Immer schön gierig bleiben - Rob Alef - E-Book

Immer schön gierig bleiben E-Book

Rob Alef

4,4

  • Herausgeber: BEBUG
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Eine Immobilienmaklerin ist ermordet worden. Drohungen und Beschimpfungen vor ihrem Tod führen in die Politszene von Berlin-Friedrichshain. Im Gewebe der Metropole, zwischen Nachtbus, Hostel und Touristenfalle, auf wilden Müllkippen und in edlen Altbauwohnungen jagen die Ermittler um Hauptkommissar Pachulke einen Mörder, der nicht nur die Stadt als seine Beute begreift. Immer schön gierig bleiben erzählt von den Menschen und den Dingen: Wer braucht was? Wer geht leer aus? Wer kriegt mehr? Wer muss bezahlen? Wem gehört die Stadt? Rob Alef lotet in seinem vierten Roman die Grenzen des Kriminalgenres weiter aus - mitreißend, urkomisch, genial. »Und trotzdem«, sagte Pachulke. »Trotz was?«, fragte die Leiterin der Spurensicherung, Engine Plink. »Trotzdem er diesen perfekten Ort für den Mord gefunden hat, geht er das Risiko ein und schleppt die Leiche auf den Friedhof. Warum?« »Um sie zu schminken.« »Genau«, sagte Pachulke. »Um die Tote zu schminken. Kommt Ihnen das bekannt vor?« Plink schüttelte den Kopf. »Nein, eine post mortem geschminkte Leiche habe ich noch nie erlebt.«

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Seitenzahl: 479

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ROB ALEF IMMER SCHÖN GIERIG BLEIBEN

ROB ALEF IMMER SCHÖNGIERIG BLEIBEN

KRIMINALROMAN

Von Rob Alef liegen bei Rotbuch außerdem vor:

KLEINE BIESTER (2011)

DAS MAGISCHE JAHR (2008)

eISBN 978-86789-572-9

1. Auflage

© 2013 by BEBUG mbH / Rotbuch Verlag, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: ChriSes (Gaukler) und

Jack Simanzik (Klingel) / Quelle: PHOTOCASE

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

Rotbuch Verlag

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

(0,14 Euro/Min., Mobil max. 0,42 Euro/Min.)

www.rotbuch.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

1

Endstation Stralau. Franz Grellert lenkte den Bus auf die Wendeschleife. Der Motor erstarb, und pfeifend öffnete sich die vordere Tür. Die Luft eines neuen Tages strömte herein, kühl mit leicht süßlichem Nachgeschmack. Auf der Ablage hinter der riesigen Windschutzscheibe lagen ein druckfrisches Exemplar der BZ und ein zerlesenes Buch: Die Vogelwelt unserer Heimat.

Grellert stieg aus. Legte den Kopf nach links und nach rechts, dass es knackte, zog die Schultern hoch zu den Ohren, streckte die gebräunten Arme nach links und rechts und machte kreisende Bewegungen. Erste Fahrt, Geisterfahrt, dachte er. Geisterfahrt, das war eine Tour, bei der der Bus fast leer blieb. Die Nachtschicht – Touristen und Partygänger – war schon im Bett, und die Frühschicht – Krankenschwestern und Bäckereiverkäuferinnen – tröpfelte nur allmählich herein. Also hatte Grellert den beinahe menschenleeren Bus 104 durch beinahe menschenleere Straßen gesteuert, dreiundfünfzig Stationen lang von Westend bis nach Treptow. Die erste Tour des Tages, 4.45 Uhr Brixplatz ab, 5.43 Uhr Stralau an. Jetzt hatte er Pause.

Im Osten der kleinen Halbinsel lag die Rummelsburger Bucht, im Westen floss träge die Spree vorbei. Vorsichtig machte Grellert ein paar Kniebeugen, stellte sich auf die Zehen und streckte sich bis in die Fingerspitzen. Er war schlank und drahtig, aber wenn seine Gelenkknochen knackten, hatte er das Gefühl, man konnte das Geräusch auf ganz Stralau hören.

Er schloss die Augen und lauschte der Nachtigall. Luscinia megarhynchos saß nur ein paar Meter von ihm im Geäst, unsichtbar und unüberhörbar, modulierte und tirilierte unbeirrt vom Lärm der Bagger auf dem gegenüberliegenden Flussufer. Er hörte leise Schritte und öffnete die Augen. Auf der anderen Straßenseite spazierte die alte Frau vorbei, Strickjacke über Kittelschürze, dünne Beine, dünne graue Haare in einem Dutt. In der Hand einen grünen Plastikeimer, darin Arbeitshandschuhe und Gartengerät. Wenn sie kam, dann immer nur mittwochs und immer ganz früh. In der ersten Pause, um viertel vor sechs. Sie würdigte ihn keines Blicks und überquerte die Straße. An der Tür zu dem kleinen Friedhof nestelte sie einen Schlüssel hervor, trat ein, schloss lautlos die Tür und verschwand zwischen den Grabsteinen. Der Friedhof lag direkt am Wasser. Gegenüber, am anderen Ufer der Spree, zog sich kilometerlang die Treptower Halde. Von dort stieg der süßliche Geruch auf und kam nach Stralau.

Durch die Bäume sah Grellert einen der großen Bagger. Rund um die Uhr steuerten die Boote aus dem Umland die Treptower Halde an. Gerade lag ein großes Transportschiff an einem der Kais, an dem früher die Ausflugsdampfer angelegt hatten. Der Bagger grub seine Schaufel tief in den Laderaum. Bunte Fitzel flogen links und rechts aus der Schaufel und landeten im Wasser. Der Schwenkarm bewegte sich Richtung Land, und Metall schabte kreischend auf Metall. Über der Halde kreisten einige Exemplare larus ridibundus. Die Lachmöwen schrien nicht und lachten nicht, solange die Sonne noch nicht aufgegangen war. Als wollten sie die Nachtruhe halten. Anders die Nachtigall. Grellert suchte das Unterholz nach ihr ab, obwohl er wusste, dass es bei diesen Lichtverhältnissen unmöglich war, sie zu entdecken. Er hätte ein Nachtsichtgerät gebraucht. Wo war das Tier? Die Tunnelstraße, an der sich die Endhaltestelle für zwei Buslinien befand, bildete die Längsachse von Stralau und zog sich bis zum Park an der Südspitze der Halbinsel. Östlich der Tunnelstraße waren in den letzten Jahren neue Wohnblöcke entstanden, westlich davon gab es eine Grünanlage mit Bäumen und Büschen und den Friedhof. Stralau war eine Enklave für junge Familien, die sich den Wasserblick leisten konnten. Spielplätze und Bootswerften, Schaukeln und in den Gärten aufgebockte Jollen bestimmten das Bild.

Grellert hatte eine erwachsene Tochter und – beinahe noch wichtiger – zwei Enkelkinder. Die beiden Jungs waren jetzt vier und sechs Jahre alt, und ihretwegen hatte er sich das Rauchen abgewöhnt. Früher hatte er in den Pausen immer eine geraucht, jetzt machte er seine Freiübungen. Seine Kniescheiben knirschten fast so laut wie der Bagger. Nicht wegen der Knie, wegen seiner Bandscheiben war er zur BVG, zu den Verkehrsbetrieben gegangen.

Früher war Grellert Fernbusfahrer gewesen. Auf großer Fahrt durch Europa: Odessa, Nordkap, Sagres. Und dann sogar ein Jahr in Afrika. Immer der Nase nach durch den Senegal, lange bevor es Navis und Google Maps gab. On the road.

Noch früher hatte er mal Biologie studiert. Nach zwei Semestern hatte er begriffen, dass er sich lieber lebendige Tiere ansah, als hauchdünne Präparate aus den Larven von drosophila melanogaster herzustellen. Es gab ein Leben nach der Fruchtfliege. Er wollte die Welt sehen und heuerte bei einem Busunternehmen an. In der Estremadura besuchte er Kraniche – grus grus – in ihrem Winterquartier, in Graubünden beobachtete er stundenlang Steinadler – aquila chrysaetos.

Dann, eines Tages auf dem Heimweg von Brindisi, achtzig Kilometer vor dem Brenner, hatte eine Bandscheibe gezwickt. Mit zusammengebissenen Zähnen hatte er die Tour beendet und überlegt, was er machen sollte. Er hatte Glück gehabt. Die BVG suchte Fahrer mit Berufserfahrung.

Hier in der Stadt gab es keine Adler, aber in Lübars und am Wannsee lebten Kranich und Reiher, in Tegelort Schwarzspecht und Bussard. Er hatte Frau und Tochter, mit denen er mehr Zeit verbringen konnte.

Die Buslinie 104 führte quer durch die Stadt. Überall sah Grellert Tauben, Elstern, Tauben, Krähen, Tauben, Meisen, Tauben, Amseln, Tauben, Spatzen und Tauben. Hier in Stralau lebten Enten, Blässhühner und ein Zaunkönig. Vom Westend nach Treptow, Brindisi war das nicht, aber besser als diese Stummeltouren mit gerade mal zwanzig Stationen war der 104er in jedem Fall. Auf den kurzen Routen wurde Grellert auf die Dauer bekloppt, weil er immer hin- und herfuhr, wie ein Tiger im Käfig. Der 347er war so eine Stummeltour, die war er natürlich auch schon gefahren. Der 104er, das war die alte Welt, Funkturm, Ku’damm, Rathaus Schöneberg. Der 347er fuhr durch die neue Welt, Ostbahnhof, Warschauer Straße und vorbei an dem alten Reichsbahngelände an der Revaler Straße, wo die Freaks hausten, mit ihrer pochenden Musik zu jeder Uhrzeit.

Völlig sinnlos, mit einem leeren Bus durch die Gegend zu gurken. Bei dieser Tour hätte er ein Pferd durch die Stadt kutschieren können, niemand hätte es gestört. Aber ganz früh war er wenigstens an jeder Haltestelle pünktlich. Das war ein Problem beim 104er. Weil er sich einmal quer durch die Stadt wühlte, kam er eigentlich immer zu spät. Ein Rollstuhlfahrer brauchte die Rampe, jemand parkte in der zweiten Reihe, eine Baustelle, schon gab es eine Minute obendrauf. Die Minuten läpperten sich, und die Menschen an den Haltestellen sahen sauer und gequält aus, wenn er endlich ankam. Manchmal fiel eine Tour auch gänzlich aus.

Nur die Enkel waren niemals böse: Opabus, Opabus, riefen sie. In Linum war er mit den beiden schon gewesen, auch da konnte man Kraniche sehen. Dem Älteren wollte er zu seinem Geburtstag eine Wanduhr mit Vogelstimmen schenken. Luscinia megarhynchos war auch dabei. Immer um vier. Zu jeder vollen Stunde eine andere Vogelstimme. Konnte man nachts aber auch abstellen. Die Kinder sollten jedenfalls Vogelstimmen erkennen können und die Uhr lesen, obwohl heute alles digital war.

Der Schrei, der durch die kühle Luft gellte, stammte von keinem Vogel. Er war schrill, langgezogen und brach so plötzlich ab, als habe man einen Schalter umgelegt. Das war ein homo sapiens, vermutlich weiblich, der Schrecken hatte ihr die Kehle zugeschnürt. Grellert sah zum Friedhof hinüber. Zwischen den Grabsteinen wimmerte es. Die alte Frau stolperte durch die kleine Tür und knallte sie so heftig hinter sich zu, dass sie wieder aufsprang. Sie hinkte auf Grellert zu. Ihr Dutt hatte sich gelöst, und das graue Haar fiel ihr in langen Wellen über die Schultern. Grellert hatte plötzlich das Gefühl, als erinnere er sich genau, wie die Frau ausgesehen hatte, als sie jung gewesen war. Merkwürdigerweise war ihm das peinlich. Es war in ihrem Lebensplan nicht vorgesehen, dass sie ihr Haar vor einem Busfahrer öffnete. Die blutende Platzwunde an der Stirn war ihr zugestoßen, genauso wie das, was ihr auf dem Friedhof Todesangst eingeflößt hatte.

Ihr Blick fing sich in Grellerts Augen. »Sie ist tot«, schluchzte die alte Frau. »Sie ist tot.« Sie hob die Schultern, und ein Zittern durchlief ihren Brustkorb.

Grellert nahm sie in die Arme. Die alte Frau roch nach Mottenkugeln und frischer Erde. Die zweite Tour auf der Buslinie 104 fiel heute aus.

2

Ein Schweißtropfen bildete sich auf der Stirn des Kriminalassistenten zur besonderen Verwendung Dorfner. Er folgte der blonden, sorgfältig gezupften rechten Augenbraue bis zur Nasenwurzel, rollte über den Nasenflügel bis zum Mundwinkel und von dort über das Kinn. An der Kinnspitze verharrte der Schweißtropfen einen Moment, dann fiel er nach unten auf die Trainingsmatte. Eine glattpolierte Hantel – 2,28 Meter lang, 28 Millimeter Durchmesser – ruhte sicher auf Dorfners Schlüsselbeinen. Links und rechts hatte er je eine große blaue und eine große grüne Scheibe aufgelegt. Zweimal dreißig Kilo, dazu die Hantel, die zwanzig Kilo wog. Dorfner war gerade dabei, etwas mehr als sein eigenes Körpergewicht zu stoßen. Er blies die Backen auf und drückte die Arme zur vollen Streckung nach oben. Die Hantel hob sich über seinen Kopf, er zog das rechte Bein nach vorn – seinen Ausfallschritt machte er immer mit dem linken –, drückte die Knie durch, zählte im Kopf: ein großer schwarzer Chevy, zwei große schwarze Chevys, drei große schwarze Chevys.

»Uaaarrgh!« Die Hantel rauschte zu Boden, Dorfner machte einen Sprung und schwenkte die Faust, so dass seine Knöchel die Zimmerdecke streiften. Schweißtropfen schwirrten in alle Richtungen davon und leuchteten in der Morgensonne.

Wie recht er doch damals gehabt hatte, gleich eine Dreiraumanstelle einer Zweiraumwohnung zu mieten. So konnte er sich einen Bereich für das tägliche Training in den eigenen vier Wänden einrichten und musste nicht ins Fitnessstudio gehen. Musste sich nicht an Öffnungszeiten halten, musste sich nicht mit tätowierten Anabolikafressern um die Freihanteln streiten oder sich von Türstehern ihre Heldentaten vom Wochenende berichten lassen. In seinem Bootcamp war Dorfner an jedem Tag des Jahres sein eigener Herr. Das Bootcamp war das größte Zimmer der Wohnung. Hätte hier ein Paar oder eine Familie gewohnt, wäre es das Wohnzimmer gewesen. Mit einem Flachbildfernseher und einer Couchgarnitur und einem Glastisch zum Nüsschendraufstellen, wenn man mal Gäste hatte.

Aber Dorfner hatte keine Gäste. Dorfner hatte einen Satz Kurzhanteln. Er bewahrte sie in der hinteren Ecke des Bootcamps in einem Originalgestell des Herstellers auf. Wenn er auf seiner Übungsbank vor der Spiegelwand saß, konnte er jede Regung seines Muskelapparats korrigieren. Seine Bewegungen sollten nicht nur furchteinflößend wirken, sondern elegant, fließend und leicht. Nicht nur Angst und Schrecken hervorrufen, sondern auch Bewunderung und Verlangen.

Neben den Kurzhanteln hing der Sandsack in einer soliden Konstruktion aus hochbelastbarem Leichtmetall. Der Sandsack war eine High-Tech-Trainingsmaschine. In einer Klarsichthülle hing da ein Foto von Dorfners Vorgesetztem, Hauptkommissar Pachulke. Pachulke, der Dorfner im Dienst keine Schusswaffe tragen ließ. Pachulke, der Dorfner immer zu schwachsinnigen Aufträgen abkommandierte, die verhinderten, dass er rausdurfte. Raus auf die Straße, um dort Recht und Gesetz durchzusetzen. Das Recht des Stärkeren und das Gesetz der Straße, das war es, wofür Dorfner trainierte. Wie gern hätte er sich in die Bresche geworfen, wenn jemand in Gefahr war, sein Leben riskiert, andere Leben geopfert. Aber Pachulke sprach ihn vor den Kollegen absichtlich mit »Mein lieber Dorfner« an und überreichte Dorfner kackbraune Hängemappen, die ihn tagelang am Schreibtisch festnagelten.

Der Sandsack hatte ein hochkompliziertes Innenleben. Verschiedene Sensoren maßen die Kraft jedes einzelnen Faustschlags, zählten die Schläge, nahmen die Zeit, erstellten Profile der Aufschlagsmuster, alles mit dem Ziel, Wucht und Präzision zu verbessern.

Diesen Sandsack hatte Schädelspalter, einer von Dorfners Kumpeln, für ihn eingerichtet. Schädelspalter hieß eigentlich Olaf, was zum Teil erklärte, warum er so an seinem Spitznamen hing. Vor allem war Schädelspalter ein Ehrenname. Früher war er bei der Fremdenlegion Spezialist für Fernzünder und Sprengfallen gewesen, irgend so ein Computerkram eben. Jetzt war er Motivationscoach und verkaufte Soft- und Hardware für den ambitionierten Einzelkämpfer.

Schädelspalter hatte Dorfner auch den Tipp mit dem Foto von Pachulke gegeben. »Du reizt dein Potential nicht mal annähernd aus, Dorfner. Häng doch mal ein Foto von jemand auf den Sandsack, der dir nahesteht, aber die Dinge anders sieht als du. Du wirst staunen, wie du dann abgehst.«

Also hatte Dorfner in einem unbewachten Moment ein Foto von Pachulke gemacht, wie er hinter seinem Schreibtisch saß und ein Salamibrötchen kaute. Müde und übergewichtig mit vollgestopften Backen hatte er dagesessen und in einer kackbraunen Hängemappe gelesen. Kein schlechtes Foto, jedenfalls war das Gesicht zu sehen. Dorfner druckte sich das Foto zwanzig auf dreißig Zentimeter aus, ließ es laminieren, und jetzt hing es am Sandsack.

Schädelspalter hatte nicht übertrieben. Mit Pachulke war da gleich ein ganz anderer Dampf hinter den Schlägen. Die Computerausdrucke seiner Trainingswerte logen nicht. Auch von seinen beiden Kollegen, dem rothaarigen Streber Stiesel und dem Weichei Bördensen mit Pferdeschwanz und zwei Kindern zu Hause, besaß Dorfner Fotos für den Trainingsgebrauch. Aber das war alles nichts im Vergleich zu Zabriskie. Die zweite Hauptkommissarin im Team hatte es auf Dorfner abgesehen, verspottete ihn pausenlos und machte sich darüber lustig, dass er körperlich überqualifiziert war.

Dorfner war zwar nie um eine Antwort verlegen, allerdings fielen ihm die Antworten meistens immer erst dann ein, wenn er Zwiesprache mit seinen Helden hielt, deren Postergalerie die Längswand des Bootcamps gegenüber der Fensterfront zierten. Dorfner hatte sie alle: Mike Tyson und Bruce Lee, Jean-Claude Van Damme und Arnie. Dolph Lundgrens schweißglänzender Oberkörper als Drago in Rocky IV – kein Härchen verunzierte die glattrasierte Brust, die Bauchmuskeln waren mit der größten Raffinesse herausmodelliert. Muhammad Alis properer Hintern in einem dieser wahnsinnig knapp geschnittenen Höschen aus den Siebzigern. Joe Frazier, Chuck Norris, Jackie Chan und natürlich Steven Seagal mit seinem geheimnisvollen, warmherzigen Blick. Von Steven Seagal hatte er zwei Poster und ein gerahmtes Foto mit Autogramm. Diese Jungs hatten immer den richtigen Spruch auf Lager, und wenn nicht, dann legten sie den Dummschwätzer einfach um. Dorfner konnte seine Kollegin nicht einfach umlegen, das war ihm bewusst, aber er konnte sie beziehungsweise ihr Foto auf seinem Sandsack befestigen. Das mit dem Foto war nicht einfach gewesen. Zabriskie war misstrauisch und neigte zur Grausamkeit, wie alle lesbischen Frauen, da machte Dorfner sich nichts vor.

Neben dem Sandsack stand das Laufband mit Blick aus dem Fenster. Wenn er sich warmmachte oder auf Ausdauer trainierte, hatte er in seiner siebten Etage einen herrlichen Blick über die Plattenbauten am Fennpfuhl in Lichtenberg. Im vorderen Bereich des Zimmers lagen die Matten für seine Dehnungsübungen und den Kampfsport. Für das Gewichtheben hatte er heute eine andere, festere Unterlage ausgelegt.

Dorfner öffnete die Balkontür und trat hinaus. Die frische Morgenluft strömte in seinen Trainingsraum. Er lehnte die Unterarme auf die Brüstung und sah nach unten auf den Parkplatz, wo sich ein Auto umständlich in eine Parklücke kämpfte. Ein Mann mit einer Aktentasche stieg aus und blinzelte in die Runde. Scheiß-Schwuchtel, zu dumm zum Autofahren.

Dorfner ging zurück ins Bootcamp und räumte auf. Von jedem Gegenstand wusste er genau, wann er ihn gekauft und wie lange er dafür gespart hatte. Schnell mal zärtlich über die Hanteln wischen, den Spiegel mit Glasrein einsprühen, einen losen Klebestreifen am Poster von Chuck Norris ersetzen, die Schachtel mit dem Magnesium verschließen. Gleich würde er unter die Dusche springen und danach eine große Schüssel Müsli mit gehobelter roher Leber und Buttermilch verzehren, wie es sein Ernährungsplan vorsah. Doch da – palim, palim – läutete es an der Tür.

Vielleicht war es die hübsche blonde Nachbarin, die er manchmal im Aufzug sah. Dorfner starrte ihr immer auf die Beine, wenn sie ihre hautengen Jeansshorts trug. Vielleicht wollte sie etwas Zucker von Dorfner borgen, weil sie sich Zucker auf die Cornflakes machte und nicht rohe Leber. Aber Dorfner hatte keinen Zucker. Auch kein Olivenöl. Vielleicht wollte sich die flotte Nachbarin auch eine Kurzhantel leihen, 1,5 Kilo, um ihr Schnitzel weich zu klopfen. Oder sie hatte heimlich Dorfners Tagesrhythmus ausspioniert und wollte, dass er genau in diesem Moment an die Tür kam. Sein schweißnasser Körper hatte jetzt diese gewisse animalische Anziehungskraft, die Haare zerwühlt, die Stimme tief und sonor, kraftvoll nach dem Urschrei beim Gewichtheben. Ihr Blick würde über Dorfners Schultern wandern, weiter zu seinem Brustkorb und von dort nach unten. An seinem Abdomen würde ihr Blick hängenbleiben, und sie würde mit einer unwillkürlichen Geste ihre Haare aus dem Gesicht streichen, so ihre tiefe Verlegenheit überspielen und sagen: »So ein Anblick auf nüchternen Magen, da kann eine blonde Frau in hautengen Jeansshorts schon mal auf dumme Gedanken kommen.« Und sie würde ihren Fuß in die Tür stellen, obwohl Dorfner die Tür gar nicht zumachen wollen würde, und sie würde sich an ihn drücken und mit der Spitze ihres Zeigefingers die Konturen seines Sixpacks nachzeichnen und dann …

Dorfner öffnete die Tür.

»Sie sind Dorfner?«, fragte ein Mann, der vielleicht so alt war wie Dorfner. Von der blonden Nachbarin war nichts zu sehen, vielleicht schlief sie heute länger. Der Mann war dünn und schlaff und hatte schütteres mausbraunes Haar und einen unsteten Blick. Er trug eine hellblaue Baumwollhose mit einem geflochtenen Gürtel aus hellem Material. Zwischen seinen Beinen stand eine Aktentasche.

Scheiße, die Schwuchtel vom Parkplatz. »Ja, ich bin Dorfner, aber Sie sehen doch, dass ich …«

»Schreiben mit Postzustellungsurkunde.« Der Mann wedelte mit einem Umschlag und zückte ein Klemmbrett mit einem unübersichtlichen Formular, das er mit dem Ellbogen an seinen Körper gepresst hatte. »Hier unterschreiben.«

Dorfner klopfte mit der flachen Hand auf seine Sporthosen, um zu zeigen, dass er keinen Stift hatte, aber der Mann hielt ihn schon bereit.

Dorfner nahm sich das Klemmbrett und überflog das Stück Papier. Das kam von einer Anwaltskanzlei. Vielleicht wollten die ihn anwerben als Privatdetektiv. Einer muss auch bei einer seriösen Firma die schmutzige Arbeit machen, und Sie, Dorfner, sind uns empfohlen worden, würde der Seniorchef sagen und ihm eine fünfstellige Summe für zwei Wochen Arbeit anbieten.

Während er die Zeile für seine Unterschrift suchte, merkte Dorfner, dass der Mann ihn anstarrte. Sein Blick wanderte über Dorfners Schultern, von dort zum Brustkorb weiter nach unten. An Dorfners Abdomen blieb sein Blick hängen. Mit einer Geste strich sich der Mann durch sein schütteres Haar und sagte: »So ein Anblick auf nüchternen Magen, da kann ein Briefzusteller in blauen Baumwollhosen schon mal auf dumme Gedanken kommen.«

Dorfner bekam schweißnasse Hände, aber er wollte auf gar keinen Fall, dass der Mann mit der Aktentasche das merkte. Sonst würde er vielleicht Dorfners Finger an die Lippen führen und …

»Her damit«, schrie Dorfner. Er warf das Klemmbrett von sich, riss dem Mann den Umschlag aus der Hand und knallte die Wohnungstür etwas fester zu als beabsichtigt. Der Türrahmen knirschte.

Dorfner zitterten die Knie, als er vor der Spiegelwand auf seiner Übungsbank Platz nahm. Er studierte den Latissimus von Mike Tyson, bis er sich gefangen hatte. So eine Frechheit. Dieser Butzi hatte ihn völlig ungeniert gemustert. So weit war es jetzt schon gekommen. Erst adoptierten sie gesunde, heterosexuelle Kinder, um sie umzupolen, dann suchten sie Singlemänner in ihren Wohnungen heim, wenn sie gerade knapp bekleidet waren. Mit der blödesten Ausrede der Welt, einem Brief von einer Kanzlei. Dorfner riss den Umschlag auf.

Sehr geehrter Herr Dorfner,

hiermit zeigen wir an, dass wir von der Gravy Train Real Estate Inc., Dublin, Irland, bevollmächtigt sind, ihre berechtigten Interessen wahrzunehmen. Sie haben sich zahlreicher grober Verstöße gegen die Hausordnung schuldig gemacht. Deshalb sprechen wir gegen Sie eine fristlose Kündigung aus. Im Einzelnen legen wir Ihnen zur Last: Als Sie hier vor drei Jahren eingezogen sind, haben Sie alsbald begonnen, in Ihrer Wohnung ein Fitnessstudio einzurichten. Ihre Kampfsprünge, Ihr Training am Sandsack, vor allem aber das Gewichtheben immer am Mittwoch haben zu schweren Beeinträchtigungen der Bausubstanz und der Lebensqualität Ihrer Nachbarn geführt. In allen Wohnungen der sechsten Etage in Ihrem Aufgang fällt der Putz von der Decke. Besonders schlimm ist es beim Ehepaar Schmidt direkt unter Ihnen. Die beiden klagen über regelmäßige Funde von Putzflöckchen in ihren Cornflakes, die eindeutig von der Küchendecke stammen und sich eindeutig dann lösen, wenn Sie Ihre Langhantel fallen lassen. Der unwillkürliche Verzehr zahlreicher Putzflöckchen hat bei Herrn Schmidt (87) zu Gedächtnisverlust und Schlafstörungen geführt. Auch seine Zunge fühlt sich mehlig an, sagt er, besonders mittwochs. Frau Schmidt (86) leidet an Angstzuständen und führt dies auf die Schreie zurück, die Sie regelmäßig ausstoßen. Für alle folgenden Gesundheitsschäden der beiden machen wir Sie vollumfänglich verantwortlich. Aus Kulanzgründen und um einen für Sie unter Garantie aussichtslosen Rechtsstreit zu vermeiden, gewähren wir Ihnen eine Frist von zehn Tagen, um Ihre Habseligkeiten zu packen, die Wohnung zu renovieren und sich vom Acker zu machen.

Mit freundlichen Grüßen …

Dorfner ließ den Brief zu Boden fallen. Jetzt konnte ihm nicht einmal mehr der Latissimus von Iron Mike helfen.

Schleppenden Schrittes trat er später an den Briefkasten. Dort fand er die neue Ausgabe seiner Lieblingszeitschrift Legal Torture. Aber auch das internationale Magazin für zeitgemäße Vernehmungstechniken konnte seine Laune nicht bessern. Er ging zu seiner mattschwarzlackierten 250er Yamaha Enduro, setzte den Helm auf und preschte vom Parkplatz. Ausnahmsweise war er froh, dass im Bürocontainer hinter dem Polizeipräsidium nur Belanglosigkeiten auf ihn warteten. Er musste eine neue Bleibe finden. Vor allem aber brauchte er einen sicheren Platz, um die Ausstattung seines Bootcamps unterzubringen. Erst die Hantel, dann der Mensch.

3

Die Tote lag auf einem Stapel ausrangierter Grabsteine, der hüfthoch neben dem Komposthaufen aufgeschichtet war. Die Sammelstelle für verwitterte Steine und verrottete Blumen befand sich in einem ummauerten Innenhof am hinteren Ende der Kirche, die mitten im Friedhof stand.

Anton Löffelholz, Assistent der Spurensicherung, trug einen weißen Einwegoverall, Latexhandschuhe, Mundschutz und Haarnetz, obwohl er kurzes, schütteres Haar hatte. Er war Ende zwanzig, aber der Weg zur Glatze war für ihn vorgezeichnet. Oftmals dachte er, er sollte sich gleich eine Glatze schneiden lassen. Die konnte er dann pflegen und täglich polieren, das wäre besser als diese kümmerlichen Fäden da oben auf seinem Kopf.

Er atmete gleichmäßig durch seinen Mundschutz und nahm alle Einzelheiten in sich auf. Die Tote war Mitte dreißig. Schulterlange, kräftig blonde Haare, vermutlich gefärbt oder gebleicht. Gesicht und Halspartie zeigten die typischen Spuren eines Todes durch Erwürgen. Am Hals waren Würgemale zu sehen, nicht sehr ausgeprägt, aber auch für einen medizinischen Laien wie Löffelholz erkennbar. Uwe Kümmerle, der Assistent des Gerichtsmediziners, war bereits am Tatort gewesen und tippte auch auf Erwürgen. In ein paar Stunden würde Tenbrink, Kümmerles Vorgesetzter, die Obduktion durchführen.

Das Gesicht der Toten war blau angelaufen, die Zunge ein verquollener roter Knoten, sie ragte aus dem Mundwinkel hervor. Die Augen traten hervor und waren blutunterlaufen.

Die Tote trug ein blaues Kostüm, darunter eine weiße Bluse. Vermutlich der Mörder hatte ihr die Arme kreuzweise über der Brust zusammengelegt. Dadurch hatte es die Ärmel der Bluse hochgezogen. Am linken Handgelenk war eine zierliche Armbanduhr mit rechteckigem Zifferblatt zu sehen, römische Ziffern. Uhrgehäuse und Armband waren wohl aus Gold, genauso wie der schmale Reif am rechten Arm. Unter der weißen Bluse trug die Tote einen weißen BH, unter dem Rock einen weißen Slip. Der Slip war aus Satin, ohne Spitzen, der BH ein bügelloses Modell, auch ohne Spitzen, mit schmalem Träger. Dazu weiße Nylonstrümpfe.

»Sie sieht aus wie aufgebahrt«, sagte Engine Plink, die Leiterin der Spurensicherung. Sie redete überdeutlich mit Löffelholz. Die Kirche dämpfte zwar den Lärm der Kräne und der Bootsmotoren, aber die Luft war erfüllt vom unablässigen Geschrei der Lachmöwen. Engine Plink trug ebenfalls ein Haarnetz, allerdings hatte sie eine rote Lockenpracht zu bändigen, die ihr ohne Haarnetz bis weit über die Schultern fiel. Ihre Turnschuhe steckten in weißen Plastiküberziehern. Sie trug Jeans, die ihre schlanken Beine betonten, und ein weißes Herrenhemd, bei dem sie wie fast immer die Ärmel hochgekrempelt hatte. Auf den Overall und den Mundschutz hatte sie verzichtet.

Löffelholz hätte das auch gern gemacht, aber die Vorstellung, eines seiner spärlich vorhandenen Haare könnte die Ermittlungen negativ beeinflussen, bereitete ihm Höllenqualen.

Er nickte. »Ja, jemand hat sie hier drapiert. Ihr die Arme zusammengefaltet, aber nicht die Augen geschlossen.«

»Und sie ist nicht hier umgebracht worden.« Plink fixierte den rechten Oberschenkel der Toten und machte eine Notiz. »Irgendetwas Pflanzliches klebt hier«, sagte sie. »Blütenstaub oder so etwas.«

Löffelholz hob das Kostüm an und warf einen Blick auf den Genitalbereich der Toten. »Die Feinstrumpfhose und die Unterwäsche sind auf den ersten Blick intakt, also vermutlich kein Sexualdelikt. Aber das entscheidet der Mediziner.«

Die Tote trug Halbschuhe aus blauem Leder, nicht elegant, eher verlässlich, in jedem Fall aber teuer. Die Schuhe waren tadellos gepflegt und von einer feinen Staubschicht überzogen. Löffelholz untersuchte die Schuhe und roch kurz an ihnen. »Der Staub riecht nach Beton.« Er warf einen Blick über den Innenhof. »Von hier kommt der nicht.« Alte runde Pflastersteine, die Mauer aus Ziegeln, die Grabsteine aus bemoostem Naturstein. Nichts hier war aus Beton.

»Der Täter hat die Grabsteine gefegt«, sagte Plink, »bevor er sie hier abgelegt hat.« Sie hob ein vertrocknetes Häufchen Grün vom Boden auf.

»Das könnte auch aus dem Korb stammen, den die Alte hat fallen lassen«, sagte Löffelholz. Auf dem Weg hierher hatte sie der Streifenbeamte kurz informiert, wer die Leiche gefunden hatte. Die Frau saß jetzt zusammen mit Hauptkommissarin Zabriskie beim Krankenwagen und erzählte ihre Geschichte.

Plink schüttelte den Kopf. »Das ist Moos. Links und rechts von der Leiche, da hat jemand schräg über den Grabstein gewischt. Das Moos hat sich aufgestellt, wie bei einem Teppich, den man gegen den Strich bürstet.« Sie winkte Löffelholz zu sich heran. »Hier, gegen das Licht sehen Sie es besser.«

Löffelholz kam auf die andere Seite des Grabsteins, kniete sich nach unten, bis sein Auge auf der Kante des obersten Grabsteins war. Die Inschrift aus vergoldeten Lettern leuchtete im Sonnenlicht auf, aber was Engine Plink erläutert hatte, war deutlich zu sehen. Er nickte. »Er hat sich richtig Mühe gegeben.«

»Ja«, sagte Plink. »Auch beim Würgen.«

Die alte Frau, die die Leiche gefunden hatte, hieß Hilde Jurgeleit und war sechsundachtzig Jahre alt. Sie hatte Unkraut gerupft auf den Gräbern ihrer Eltern und ihres Bruders und ein wenig die Büsche gestutzt, damit man die Inschrift lesen konnte. Eigentlich war es nicht erlaubt, die Büsche zu stutzen. »Aber außer mir kümmert sich eh keiner drum.« Dann hatte sie die Pflanzenreste zum Kompost gebracht und dort die Leiche entdeckt. So schnell sie konnte, war sie auf die Straße gerannt und hatte sich in die Arme des Busfahrers geflüchtet.

Kriminalhauptkommissarin Xenia Yolantha Zabriskie saß mit Hilde Jurgeleit vor einem Krankenwagen. Die Ermittlerin hatte kurze schwarze Haare und einen durchtrainierten Körper. Auf der Schulter hatte sie einen schwarzen Panther eintätowiert. Sein Kopf lag auf den Vorderpfoten, die Ohren waren aufgestellt.

Die alte Frau hatte sich in eine Wärmedecke gewickelt und saß auf einem Schemel, den der Sanitäter für sie bereitgestellt hatte. Sie schlürfte süßen Tee. Im Krankenwagen hatte sie nicht sitzen wollen. »Jeden neuen Tag muss man genießen und begrüßen«, hatte sie gesagt und mit der Hand gen Himmel gedeutet. Der zeigte sich mittlerweile in einem zarten Blau, das immer wieder durch fettige Schlieren getrübt wurde – Rauchschwaden aus den vielen kleinen Feuern von der anderen Flussseite. Die Bewohner der Treptower Halde saßen beim Frühstück.

»Ist ja nicht die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe. Im Krieg damals mit den Bomben. Aber das ist lange her, und hier ist es so friedlich.«

»Wann sind Sie auf den Friedhof gegangen?«, fragte Zabriskie.

»So wie immer. Der Bus stand schon da.« Frau Jurgeleit zeigte auf den 104er Bus, vor dem Zabriskies Kollege Bördensen stand und mit dem Fahrer sprach.

»Ist die Tür an der Straße der einzige Zugang zum Friedhof?«

»Ja, heute schon. Es gibt an der Seite, die in Richtung der kleinen Grünanlage liegt, noch eine alte Tür. Die ist aber seit zwanzig Jahren abgesperrt.«

»Haben Sie jemanden gesehen oder etwas gehört?«, fragte Zabriskie.

Frau Jurgeleit schüttelte den Kopf. »Na ja, Hören ist ja nun nicht wirklich meine große Stärke.« Sie lachte heiser und fasste sich ans rechte Ohrläppchen, an dem eine kleine graue Kapsel befestigt war. »Das Hörgerät mache ich gar nicht erst an, wenn ich so früh aus dem Haus gehe. Auf das ständige Gekreische kann ich gut verzichten.« Sie deutete zu den Möwen.

»Und gesehen?«

»Nüscht und niemand. Und wenn ich ehrlich sein soll«, sie nahm einen Schluck Tee, »bin ich auch heilfroh, dass mir kein Mörder über den Weg gelaufen ist.«

»Woher wollen Sie wissen, dass es ein Mann war?«

»Na hören Se mal, die Frau ist doch erwürgt worden, det sieht doch jeder Laie. Das war die lodernde Leidenschaft.«

Die es zwischen Frauen nicht geben konnte, wenn man Frau Jurgeleits Vorstellung folgte, dachte Zabriskie. Aber sehr wahrscheinlich hatte sie recht. Hier im Unterholz war ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare. Vielleicht war der Mörder wirklich jemand gewesen, der seine Geliebte loswerden wollte.

Jens Bördensen gab dem Zeugen Grellert eine kurze Beschreibung der Toten. »Eine teure Uhr hat sie getragen, blonde, glatte Haare, blaue Schuhe passend zum Kostüm.«

Der Busfahrer notierte alles mit. »Das gebe ich so durch.« Er legte den Notizzettel und Bördensens Visitenkarte auf die Ablage neben das Buch zur Vogelbestimmung. »Wenn ein Kollege sich erinnert, meldet er sich direkt bei Ihnen.« Er stieg in den Bus, und die vordere Tür schloss sich unter dem Zischen der Hydraulik. Als er es sich auf seinem Fahrersitz bequem gemacht hatte, griff er zum Mikrofon. Er nickte Bördensen zu, startete den Motor und verließ die Wendeschleife in einem großen Bogen.

Jens Bördensen dachte an seine beiden Kinder, die er heute Morgen schlafend in ihren Betten gesehen hatte, und er dachte an die tote Frau, die ein paar Meter weiter auf den Steinen lag. Nicht die erste Leiche in seiner Laufbahn, aber seit einiger Zeit überlegte er sich, ob und was er dem Ältesten, der jetzt vier war, von seiner Arbeit erzählen sollte. Kripo, das war die Begegnung mit Gewalt in allen erdenklichen Erscheinungsformen. Wie konnte man diese traurige Tatsache kindgerecht verpacken? Er sah dem Bus hinterher, bis er hinter dem Knick in der Tunnelstraße verschwunden war. Grellert würde sich wieder auf die Route der Linie 104 zurückbegeben und in den Zehnminutentakt einreihen, in dem die Linie tagsüber fuhr. Alle Busfahrer würden die Personenbeschreibung erhalten. Bördensen lief hinüber zum Friedhof und weiter zum Fundort. Die namenlose Tote war mittlerweile in einem Leichensack verstaut.

»Eins verstehe ich nicht«, sagte er und sah sich um. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau ohne Handtasche hierhergekommen ist. Sie sieht so durchkonzipiert aus, die Schuhe passend zum Kostüm. Ohne Handtasche ist man als Frau doch nackt.«

Löffelholz zuckte mit den Schultern. »Ich habe nichts gesehen.«

Bördensen spähte zwischen den Grabsteinen und der Mauer hindurch, vorsichtig darauf bedacht, nicht an eine Spinne oder einen Tausendfüßler zu geraten. Tiere mochte er nicht besonders und ekelte sich vor allem, was krabbelte. Er holte eine kleine Maglite-Taschenlampe aus der Hosentasche. »Die Tasche ist hier«, sagte er zu Löffelholz. »Zwischen der Wand und den Grabsteinen.«

»Hat er sie dort versteckt?«, fragte Löffelholz.

»Kann sein, oder sie ist ihm weggerutscht, als er die Leiche drapiert hat.« Er schob den Arm hinter den Stapel mit den Grabsteinen und schüttelte den Kopf. »Hast du mal einen Stock?«

Löffelholz ging zum Komposthaufen. Er holte einen gerade gewachsenen Zweig zwischen den verwelkten Blumen hervor und entfernte die Blätter.

»Könnte passen«, sagte Bördensen, der immer noch in der Hocke neben den Grabsteinen saß und die aufgestapelten Platten aufmerksam im Auge behielt, so als könnte die Tasche weglaufen.

Er versuchte den Ast im Henkel der Handtasche einzufädeln. Beim dritten Mal war er erfolgreich, und sorgfältig wie ein Angler, bei dem die Rute angeschlagen hat, holte er die Beute ein. Als die Tasche neben den Grabsteinen auf der Erde lag, machte er eine einladende Handbewegung zu Löffelholz. »Latex vor Schönheit.«

Löffelholz legte die Tasche neben den Leichensack. Sie passte im Ton zum Kostüm der Toten. Er öffnete den Reißverschluss, holte das Portemonnaie heraus und fand darin den Personalausweis. Verena Adomeit. Sie wohnte in der Fidicinstraße und war fünfunddreißig Jahre alt geworden.

»Das ist in der Nähe vom Platz der Luftbrücke«, sagte Löffelholz.

»Friesenstraße, ja, ich weiß. Bei der Verkehrszulassungsstelle«, sagte Bördensen.

Löffelholz legte das Portemonnaie auf den Grabstein und suchte weiter in der Tasche. Er holte einen großen Schlüsselbund heraus. »Also, wenn sie keine Hausmeisterin oder Schlüsselsammlerin war, dann ja vielleicht …« Er zog ein Metalletui aus der Tasche. Darin waren Visitenkarten.

Bördensen hob die Augenbrauen. »Sie war Maklerin.«

»Hatte sie hier einen Termin?«, fragte Löffelholz.

»Vielleicht«, sagte Bördensen. »Vielleicht in einem von diesen Rohbauten. Schau dir das an, die bauen wie die Irren hier. Falls die Frau überhaupt aus beruflichen Gründen hier war.«

Löffelholz reichte Bördensen den Schlüsselbund. »Ortstermin in Kreuzberg für dich.«

Bördensen nickte. »Und was machst du?«

Löffelholz hielt ein Smartphone in seiner Latexhand. »Die Daten auslesen, sobald ich diesen Fundort ordnungsgemäß protokolliert habe.« Er winkte die beiden Leichenträger heran, die brav in einer Ecke auf ihr Zeichen gewartet hatten. Als sie den Leichensack von den Grabsteinen wuchteten, kam eine verwaschene Inschrift zum Vorschein. Ewige Ruhestätte meiner geliebten Eltern … Der Rest war unleserlich, weil auf dem Grabstein ein Zettel klebte: Belegzeit abgelaufen. Grabstelle wird nicht erneuert. Bördensen sah dem Leichensack nach. Die Ewigkeit war auch nicht mehr das, was sie mal gewesen war.

Zabriskie wartete, bis der Fotograf der Spurensicherung seine Tasche schulterte und zu seinem Wagen ging. Er hatte intensiv mit Plink gefachsimpelt, das heißt, eigentlich hatte er vor allem zugehört, als Plink ihm wort- und gestenreich ihre Ideen zum Tatort erläutert hatte.

Zabriskies Verhältnis zu Engine Plink war kompliziert, um nicht zu sagen angespannt. Sie erkannte die fachlichen Fähigkeiten der Spurenexpertin an, mochte es aber nicht, wenn Plink sie wie eine Schülerin von oben herab belehrte. Vielleicht machte sie das gar nicht absichtlich, vielleicht wusste sie nur viel mehr als Zabriskie, aber Zabriskie wollte trotzdem nicht geschulmeistert werden.

»Die Zeugin sagte, es gibt einen alten Nebeneingang zum Friedhof. Sollen wir da mal schauen?«

»Alt heißt geschlossen?«, fragte Plink.

»Seit zwanzig Jahren«, sagte Zabriskie. Genau das war es. Dieses Gefühl, als ob sie gerade etwas offensichtlich vollkommen Dämliches vorgeschlagen hätte.

»Wir haben ja sonst nichts zu tun«, sagte Plink. »Zu zweit einen ganzen Friedhof absuchen.«

Löffelholz spazierte in seinem weißen Overall zwischen den Grabsteinen am Flussufer entlang und starrte auf den Boden.

Zabriskie sagte nichts. Alle hatten Personalnot. Wenn ein erweiterter Tatortbereich größer war als zehn mal zehn Meter, stießen sie an die Grenzen ihrer Möglichkeiten.

Plink und Zabriskie gingen zu der alten Tür. Sie hatte keinen Anstrich mehr und hing schief in den Scharnieren. Ein rostiger Riegel hielt sie an ihrem Platz.

»Verschlossen«, sagte Plink, nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte.

»Sind Sie sicher?« Zabriskie konnte den Riegel kaum vom Holz unterscheiden. Sie rüttelte an der Tür. Plink hatte recht.

Die Leiterin der Spurensicherung warf ihre roten Locken zurück. »Ich fahre jetzt ins Labor. Es gibt Spuren auf der Kleidung der Toten. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie ins Präsidium mit.«

»Sehr gerne«, sagte Zabriskie.

»Wo ist eigentlich Pachulke?«, fragte Plink.

»Pachulke pflegt seinen Fetisch.« Zabriskie zuckte mit den Schultern.

»Schwarzes Leder?«, fragte Plink.

Jetzt mussten beide Frauen grinsen.

»Schwarze Scheiben«, sagte Zabriskie.

4

Hauptkommissar Pachulke saß in der ersten Reihe auf dem ersten Platz rechts vom Mittelgang und studierte den Katalog. Ein Musikjournalist war gestorben, einer von den alten, bewandert, belesen, mit einem stupenden Wissen, einer großen Bibliothek und einer noch größeren Plattensammlung, die auf beiläufige Art das Interesse des Verstorbenen an allem und nichts deutlich machte. Die Platten standen zur Ansicht für die Auktionsgäste in Boxen auf quadratischen Tischen, immer vier Boxen auf einem Tisch. Keine Weinkisten wie früher, sondern stabile Leichtmetallboxen.

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