Im Stein - Clemens Meyer - E-Book

Im Stein E-Book

Clemens Meyer

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Beschreibung

Clemens Meyers zweiter Roman: Ein großes Gesellschafts-Epos unserer Zeit. Ein vielstimmiger Gesang der Nacht: Prostituierte, Engel und Geschäftsmänner kämpfen um Geld und Macht und ihre Träume. Eine junge Frau steht am Fenster, schaut in den Abendhimmel, im Januar laufen die Geschäfte nicht, die Gedanken tanzen ihn ihrem Kopf. »Der Pferdemann«, der alte Jockey, sucht seine Tochter. »Der Bielefelder« rollt mit neuen Geschäftskonzepten den Markt auf, investiert in Clubs und Eroscenter. »AK 47« liegt angeschossen auf dem Asphalt. Schonungslos und zärtlich schreibt Clemens Meyer in seinem großen Roman von den Menschen, den Nachtgestalten, von ihrem Aufstieg und Fall, vom Schmutz der Straße und dem Fluss des Geldes. Mit großer Kraft und Emotion erzählt er die Geschichte einer Stadt, die zum Epochen-Roman unserer Zeit wird.

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Seitenzahl: 956

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Clemens Meyer

Im Stein

Roman

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Inhalt

Dank an den Deutschen [...]Eins, zwei, dreiI (Girl Girl Girl. Lass mal sehn, wie die Sterne heut stehn.)II (Und in den Straßen, hoher Schuh, schlankes Bein.)III (Bumm Bumm)Die Nacht des ReitersIn the year 2525IIIIII45678910Mandy, das Bett bricht!AmalgamEwigkeit zwoAm GrenzflussDer Kongress der HurenLichter in der KathedraleSag beim Abschied leise ServusIIIIIIIn der StahlstadtDer KolumbusfalterTokio im Jahre nullI Der TempelII SchneelandIII KabukichōFrüher Abend in Eden CityIIIIIIIVVDer große Coup (Die langen Wege zwischen den Stationen)Import/Export 90GesichterHinter den SpiegelnTote Taube in der FlughafenstraßeDer Traum von ReinharzTransfer (Bye-bye, mein Ladyboy)Ich möchte ein Pferd, irgendwann mal

Dank an den Deutschen Literaturfonds

Eins, zwei, drei

I(Girl Girl Girl. Lass mal sehn, wie die Sterne heut stehn.)

Wenn es Abend wird, stehe ich am Fenster. Ich schiebe die Lamellen der Jalousie mit den Fingern auseinander und sehe den Abendhimmel hinter den Häusern auf der anderen Seite der Straße. Es wird immer noch früh dunkel. Das Jahr ist nichtmal einen Monat alt, aber es fühlt sich schon lang und schwer an. Obwohl es nicht so viel Arbeit gibt zurzeit. Im Januar jammern wir alle. Ich will immer noch einmal die Sonne sehen und den letzten Streifen Licht. Ich gehe früh um acht zur Arbeit, da ist es immer noch nicht richtig hell. Im Sommer ist alles besser, so geht es sicher den meisten, aber andererseits denke ich im Sommer an Urlaub und habe oft keine Lust auf die Arbeit. Und ich glaube, dass es im Winter am besten läuft, wenn man jetzt mal den Januar außen vor lässt. Obwohl das viele bestimmt anders sehen. Ich finde es schade, dass die Wohnung keinen Balkon hat. Im Sommer könnte ich dort sitzen und mich sonnen, besser als das blöde Solarium, und im Winter könnte ich vor der Dämmerung dort stehen und eine rauchen und den Himmel beobachten, wie er rot wird. In den klaren Nächten sehe ich gerne den Mond. Da muss ich immer an das Kinderlied denken. Meine Mutter hat mir das oft vorgesungen vorm Einschlafen. Der Mond ist aufgegangen. Wenn ich das heute höre, und das ist nicht oft, weiß nicht, wann ich das überhaupt mal höre, also dann … Ich kann das schlecht beschreiben. In Gedanken singe ich es manchmal. Magda hat immer gesagt »dann krieg ich Gefühl«, wenn sie meinte, dass sie traurig wird. Aber es ist Quatsch, wegen den Jahreszeiten. Ob Sommer oder Winter, Herbst oder Frühling, das Telefon klingelt immer. Nur im Januar nicht so oft. Als Kind habe ich gedacht, aber da war ich noch sehr klein, dass es noch eine fünfte Jahreszeit gibt. Und ich habe meine Mutter einmal gefragt, ob das Jahr jedes Jahr am ersten Januar beginnt und ob Silvester immer einen Tag davor ist. Und ob es im Juni schneien kann. Sie hat gelacht und mich in den Arm genommen, deswegen habe ich das nicht vergessen. Genau wie das Lied. Über den weißen Nebel habe ich oft nachgedacht, vorm Einschlafen. Wenn ich mal ein Kind habe, werde ich meinem Kind ein anderes Lied vorsingen. Eins, was nicht so traurig ist. Ich bin ja auch eher ein lustiger Mensch. »Aufgeweckt und lebendig« stand früher mal in meinem Zeugnis. Da gab es ja immer so Einschätzungen von den Lehrern. Und Magda hat immer gesagt: »Mädchen, sei nicht so aufgedreht, du bist flattrig wie ein Vogel.« Sie hatte viele so komische Sprüche, manchmal passten die und manchmal gar nicht, und das fehlt mir. Sie ist jetzt in Hannover. Manchmal schreibt sie mir eine Karte, an meinen Geburtstag denkt sie immer. Sie hat immer gesagt, dass Briefe und Karten persönlicher sind als SMS. Sie schickt mir die kitschigsten Postkarten, Hundewelpen, riesige Herzen, Rosen mit Glitzer dran, und manchmal auch welche mit Musik. Ich schreibe ihr trotzdem E-Mails oder SMS. Postkarten schicke ich nur meiner Mutter. Die letzte zu Silvester. Die war auch noch für Weihnachten. Wir sehen uns nicht mehr so oft, aber ich habe mir vorgenommen, wie man das eben so macht zum neuen Jahr, dass ich sie öfters besuchen werde, denn zu mir, in die Stadt, kommt sie nicht so gerne.

Der Winter ist kalt wie selten dieses Jahr. Und im Dezember bin ich kaum auf Arbeit gekommen, musste das Auto stehenlassen. Die ganze Stadt versank im Schnee, und die sind kaum hinterhergekommen mit dem Räumen. Mir graut’s schon vor meinen Nebenkosten, denn ich lasse die Heizung zu Hause meistens den ganzen Tag an, damit es schön warm ist, wenn ich von Arbeit komme. Im Dezember habe ich oft hier geschlafen, und auch jetzt bleibe ich manchmal über Nacht. Weil ich nicht raus in den Schnee will. Als Kind bin ich jeden Tag rodeln gegangen, wenn es geschneit hat. Und manchmal hat meine Mutter mich auf den Schlitten gesetzt, wenn wir einkaufen gegangen sind. Das war noch in Jena. Wir haben dort Berge zum Rodeln und Skifahren. Ski war nie so meins. Da habe ich mich echt blöd angestellt. Da haben meine Mädels mich immer ausgelacht, und die Jungs sowieso. Aber auf dem Schlitten war ich gut. Da bin ich jede Todesbahn runter, da haben selbst die Jungs Respekt gehabt. Eigentlich ist es ganz gut, dass die Winter jetzt wieder so kalt werden. Von wegen Klima. Das kann aber nächstes Jahr schon wieder ganz anders sein. Wenn ich ein Kind habe, möchte ich das auch auf einen Schlitten setzen, wenn wir einkaufen gehen. Junge oder Mädchen ist mir eigentlich egal. Obwohl ich vielleicht lieber ein Mädchen hätte. Ich denke, in der Zukunft kann man sich das aussuchen. Also selbst bestimmen, was man möchte. Mit einer Pille vielleicht. Aber das wird sicher noch dauern. Obwohl ja manches plötzlich ganz schnell geht, mit der Technik und dem Fortschritt. Und eigentlich ist es auch Unsinn. Das würde sicher gleich bleiben im Verhältnis. Ich weiß noch, dass ich, bevor ich aus Jena weggegangen bin, einen Jungen haben wollte. Das war noch mit Bert. Kann ich heute gar nicht mehr verstehen, warum ich ihn verlassen habe. Ich dachte, ich muss da weg, von wegen Jena Paradies, aber er wollte eben dableiben, hatte sich alles schön geplant. Weil ja sein Vater diese Apotheke hatte und er extra Pharmazie studiert hat deswegen. Apotheken bringen richtig Geld. Weil doch die Leute immerzu krank sind. Zu jeder Jahreszeit. Und besonders jetzt. Und wenn’s dann mal die Pillen fürs Geschlecht gibt, werden die noch mehr Umsatz machen. Man kann ja sogar schon Aids heilen, oder so gut wie. Trotzdem möchte ich mir das nicht vorstellen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der Aids hat. Was die Leute manchmal für Unsinn erzählen deswegen. Wir gehen ja regelmäßig zum Gesundheitsamt. Auch wenn wir’s nicht mehr müssen, vom Gesetz her, das war ja früher anders. Aber die Leute denken und erzählen ja überhaupt jede Menge Unsinn, was das betrifft und was uns betrifft. Und ich stehe am Fenster und schiebe die Lamellen der Jalousie mit den Fingern auseinander und gucke auf die Häuser auf der anderen Seite der Straße, hinter denen der Himmel jetzt rot wird und die Nacht auftaucht. Sechzehn Uhr dreißig, und das Telefon hat erst viermal geklingelt, und an der Tür erst zweimal. Also für mich.

Weil Jenny seit zwölf da ist und bis zwölf bleibt. Zwölf Stunden, das wäre mir zu viel. Zehn Stunden ist bei mir das höchste der Gefühle. Dann ist Schluss mit Kaffee Latte. Da muss ich lachen, denn das hätte auch von Magda sein können. Obwohl’s ein ziemlich blöder Spruch ist, eigentlich nicht lustig, wenn ich jetzt so drüber nachdenke. Wann ging das eigentlich genau los mit diesem Latte-Kaffee, da hat man schonmal geschmunzelt zu Anfang. Goodbye, mein Filterkaffee. Aber da kriege ich Gefühl, wenn ich an sie denke. Ja, ja, das höchste der Gefühle. Nur nicht sentimental werden. Denn wir waren doch ziemlich eng, und alles fühlte sich leichter an, mit der Arbeit und überhaupt. Mit Jenny ist’s schon o.k. Sie kommt nur vier Tage die Woche, aber auch Samstag und Sonntag, und da habe ich frei. Das Wochenende ist mir echt heilig. So wie mein Arsch. (Das nun wieder!) Jetzt kann ich mir endlich eine anzünden. Ich achte nämlich drauf, dass ich nicht zu viel rauche. Jede Stunde eine Zigarette. Ich versuch’s zumindest. Komme auf höchstens fünfzehn Zigaretten am Tag, das geht noch, denke ich. Jenny ist nur am Qualmen und sprüht ständig mit diesem Raumdeo rum. Lavendel-Frühlingsduft. Ich hasse das. Viel quatschen wir jetzt nicht. Sitzen manchmal zusammen im Wohnzimmer, wenn wir warten. Ich würde sagen kollegial. Sie ist ja ein ganz anderer Typ als ich. Wiegt bestimmt zwanzig Kilo mehr, geht schon Richtung Mutti, aber da stehen genug Kerle drauf, ob man’s glaubt oder nicht. Und ich würde jetzt nicht sagen, dass sie nicht hübsch ist. Nein, die Jenny ist schon hübsch. Vom Gesicht her, und das mein ich jetzt gar nicht böse. Aber eben fraulich, und das mein ich jetzt als Kompliment. Und wir kommen gut miteinander aus, jeder hat sein Publikum, sag ich mal. Nur wer sich als Gast fühlt, fühlt sich wohl. Magda habe ich lange nicht gesehen und frage mich oft, wie’s ihr so geht in Hannover. Dort ist ja alles ruhig, und der Pate und die Engel haben alles im Griff. Und die Mädels haben wohl gut zu tun. Was man eben so hört. Seit die Engel auch hier sind. Habe ich aber nichts zu tun mit denen. Höre eben nur viel. Seit acht Jahren bin ich jetzt in der Firma vom Chef. Ich sag immer »Chef« und »Firma«. Manchmal sage ich auch »der Alte«, weil einige ihn so nennen. Aus Respekt. Ich glaube, dass er gut steht mit denen, also den Engeln, weil doch der Typ, der da der Oberengel ist, wohl mal mit ihm befreundet war, oder jedenfalls standen sie ganz gut miteinander, haben sich die Stadt aufgeteilt, aber genau weiß ich’s nicht. Es gibt Mädels, die wissen hundertprozent, was läuft, Klatsch und Tratsch eben, obwohl das dann meist weniger als fünfzig ist, also Prozent, was die Wahrheit betrifft, aber wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme und mich an die Heizung setze, will ich von dem ganzen Mist gar nichts mehr wissen.

Letztens habe ich irgendwo gelesen, dass der Anwalt von dem Paten aus Hannover-City, der ja wohl der große Boss der Engel ist, dass der auch der Anwalt von Schröder ist, also dem Ex-Kanzler. So einen Anwalt hätte ich auch gerne. Und was soll da schon dran sein, dass er mit den Engeln zu tun hat. Geschäfte machen sie eh alle. Oder wollen’s zumindest. Russendeals, Gazprom, Mädels und Aktien. Das große Geld. Aber ich denke schon viel zu sehr drüber nach, aber so ist das auf Arbeit, wenn ich warte. Und sehe, wie der Tag verschwindet. Und die Lichter der Autos und Straßenlaternen zwischen den Lamellen der Jalousie. Wie sie über die Wände huschen, zusammen mit den Schatten. Da wird mir ganz anders, da krieg ich Gefühl und ziehe den Reißverschluss meiner Adidas-Sportjacke bis hoch zum Hals. An der hänge ich sehr. Die habe ich schon seit Jahren, habe sie mir damals in Berlin gekauft. Ist eine mit roten Streifen an den Ärmeln, die sieht man nicht so oft. Achtundneunzig habe ich Schröder gewählt. War meine erste Wahl. Das war auch noch in Jena. Ich muss mir die Beine eincremen. Die Luft ist zu trocken. Die Heizung auf der Fünf. Und draußen minus zehn. Mindestens. Ich krieg auch wieder Schuppen. Hatte ich ewig nicht. Aber ich nehm so ein Naturshampoo, Brennnessel, davon gehen sie gut weg. Ist besser für die Haare. Das Chemiezeug ist mir zu aggressiv drauf. Eine Zeitlang habe ich das versucht, Alpecin und sowas, aber davon wurde es noch schlimmer. Das Zeug brennt an der Muschi wie Feuer. Nicht dass ich mich da mit Alpecin eingerieben hätte, weil Schuppen hab ich da keine, es gibt Mädchen, die leiden da unter permanent trockener Haut, aber beim Spülen unter der Dusche ist’s ja überall. Ist ja eh ein Problem mit der trockenen Haut beim Duschen, wenn man so viel duscht. Und mit der Muschi, weil man ständig rasiert. Aber das bringt die Arbeit nunmal so mit sich. Dieses Naturshampoo habe ich von Jenny. Die hat auch so Cremes, die sie mir empfohlen hat wegen der trockenen Haut. Auf dem Bahnhof gibt’s so einen Naturladen, da gehe ich jetzt oft hin. Ich vertrage das wirklich besser, wobei Parfüm und Deo würde ich mir da nicht kaufen. Da gehe ich weiter zu Douglas. Obwohl die ja Embryos verarbeiten. Come in and find out.

Jetzt brauche ich doch noch eine Zigarette. Die achte heute, ich habe genau mitgezählt. Ich versuche, das wirklich zu minimieren. Aber ganz ohne kriege ich’s nicht hin. Alle Mädels, die ich durch die Arbeit kenne, rauchen. Na ja, neunzig. Also Prozent. Ich denke manchmal drüber nach, warum das so ist. Wenn ich warte, wenn ich am Fenster stehe und sogar wenn ich mittendrin bin. »Mädchen, du lügst doch wie gefickt«, würde Magda jetzt sagen, auch nicht wirklich lustig, und gedruckt und gefickt reimt sich nichtmal, aber wir lachen trotzdem über so ’nen Mist, aber wirklich, was soll man machen, wenn die dummen Gedanken in deinem Kopf tanzen, als wäre dort Fasching. Karneval gibt’s bei uns gar nicht richtig, obwohl paar Idioten ihre kleinen Festumzüge machen. Aber besser und billiger als Koks oder Speed oder dieser Glasfasermix. Kristall. Mit C. Also die Raucherei. Also billiger. Aber das bringt eh nix, weil das frisst dich auf Dauer. Also Koka. C, und was auch immer. Habe ich damals alles durch in Berlin. Schön blöd. Come in and find out. Aber so schlecht war es auch nicht. Kann und will ich nichts hören von dem Opfer-Gerede. Weil war ’ne schöne wilde Zeit. Ach, das arme Mädel! Passt alles in denen ihr Bild. Und in die »Bild«. Ich sag mir eher immer: Ach, die armen Kerle. Wobei ich das andererseits schon verstehe. Dass sie zu mir kommen. Und weil es auch gut so ist. Und jetzt ist grad wieder Fasching im Kopf. Richtige Karnevalsumzüge. Weil ich seit zwei Stunden warte und immer wieder aufs Telefon starre, wenn ich nicht grade am Fenster stehe. Ist stockdunkel draußen inzwischen. Magda und ich, wir hatten damals nur ein Telefon. Ging gut. Mehr als kollegial. Jetzt höre ich manchmal das Handy von Jenny im anderen Zimmer. Sie merkt auch, dass Januar ist, denke ich. Alle merken das. Nicht nur die Mädels. Mein liebster Taxifahrer sagt immer, eigentlich hat er’s nur zwei- oder dreimal gesagt: »Im Januar ist Winterschlaf. Taxi, Börse, Nacht.« Mit der »Nacht« meint er mich. Auch wenn der Hauptteil meiner Arbeit am Tag ist. Das meint er nicht böse. Weil erstmal keiner mehr Geld hat im neuen Jahr, sagt er. Ist ein ganz Lieber. Hat vor der Wende in einer großen Druckerei hier in der Stadt gearbeitet. Erzählt er viel von. Mitte fünfzig. Und seit fast dreißig Jahren verheiratet. Und zwei Kinder. Erzählt er immer. Das tut gut. Das hör ich gern. Wobei ich das mit der Börse nicht so genau weiß. War nie meins und wird’s auch nie werden. Ich kenne paar Mädels, die haben auf sowas geschworen. Und die haben gekauft und verkauft und gezockt wie blöd. Ein richtiger kleiner Börsenverein. Aber doch die Ausnahme. War ich nicht mit drin, weil ich ja immer sage, nach der Arbeit will ich nichts mehr wissen von der Arbeit. Obwohl das natürlich nicht so einfach ist. Mit Magda war das anders, aber ich will da jetzt langsam weg von, dass ich immer von ihr erzähle und oft an sie denke. Weil das ist jetzt, wie’s ist, und es ist auch gut so, weil, und das hat meine Mutter immer gesagt, wenn es mal nicht lief und sie traurig war über irgendwas: »Die Dinge sind, wie die Dinge eben nunmal so sind.«

Aber die ärgern sich sehr, denke ich, die Mädels, von denen ich weiß, dass sie ihr Geld an der Börse untergebracht haben. Wie viel, weiß ich nicht. Da gibt’s keine Versicherung, die dir irgendwas zurückzahlt. Ich habe eh keine Ahnung davon. Ich spiele Lotto. So blöd das klingt. Vor kurzem hat ein Bekannter von mir über dreißigtausend gewonnen. Ich kenne ihn nur über drei Ecken. Eher zwei. Aber nicht als Gast. Über Mandy, die arbeitet bei Hans. Und die kennt den Alten, der da so viel Geld gewonnen hat. Mit verkürzter Kombination. Fünfer. Hab ihn mal gesehen in Hans seiner Buchte. Obwohl, »Buchte« ist unfair. Denn bei dem ist alles sauber. Klein, aber fein. Wirklich sauber. Was das Drumherum betrifft. Sicher nicht das Gelbe von den Eiern (Magda!), aber ich habe nur Gutes drüber gehört. Prozentual. Auch wenn ich sage, dass ich nach der Arbeit meine Ruhe haben will, kommt es doch immer zu dir. Also der Tratsch. Denn natürlich kann ich nicht einfach sagen: Ich bin dann mal weg. Das Buch von dem Kerkeling habe ich gelesen. War ganz witzig. Aber mir wäre das nichts mit der ganzen Latscherei. Santiago de Compostela. Zu sich selbst finden oder zu Gott oder der Welt oder was auch immer. Klingt wie Kompost. Und natürlich kann ich das sagen. Dass ich weg bin. Wie jeder Bürger und jeder Mieter seine Wohnung kündigen kann. Drüben klingelt das Handy. Bei mir ist Ruhe, und ich schalte das Radio an.

Meine Tochter soll Sabine heißen. Ist total verrückt, aber ich würde auch gerne Sabine heißen. Weil mir der Name wirklich gefällt. Sind so seltsame Arbeitsgedanken. Fasching halt. Und meint auch nur den Arbeitsnamen, also Künstlernamen. Hätte ich mich früher nicht Babsi genannt, also Künstlername, würde ich mich jetzt Sabine … Weil ich mit einer Sabine gearbeitet habe und ganz gut konnte mit ihr, gar nicht so lange her. Nicht so gut wie damals mit der Magda, die war ja fast wie ’ne Schwester, die Magda. An die ich so oft denke. Mit der ich ja zusammen angefangen habe. Schneewittchen und Rosenrot. Nee, Weißchen. Die hat sich nicht die Muschi rasiert, also Sabine, nichtmal ’n Streifen, da habe ich großen Respekt vor, ganz ehrlich, ich mag das, wieso mag das keiner mehr von den Gästen, Achtziger-Style, aber glatt und blank ist eine Bank, aber bei ihr lief’s ganz gut, hat das extra annonciert, wenn alle plötzlich rasiert sind, macht man mit schwarzen Locken richtig Geld, sie hatte lange schwarze Haare, aufm Kopf natürlich, und jetzt macht sie in Kunst, unter ihrem richtigen Namen, ist schon seit fast zwei Jahren nicht mehr in der Firma. Fotos und so Mediensachen. Und Zeichnen auch. Viele hier in der Stadt machen in Kunst. Künstler eben. Die das können. Oder studiert haben. Wenn ich dran denke, dass ich auch mal studiert habe. Fachhochschule. Der Alte sammelt Bilder, habe ich gehört. Aber nur die Großen, die teuer sind und Geld bringen. Ich bleib am Boden kleben. Die Cola wollte ich vorhin schon wegwischen. Der zweite Gast hat die Flasche umgeschmissen, die auf dem kleinen Couchtisch steht. Ich lege mich aufs Bett. Riecht immer noch nach Arbeit, obwohl ich vorhin eine neue Decke draufgetan habe. Der Erste war scheiße, der Zweite ganz o.k. Wenn ich mir nicht die Muschi rasiere, werden sie blond. Ich bin naturblond. Ich hätte immer gerne dunkle Haare gehabt, deshalb färbe ich sie mir manchmal. Ob man unten färben kann? Dann würde ich mir vielleicht einen kleinen Streifen stehen lassen. Obwohl das nicht gesund sein soll mit der Färberei, vielleicht hat das auch mit den Schuppen zu tun, die ich jetzt wieder habe, wenn ich nicht jeden Tag das Brennnesselzeug benutze. Ich schalte den Fernseher ein, immer noch ohne Ton. Den habe ich vorhin runtergedreht, als der zweite Gast kam. Das Radio läuft leise im Hintergrund. Wenn jemand so Junges kommt, der auch noch ganz gut aussieht, frage ich mich manchmal, eigentlich war’s auch nur ganz zu Anfang so, ob der eine Freundin hat und nur Abwechslung braucht oder sie nicht gut genug bläst oder überhaupt nicht oder was weiß ich oder ob er echt nicht zum Ficken kommt, weil schüchterne Typen gibt es ja jede Menge. Aber eigentlich ist’s mir scheißegal. Bei mir ist das so fünfzig/fünfzig, also zwischen Arschlöchern und Großschnauzen und den Schüchternen. Aber genau kann ich’s nicht sagen, weil die Schüchternen manchmal genauso scheiße sind, obwohl mir die Stillen eher lieber sind, Mutti macht das schon. Da kann ich selbst dirigieren, und die hämmern mir nicht alles wund. Aber fünfzig/fünfzig trifft’s eh nicht richtig, weil’s noch jede Menge andere Typen gibt, da kommt das mit den Prozenten wieder durcheinander, ich habe manchmal drüber nachgedacht, eine Liste zu schreiben, eine Art Typentabelle.

Achtzehn Uhr, die Nachrichten. Der Erste war scheiße. Der Zweite ganz o.k. Muss man so sehen, sonst wird man blöd. Also ich zumindest. Die Superhits der Achtziger. Höre ich gerne. Bin neunzehnhundertneunundsiebzig geboren, und meine Musik ist eher aus den Neunzigern, Techno, Scooter, Hyper-Hyper, wegen den Rolling Stones bin ich fünfundneunzig mit meiner Mutter nach Berlin gefahren, Voodoo-Lounge-Tour, durfte keiner wissen von meiner Technoclique, aber meine erste Schuldisko war neunzehnhundertachtundachtzig, kurz vor der Wende. Da liefen diese ganzen Kracher. Live is life. Küss die Hand, schöne Frau, Ihre Augen sind so blau. Da Da Da.

Das Telefon klingelt. Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht. Jaaaa? Hm. Jaaa. Natürlich. Sofort. Rotkäppchenweg 12. Bei Bose. Ja, wie diese Elektrofirma. Hmmm. Ja. Ich freu mich auf dich. Bis gleich. Da Da Da.

Es ist siebzehn Uhr fünfundfünfzig. Die Stadt und die Welt. Immer fünf Minuten früher informiert. Da bin ich wohl kurz weggenickt. Ich bin ständig müde in letzter Zeit. Muss am Wetter liegen. Liegt immer am Wetter. Wie so vieles. Kaum mache ich die Augen zu, fange ich an zu träumen. Von wegen Rotkäppchenweg. Den gibt’s hier schon in der Stadt, das ist drüben im Süden, da gibt’s ein ganzes Märchenviertel, wo die Straßen und Wege nach den Märchen heißen. Den Grimms. Meine Mutter hat mir manchmal welche vorgelesen. Nicht oft. Aber an ein paar kann ich mich erinnern. Ich meine jetzt nicht die üblichen, die man so kennt. Und nach denen auch die Straßen in diesem Viertel im Süden heißen. Dornröschenstraße. Froschkönigweg. Schneewittchenweg. Aschenputtelstraße. Frau-Holle-Platz. Schneeweißchen und Schneerosenrot. Ich weiß das wegen Sabine, die hat da gewohnt, ist dort aufgewachsen, hat sie mir erzählt. Und auch zur Schule gegangen, zu Zonenzeiten, sie ist zwei oder drei Jahre älter als ich. Die Schule hieß aber nicht »Rumpelstilzchen POS« oder so. An die Märchen kann ich mich noch genau erinnern, wie an das Lied »Der Mond ist aufgegangen«, und tatsächlich steht er drüben hoch über den Häusern, ganz klein in der kalten, klaren Nacht, und ich gehe zum Couchtisch und setze mich auf einen der beiden Sessel, denn aufs Bett habe ich grad keine Lust. Die Jalousie bewegt sich noch und macht Geräusche am Fensterglas. »Der Eisenhans« hieß eins von den Märchen. Und »Frau Trude«. Und an den »Fischer und syne Fru« kann ich mich auch noch erinnern. »Manntje, Manntje, Timpe Te / Buttje, Buttje in der See / myne Fru, de Ilsebill / will nich so, als ik wol will.« Oder so ähnlich. Oma und Opa kamen von der Küste. Bad Doberan. Und meine Mutter kann ganz gut Platt. Wir sind oft hochgefahren, als ich klein war. Was heißt Manntje, Omi? Und was ist eine Timpe? Als ich acht geworden bin, haben mir Oma und Opa das Märchenbuch geschenkt. Das war grün, und seltsame Bilder waren drin, die haben mir manchmal Angst gemacht. Ich weiß nicht, wo es jetzt ist. Mutti wohnt noch in derselben Wohnung in Jena, und mein altes Zimmer gibt es auch noch. Bestimmt liegt es dort irgendwo im Regal. Ich habe mir ja vorgenommen, dass ich jetzt öfters hinfahre. Der Erste hat gut Geld gebracht heute, und da bin ich froh drüber. Für Januar-Verhältnisse. Und so ein Idiot war’s nun auch wieder nicht, hätte sich nur mal die Fingernägel schneiden können, und saubermachen sowieso. Weil ich finde, dass es nichts Schlimmeres gibt als Männer mit richtig Dreck unter den Nägeln. Klar sage ich: »Wasch mal die Pfötchen«, aber ich kann ihm ja kaum ’nen Spachtel geben. Gibt natürlich Schlimmeres. Blumenkohl zum Beispiel. Das geht auf keine Vorhaut, sagte Magda immer. Also die Schweinerei. Sabine war seltsam, die hat sich nie beschwert. Ich habe sie wirklich sehr sehr gemocht, aber sie war schon seltsam.

Ich hab ja so ’ne Art Skala, dreckige Nägel und fauliger Atem ganz oben, nimmt sich aber alles nichts. Nicht viel. Und bei Atem gibt’s auch noch ’ne Unterskala. Wenn sie dich dann anjapsen, muss man sich so gekonnt wegdrehen, also den Kopf, dass es nicht unhöflich wirkt. Ich habe ’ne Flasche Mundwasser im Bad stehen, aber das ist eher selten, also nie, dass die mal einer benutzt. Na ja, selten. Natürlich sage ich, wenn sie für ’ne Stunde bleiben wollen, und auch so, dass sie vorher ’ne Dusche nehmen können. Beziehungsweise sollen. Und ich sag das so charmant, dass sie’s auch machen. Mach dich frisch für mich, Süßer, damit ich dich ablecken kann. Sind nicht alle so diplomatisch, das weiß ich. Vielleicht jetzt gerade, wegen Januar. Die große Depression. Aber für mich gelten die Januar-Regeln das ganze Jahr. Obwohl das so Zickenkram ist, von wegen »Ich kann’s besser« und so. Weiß ich eigentlich. Muss jede selbst wissen, wie sie’s anstellt. Ich bin die Beste, ich bin die Schärfste, na ja, bin ich auch, ich schau dir in die Augen …, aber schön duschen vorher. Die meisten Mädels wissen schon genau, wie’s geht. Denn wer zufrieden ist, kommt wieder. So einfach ist das manchmal. Oder eben schwierig. Wie man’s nimmt. Das mit diesen ganzen »mans« hat meine Freundin Sabine gesagt, wie die jetzt richtig hieß, hab ich grad vergessen, obwohl wir uns alle mit unseren richtigen Namen ansprechen, Jenny heißt ja wirklich Jenny, nur in der Annonce nennt sie sich »Lola«, ich finde das blöd, weil das glaubt doch keiner, aber sie sagt, dass sie ein großer Fan von Franka Potente ist, der Schauspielerin. Meinetwegen. »Jenny rennt«. Katrin, heißt sie, also Sabine. Ich wollte schon diese Kunstzeitschrift raussuchen, die ich hier irgendwo haben muss, wo was über die drinsteht. Sabine ist viel schöner als Katrin, also der Name, denn sie sind ja ein und dieselbe, und sie hat mir mal gesagt, dass sie sich auf dem Amt umbenennen will, also den Antrag darauf stellen, für den Ausweis, Künstlername sozusagen, das war noch bevor sie sich mit Fotos und Videos und Zeichnungen versuchte, aber sie hat auch schon damals immer gesagt: »Beruf: Liebeskünstlerin«. Das fand ich gut. Aber ich geh mit der ganzen Sache pragmatischer um, wie die meisten von uns. Aber Geld machen ist ja auch ’ne Art Kunst. (»Pragmatischer? Quasi sozusagen? Hätteste mal weiterstudiert, Mädchen!« Magda im Gespräch mit Lilli, Februar 2003) Bisschen hat’s mich schon genervt, dass sie immer so getan hat, als wäre sie zig Jahre älter als ich, also Magda, große große Schwester, dabei war sie nur dreieinhalb vor mir, obwohl wir in der Annonce damals fast gleichaltrig waren. Hallo? Hallo? Der größte Baumarkt Deutschlands! Immer diese bescheuerte Werbung. In den Baumarkt geh ich ganz bestimmt nicht. Mit der Sabine, das habe ich verwechselt, die war nämlich ein oder zwei Jahre jünger als ich, also fast gleichaltrig.

Und wenn Mutti vorgelesen hat, war doch ziemlich oft, hat sie immer nur diese Märchen genommen, die keiner kannte. Oder den Fischer mit seiner Frau. Das hat ihr Spaß gemacht, das auf Platt zu lesen, obwohl ich das meiste nicht verstanden hab, aber es klang wirklich schön. Eine ganz seltsame Melodie. Und Muttis Stimme war dann ganz anders. Als wäre sie selbst wieder ein Kind. Ich denke, dass Oma ihr das oft vorgelesen hat, oben in Bad Doberan. Da dampft die Molli fast an dem Haus vorbei, wo die Großeltern wohnen und wo Mutti auch aufgewachsen ist. Das ist eine kleine Dampfbahn, die Molli, Schmalspur, fährt bis zur Küste, bis zum Meer. Bei »Frau Trude« habe ich mich unter der Bettdecke versteckt. Und wenn die Molli mit diesem lauten Pfeifen am Haus von Oma und Opa vorbeiratterte, meistens waren wir nach Weihnachten dort, und manchmal sind wir alle zusammen mit der Molli durch die verschneite Ebene gefahren, bis hoch zum Meer, und als ich dann das grüne schöne Buch in Jena hatte und Mutti draus vorgelesen hat, oft war das ja nicht, aber an »Frau Trude« kann ich mich genau erinnern, da hörte ich immer die schrillen Schreie dieser kleinen Lok. Und ich lag in Bad Doberan unter der großen Bettdecke im kalten Zimmer, Mutti schlief immer neben mir, aber saß noch lange meistens mit Oma und Opa, bis sie dann kam; die letzten Züge fuhren irgendwann nach acht, aber ich war ja erst acht und noch jünger, und dann immer dieses Dschuhuuu Dschuhuuuu, ich weiß noch, wie ich immer ins Dunkel unter der Decke geschlüpft bin in dem großen kalten Bett, und einmal habe ich so laut geweint, dass sie alle ins Zimmer gekommen sind. Mutti, Oma, Opa. Eins, zwei, drei.

Ich habe dem Chef mal spaßeshalber gesagt, dass er doch drüben im Märchenviertel eine Dependance (Magda: »Hallo! Hallo?«) aufmachen soll. Weil das sicher der Renner wäre. Wenn er da Wohnungen hätte. Rotkäppchenweg. Froschkönigweg. Und die Mädels aus Tausendundeiner Nacht. Da hat er nur gelacht. Rumpelstilzchen halt. Aber er ist schon in Ordnung. Sonst würde ich nicht seit acht Jahren hier arbeiten. Obwohl ich manchmal dran denke, nach Hannover zu gehen. Niedersachsen-City ist stark im Kommen, seit die Engel und der Pate der Engel da alles regeln. Was man eben so hört.

Die war wirklich ein bisschen Richtung Emanze, die Kunst-Sabine, was immer das jetzt aussagt. Also nichts. Und verträgt sich ja auch nicht mit dem Job. Also wie man’s nimmt, denn eigentlich schon natürlich. Weil wir doch die Frauenquote hochtreiben und knallhart die Kerle ausnehmen. Na ja, mal so, mal so. Bisschen durcheinander jetzt.

Sabine Sabine. Englisch. Radio. Wie das Lied. Wie damals in der Schuldisko. Da Da Da. Wenn ich daran denke, wie wir Kinder, wir Mädels und die Jungs, da so über die Tanzfläche gehuscht sind … Sabine sagte immer, dass man nicht »man« sagen soll so oft. Auf der Arbeit und nach der Arbeit. Weil man mit man, also den Männern, ja eh immer genug zu tun hätte. Das stimmt schon. Aber »frau«? Oder »mensch«? Klingt doch blöd. Ist doch Achtziger. Schwarzer. Ist doch Unsinn. War schon strange, die Kleine. Ändert doch auch nichts an den Tatsachen. Und die finde ich jetzt so schlecht nicht. Und hätte sie nicht so gut verdient, hätte sie auch nicht in Kunst machen können, denn sie hat schon ganz schön was angespart. Denke ich mir zumindest. Aber sie hat kein Blatt vor den Mund undsoweiter, immer voll da, immer aggressiv und um nichts verlegen und doch gleichzeitig mit einer dunklen Stille in den Augen, kann ich schwer erklären jetzt, aber ich denke, das haben die Gäste an ihr gemocht. Und ihren kleinen Busch. Der letzte Tango … Aber ich glaube manchmal, dass sie das alles ganz genau kalkuliert hat, als sie dann die Fotos und Bilder von der Arbeit ausgestellt hat, Gäste, Kolleginnen, Blicke aus dem Fenster, Zeichnungen zwischen zwei Gästen, also was sie so gekritzelt hat, wenn einer weg war und bevor der nächste kam … Da war das Geschrei ganz schön groß. Bei den Mädels, bei den Gästen, beim Alten. Ziemliche Aufregung. Aber ich fand’s gut.

Und kurz bevor ich wegnicke, weil das Flimmern der Fernsehbilder mich müde macht und die Achtziger jetzt auch nicht so viel hergeben im Radio, klingelt das Telefon.

Jaaaa? Ich habe nie verstanden, warum Mutter mir solche Sachen wie »Frau Trude« vorgelesen hat, wenn sie denn mal vorgelesen hat. Für meine Tochter wäre das eher »Froschkönig« oder »Hase und Wolf«, ach nee, das ist dieser russische Trickfilm …, Nu pagadi, Na warte! Für das Mondlied bin ich ihr bis heute dankbar. Ja, die Babsi. Hmmm. Ja. Natürlich. Hotel? Das kostet aber extra … Und wo ist das? Ja. Gerne. Ja, natürlich. Gib mir doch deine Nummer auf dem Zimmer, dann rufe ich sofort zurück. Jaaa. Warte kurz …, ja, jetzt. Ja. Zwo vier sechs. Dreißig Sekunden. Bis gleich.

Habe ich das Radio noch schnell leise gemacht. Superhits der Achtziger. Ich liebe George Michael. Und im Fernsehen lief was über Sexy Cora. Still. Und das Telefon klingelt. Und drüben bei Jenny klingelt’s auch. Vorhin hat’s auch an der Tür, und ich bin kurz raus in den Flur, und Jenny hatte schon ihre Titten arrangiert und stand an der Gegensprechanlage und nickte mir zu und »Ja, komm hoch, ich warte schon«, weil oft auch Stammkunden klingeln, ohne vorher anzurufen, und das könnte genauso gut für mich sein, aber sie sagt »Holger« und grinst und macht schonmal die Tür auf, und ich höre ihn unten auf der Treppe schnaufen, dabei ist er im besten Alter. Aber das sagen sie alle, wenn sie knapp über fünfzig sind. Bei mir ist er auch schon gewesen, aber Jenny ist eher sein Fall, da bin ich ehrlich. Also wieder rein ins Zimmer, die Kollegin macht das schon.

Und ich stehe am Fenster und weiß nicht, ob das gut ist, wie das jetzt grad ist. Haus- und Hotel-Besuche stehen zwar in meiner Sedcard, Internet und Zeitung, H & H, aber gerne gehe ich nicht raus aus dem Nest. Vor allem im Januar. Minus zehn. Und habe ihn an der Strippe. Klingt zumindest freundlich. Immer nur mit Nummer, bei der ich zurückrufen kann. Sonst könnte ja jeder kommen. Wie mit den Pizzas, die dann keiner bestellt haben will. Aber ich kenn die Nummern vom Hotel, habe ab und an Besuche gemacht dort in den letzten Jahren. Frage mich, was er in der Stadt will, ist grad keine Messe. Unten auf der vereisten Straße verliert irgendein Depp die Kontrolle über seine Karre und schliddert fast wie in Zeitlupe und stellt sich quer und berührt lautlos die parkenden Autos, die ihn abfangen. Während ich mich anziehe, gucke ich nochmal, und da stehen sie auch schon auf dem Fußweg und gestikulieren, wie schnell der Besitzer des parkenden Autos seinen Weg in die Kälte gefunden hat. Mein Auto, mein Haus, meine Wut. Vielleicht hat er auch am Fenster gestanden wie ich. Wie ich.

Und ich ziehe mich an, wähle die Kleider. Enge Jeans, das schwarze Top, die Jacke mit dem Glitzer drüber und den Mantel. Und da muss ich nochmal raus aus den Klamotten, weil ich doch noch den kleinen Schwamm wechseln muss, ist immer ’ne ganz schöne Fummelei, ist so ’n Spezialschwamm, der liegt ganz hinten, ziemlich weit drin, wegen der Tage, gehen heute los, prima Timing, nehmen die Mädels auch beim Porno, funktioniert, sollte nur keiner mit so ’nem Viertelmeterzollstock ankommen. Und dann klingelt das Telefon. Aber nicht bei mir, sondern in der Firma, wo Gerd rangeht, das Milchgesicht, früher war da noch Alex, das Milchgesicht, der jetzt bei den Engeln ist, und ich sage ihm, wo ich hinmuss und dass ich mich melde, wenn ich zurück bin, und ja, ich schreibe eine SMS, wenn ich da bin und alles klar ist. Ich gehe nicht gern raus zum Arbeiten. Verlasse nicht gerne das Nest. Egal, ob Winter oder Sommer. Die Hausbesuche versuche ich immer davon zu überzeugen, doch lieber zu mir zu kommen. Ich meine, wozu zahle ich Tagesmiete, wenn ich mich draußen rumtreibe. O.k., ist alles Geld und sind alles Kunden, die wieder anrufen, wenn sie zufrieden sind. Wenn ich ihnen gefalle. Und ihnen gefällt, was ich ihnen biete. Ich sehe mich im Spiegel, stehe im Bad und höre, wie Holger Jenny fickt. Oder Jenny Holger. Es waren schon paar gute Stunden dabei in den Hotels. Wenn die Typen Schampus spendierten, die halbe Nacht mit mir verbringen wollten für ’n Haufen Geld. Da bin ich schon fast Escort. Bei der Automesse gab’s immer viel zu tun. Das war ein Kommen und Gehen. Da habe ich auch am Wochenende gearbeitet manchmal. Letztes Jahr und das Jahr davor war nicht mehr so viel los, die haben ihre Sexpartys wohl nach auswärts verlegt, wie man so liest und hört. Sex in the city, sex on the beach. Portugal, Südamerika, Budapest. Das kann ich alles unterschreiben, die waren vollkommen hemmungslos, richtige Drecksäue dabei, aber wenn du Glück hattest, bist du bei ’nem kleinen Angestellten auf dem Zimmer gelandet, der eine war ganz niedlich, im Jahr zweitausendsieben, kann ich mich noch gut dran erinnern, was mich wundert manchmal nach all den Jahren und all den Gästen, vorher und nachher, aber eigentlich macht’s keinen Unterschied, ob Verkäufer oder Chef, wenn sie zahlen, denken sie, das wäre der Drecksau-Tarif. Die Höflichen, Angenehmen sind rare Ware auf dem großen kalten Markt. Da muss ich lachen und sehe mich im Spiegel, sehe meine weißen Zähne und bin ready to goho. Habe sie vor kurzem erst bleichen lassen.

Und das Telefon klingelt, aber ich bin auf dem Weg zur Nachtschicht. Kurz vor neunzehn Uhr. Die Stadt und die Welt. Das Taxi steht schon unten. Mein Lieblingsfahrer. Der Motor läuft. Polizei auf der anderen Straßenseite. Wegen den paar Kratzern kommt in Deutschland das Einsatzkommando mit allem Drum und Dran. Ich war mal in Belgrad, da juckt das keinen, wenn’s mal Beulen gibt. Er öffnet mir die Tür, ein wahrer Gentleman, rennt extra um die Karre rum, verbeugt sich halb und bewegt seine Hand im weiten Bogen durch die Luft, »Steigen Sie ein, Madame«, und schließt die Tür vorsichtig, als ich auf der Rückbank sitze. Er macht immer solche Scherze, und ich fühle mich gut, wenn er mich fährt.

»Na, da hab ich mich gefreut, als deine Nummer bei mir geblinkt hat. Lange nicht gesehen. Was macht das große Leben?«

»Fühlt sich klein an«, sage ich. Und er schweigt, weil er merkt, dass ich meine paar Sekunden Ruhe brauche. Dass ich in den Audrey-Hepburn-Modus schalte, oder meinetwegen Sharon Stone, aber ich mag dunkle Haare eher als mein Naturblond, deswegen färbe ich manchmal, und Sharon Stone ist mir zu kühl jetzt im Winter. Julia Roberts. Die Komödie kann beginnen. Und ich schließe die Augen. Sehe und spüre das Fließen des Lichtes. »Schalt das Radio ein, bitte.«

»Wird gemacht.«

Irgendein Techno läuft, harte Bässe, aber nicht zu schnell, und er schaltet rum, bis ich sage: »Mach wieder aus, sei so lieb.«

»Für dich alles.«

Und wir fahren langsam durch die große weiße Stadt. Die Hauptstraßen sind geräumt, das digitale Thermometer zeigt minus zwölf. Wenig Verkehr, auch auf den Fußwegen sind nur wenige Menschen unterwegs.

Neunzehn Uhr zehn. Wann kannst du denn da sein? Halb acht. Gut. Ich mache aber nur bis zehn. Drei Stunden? Ja. Halb elf. Gerne. Zimmer 405? Nee? Sorry, nochmal. Ja. Bis gleich.

Sie sieht das Hotel schon von weitem. Eins der höchsten Gebäude der Stadt. Ein grauweißer Monolith. Ein paar kahle Bäume drum herum. Es dampft aus den Gittern und Gullideckeln. Flugzeuge blinken am Himmel und ziehen Schneisen durch den Frost. Fenster hell, Fenster dunkel. Zur Weihnachtszeit versuchen sie, die Zimmer so zu belegen, dass der Umriss eines Weihnachtsbaums auf der Hauptfassade erscheint. Ein Fragment davon ist noch zu sehen. Schlitten stehen in der Auffahrt. Der Atem der Pferde dampft und steigt an der Fassade hoch. Ein bärtiger Mann in einem Pelzmantel steht vor der großen Drehtür und schlägt langsam eine bunte Trommel, die an einem Band um seinen Hals hängt. Bumm. Bumm. Bumm.

Wir kommen nur langsam voran. Vor uns eins dieser riesigen Räumfahrzeuge. Neben uns auf dem Fußweg dampft es aus einem kleinen Gitter direkt an der Bordsteinkante. Wieder Rot. Mein Lieblingsfahrer schimpft leise über die Schaltphasen. Ich sehe seine Augen immer noch im Rückspiegel. Mir ist heute nicht der Sinn nach Komödie. Manchmal habe ich das so gemacht, witzige Sprüche, rasanter Schritt, wie Julia Roberts in »Pretty Woman«, mein Lieblingsfahrer spielt mit, und wir kabbeln uns, und die Pointen fliegen nur so hin und her, ich sage: »How do you do?«, wenn ich an der Rezeption vorbeigehe, und zwinkere den Boys zu … Muss am Wetter liegen. Wie jede Frau in jedem Job hab ich auch mal ’n schlechten Tag. Wie gesagt. Drei Stunden. Wird ’ne lange Zeit. Sind aber vierhundertfünfzig Euro. Bei Hotelbesuchen nehme ich hundertfünfzig die Stunde. Davon träumen doch andere, von solchen Stundensätzen. Wenn ich dran denke, was mein Lieblingsfahrer so verdient. Ich meine, schlecht isses sicher nicht, gibt andere, die haben noch weniger heutzutage. Hartz IV und so. Und deswegen habe ich zweitausendfünf nicht Schröder gewählt. Wenn er nur halb so o.k. wird wie die Nummer zwei heute Mittag, wie spät war’s da eigentlich genau. Bei der eins hätte ich am liebsten wieder mit Gummi geblasen, wie bis vor drei Jahren, aber heutzutage geht das nicht mehr, zumindest seit die anderen das mehr und mehr anbieten, also mit ohne, aber nur oben, und die Gäste bestehen immer mehr drauf, aber Gummi schmeckte auch scheiße, und wenn sie ihn vorher saubermachen, und deswegen schicke ich sie alle unter die Dusche, und am liebsten würde ich kontrollieren, ob sie auch schön die Vorhaut zurückschieben, es müsste eine Beschneidungsverordnung geben, Juden haben wir ja kaum hier, ich habe jedenfalls immer literweise Listerine und sowas auf Vorrat. Natürlich blase ich auch noch oft mit. Meistens nur dran züngeln, und viele gehen ja eh schnell ab, und dann ziehe ich ihn drauf und mach’s ihnen, bis sie kommen, oder warte, bis sie sich beruhigt haben, wenn sie ihn noch reinstecken wollen in mich. Aber ich habe eben nunmal FO in der Annonce seit vier Jahren, und normalerweise kann man sich da nichts holen, da müsste man schon ziemlich große Wunden haben im Mund und er an der Eichel, und Saft kommt bei mir eh nicht zwischen die Lippen. KB, Körperbesamung, o.k.

Wenn das Jahr gut läuft, habe ich dann ganz schön was angespart. Die meisten können’s nicht halten, so wie viele Kerle ihren Saft, also das Geld. Gucci hier, Prada da. Na klar, gönne ich mir schonmal was, was denken Sie denn? (Zwinker, zwinker! Da lächele ich in die Kamera, und meine kleine Winterkomödie läuft so langsam doch an, was soll’s, das wird ’n schöner kleiner Hotel-Job, perfekt zum Feierabend, und der Gentleman mit dem Champagner und hoffentlich nicht so ’nem großen Monsterschwanz, obwohl, mal schaun, zwinker, zwinker!) Wenn ich nach der Arbeit mal ausgehe, da habe ich schon die feinen Sachen, wozu verdient man denn viel Geld? Aber die hohe Kante ist genauso wichtig. Sage ich zu jedem Mädel, das einsteigen will. Wenn du nicht aufpasst, stehst du irgendwann da, und die Kohle ist verprasst, die Zeiten werden schlechter, und du kannst schuften und ackern, bis du grau wirst und die Titten faltig, um wieder rauszukommen aus der Misere. Kann mir nicht passieren. Habe Pläne.

Und da rollen wir langsam über die große Hauptstraße, die durchs Zentrum führt, die Stadt scheint hellblau zu leuchten, Schnee auf den Dächern, und da ist schon das große Hotel. Siebenundzwanzig Etagen und ’n paar noch oben drauf. Wieder stehen wir an einer Kreuzung, die Straße runter geht’s in den Zoo, dort bin ich als Kind ein paarmal mit meiner Mutter gewesen, wir sind extra von Jena gekommen deswegen, weil’s so ein großer und berühmter Zoo ist, das war in den Sommerferien, ich erinnere mich ganz gut daran, ich hatte so einen Ferienpass, mit dem man fast überall umsonst reinkam, und die großen Ferien gingen damals noch zwei Monate, das war wirklich eine lange Zeit, was wohl die Tiere bei dieser Kälte machen? Aber heute ist der Zoo ganz anders als früher, als die großen Raubtiere in den alten Käfigen hin und her tigerten, Sommer und Winter, sie taten mir leid als Kind, das weiß ich noch, vielleicht tun sie mir aber auch nur jetzt leid, wenn ich mich an sie erinnere, aber den Affen in diesem alten Affenhaus ging es wohl ganz gut, so wie sie spielten und Bananen fraßen und die Hände ans Glas legten. Und heute sind sie alle in riesigen Freiluftgehegen, Löwen, Tiger, Affen, natürlich nicht zusammen, das würde ja Mord und Totschlag geben, auch die verschiedenen Affenarten haben jede ihr eigenes Gehege, ist wirklich ein riesiger Zoo, fast wie eine kleine Stadt, und ich muss mal wieder hingehen, wenn ich eine Tochter habe, werde ich mit ihr ganz oft in den Zoo gehen und ihr alle Tiere zeigen, die Fische fand ich als Kind immer langweilig, dabei hatten die die schönsten Farben. Den neuen Zoo, also so wie er jetzt ist, denn es ist ja natürlich derselbe Zoo, aber trotzdem ganz anders, kenne ich nur aus dieser Fernsehsendung »Tiger und Äffchen«. Wir Mädels gucken das alle. Kennen jedes Tier. Mit Namen. Und finden den oder diesen Pfleger gut. Oder süß. Ich guck’s nur ab und zu beim Durchzappen. Ich zahle und steige aus. »Pass auf dich auf.«

»Dank dir. Bis bald.« Und ich winke und sehe, wie er wegfährt. Es ist saukalt, ich rücke meinen Schal zurecht, cremefarben, Kaschmir, tut gut auf der Haut, ich trippele durch die große Drehtür, durch die anderen Türen, links und rechts, ziehen Leute riesige Rollkoffer, die Portiers halten die Türen auf, Taxis kommen und fahren wieder, ich schiebe meine kleine Tasche auf die Schulter, eine Hand auf dem Gurt, dann trippele ich an der Rezeption vorbei durch die große Lobby. Ein Springbrunnen plätschert. Es gab ein Bassin mit Fischen drin, im Zoo, das war voll mit Münzen. Links neben den Fahrstühlen die Bar, dort habe ich schonmal gesessen, war mit einem Gast verabredet, ich dachte erst, der kommt nicht, obwohl ich ihn ja auf seiner Zimmernummer zurückgerufen habe, aber wenn er sagt »unten an der Bar«, kann ich ja schlecht hochgehen und klopfen, und ich hab das alles schon erlebt, dass man dann vor ’ner Tür steht, Hotel oder Wohnung, und keiner macht auf. Weil sie plötzlich Schiss gekriegt haben oder sich einen von der Palme gewedelt oder was weiß ich. In Wohnungen gehe ich ja nicht so gerne, und das ist auch eher selten, dass da einer anfragt. Weil bei vielen ja die Frau zu Hause wartet. Aber da war ich schon in Buden gewesen, da wollte ich rennen, nur noch rennen. Da denkt man, dass die sich nicht schämen. Also ich würde mich schämen. Und da nicht noch jemanden reinholen. Hotel ist dann doch schon was anderes. Da stehen wir zu dritt im Fahrstuhl. Ich drücke die Fünfundzwanzig. Ein junger Mann und eine Frau, die gehören wohl zusammen. Da muss ich an meinen letzten Freund denken. Und krieg sofort Gefühl. Weil ich mit dem auch mal in ’nem schicken Hotel war. Auch wenn’s inzwischen anderthalb Jahre her ist. Ist jetzt keine Zeit für sowas. Wir fahren. Die kleinen blauen Ziffern über der Tür flimmern, in der Fünfzehn halten wir, in meinem Ohr knackt es, ’n alter Knacker steigt zu, sieht müde aus, müde Augen, altes kleines Gesicht, ich bin jetzt einunddreißig, die meisten denken Mitte zwanzig, so steht’s in der Zeitung, so steht’s in meiner Sedcard, ich habe Pläne, noch einen Winter, noch einen Sommer, ich bin ein Profi, cool wie Sharon Stone mit schwarzgefärbten Haaren, wir sind die erste Liga, wir ziehen den Männern das Geld aus den Eiern (Klappe, Magda! Zwinker, zwinker!), und wir fahren, der Alte steigt in der Achtzehn aus, Ding!, zieh ’n Finger, Alterchen, ich muss zum Honeymoon!, die beiden wollen bestimmt hoch in die Siebenundzwanzig, da ist eine Bar über den Dächern der Stadt, dort bin ich noch nie gewesen, aber heute, wenn ich die Scheinchen ins Dekolleté stecke, natürlich kommen sie ins Portemonnaie, heute werde ich dort oben eine Margarita trinken an der Bar, mit Blick auf die Stadt. In der Fünfundzwanzig steige ich aus, nicke den beiden kurz zu, bevor sich die Tür schließt. Ich sehe die Zimmernummern. Ich laufe den langen Gang entlang. Eine Frau kommt mir entgegen, sieht aus wie ein Zimmermädchen, weißer Kittel. »Guten Tag«, sage ich. Es war einmal ein kleines Mädchen, das war eigensinnig und vorwitzig. Ich habe mich immer gefragt, was das sein soll. Vorwitzig. Als Kind. Als meine Mutter mir die »Frau Trude« vorgelesen hat. Und wie die Frau Trude dann am Ende das Mädchen in ein Holzscheit verwandelt und ins Feuer wirft und sich an ihr wärmt. Wer denkt sich so etwas aus. Und wer liest so etwas vor. Manchmal denke ich, dass ich’s vielleicht selbst gelesen habe in dem grünen Buch, und weil meine Mutter mir auch einige Märchen vorgelesen hat … Gehirnfasching, Erinnerungen im Winter, Januar zwo-elf. Ist doch auch schon lange her. Ich bleibe vor der Tür stehen. Ich warte kurz und bin ganz still. Musik von drinnen. Ich lächele. Lege die Hand auf die Tür. Fühle mich stark. Na, dann wolln wir mal.

II(Und in den Straßen, hoher Schuh, schlankes Bein.)

Menschen schieben schweigend das Leben und die Nacht und den Tag vor sich her, »Sechshundertfünfundfünfzigtausend sind sicher keine große Sache, kein Weltstadtniveau, aber wir expandieren! Die Million ist das Ziel!« (Ich sagte schweigend!), Farben flimmern durch die Stadt, Baumaschinen auf zerrissenen Straßen, Wetterleuchten weit im Norden, drei Zeppeline kreisen über den Häusern. »Nimm deine scheiß Zunge aus meinem Mund! Und komm mir nicht mit deinem Das hat der und der und die und die. Ich habe gesagt, dass ich nicht …«

Grüne Wellen, Straßenbahnen quietschen in den Kurven, S-Bahnen auf Brücken, Bahndämmen, in Tunneln, Bahnhöfen, Gelenkbusse winden sich durch den Verkehr, Nummer 60, Zehnminutentakt, 76, 69, Rotstopp, am Güterring kreuzen sich S-Bahnen und Güterzüge, mehrere Ebenen, ein steinernes Viadukt hinterm Sportplatz, Kleingärten rauchen, Ostvorstadt, Angrillen, Abgrillen, Westvorstadt, badamm, badamm, badamm, »Die Züge rattern heutzutage anders, klingt anders als früher«, sagt ein Alter zu seiner Frau, die neben ihm auf dem Balkon …, graue Häuser oberhalb der Schienen, die Züge fahren durch Felsenschluchten, Vorstadtzüge, rostbraune Waggons, verfallene Güterbahnhöfe, die großen Seen am Rand der Stadt verdunsten ganz langsam, auf dem Grund liegen die alten Bagger, Braunkohlereste in den Schaufeln. Das Restaurant am Pier ist gut besucht, die Leute starren aufs Wasser und warten …

Wo bleibt der Regen, wir warten auf den Regen, nehmen Sie sich Urlaub und fahren Sie ans Meer … auf zweiundneunzig Komma drei … Und die Sonne wandert schnell.

»Das war, weil das Stampfen der Fabriken«, sagt der Alte unterm Sonnenschirm, den sie mit Draht fixiert haben an der Wand, gegen die Stürme, weil es ja bald gewittern soll, ah, ah, ah, jemand bumst laut, offene Fenster im Hinterhof, Frauenstimmen, Tachometer, »Ich brauche ’ne Taxe, sofort!«, die Sommerluft leitet die Geräusche, Elektrosound, »das war, weil …«

Zisch macht das Bier, Kronkorken mit Wernesgrüneremblem, in der Sonne funkelt alles, immer im Kreis, Metall, Straßenbahnen quietschen in den Kurven, Tausende Arbeiter strömen in die Fabriken, aus den Fabriken, während der Alte trinkt mit geschlossenen Augen, neunzehnhundertvierundsechzig, Sonnenfinsternis neunzehnhundertneunundneunzig, »und weil die doch alle zu sind jetzt, dichtgemacht und …, ahhhh, mein Gott, tut das gut, stampft das nicht mehr, klingt das anders jetzt, und Güterzüge sind doch auch nur noch selten und leer, wenn überhaupt.« Was quatscht der Alte nur für einen Blödsinn, denkt die Frau, seit dreißig Jahren, wenn’s wo stampft, dann in seinem Kopp, nicht dass er mir senil wird, und sie geht nach drinnen, wo die Küchenuhr tickt. Der heißeste Sommer seit zweitausenddrei … badadadamm … kauft … zweiundneunzig Komma, ein Bulle schläft über der Bildzeitung, unten vorm Haus, Zivilbulle 1, Golf 2, Kopf auf der Brust, »Bild« aufm Lenkrad, Annoncen neben der lokalen Sportseite, FO machen jetzt die meisten, am Knochenplatz um die Ecke soll’s ’ne neue Lieferung geben, die Fixer machen sich dünn bei achtunddreißig Grad, und Kristall regiert die Stadt, der Bulle 2 trinkt Cola Zero und überfliegt die Annoncen, was die wohl mit FF meinen?, ping, ein Kronkorken auf der Motorhaube, zu faul zum Aussteigen, Radio dudelt, was, verdammt nochmal, ist KB? »Heh, sag mal, du weißt doch bestimmt, was KB bedeutet, und FF, hörst du, KB!«

»Lass mich in Ruhe mit HB, F6 kann ich dir sagen.« Er wischt sich den Sabber vom Kinn, da bin ich wohl kurz weggenickt. Früher gab’s Hitzefrei bei solch einer Demmse.

»Weiß ich doch selber. Wegen der F6, also der Fernverkehrsstraße, weil dort die Tabakfabrik stand, in Dresden.«

»Ja, ja. Wer wird Millionär. Dresden hin, Dresden her, Chemnitz och nichts mehr.« Er streicht sich über die Glatze. »Ein kaltes Bier, ein kaltes Bier.« Er steigt aus und blickt an der Häuserfront nach oben. Sieht einen bunten Sonnenschirm, der im dritten Stock über die Balkonbrüstung hängt. Er fährt mit der Hand über die heiße Motorhaube, spürt den winzigen Kratzer, den der Kronkorken gemacht hat. Er blickt rüber zum Taxistand. Der kleine Flachbau mit dem Imbiss ist leer seit ein paar Tagen. Dabei müsste das doch laufen jetzt im Sommer. Bei der Hitze macht’s ihm gar nichts mehr, dass er aufgehört hat zu rauchen. Da fehlt der Appetit. Das legt sich nur aufs Herz mit dem Ozon. Er sieht, wie eine Frau über die Straße rennt, direkt zum ersten Taxi in der Schlange der sieben, acht Autos, er zählt. Sind sieben. Er blickt auf die Uhr. Clock drei. Sie steigt ein. Hinten. Große blonde Frau. Sehr groß. Hohe Schuhe. Sehr hoch. Schöne Titten. Sehr schön. Sehn aus wie gemacht. Sie fahren.

»Hol mal den Grill raus.«

»Du willst doch nicht bei dieser Hitze grillen! Das zieht wieder alles in die Wohnung.«

»Wir können doch runter auf den Hof, da gibt’s mehr Schatten.«

»Ich mach keinen Schritt mehr heute.«

Das Taxi kommt zurück. Stellt sich hinten an. Wie die Zeit vergeht. Und die Sonne wandert. Er beobachtet die beiden Bullen, die immer noch drüben vorm Haus in der Sonne stehen. Keine Bäume, kein Schatten, und die Sonne wandert schnell.

»Wo dieser Penner bleibt?«

»Steig mal wieder ein. Stehst wie ’n Bauer am Schießstand.«

»Als ob unser Kai was mitkriegt. Hab gehört, ist wieder Kleinmesse gerade. Würde gern wieder mal hin mit meiner Tochter.«

»Du bist ja ’n richtiger Insider! Fährste nicht jeden Tag dran vorbei?«

»Nee. Wenn ich fahre, nehme ich immer die 7 an der Rennbahn vorbei.«

»Die 6.«

»Kennste denn nicht den Spruch mit der 7?«

»Nee.«

»Na dann.«

»Erzähl mal.«

»Nee.« Er steigt wieder ein. Lässt die Tür offen. Er beugt sich zur Rückbank und nimmt eine Flasche Wasser. »Gib mir mal ’ne Cola«, sagt Bulle 2 zu Bulle 1.

»Bitte!«

»Bitte.«

»Cola Zero?«

»Siehste ’ne andere Cola?«

»Wie kannst’n das Zeug bloß trinken, ist das pure Gift.«

»Danke, Genosse. Gift? Wie kommst’n auf den Scheiß?«

»Ja, was denkst du, was da drinnen ist. Das ist wie bei den Light-Zigaretten.«

»Ist aber nicht light, ist Zero.«

»Noch schlimmer. Zuckeraustauschstoffe. Chemie und Gift. Ich kannte mal einen, der hat R1 geraucht, immer nur R1 …«

»Steffen vom schwarzen Block?«

»Steffen von der Abteilung Hooligan.«

»Also, ich krieg sicher kein’ Krebs von Cola Zero.«

»Wär doch mal ’n Werbespot.«

Sie sitzen und sehen, wie es fünfzehn Uhr dreißig wird im Viertel. Ein Kronkorken fällt neben dem Golf 2 auf den Asphalt. Hoher Bogen, dritter Stock. Kriegen sie aber nicht mit, weil sie den Imbiss auf der anderen Seite der Straße beobachten, der seit paar Tagen zu hat. Keiner weiß, wieso. Und auch jetzt kommen wieder Leute und rütteln an der Tür. Und die beiden Bullen haben auch den kleinen Bahnhof im Blick, ein Stück die Straße runter. Sehen Leute aus der Unterführung kommen, in die Unterführung runtergehen. Bulle 1 macht das Radio an, Bulle 2 schaltet es aus. Bulle 1 wieder an. Bulle 2 dreht es leise. Bulle 1 wieder bisschen lauter. Der Klassiksender läuft, wer hat das denn eingestellt, obwohl das manchmal ganz gut ist, um zu entspannen, um runterzukommen, wenn wieder mal so ein Arschloch wartet, von dem sie wissen, dass er die Tür nicht aufmacht. Dem sie die Bude halb eintreten müssen, damit er mitkommt. Immer langsam mit der Fahndung. Weil da kann man auch mal an den Falschen kommen. Weil da gibt’s auch den einen oder anderen Assi, der einen guten Anwalt hat. Oder Beziehungen. Obwohl man sich das schlecht vorstellen kann. Ist auch selten. Bulle 1 kurbelt weiter. Mega-Hits der Achtziger. Die meisten Assis machen nichts, wenn sie dann blöd fallen, wenn die Tür endlich mal offen ist. Live is life. Dass dieser Scheiß doch wirklich immer noch kommt. Und sie kurbeln an dem alten Radio rum und hauen sich gegenseitig auf die Hände, und die Zeppeline mit den großen Werbesprüchen on board drehen ab zur Landung irgendwo vor der Stadt, weil das Wetterleuchten näher rückt.

»Aber unser Assi, verstehen Sie, der kommt immer zu diesem Imbiss. Der hat keinen festen Wohnsitzt, wo wir ihn uns sacken können. Also obsen wir ihn hier. Der weiß auch genau, wie das Spiel geht. So blöd, wie das jetzt klingt. Denn da hinten sehen Sie die verfallene Mauer, ja, da auf der Wiese hinterm Imbiss, die zu der kleinen Ruine gehört, ehemals Reichsbahn, jetzt DB. Heim ins Reich. Unser Kai. Der Kristall-Junge. Aber kein Interesse, so oder so. Will keiner kaufen, keiner investieren. Verkommt. Der kommt also hierher, unser Jungchen, flatterig wie das HB-Männchen, wenn Sie wissen, was ich meine. F6. Und da hinten hat er sein Depot. Da holt er seine Schorre. Ein Zombie. Wenn ich’s doch sage. Je heißer das wird, umso dürrer wird der Kerl. Kai. Bald in der Kiste, wenn Sie verstehen, was ich meine. Zombie-Kai. Und der weiß viel und singt gerne seine Lieder. Sonst sacken wir ihn ein und sperren ihn weg. Und da gibt’s keine Schorre. Und kein Kristall auch nicht. Obwohl’s da alles gibt, wenn man weiß wie. Aber ist eh knapp zurzeit. Kann einer vielleicht argumentieren, dass man drinnen jetzt, also im Moment, mehr kriegt als draußen. Aber überall ist der große Ausverkauf. Aber kein Sommerschluss. Genau wie Koka und der andere Scheiß. Und wir haben Druck von oben, weil die Zombies jetzt auf die Alten und Schwachen gehen, Rentnerklatschen, weil ja die Preise steigen. Also sollen wir aufräumen. Nicht nur unten, sondern auch oben. Ist jetzt nicht unser Job. Wir sind nur Fahndung. Fahren die Assis in den Kahn. Schiff ahoi. Aber da gegen die meisten Zombies was offen ist, spricht man sich mal ab mit der D zwodrei. Droge. Dezernat. Holt sich einen und macht bisschen Druck und leitet die Info weiter. Kriegen wir dann ’ne andere Info, wenn ’n großer Hirsch irgendwo steht und auf den Blattschuss wartet. Sonst kehren wir alles weg, aber jetzt ist’s grad speziell, weil die Zombies gehen auf alles, was nach Kleingeld aussieht, steigen sogar in Bäckereien ein, mit Knarren und Messern, und da soll der Sumpf jetzt …, verstehen Sie? Trocken und heiß. Was aber auch nichts bringt, weil für die Presse und die Politik alles prima, wir haben die Schorre und den Koks und rotten die Szene aus, was natürlich auch ein absoluter Quatsch ist, aber da kommen dann immer mehr Zombies, die auf der Suche nach Stoff und Geld sind. Und die müssen wir dann auch noch wegkehren. Und auf der anderen Seite spielen die Kanacken verrückt und drängen in die Stadt und in den Markt. Nur die Fidschies in Chinatown machen ihr eigenes Ding. Bisschen kompliziert, gelle? Ja. Wie sagt man? Win-win-Situation. Oder so ähnlich. Sie verstehen? Alle für alle, wie die Musketiere.«

Und die Taxis schwärmen aus. Sechzehn Uhr. Die Stadt kocht. Alle Fenster offen. Wenn der Regen nur käme. Scheiß auf die paar Blitze. Jetzt fahren zu viele mit dem Radl. Schlecht fürs Geschäft. Und atmosphärische Störungen knacken im Radio und in den Ohren. Back to the future. Die Pferdestaffel durchkämmt die Parks. Die Abbruchhäuser werden abrissreif geschossen von den Cowboys der schwarzen Schwadron. Nur Assis und Kleinvieh drin. Die Legenden und Gerüchte kreisen wie eine Windhose vom Zentralbahnhof durch die ganze Stadt. Mutter, der Mann mit dem Koks ist da. Jawoll, mein Junge …, pack die Badehose ein. An den Seen vor der Stadt liegen sie dicht an dicht. Sommer zweitausendneun. Wenn die Uhren noch stimmen. Und in der Nacht fallen Schüsse, wer braucht so einen Scheiß, die machen uns den Markt kaputt. Chaos ist der Anfang vom Ende. (»So