landesverwaltung, dem Landeskrankenhaus Klagenfurt und aus Fremdunterbringungseinrichtungen sowie an Wissenschaftler und Politik. Es betrifft aber auch Personen, die an der Organisation der Gewaltsituationen beteiligt waren, indem sie z.B. Termine organisierten oder Jungen und Mädchen zu den Orten brachten, an denen sie Gewalt erlitten.

1.8.3. Auswertung

Die erhobenen Daten wurden nach dem Verfahren der strukturellen Hermeneutik als eigenständige Datenquellen ausgewertet. Hierzu wurden sequenzielle Feinanalysen durchgeführt (vgl. Loch 2006; Rosenthal 2015). Bei diesem Vorgehen werden ausgewählte forschungsrelevante Textpassagen der erhobenen Daten in kleinste Sinneinheiten zergliedert und schrittweise analysiert. Während der Analyse wurden möglichst kontrastreiche Hypothesen für jede Datenquelle getrennt unter heuristischer Einbeziehung gegenstandsbezogener Theorien gebildet. Im weiteren Analyseprozess wurden einzelne Deutungsvarianten zunehmend ausgeschlossen und Annahmen mit größtmöglichem Plausibilitätsgrad zu Strukturhypothesen ausformuliert (vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013; Rosenthal 2015). Schließlich wurden die empirischen Ergebnisse der jeweiligen Datenkategorien (u.a. Interviews, Gutachten) trianguliert und mit anderen gegenstandsbezogenen (d.h. inhaltlich relevanten) Forschungen sowie empirisch geerdeten Theorien kontrastiert bzw. in Bezug gesetzt.

1.9. Allgemeines

Personenbezogene Angaben wie Namen, Ortsangaben o.Ä. aus Interviews und anderen Dokumenten wurden für diese Veröffentlichung zum Schutz der Privatsphäre anonymisiert, soweit es sich nicht um Personen des öffentlichen Lebens wie PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen oder um Leitungen im Sozial-, Bildungs- und/oder Gesundheitsbereich handelt, die aufgrund ihrer Position nicht anonymisierbar sind.

Die Studie enthält viele Interviewauszüge, die für die Veröffentlichung sprachlich leicht überarbeitet wurden. Zum Erhalt der Authentizität wurde dennoch der mündliche Charakter der Sprache beibehalten. Durch lautes Lesen werden diese Zitate (bzw. die Dialekte) oftmals leichter verständlich. Ferner wurden ältere Literaturzitate zur leichteren Lesbarkeit in die neue Rechtschreibung überführt.

Angesichts der psychischen Belastung, die die Auseinandersetzung mit der hier dokumentierten Gewalt darstellt, haben wir das Buch so geschrieben, dass die Kapitel auch einzeln verständlich sind, obschon es hierdurch zu inhaltlichen Wiederholungen kommt.

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* Autorin: Ulrike Loch

2 Gerichtsurteil des Landesgerichts Klagenfurt, 2002, GZ: 16 Hv 34/02x, Archiv des Landesgerichts Klagenfurt. Das Urteil wurde 2003 vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Franz Wurst wurde nach dem Strafgesetzbuch (StGB) wegen „des Verbrechens des Mordes als Beteiligter nach §§ 12 zweiter Fall, 75 StGB“ sowie wegen „des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB“, „des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen nach § 207b Abs 3 StGB“ und „des Vergehens eines Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs. 1 Z1 und 2 StGB“ verurteilt.

3 Auf diese Situation reagierte Österreich auf Bundesebene 2017 mit der Einführung einer Heimopferrente (in der derzeitigen Fassung HOG Bl I 49/2018), die das Einkommen der Betroffenen ab dem Rentenalter aufstockt.

4 Die Zeichenerklärung (Transkriptionsregeln, Abkürzungsverzeichnis) befindet sich im Anhang (vgl. auch Kap. 1.9).

5 Die Verteidigung von Franz Wurst stellte mehrere Anträge zur Unterbrechung des Verfahrens aufgrund des Alters und der gesundheitlichen Verfassung des Angeklagten. Über weite Teile war während der Verhandlungstage ein Mediziner anwesend (vgl. auch S. 240, Fußnote 80).

6 Die Interviews wurden geführt von Judith Arztmann, Alma Brkić-Elezović, Elvisa Imširović, Ingrid Lippitz und Ulrike Loch.

2 Grundinformationen zum Landesjugendheim Rosental und zur Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt*

Im Folgenden geben wir einen Einblick in die Entwicklung und die Rahmenbedingungen der beiden Institutionen Landesjugendheim Rosental und Heilpädagogische Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt, da diese Kenntnisse notwendig sind, um ihre Strukturen und Verflechtungen zu verstehen. Im Zentrum dieser Publikation stehen weiterhin die beiden genannten Institutionen, auch wenn nachfolgend partiell Erkenntnisse zu angrenzenden Diensten und Institutionen einbezogen werden.

2.1. Eckdaten zum Landesjugendheim Rosental

Seit 1942 wurden Mädchen und Jungen im Kloster Harbach bei Klagenfurt in zwei getrennt geführten „Erziehungsanstalten“ fremduntergebracht. Anfang der 1950er-Jahre lebten im Kloster Harbach 100 Mädchen7 und 73 Buben.8 Eine gemeinsame Unterbringung von Jungen und Mädchen war, wie aus einem Schreiben des stellvertretenden Landeshauptmanns aus dem Jahr 1950 hervorgeht, für die Kärntner Landesregierung in den Nachkriegsjahren nicht mehr tragbar.9 Seitens der Jugendfürsorge wurde es für notwendig erachtet, Jungen und Mädchen auch räumlich getrennt voneinander unterzubringen. Zugleich sollte die Kapazität an Heimplätzen für Jungen erhöht werden. Im Schriftverkehr mit der Landesregierung aus dem Jahr 1953 werden bauliche Optionen bis zur Doppelung der bisherigen Heimplätze für Jungen durch den Heimleiter Rudolf Müller vorgeschlagen.10

Das Land Kärnten erwarb nach einiger Suche im Jahr 1952 zielgerichtet ein alleinstehendes und verkehrstechnisch schlecht angeschlossenes Gebäude am Ortsrand von Görtschach (Gemeinde Ferlach) im Rosental. Dieses Gebäude hatte wegen seiner abgelegenen Lage über 25 Jahre im Rohbau leer gestanden, ehe es 1939 von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt gekauft und zur Isolierung von Menschen genutzt wurde.11 Aus den gleichen Gründen hielt das Land Kärnten in den 1950er-Jahren das Gebäude und den Ort für geeignet zur Fremdunterbringung von sogenannten „schwer erziehbaren“ Jugendlichen.12 Nach dem Ausbau des Gebäudes in Görtschach (vgl. Abb. 1) siedelten die Jungen in die neue Unterkunft über, während die Mädchen der katholischen Mädchenerziehungsanstalt im Kloster Harbach verblieben.

Abb. 1: Landesjugendheim Rosental (Foto: Noam Brusilovsky)

Das Landesjugendheim Rosental in Görtschach wurde nach der Umsiedlung der Jungen (Kinder und Jugendliche) von 1955 bis 2013 vom Land Kärnten geführt. Es war ein Großheim ausschließlich für männliche Heranwachsende im Alter von 6 bis 18 Jahren (vgl. IF13). Das Landesjugendheim integrierte zugleich eine heiminterne Schule, die Landes-Sondererziehungsschule Görtschach (vgl. Werner 1994:2). Junge Heranwachsende, die im Landesjugendheim Rosental untergebracht waren, sollten in den ersten Jahrzehnten ausschließlich in die heimeigene Schule gehen, später wurde diese Regelung gelockert. So gab es zeitweise als Belohnung für ausgewählte Schüler die Möglichkeit, eine andere Schule zu besuchen, wie sich ein ehemaliger Bewohner erinnert (vgl. IB7). Dies konnte aber von der Heimleitung trotz hervorragender Leistungen der Jungen auch verboten werden, wie andere Fallbeispiele zeigen (vgl. Uschnig 2000:330; Leitner 2017:21).

Unsere InterviewpartnerInnen betonten immer wieder die Abgeschiedenheit des Landesjugendheims Rosental. Die heiminterne Schule und die angegliederten Werkstätten verstärkten die soziale Isolation. Wiederholt wurde vom Landesjugendheim als „totaler Institution“ gesprochen (beispielsweise IF5; IF56; IF52; G4). Obwohl das Landesjugendheim Rosental fast 60 Jahre bestand, wurde die Struktur der „totalen Institution“ u.a. aufgrund seiner baulichen Gegebenheit und geografischen Lage bis zur Schließung nie überwunden (vgl. Abb. 2), trotz der jahrzehntelangen Tradition von Supervision, Fortbildung und Forschung, die dort vor Ort stattfanden (vgl. Kap. 3 und 11).

Abb. 2: Landesjugendheim Rosental (Foto: Noam Brusilovsky)

2.1.1. Strukturelle und personelle Rahmenbedingungen des Landesjugendheims Rosental

Dem Schriftverkehr von Rudolf Müller zufolge konnte der geplante Neubau des Landesjugendheims aufgrund seiner baulichen Struktur rund 120 Betten fassen.13