Im Schatten der Mauer - Anke Gebert - E-Book

Im Schatten der Mauer E-Book

Anke Gebert

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Beschreibung

"Wahnsinn! Das kann doch nicht wahr sein!" riefen die Menschen euphorisch in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 und fielen sich vor Freude über den Mauerfall in die Arme. Auch am 13. August 1961 wollte niemand glauben, dass es wahr sein kann: "Eine Mauer durch Berlin! Niemals! Das ist doch Wahnsinn! In ein paar Tagen ist sie wieder weg." Damals wurden Familien innerhalb weniger Stunden auseinandergerissen; Menschen, die versuchten, in den Westen zu kommen, erschossen; unzählige verhaftet; Lebensläufe mit Macht verändert. . . Der Wahnsinn sollte achtundzwanzig Jahre dauern. Es sind bereits über zwanzig Jahre vergangen, seit die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland gefallen ist. Weil ich befürchtete, dass sich vielleicht bald niemand mehr an die Tage des Mauerbaues und des Mauerfalls erinnern würde, habe ich dieses Buch geschrieben. Bei meinen Gesprächen dafür stellte ich jedoch fest, dass der 13. August 1961 und der 9. November 1989 im Gedächtnis sehr vieler Menschen unauslöschlich sind. Die bewegende persönlichen Erlebnisberichte der unterschiedlichsten Zeitzeugen aus Ost und West (wie z.B. Regine Hildebrandt, Jo Brauner, Angelika Unterlauf, Götz Friedrich, Herbert Otto, Dagmar Berghoff, Manfred Stolpe oder Arno Surminski) vermitteln vielleicht mehr Geschichte als manches Geschichtsbuch es könnte.

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ANKEGEBERT

 

Im Schatten der Mauer

 
 
 
 

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ABW Wissenschaftsverlag GmbHKurfürstendamm 5710707 BerlinDeutschland

 

www.abw-verlag.de

 

© E-Book: 2012 ABW Wissenschaftsverlag GmbH

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

 

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.

 

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

 

ISBN 978-3-86474-054-1

 

Produced in Germany

 

E-Book-Produktion: ABW Wissenschaftsverlag mit bookformer, BerlinUmschlaggestaltung: brandnewdesign, HamburgE-Book-Korrektorat: Alexandra Kusche, BerlinTitelabbildung: istockphoto .(Ziutograf, Step_Pe)

 

P110142

 
 

E-BOOKSVONANKEGEBERT

 
 

Anke Gebert, Februar 2012www.ankegebert.de

 
 

Anke Gebert, Februar 2012www.ankegebert.de

 
 

Kurzkrimis

 

Hunde, die bellenEin Engel für HotteSchmucklosBlind .(Kurzkrimi-Band)Gefährliche Gewässer .(Kurzkrimi-Band)Gefährliche Affären .(Kurzkrimi-Band)

 

Roman und Krimi

 

BesuchsreiseDas Treiben

 

Für Ralf und Jan-Martinund Kerstin Badekow,die mir die beste Freundin warund 1988 sehr viel für mich riskiert hat.

Inhalt

Vorwort

Henryk Bereska:

«Wo Sprachakrobatik und Vermummung herrschten»

Sabine Zache:

«Na, bist du aus dem Osten oder aus dem Westen?»

Steven S. Knudsen:

«Als wenn ich Staatsfeind Nummer eins gewesen wäre»

Rolf Schneider:

«Seit 1976 lebte ich als eine Art staatlich anerkannter Dissident»

Fritz und Margot Schulz, Kornelia und Andreas Wegscheider:

«Der 13. August 1961 war der Untergang der DDR»

Reinhold Dey:

«In Finnland spürte ich 1961 die Gefahr viel deutlicher»

Renate W.:

«Die haben mir ganz viele Jahre geklaut»

Herbert Otto:

«Hoffnung und Enttäuschung»

Hans Götze:

«Diese vierzig Jahre DDR waren mein Leben»

Dagmar Berghoff:

«Ich spürte zu keiner Zeit Aversionen gegen mich als Wessi»

Regine Hildebrandt:

«Wenn wir aus dem Fenster geguckt haben, waren wir mit dem Kopf im Westen und mit dem Hintern im Osten»

Hans-Erich Bilges:

«Der Prozeß der Wiedervereinigung läuft im Moment nur scheinbar auseinander»

Marlen und Rainer Dörner:

«Den Zettel hatte ihm (Schabowski) wohl jemand zugesteckt»

Norbert Kühn:

«Jeder verkaufte Häftling kostete fünfzigtausend Mark»

Jo Brauner:

«In Frankreich und Australien – vermutlich auf der ganzen Welt – saßen die Menschen vor dem Fernseher und weinten»

Das literarische Erinnern des Werner Kilz:

«Freibank oder das Projekt der Spaltung»

Norbert Randow:

«Das menschliche Geflecht hat sich durch die Mauer gefressen»

Angelika Unterlauf:

«Nicht der Mauerfall war das Thema am 9. November ’89 in der 20 Uhr-Konferenz, sondern mein Schmuck, den ich gewagt hatte, während der Sendung an der Jacke zu lassen»

Kneiper:

«Die mußten schießen, die konnten nichts dafür»

Leslie Leuzinger:

«Ich habe mich immer danach gesehnt, den Osten kennenzulernen»

Götz Friedrich:

«Ich fuhr sofort in die Komische Oper: eine Insel besonderer Art»

Ursula Brandt:

«Das wird schwer mit uns»

Karin Schöpa:

«Ich konnte den Staat verstehen, trotzdem fand ich die Mauer nicht gut»

Thomas R. P. Mielke:

«Die DDR ist untergegangen – aufgrund eines Werbespots»

Lisa Konow:

«Ich hatte eine Vereinigungsjacke»

Arno Surminski:

«Daß jetzt ein bißchen Katzenjammer herrscht, ist normal»

Ingrid und Wolfgang Schreyer:

«Es macht Spaß, am Barte des Tigers zu zupfen»

Manfred Stolpe:

«Das schrittweise Zurücknehmen der Mauer war längst erforderlich geworden»

Dank

[Endnoten]

 

VORWORT

 

«Wahnsinn! Das kann doch nicht wahr sein!» riefen die Menschen euphorisch in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 und fielen sich vor Freude über den Mauerfall in die Arme.

Auch am 13. August 1961 wollte niemand glauben, dass es wahr sein kann: «Eine Mauer durch Berlin! Niemals! Das ist doch Wahnsinn! In ein paar Tagen ist sie wieder weg.»

Damals wurden Familien innerhalb weniger Stunden auseinandergerissen; Menschen, die versuchten, in den Westen zu kommen, erschossen; unzählige verhaftet; Lebensläufe mit Macht verändert…

Der Wahnsinn sollte achtundzwanzig Jahre dauern.

 

Es sind bereits über zwanzig Jahre vergangen, seit die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland gefallen ist.

Weil ich befürchtete, dass sich vielleicht bald niemand mehr an die Tage des Mauerbaues und des Mauerfalls erinnern würde, habe ich dieses Buch geschrieben. Bei meinen Gesprächen dafür stellte ich jedoch fest, dass der 13. August 1961 und der 9. November 1989 im Gedächtnis sehr vieler Menschen unauslöschlich sind.

Die bewegenden persönlichen Erlebnisberichte der unterschiedlichsten Zeitzeugen aus Ost und West .(wie z.B. Regine Hildebrandt, Jo Brauner, Angelika Unterlauf, Götz Friedrich, Herbert Otto, Dagmar Berghoff, Manfred Stolpe oder Arno Surminski) vermitteln vielleicht mehr Geschichte als manches Geschichtsbuch es könnte.

 

Anke Gebert, April 2012

 
 
 

HENRYKBERESKA:

 

«Wo Sprachakrobatik und Vermummung herrschten»

 

Anfang November 1989 war ich zu einem internationalen Poetentreffen in Posen. Die Poeten lasen in den Schulen der Umgebung, redeten sich die Köpfe heiß. Die Berliner Mauer haben die Polen nie verstanden. Daß man so etwas hinnimmt, blieb ihnen unbegreiflich. An ihre Ewigkeit glaubten sie schon gar nicht. Ein bärtiger Literaturkritiker aus Warschau wollte mir einreden, sie würde noch dieses Jahr fallen. Das hielt ich nach all den Demonstrationen der Macht, die ich im Oktober erlebt hatte, für illusionär. Die Präsenz der Kampfgruppen und der bewaffneten «Organe» überall, wo sich die leiseste Opposition regte, ihr martialisches, drohendes Gehabe ließen eher darauf schließen, daß am Status quo nicht zu rütteln war. Reagans «Reißen Sie die Mauer nieder, Mister Gorbatschow» wurde allerorten als dreiste irreale Herausforderung empfunden. Da war Honeckers Verkündung, die Mauer würde noch hundert Jahre stehen, glaubwürdiger. Ich kannte niemanden in Deutschland, der ihren Sturz für möglich hielt. Die Polen besaßen offenbar ein größeres Vorstellungsvermögen und mehr Übung im Aufbegehren. Und sie deuteten die Flüchtlingsströme im Sommer und Herbst richtig als sicheres Endzeichen. Wir wetteten um Sekt. Der bärtige Pole tat mir leid, Romantiker.

Meine Frau Gilda und ich waren im Oktober 1989 in der Sächsischen Schweiz im Urlaub gewesen, dicht an der tschechischen Grenze. Hier herrschte eine merkwürdig gespannte, gedrückte Atmosphäre. Wenige Urlauber. Die Grenzübergänge für den Tagesverkehr geschlossen, viele Kneipen zu. «Die sind rüber», hieß es. Wir rechneten damit, daß der Zugverkehr nach der Tschechoslowakei und nach Ungarn bald gestoppt werden würde. Das geschah aber nicht. Die Regierung gab sich erstaunlich gelassen, redete die Dinge klein. Unter den Genossen wurden die Fluchtströme bagatellisiert. Wunschdenken.

Eines Abends saß ich in einem Gartenlokal in der Wilhelm-Pieck-Straße, in Berlin-Mitte, am Nebentisch ein paar fröhliche Zecher, Jura-Absolventen, auf dem Sprung zur Karriere im «Apparat». Auch sie von oben herab: «Das Ding haben wir im Griff.» Verblüffende Blindheit bei den geschulten Dialektikern. Aber sie hielten sich nur an die vorgegebene Interpretationslinie. So tönte es in den Medien, also war alles in Ordnung.

Anders die Rüster in meiner Stammkneipe in der Novalisstraße, die sahen schwarz: «Da passiert was, das Ding läuft schief.» Und sie sahen Blut fließen. In diesem Jahrhundert nahm die Geschichte stets die negative Variante des Verlaufs. 1914, 1933, 1939, 1953, 1956, 1961, 1968, 1981. Fast alle Monate im Jahresverlauf waren negativ besetzt. Und nun plötzlich im November 1989 die optimale Lösung? Zweifel waren angebracht. Immerhin gab es im Lande riesige, hochgerüstete Armeen, ein Heer von Spitzeln, jede Menge Vernichtungswaffen, schwerbewaffnete, paramilitärische Verbände. Militärs sind dazu da loszuschlagen. Generäle gieren nach Schlachten und Verdienstorden. Würden sie Gewehr bei Fuß bleiben? Oh, Gorbatschow, Zauberkünstler, sie blieben Gewehr bei Fuß! Wie leicht hätte das ins Auge gehen können.

Mein bärtiger Literaturkritiker hatte recht behalten, und ich war sehr froh, diese Wette verloren zu haben. Als uns die Nachricht per Rundfunk in Polen erreichte, waren wir fassungslos: Das kann nicht wahr sein, da ist was faul. Die Mauer war ja eigentlich noch nicht gefallen, sondern erst einen Spaltbreit geöffnet. Wir dachten, sicher machen die Bonzen kleine Reisezugeständnisse, um das Volk zu beruhigen. Die Polen aber ahnten, daß da eine Epoche zu Ende ging. Und freuten sich. Auch die Kommunisten unter ihnen. Auch ihnen war die Teilung Deutschlands, die Mauer, die Berlin teilte, stets makaber vorgekommen. Sie hatten die Erfahrung der Ghettos hinter sich.

In Berlin spät abends angekommen, sahen wir auf den S-Bahnhöfen unglaublich viel Volk. Vor dem «Tränenbunker» an der S-Bahn Friedrichstraße standen endlose Schlangen Wartender – keine Rentner, junges Volk ohne Gepäck. Und rückflutende Ströme aufgeregter, strahlender Menschen, beladen.

In den nächsten Wochen das Wunder. Ich notiere: «Im November ’89 zum erstenmal über die Sandkrugbrücke rüber. Die Grenzbeamten prüfen das Dokument/ die Grenzbeamten werfen einen flüchtigen Blick auf das Dokument/ die Grenzbeamten werfen keinen Blick auf das Dokument; die Grenzbeamten verschwinden/ die Mauern verschwinden/ ich gehe auf dem Todesstreifen spazieren/ die wilden Kaninchen aus der Grenzzone verschwinden/ die Leute vergessen langsam, daß es Grenzzonen gab in Berlin.»

Ein Vierteljahrhundert wohnten wir in der Scharnhorststraße, den Blick vom vierten Stock über die Mauer auf Moabit, nach Wedding, fremde Planeten. Eine Ewigkeit. Wir sahen Mauern, Stacheldraht, Wachtürme, Hunde am Leitseil, dahinter, unsichtbar, der Spandauer Schiffahrtskanal, die Grenzlinie in der Mitte. Unüberwindlich. Nun mit einemmal die Öffnung. Die Hunde, als liebe treue Tierchen deklariert, wurden an Liebhaber verkauft, die Mauerstücke verscherbelt. Und ich lief täglich auf dem Todesstreifen hin und her, lief am Kanal bis zum Westhafen, an der Spree bis nach Charlottenburg. Als ich zu einem Aufenthalt ins Europäische Übersetzer-Kollegium nach Straelen eingeladen wurde, zögerte ich die Abreise um Tage hinaus, konnte mich von dem Todesstreifen nicht trennen.

Ein unglaublicher Zustand. Euphorie wochenlang. Die Trabanten füllten West-Berlin, aber bald schon blockierten sie die Straßen Ost-Berlins. Die Besitzer ließen die einst so kostbaren Vehikel einfach stehen, besorgten sich rasch Westautos, gebrauchte zuerst, bald neue. Die große Reisewelle westwärts begann. Zugemauerte Eingänge von S- und U-Bahnen wurden geöffnet, in die 28 Jahre lang versperrte düstere Unterwelt kam Leben. Friedrichstraße, Scharnhorststraße, Chausseestraße – soeben noch das Ende der Welt. Nun das Ende des Endes der Welt.

Die einzelnen Stufen des Mauerbaus habe ich verspätet mitbekommen. Im August 1961 war ich auf einem Universitätskurs in Warschau. Hier staunte man allgemein, wie es möglich sein konnte, die Vorbereitungen für eine solche Staatsaktion geheimzuhalten. Totale Geheimhaltung. Dabei war immerhin eine unter normalen Verhältnissen unnütze Umgehungsbahn nach Potsdam gebaut worden. Tausende Eingeweihte hatten dichtgehalten. Glanzleistung der DDR. Auch in den ersten Tagen der Absperrung hatte man «die Sache im Griff». Nur wenigen gelang die Flucht. Mein Freund Werner Kilz ist noch durch die Kanäle abgehauen. Ein anderer Freund, Norbert Randow, mußte als «Mitwisser» und «Boykotthetzer» drei Jahre in den Knast, während Unterschriftenaktionen einsetzten, die den «Antifaschistischen Schutzwall» begrüßten. Ein Kursteilnehmer, Assistent an der Humboldt-Universität, der sich geweigert hatte, seine Unterschrift «zu leisten», weil er Verwandte in Westberlin hatte, wurde durch die DDR-Botschaft nach Ostberlin zurückbeordert.

Kein Mensch hatte 1961 geglaubt, die Absperrung würde lange bestehen .(ebenso wie 28 Jahre später keiner glaubte, die Mauer könnte in absehbarer Zeit fallen). «Das kann nicht lange dauern», hieß es damals, «man kann eine Stadt nicht teilen.» Aber man kann. Und nach und nach kann man sich auch daran gewöhnen.

In der Kulturszene wurde gestreut, daß es nun, da der Feind ausgesperrt sei, liberaler zugehen würde. «Jetzt sind wir unter uns, können uns mehr Offenheit erlauben», wurde frohlockt. Aber das Klima verschärfte sich. Ein Beweis der Offenheit: Im Berliner Schriftstellerverband stimmten über hundert Kollegen mit läppischer ideologischer Begründung für den Ausschluß von Heiner Müller .(dabei gab es eine Stimmenthaltung, und zwei Kollegen, Martin Remane und ich, verließen kurz vor der Abstimmung den Saal). Die ersten Jahre nach dem Mauerbau waren nicht amüsant: keine Besuche aus Westberlin, nicht einmal Familienbesuch, kein Telefonieren mit Westberlin, aber immerhin Kerzen in den Fenstern zu Weihnachten hüben und drüben in der Grenzregion, das Betreten den linken Seite der Scharnhorststraße war untersagt, Besucher mußten sich vorher anmelden, unangemeldete wurden gelegentlich denunziert. Frostzeit in der Kulturpolitik.

Mich rettete mein Übersetzerberuf, der frei ausgeübte, also eine Art Nischendasein. Ich pendelte zwischen meiner Holzhütte in Kolberg am Wolziger See, wo ich viele Monate im Jahr verbrachte, und der Scharnhorststraße. Die polnische Literatur, die ich ins Deutsche übersetzte, und meine Polenaufenthalte waren Rettungsanker. Polen war seit Oktober 1956 kulturell weltoffen. Alles in der DDR als reaktionär, formalistisch, objektivistisch, revisionistisch etc. Verpönte war in Polen möglich. Eine in der DDR stark beargwöhnte Kunst und Literatur .(besonders Malerei, Plakatgrafik und Film), von den engen Fesseln der Bevormundung weitgehend befreit .(wenngleich nicht ganz frei von Tabuzonen), gedieh in Polen. Hier konnte ich die Kunst sehen und die Bücher und Zeitungen lesen, die mir zu Hause verwehrt waren. Polen galt .(neben Ungarn) als die lustigste Baracke im Lager. Polnische Kunst und Literatur sowie polnisches Theater übten auf DDR-Deutsche eine starke Anziehung aus. Es war wohl der unverfälschte Alltag und die ins Satirische, mitunter ins Groteske gebrochene Sicht, was den Leuten gefiel. Denn hier ging es eher schöngefärbt und heuchlerisch zu. Schon Schulkinder beherrschten in hohem Maße die Kunst der Heuchelei. Sie wußten, was von ihnen erwartet wurde, und schüttelten die Wunschantworten aus dem Ärmel. Wir fürchteten schon, die Heuchelei könnte unserer Tochter zur zweiten Natur werden. Aber nein, sie schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, und die Heuchelei war weg. Es war ein gelerntes und gut gehandhabtes Spiel. Gottlob. Aber zu der Zeit, als sie sich noch im Zustand der Gläubigkeit befand – immerhin besuchte sie eine Bonzenschule, an der alle im Elternaktiv bis auf uns Genossen waren –, fiel es uns schwer, ihr die Kluft zwischen der Schulweisheit und der Wirklichkeit zu erklären, ohne sie in Gewissensnöte zu stürzen.

Diese Kluft zu überwinden fiel selbst ausgewachsenen westlichen Linken schwer, die uns gelegentlich aufsuchten, um uns zu versichern, daß wir in dem besseren Deutschland lebten, bereits eine Epoche weiter als sie, die durch Kapitalismus und Konsumterror Geschlagenen. Sie waren völlig außerstande, den banalen Alltag der DDR wahrzunehmen und waren Experten im Wegschauen und Wegdenken. Der Mauerfall, von uns bejubelt, hat ihnen schwer zu schaffen gemacht. Nun müssen sie sich auf die Socken machen – auf die mühsame Suche nach einer neuen Utopie. Während unsereiner all das tut, was er vorher nicht hat tun dürfen: die Gedichte und galligen Aphorismen aus Schubladen und Tüten veröffentlichen, die verfemten polnischen Autoren übersetzen, die unerreichbar gewesenen Autoren lesen und reisen – reisen ins Westliche, aber öfter noch ins Östliche, nach Polen, das Nachbarland, das es ökonomisch weit schwerer hat, das aber sein Los mit Gelassenheit und Phantasie trägt, statt zu murren.

 

Drei-Vier-Ländereck

 

Vom Dreiländereck zwischen Myslowitz –Kattowitz, Sosnowiec –Preußen, Österreich, Rußland –hier wurde ich 8 Jahre nach Ende des Erstenund 13 Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegsgeboren von Maria und Josef, meinen Eltern –verschlug es mich in das Berliner Vierländereck –amerikanischer, englischer, französischer, sowjetischer Sektor –,und es verschlug mich in den sowjetischen,später demokratischer und Hauptstadt der DDR genannt.Wo Sprachakrobatik und Vermummung herrschten – zwecks Vermummung der Realität.Antifaschistischer Schutzwall –28 Jahre hatte ich ihn vor der Nase.Von meinem Balkon aus, vierter Stock, ging der Blick über die Mauer hin zum Tiergartennach Moabit, Wedding – fremden Planeten.Tauben, Krähen, Enten, Spatzen und Insekten.(ja auch Fischen im Spandauer Schiffahrtskanal)neidete ich das lockere Hin und Her.Nun aber begreife ich sie, da auch ich locker hin- und herüber kann, mit neidlosem Gruß der Hin- und Herschwirrer,Schwimmer, Stromer oder schlicht Flanierer.

 

.(aus altem Notizbuch, beendet kurz nach dem Mauerfall)

 
 

BlickausderScharnhorststraße

 

Mein Blick vom Balkon, vierter Stockder Scharnhorststraße: Mauer, Drahtverhau, Hundeleitseil: geahnt und im alten Stadtplan aufgelesen: Spandauer Schiffahrtskanal, Grenzlinie in der Mitte, scharf bewacht die gedachte Linie. Jenseits Gütergelände, Betonmischer, Lagerhallen – dahinter die Heidestraße, Fernstraße 96, den Süden mit dem Norden verbindend, uns auslassend.

Mein Blick verweilt auf den 6 Häusern drüben.Könnten hier stehen. Derselbe Baustil – um 1900, ähnliche Bewohner vermutlich.Kerzen in den Fenstern zu Weihnachten.

Mein Blick zu den Häusern über 28 Jahre – wehmütig. Halber Kilometer Luftlinie. Unüberwindlich.

1989 fiel die Unbezwingliche, von Flüchtlingen in Ungarn bezwungen.Die schändlich Gewordene ward stückchenweise an Raritätensammler verhökert, mitsamt Blutspuren.

Hin lief ich tags nach dem Mauerfall in die fremde, vertraute, von rasenden Autos Beherrschte.Felsen in der Brandung die 6 Häuser. Fernfahrerkneipe. Darin Männer, Pfeile werfend und trudelnd.Chicago. Die gleichen Sprüche wie hüben.Berlinisches Geflachse, knapp, kein Wort schweift um.Doch nicht der Becher kreiste, jeder hat hier seinen eigenen. Die Sprüche der letzten 28 Jahre hätt ich gern gehört.

 

Henryk Bereska .(Jahrgang 1926), Übersetzer und Autor

 
 
 

SABINEZACHE:

 

«Na, bist du aus dem Osten oder aus dem Westen?»

 

Am 13. August 1961 war ich mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester in der Wohnung meiner Mutter in Berlin-Karlshorst. Meine Mutter und mein jüngerer Bruder waren in West-Berlin in der noch nicht ganz vollständig eingerichteten Wohnung meines Vaters. Der wiederum war als sogenannter «Altakademiker» .(Jahrgang 1900) 1957 aus politischen Gründen in den Westen geflohen und fand erst 1960 eine Anstellung in West-Berlin. Wir planten unsere Familienzusammenführung und wollten alle im September 1961 rübergehen. Ich habe damals in West-Berlin an der Hochschule für Bildende Künste studiert und hatte eine Mansardenwohnung in Köpenick in Ost-Berlin, eine richtige Studentenbude, war aber an dem Sonnabend zu meiner jüngeren Schwester nach Karlshorst gefahren und hatte dort auch übernachtet. Zusammen wollten wir dann am Sonntag in diese West-Berliner Wohnung zu meinen Eltern und meinem Bruder zum Kaffeetrinken fahren …

Am Sonntag hatten wir vormittags kein Radio angestellt. Um zwölf Uhr klingelte es plötzlich, und mein Schwager, der Mann meiner älteren Schwester aus Dresden, stand überraschend vor der Tür und fragte sofort nach meiner Mutter. Wir erzählten ihm, daß die schon nach drüben gefahren wäre und wir wenig später auch nach West-Berlin wollten. Da sagte er, daß wir das nicht mehr könnten: «Berlin ist zu.» Er fragte uns, ob wir denn nichts wüßten, kein Radio hörten. Ich habe nur gelacht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß man von einer Nacht zur anderen Berlin dichtmachen könnte.

Mein Schwager fand das gar nicht lustig und erzählte, daß er auf seiner Fahrt von Dresden nach Berlin lauter Panzer gesehen hätte, die auf Berlin zurollten. Alles an Streitkräften wurde in Berlin zusammengezogen, falls es zu Schießereien kommen sollte. Mein Schwager wollte mich dann unbedingt davon überzeugen, was er uns da erzählte. Gemeinsam fuhren wir zum Brandenburger Tor. Dort sahen wir lauter ausgerollten Stacheldraht. Ich sagte zu meinem Schwager: «Mein Gott, machen die sich lächerlich. Diesen ganzen Draht rollen die doch am Montag wieder zusammen. So kann man doch keine Stadt trennen. Das ist ja albern!» Da sprangen auch immer noch ein paar Leute hin und her über den Draht. Aber es standen auch schon Grenzer dort, Kampfgruppenleute.

Ich machte mir immer noch keine Sorgen, daß die Grenze wirklich bleiben könnte. Einen Tag vorher hatte ich nämlich noch meinen Wintermantel nach West-Berlin in die Reinigung gebracht. Das zeigt auch, daß ich absolut ahnungslos war, nie damit gerechnet hatte, daß uns Berlinern so etwas passieren könnte. Berlin hatte immer einen Sonderstatus. Das Viermächteabkommen beinhaltete damals auch, daß Berliner innerhalb Berlins ihre Bildungsstätten frei wählen konnten.

Ich war in Ost-Berlin aus politischen Gründen aus einer Fachschule rausgeflogen und konnte mich dann Gott sei Dank in West-Berlin, dem amerikanischen Sektor, neu bewerben und eine Aufnahmeprüfung machen. Im russischen Sektor konnte ich nämlich keinen Blumentopf mehr gewinnen, weil ich dort exmatrikuliert worden war. Ich war total sicher, daß das Viermächteabkommen uns Berliner schützen würde. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt und habe mir das in meinem jugendlichen Leichtsinn eben so vorgestellt. Auch in diesem Sommer 1961 war ich jeden Tag mit der S-Bahn von Köpenick über die Friedrichstraße .(Grenzbahnhof) nach Bahnhof Zoo zum Studium in einem durchgefahren. Im Bahnhof Friedrichstraße kamen die Grenzer der DDR. in die Züge und guckten alles genau durch und holten auch Leute heraus. Ab Bellevue gab es dann Westzeitungen, und darin stand jeden Tag in großen Lettern, wie viele Menschen gerade wieder abgehauen wären. Jeden Tag war die Ziffer höher. Trotzdem habe ich mit einer Mauer nicht gerechnet.

 

Ich habe mich aber damals auch gar nicht ernsthaft um solche Fragen gekümmert. Ich war froh, daß ich diesem politischen Streß im Osten – an dieser Fachschule – entronnen war. Ich hatte dort Mode studiert, doch was uns niemand vorher gesagt hatte, war, daß wir gleichzeitig eine vormilitärische Ausbildung zu absolvieren hatten. Wir mußten also an einer Modefachschule auf den Schießplatz, mußten im Keller Schießen üben und auf dem Schulhof exerzieren. Ständig «rechts marsch, links marsch» – das fand ich so fürchterlich, daß ich mit ein paar anderen Studenten permanent protestierte. Zur Strafe sollte ich mich in der Produktion bewähren, das hieß, ich sollte in einem Betrieb als Bandnäherin arbeiten. Und wenn die FDJ und die Parteiorganisation dieses Betriebes irgendwann befürwortet hätten, daß ich mein Studium an der Modefachschule fortsetzte, hätten sie mich zurückdelegiert, und ich hätte vielleicht meinen Abschluß machen können. Das war aber ausgeschlossen, weil die an der Schule froh waren, daß sie Leute wie mich los waren. Das war 1958. Da paßte mich ein Professor aus der Schule auf dem Flur ab, einer, der ein paar Wochen später in den Westen ging, und fragte mich, was ich denn nun machen wollte. Ich wußte es nicht. Ich war todunglücklich. Der Professor sagte etwas ganz Tolles: «Kommen Sie nachher zu mir, wir suchen Ihre Zeichnungen aus, und dann gehen Sie damit nach West-Berlin.» Das habe ich gemacht und die Aufnahmeprüfung bestanden und fing dann das Studium im Westteil Berlins an. Ich bin währenddessen ohne Probleme im Osten wohnen geblieben.

Mit der Mauer war es aus mit meinem Studium. Ich hätte noch zwei Semester machen müssen. Das zweite Studium, das vorzeitig zu Ende war. Zweimal war es aus für mich. Jetzt bei der Rentenbeantragung und diesem ganzen Kram mußte ich das alles ganz genau vortragen, um eine bestimmte Anerkennung meines Studiums zu bekommen. Ein Rehabilitierungsverfahren mußte ich durchmachen – für SED-Unrecht oder so ähnlich oder besser: für Opfer des SED-Regimes.

Meine Mutter hockte also am 13. August mit meinem Bruder im Westen und ich mit meiner Schwester im Osten. Wir haben erst einmal abgewartet, was passiert. Wir haben nicht geglaubt, daß die Mauer bleiben könnte. Dummerweise sagte dann mein Schwager:

«Ich nehme euch erst einmal vierzehn Tage mit nach Dresden. Das ist besser, denn wenn hier in Berlin vielleicht noch Schießereien losgehen, dann seid ihr nicht sicher.»

Es war dumm, daß wir damals mit nach Dresden gefahren sind, denn es gab kurz nach dem 13. August überall noch Schlupfwinkel, wo man über die grüne Grenze in den Westen hätte abhauen können. Als ich nach vierzehn Tagen zurück nach Berlin kam, war alles vorbei. Da waren die Stellen, an denen zuerst Stacheldraht lag, schon gemauert. Betonformteile hatten sie in Massen verarbeitet.

Ich war total abgeschnitten von meiner Familie. Wir waren froh, daß wenigstens meine Mutter bei meinem Vater war, sonst wären die beiden ja auch noch über Jahre getrennt gewesen. Ständig haben wir versucht, Kontakt aufzunehmen. Das ging aber nur über Bekannte. Telefonieren ging ja auch ewig nicht. Daß alle Telefonleitungen von Ost nach West unterbrochen waren, war für mich auch ein Zeichen, wie gut die ganze Mauersache vorbereitet gewesen sein muß. Ich habe mir später immer Vorwürfe gemacht, wie naiv ich gewesen bin.

Alle meine Zeichnungen lagen nun im Schrank in der West-Berliner Kunstschule. Dann hieß es, alle «Weststudenten» sollten sich sammeln und melden und in die «Schwarze Pumpe» gehen. «Schwarze Pumpe» war eine Art Arbeitslager im Braunkohlegebiet. Da sollten wir alle hin, wenn wir keine Anstellung nachweisen konnten. Viele sind dorthin abgewandert. Ich hatte Glück. Der Freund meiner jüngeren Schwester hatte eine kleine Buchbinderei und hat mich bei sich als Hilfskraft angestellt. So entkam ich der «Schwarzen Pumpe». In der Buchbinderei habe ich dann tatsächlich gearbeitet, solange bis Entwarnung kam. Mit meinem Können von der Modefachschule im Osten und von der Kunsthochschule im Westen habe ich mich nebenher um freie Aufträge bemüht. Im Künstlerverband mußte ich mich bewerben, um überhaupt freiberuflich arbeiten zu dürfen. Ich war aber später bis 1965 auch mal drei Jahre im Modeinstitut angestellt, das waren die einzigen drei Jahre, die ich überhaupt mal irgendwo fest angestellt war.

Meinen Wintermantel hat meine Mutter später natürlich aus der West-Berliner Reinigung abgeholt und mir geschickt, aber meine Zeichnungen waren für immer weg.

Ein paar Jahre lang war es so, daß nur Westdeutsche nach Ost-Berlin durften – keine West-Berliner. Wer einen westdeutschen Ausweis hatte, konnte zu mir zu Besuch kommen. Wenn ich von alten westdeutschen Bekannten Besuch bekam, war das immer ganz eigenartig. Es war immer so etwas wie Mißtrauen zwischen uns, wie eine Ängstlichkeit, mit uns im Osten zu verkehren.

Ich hatte einen guten Kontakt gehabt zu meinem Professor an der Westberliner Kunstschule und habe dem, nachdem die Mauer gebaut worden war, Briefe geschrieben. Diese Briefe habe ich jetzt alle in meiner Stasi-Akte wiedergefunden. Meine Akte habe ich schon vor zwei Jahren eingesehen. Das war schon beachtlich, was ich daraus erfahren habe. Die Enttarnung von einigen IMs läuft noch, direkte Freunde haben mich aber wahrscheinlich nicht angeschwärzt. Noch bin ich nicht zu sehr enttäuscht.

Es ist verblüffend, mit welchen Methoden man ausgeforscht wurde. Zum Beispiel haben sich bei mir mal zwei Herren angemeldet. Der eine behauptete, er sei vom «Verlag Neues Leben», der andere wies sich als Fotograf aus. Die kamen zu mir und gaben vor, sie wollten eine Ausstellung meiner Modegrafiken machen. In meiner Akte habe ich nun gelesen, wie ich diese beiden Männer damals empfing, daß ich denen Westzigaretten angeboten hätte und, und. Sie hätten mich gefragt, woher ich Westzigaretten hätte. Ich hätte geantwortet, daß meine Mutter mir ab und zu ein Päckchen schicken würde. So etwas steht alles in meiner Stasi-Akte … Der Fotograf hat Porträts von mir gemacht. Später hieß es, zeitlich würde es mit der Ausstellung doch nicht klappen. Ich habe nie wieder etwas von diesen Leuten gehört. Ich habe mich auch nicht gewundert und dachte damals, das war Pech, klappt eben nicht. Als ich nun vor zwei Jahren meine Stasi-Akten las, bekam ich eine Betreuerin, die die ganzen Sachen vorher schon gelesen hatte und mir dazu noch Erklärungen abgeben konnte. Nun fand ich plötzlich in meiner Akte diese Porträtfotos von mir. Da sagte ich: Wie sind die denn hier hineingeraten? Das sind doch die Fotos, die für einen Ausstellungskatalog benutzt werden sollten?» Da sagte die Betreuerin: «Na, also, Frau Zache, haben Sie das denn damals nicht bemerkt? Da ging es doch nicht um eine Ausstellung. Das war eine verdeckte Observation.» Das muß man sich mal vorstellen. Damit hat man doch überhaupt nicht gerechnet. Da sagte die Betreuerin: «Na, Sie waren aber naiv …» Eigentlich war ich nicht naiv, aber offensichtlich doch. Man hätte eigentlich keinem Menschen trauen dürfen.

Ich wollte in Berlin-Weißensee an der Kunsthochschule im Osten das Studium zu Ende machen. Da führte natürlich überhaupt kein Weg hinein, weil ich auf einer schwarzen Liste stand. Man war gebrandmarkt, wenn man im Westen beim Klassenfeind studiert hatte.

Der 13. August hing einem das ganze Leben nach: Das erstemal sah ich meinen Vater wieder, als er zu meiner Hochzeit in Ost-Berlin eine Besuchsgenehmigung bekam – das war Jahre nach dem Mauerbau. Ich habe immer sehr an meinem Vater gehangen. Als ich ihn nun endlich Wiedersehen sollte, war ich wahnsinnig aufgeregt, viel aufgeregter wegen meines Vaters als wegen meiner Hochzeit. Wir feierten in Berlin, in diesem «Café Moskau». Ich saß neben meinem Vater, und wir hielten Händchen. In meinem Inneren war es viel mehr ein Fest für meinen Vater, denn meinen Bräutigam und späteren Ehemann hatte ich ja immer, aber meinen Vater hatte ich nur ein paar Stunden. Mein Vater wurde später schwer krank, er hatte Blutkrebs. Von der Friedrichstraße aus konnte ich das Krankenhaus sehen, in dem er lag. Mein Vater schrieb mir mit zittriger Hand, warum ich nicht noch einmal käme, und durch meine Mutter erfuhr ich, er hätte nur noch sechs Wochen zu leben. Da bin ich durch sämtliche Stellen, auch durch das Ministerium des Inneren und habe da fast auf der Erde gelegen und die Leute angefleht, mich bitte meinen Vater noch einmal sehen zu lassen. Es gab sogar SED-Genossen, die haben für mich gebürgt, daß ich zurückkommen würde und nur noch einmal ein paar Stunden zu meinem Vater wolle. Doch es war nicht möglich; sie ließen mich nicht für einen Tag rüber. Da war für mich der Glaube an diesen angeblichen Humanismus, den sie sich in der DDR offiziell auf die Fahnen geschrieben hatten, vorbei. Das war der Punkt, an dem ich begriffen habe, wie inhuman und menschenverachtend dieses ganze System war.

Meine Mutter hatte sich glücklicherweise, findig wie sie immer war, einen Hamburger Paß besorgt. Sie wohnte also mit einem Hamburger Paß in West-Berlin. Ganz tapfer hat sie so dann jahrelang diese Grenze überwinden können, diese Wartereien, diese Kontrollen über sich ergehen lassen, um uns wiederzusehen. Nach und nach kamen Grenzerleichterungen. Brandt und der Westen mußten mit Krediten zahlen, damit es wieder ein paar Reiseerleichterungen für uns gab. Glücklicherweise hat der Mensch einen fabelhaft funktionierenden Verdrängungsmechanismus. Man hätte sich eigentlich permanent nur über diese Mauer und die Repressalien, die damit zusammenhingen, ärgern können. Aber man wollte ja auch leben und war jung, deswegen hat man diese ganzen Dinge auch verdrängt.

Wir Künstler hatten immer die Chance, uns zurückzuziehen – auch beruflich. Deswegen hat man in der DDR auf uns immer besonders aufgepaßt. Wir waren eben nicht in einem Betrieb fest angestellt, wo man permanent durchleuchtet und beobachtet wurde. Uns Künstlern wurde viel stärker mißtraut als anderen – mit Recht, aber wir hatten wenigstens eine Szene, in der wir uns freier bewegen konnten. Wir haben wunderbar gelebt – streckenweise. In unserer wohl doch angeborenen Naivität haben wir kaum bemerkt, daß wir immer wieder bespitzelt wurden. Da wir aber nichts Schlimmes gemacht haben, war uns das egal.

Daß die Mauer irgendwann wegkommen würde, habe ich nicht mehr geglaubt. Ich habe immer gesagt: «Wenn ich Rentnerin werde, mache ich eine Kunstreise durch Italien.» Ich hatte total verinnerlicht, daß ich erst in den Westen reisen kann, wenn ich Rentnerin bin.

Eines Tages besuchte ich meine Schwester. Mein kleiner Neffe ging im Schlafanzug in sein Kinderbettchen, drehte sich zu mir um und sagte: «Ich freue mich ja schon so, wenn ich endlich Rentner werde.» Ich war verblüfft und fragte ihn, warum. Da sagte der kleine fünfjährige Junge: «Dann fahre ich in den Westen und kaufe mir lauter Kinderüberraschungseier.» In dieser Bemerkung steckte der ganze Wahnsinn an sich. Daß ein kleines Kind diese Grenze schon verinnerlicht hatte und auch wußte, daß es erst als Rentner hinter diese Grenze kam, um sich Schokoladeneier zu kaufen. Die Grenze war so im Bewußtsein verankert, daß niemand damit gerechnet hat, daß es sie eines Tages nicht mehr geben würde.

Eine einzige Frau kannte ich, eine Großbäuerin, die dachte anders. Die war hier im Osten geblieben, obwohl ihr Mann und ihre Kinder in letzter Minute in den Westen gingen. Diese alte Frau lebte auf ihrem Hof unter furchtbarsten Umständen, ärmlich und ganz zurückgezogen. Sie hat das auf sich genommen, weil sie daran geglaubt hat, daß Deutschland eines Tages – in absehbarer Zeit – wieder eins wird. Sie glaubte fest daran und wollte deswegen auch auf keinen Fall den Hof aufgeben, der seit Jahrhunderten in ihrem Familienbesitz war. Leider hat diese Frau die Grenzöffnung nicht mehr erlebt, sie ist vorher gestorben. Sie hieß Frau Ollig und wohnte in Wittenbeck an der Ostsee.

 

Der Fall der Mauer 1989 war genauso überraschend wie der Bau der Mauer 1961. Ich kam gerade von einer Reise aus Samarkand zurück. Jahrelang, acht Jahre lang, hatte ich mich dafür im Künstlerverband beworben, bin aber nie auf diese Liste für eine Reise gekommen. Es sind immer nur die Bonzen gefahren. Doch plötzlich klappte es. Ich vermute, weil die Kulturfunktionäre zu diesem Zeitpunkt, also im Oktober 1989, schon eine Ahnung hatten, daß etwas mit der Mauer passieren würde. Ich aber fuhr nun begeistert nach Samarkand, Buchara und Taschkent, wo es sehr schön war. Mit einer Grippe kam ich zurück, legte mich ins Bett und sah fern. Plötzlich sah ich diese Rede von diesem Schabowski. Ich dachte, daß das doch wohl nicht angehen kann. Ich sah den Westsender. Dort zeigten sie schon, was sich an den Grenzen inzwischen abspielte.

Wir Geschwister, die hier im Osten verblieben waren, hatten zu diesem Zeitpunkt einen «Reisepaß zur Pflege und Betreuung» meiner alten Mutter. Damit konnten wir alle Vierteljahr für drei oder vier Tage meine Mutter in West-Berlin pflegen, die eine schwere chronische Krankheit hatte. Ich mußte den Grenzübergang Friedrichstraße benutzen, um nach Westen zu kommen. Durch die Schleuse, «Glaspalast» oder wie sie die genannt haben, mußte ich durch und war gerade am 10. November dran mit der Pflege meiner Mutter. Als ich nun die Bilder im Fernsehen sah, wie die schon alle mit dem Auto über die Grenze fuhren, dachte ich: «Da mach ich es mir morgen auch bequem und fahre mit meinem Auto zur Mutter.» So habe ich es gemacht. Ganz beflissen hatte ich meine Ausweise bei mir, denn das wichtigste im Leben eines DDR-Bürgers war der Personalausweis. Man wurde sein Leben lang ständig gefragt, ob man sein «Dokument» bei sich führt. Ich bin also am 10. November über die Invalidenstraße mit dem Auto in den Westen gefahren und zeigte mein Dokument vor. Da sieht mich der Beamte an, nach dem Motto: «Will ich nicht sehen, das ist nicht wichtig.» Vierundzwanzig Stunden vorher hätten sie einen ohne Dokument noch fertiggemacht …

Ohne uns abzusprechen, trafen wir alle – vier Geschwister – in der kleinen Wohnung meiner Mutter ein – alle an diesem Vormittag. Ich hatte meine Mutter immer im Sommer auf Antrag in mein Haus hier nach A. geholt. Jetzt wurde uns klar, daß wir uns ständig sehen konnten, daß sie nicht mehr diese blöden fünfundzwanzig Mark Tagesgeld bezahlen müßte und und … Ganz neue Träume und Welten kamen in uns auf. Wir empfanden ein wahnsinniges Glücksgefühl, eine Euphorie – das war phantastisch. Meine anderen Geschwister fuhren an diesem 10. November wieder nach Hause. Ich war eingeplant, für drei Tage meine Mutter zu pflegen, und blieb bei ihr. Weil wir so fertig waren von diesem aufregenden Tag, lagen wir schon gegen 21 Uhr im Bett. Meine Mutter schlief gleich ein, und ich dachte plötzlich: «Was mache ich denn jetzt im Bett? Das ist doch der absolute Quatsch, sich an einem solchen Tag ins Bett zu legen.» Mir wurde klar, daß auf dem Kudamm in diesem Moment getobt wird. Da bin ich wieder aufgestanden und habe zu meiner Mutter gesagt: «Ich muß hier raus. Ich fahre jetzt erst einmal zum Kudamm.»

Da waren dann Himmel und Menschen, und man traf dann auch welche, die man kannte … Am Kudamm war eine große Wand, auf der immer die neuesten Nachrichten in Textform erschienen. Auch die Zeitungen gaben nachts Extra-Blätter heraus. An einer Stelle hatte jemand riesige Ost- und Westfahnen aufgehängt und miteinander verknotet. Eine Kapelle spielte, und die Leute tanzten auf der Straße. Man guckte sich immer forschend in die Augen, fragte sich: «Na, bist du aus dem Osten oder aus dem Westen?» Aber alles mit einer grenzenlosen Freundlichkeit. In dieser Nacht herrschte die blanke Liebe zwischen den Menschen. Euphorie. Keine Aversion, wie sie dann später hochgekommen ist. In dieser Nacht war von all dem, was dann später so schnell kam, nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil. Man bekam sogar solche komischen Mutter- oder Vaterlandsgefühle. Ich dachte immer, ich wäre frei davon. Aber in dieser Nacht hat mich das Wort «Deutschland» fast kitschig angerührt. Diese Umarmungen überall haben einen nicht kaltgelassen. Vor der Gedächtniskirche, wo man eigentlich gar nicht langfahren durfte, hielt plötzlich ein Trabi aus Potsdam. Acht Leute stiegen aus und wurden begrüßt, als wären sie Staatsmänner. Die S- und U-Bahnen waren krachend voll. Es spielte sich alles am Kudamm, «Café Kranzler» und an der Gedächtniskirche ab. Es war eine sehr schöne Nacht. Die werde ich nie vergessen. Diese Freude und Aufgeschlossenheit aller, der Ostleute und der Westleute, war das größte Erlebnis.