In der Schule von Athen - Klaus Liebers - E-Book

In der Schule von Athen E-Book

Klaus Liebers

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Beschreibung

Aus Verzweiflung über die Zustände in seiner Heimatstadt verlässt der junge Platon Athen. Wie ein Weltenbummler begibt er sich auf eine Reise nach Nordafrika, Sizilien und Süditalien. Er hofft, Ideen für einen gerechten Staat zu finden. Nach 12-jähriger Abwesenheit kehrt Platon zurück und gründet die "Schule von Athen". Von überall her strömen Schüler zu ihm – darunter Aristoteles. In vielen Gesprächen suchen Lehrer und Schüler in lockerer Sprache nach Antworten auf Fragen wie: In welchem Staat kann der Mensch sein Glück finden? Wo hat die Seele ihren Platz im Menschen? Worin bestehen die göttlichen Harmonien des Kosmos? Ist unsere Welt von allein entstanden oder hat ein Weltenschöpfer sie erschaffen? Wenn ja, woraus – aus gähnender Leere? Und hat Gott dabei Mathematik betrieben? Leben wir in einer räumlich und zeitlich begrenzten Welt? Erstaunlich, wie aktuell die Fragen und Antworten geblieben sind. Mit der Erzählung fühlen sich junge und ältere Leser auf unterhaltsame Weise angesprochen.

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Klaus Liebers

In der Schule von Athen

Platon und Aristoteles – seid gegrüßt!

Erzählung

epubli

Für Käthe

In der Schule von Athen

Klaus Liebers

Copyright: © 2014 Klaus Liebers

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-9610-5

Ein Weltenbummler der Antike

Im beständig wehenden Zephyr segelte das Schiff den Peloponnes entlang, immer weiter nach Süden, in den Frühling. Ab und zu umkreisten Weißkopfmöwen das Schiff, dann und wann mischten sich Schwarzkopfmöwen darunter. Behäbig glitt der Frachtensegler dahin. Vom erhöhten Deck aus genoss Bootsmann einen weiten Rundblick. Der geräumige Schiffskörper bot viel Raum für sorgfältig gestapelte Amphoren, gefüllt mit Olivenöl und Wein.

Bei dem ruhigen Westwind bereitete es dem Steuermann wenig Mühe, das Schiff auf Kurs zu halten. Dennoch bedurfte es beständiger Aufmerksamkeit und langjähriger Erfahrung. Klippen, Untiefen und Felsnadeln galt es sicher zu umschiffen. Zwei Schoten führten zum großen Rahsegel. Der Bootsführer bediente das Segel zusammen mit einem weiteren Bootsmann – zum Kauf von Sklaven für die Arbeit an Bord reichten die Einkünfte nicht aus. Gesegelt wurde tagsüber, in ständiger Sichtweite zum Ufer oder zur nächsten Insel. Auf diese Weise orientierten sich die Seeleute an markanten Landmarken. Mit Einbruch der Dunkelheit vertäuten die Seefahrer ihre Schiffe in einer der vielen geschützten Buchten. Sie boten sichere, kleine Häfen.

Das Mittelmeer war für die Schifffahrt keineswegs ungefährlich, viele Menschen vertrauten sich den Schiffsherren nur von Mai bis September an. Im Sommer erleichterten regelmäßige Meeresströmungen und stetig wehende Winde die Schifffahrt. Dennoch: Plötzliche Stürme, unvermutet drehende Winde, überraschende Flauten oder unerwartete Nebel bargen viele Überraschungen, konnten Schiffsreisen in langwierige Unternehmungen verwandeln. Doch bei dieser Fahrt fügten sich Wetter und Meer den Wünschen der Seefahrer und den Fahrtzielen der mitreisenden Gäste.

Im Schatten des Segels rekelte sich Platon. Er genoss die leichte Brise. Der Blick auf die in der Ferne vorbeigleitenden Küsten und Inseln bot eine abwechslungsreiche Mischung aus sanft gewellten Hügeln mit Olivenbäumen, schroffen Felsen, dichten Pinienwäldern, schmalen Tälern. Im Hintergrund krönten steil aufschießende Bergketten all diese Landschaften.

Von Zeit zu Zeit schweifte Platons Blick zum Himmel. Er erfreute sich an den zahlreichen kleinen Wolken – sie formten sich zu Figuren aus den Heldensagen von Hesiod und Homer, lösten sich wieder auf, gaben Raum für neue Phantasiegebilde und verschwanden erneut. Wieder und wieder wog Platon in Gedanken die Ziele seiner Reise ab. Welche Erwartungen trieben ihn an? Welche Hoffnungen hegte er? Am meisten kreisten seine Grübeleien um eine gerechtere Verfassung für seine Heimatstadt Athen. Welche Rechte und welche Pflichten sollten die Bürger erhalten? Sollte das politische Leben weiterhin allein Männern vorbehalten bleiben? Warum sollten Athener Frauen nicht gleiche Rechte erhalten wie Männer? Allerdings nur Frauen wie Männer, die von Athener Eltern geboren waren. Völlig außerhalb seines aristokratisch geprägten Denkens blieb die bloße Möglichkeit einer Einschränkung der Sklaverei und erst recht deren Abschaffung.

Schon damals kannte man die drei Wege zum Reichtum: Arbeit, Erbschaft, Steuerhinterziehung. Die Verfassung müsste der menschlichen Gier nach Reichtum Schranken setzen – doch wie könnte das gehen? Diese Frage beschäftigte Platon ganz besonders. Welche Idee sollte einem gerechten Staat zugrunde liegen? Wie könnte Athen verhindern, dass Ungebildete oder Maßlose in Ämter gewählt werden? Wie könnte sich die Stadt gegen Feinde schützen?

Platon war in eine Familie hineingeboren, die in der Athener Aristokratie eine angesehene Stellung einnahm. Wie andere Familien der Oberschicht lebten seine Eltern selbstbewusst, zeigten ihren Reichtum in hohen ästhetischen Ansprüchen.

In den Villen der Adligen öffneten sich alle Räume auf einen Hof. Diesen schmückten erlesene Skulpturen und marmorne Brunnen. Wandgemälde mit Motiven aus der Welt der Musen des Apollon verzierten die Räume. Kunstvoll bemalte Vasen im schwarzen athenischen Stil, einige auch im roten korinthischen Stil, verschönten die Wohnräume. Die Bildprogramme der Vasen entnahmen die Künstler den Götter- und Heldensagen. Auch das Alltagsleben der Menschen stand Pate für zahlreiche Motive. Beliebt waren Liebesszenen, Weingelage, Sportwettkämpfe oder die Ernte von Oliven. Bis in jene Zeit geht das Wort zurück, jemand sei „gut betucht“. Stoffe gehörten zu den wertvollsten Gebrauchsgegenständen, die eine griechische Familie besaß. Durchsichtige Kleider ließen die Schönheit der weiblichen Körper mehr als nur erahnen. Gut bezahlte Privatlehrer übernahmen die Ausbildung der Kinder.

Die aristokratischen Familien verachteten jede Art körperlicher Arbeit. Diese verrichteten Haussklaven. Sie gruben, pflanzten und ernteten im Garten, trugen die von den Frauen auf dem Markt gekauften Lebensmittel nach Hause, schöpften Wasser aus städtischen Brunnen, bereiteten die Speisen zu – kurzum: Die Haussklaven hielten in Haus und Hof das Leben in Gang. Die Lage der Haussklaven war ein Vielfaches besser als die Hölle jener Sklaven, die sich in Bergwerken zu Tode schuften mussten. Woher die Sklaven kamen? Die Aristokratie wählte ihre Haussklaven aus den auf dem Markt zum Kauf angebotenen Kriegsgefangenen aus.

Platon kam als jüngstes Kind von vier Geschwistern zur Welt, nach der wahrscheinlichsten Rechnung im Jahre 427 v.Chr. Dieses Jahr könnte es gewesen sein – muss es aber nicht. Bei vielen Jahresangaben aus der griechischen Antike können sich die Forscher nicht auf ein Datum einigen – es sei denn, das Ereignis fiele nachweislich mit einer Mond- oder Sonnenfinsternis zusammen. Deren Datum können Astronomen noch heute exakt berechnen. Des Weiteren dienen Aufzeichnungen der Olympischen Spiele zum Bestimmen von Daten auch unsichere, sich durchaus widersprechende Aussagen über persönliche Begegnungen von Politikern werden herangezogen. Die Olympischen Spiele waren viel mehr als nur sportliche Wettkämpfe zu Ehren des Göttervaters Zeus. Sie dienten als politische Foren, zu denen Herrscher und Abgesandte aus allen Teilen der griechischen Staatenwelt anreisten. Neben den Sportwettkämpfen beeindruckten die Spiele mit vielseitigen Unterhaltungsprogrammen: allen voran mit Theateraufführungen, Volksfesten und Märkten. Aus später angefertigten Siegerlisten konnten Historiker Verbindungen zwischen bestimmten Ereignissen und berühmten Sportlern herstellen und so unsichere historische Ereignisse mit einem etwaigen Datum versehen.

Platons Mutter Perikone leitete ihr Geschlecht von einem Verwandten Solons ab. Dieser Staatsmann war etwa 640 v.Chr. in Athen geboren und vermutlich um 560 v.Chr. gestorben. Solon hatte Athen eine neue Verfassung gegeben. Die Familie von Platons Vater Ariston berief sich sogar auf die Abstammung von König Kodros. Als Bauer verkleidet war der König 1068 v.Chr. in das Lager der dorischen Krieger gegangen und hatte die Feinde so lange gereizt, bis sie ihn erschlugen. Warum sich Kodros dazu entschlossen hatte? War er lebensmüde gewesen? Nein! Ein Orakel band den Sieg Athens an den Tod des Königs. Deshalb hatte sich König Kodros geopfert. Mit seinem Freitod endete das Königtum in Athen.

In frühester Kindheit verlor Platon seinen Vater. Als die Mutter erneut heiratete, war Platon noch ein Kind. Wie alle Söhne aus vornehmen Familien genoss der hochbegabte Knabe eine sorgfältige Ausbildung. Privatlehrer unterrichteten den Jüngling in Sport, Grammatik, Rhetorik, Malerei und Dichtung. Bei einem Kitharaspieler lernte er, auf einer Leier zu spielen. Platons Familie nahm regen Anteil an der Politik der Republik Athen. Seiner Herkunft nach strebte Platon in jungen Jahren eine politische Laufbahn an.

Im Alter von zwanzig Jahren lernte er Sokrates kennen. Dessen Geistesrichtung zog ihn gewaltig an, ließ ihn nicht los, ergriff Platons Denken.

Ganz besonders beeindruckte den jungen Platon das Interesse von Sokrates für das Zusammenleben der Menschen. Wie soll ich leben? Auf welchen Fundamenten kann eine gerechte Staatsordnung entstehen? Welchen Platz nimmt der Einzelne in einem solchen Staat ein? Zu welchen Idealen soll die Jugend erzogen werden? Dies waren die Fragen, um die Sokrates rang, auf die er Antworten suchte. Sokrates schrieb keine einzige Zeile auf, nur dank Schriften zeitgenössischer Philosophen und Dichter wurde er seiner Nachwelt bekannt. Beliebte Zitate aus den Worten von Sokrates: „Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden.“ oder „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Auch dies sind Worte von Sokrates: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“

Zwischen Platon und Sokrates entwickelte sich ein vertrautes Schüler-Lehrer-Verhältnis. Rund ein Jahrzehnt blieb Platon bei Sokrates, bis zum Tod des geliebten Lehrers. Als Lehrer und Vorbild formte Sokrates das Fühlen, Denken und Handeln seines Schülers Platon.

Doch in welche Zeiten war Platon bloß hineingeboren? Diese wollten so gar nicht zu dem wohlbehüteten Dasein in der Familie und zu seiner Freundschaft mit Sokrates passen. Kindheit und Jugend erlebte er in einer 25-jährigen Folge von Kriegen zwischen Athen und Sparta, in deren Zwietracht nach und nach alle griechischen Stadtstaaten hineingezogen wurden. Diese Kämpfe erschütterten schließlich die gesamte griechische Staatenwelt. In die Geschichte gingen diese als der „Peloponnesische Krieg“ ein, er währte von 431 bis 404 v.Chr. Einige Historiker sprachen später vom „Dreißigjährigen Krieg der Antike“.

Der Krieg endete 404 v.Chr. mit dem Sieg Spartas und der totalen Katastrophe für Athen. Seit zwei Jahrhunderten hatten in Athen drei gewählte Einrichtungen über Gesetz und Recht zu entscheiden: die Volksversammlung, der Rat der Fünfhundert und die Volksgerichte. Unter Spartas Schutz stürzten Mitglieder aristokratischer Familien diese Verfassung und setzten an deren Stelle die Terrorherrschaft der 30 Tyrannen.

Kritias und Charmides – zwei enge Verwandte von Platon – agierten als die führenden Oligarchen. Sie luden den 23-jährigen Platon zur Teilnahme am politischen Leben ein. Ohne Umschweife lehnte er ab. Platon missbilligte dieses Regime, ja mehr noch, er verurteilte dieses System als verbrecherisch. Acht Monate währte der schändliche Spuk, dann ging die Schreckensherrschaft zu Ende. Doch schon begannen neue Kämpfe mit Ränkespielen, Intrigen und Morden: Auf der einen Seite rangen Aristokraten um die Wiedergewinnung längst verlorener Privilegien, auf der Gegenseite kämpften Anhänger republikanisch gesinnter Athener um den Wiederaufbau der Demokratie.

Die politischen Wirren ließen Platon an Athen verzagen. Zum Trauma entwickelte sich der Prozess, der im Jahre 399 v.Chr. gegen seinen Lehrer angezettelt wurde. Ein ums andere Mal fragte sich Platon: Warum nur diese Anklage gegen Sokrates? Feinde von Sokrates erhoben gegen Platons Lehrer den schwersten Vorwurf, den Athener Gesetze kennen: Mit seinem Philosophieren über Moral und einen gerechten Staat verderbe Sokrates die Jugend.

Die Verurteilung des geliebten Lehrers und der eigenhändige Vollzug des Todesurteils durch Sokrates gaben Platon den letzten Anstoß, an Athens Staatsform zu verzweifeln: Zum einen widersprachen die politischen Parteikämpfe seinem philosophischen Geist, zum anderen hasste er die allmählich wieder emporkommende Demokratie. Platon verachtete die Demokratie, weil nach seiner Meinung in der Demokratie eine unwissende und verantwortungslose Volksmenge beschließe, was ihr gerade passe. Platon, inzwischen 30-jährig, wählte freiwillig das Exil, verließ sein geliebtes Athen und begab sich auf eine Reise durch die griechisch sprechende Welt. Er hoffte, Anregungen für gerechtere Staatsformen zu finden. Ob er ahnte, dass seine Reise zwölf Jahre währen würde?

Wohin soll die Reise führen?

Viele Einzelheiten dieser Reise bleiben im Dunkeln. Als sicher gilt: Platon betrat 399 v.Chr. in Piräus die Planken eines Schiffes, das ihn zunächst nach Megara am Saronischen Golf brachte. Diese kleine Stadt auf halbem Wege zwischen Athen und Korinth hatte im Peloponnesischen Krieg schlimmste Verwüstungen hinnehmen müssen. Fünf Jahre vor Platons Ankunft hatten die Bewohner dieser Landschaft die drückende spartanische Fremdherrschaft abgeschüttelt. In ihrem Hass auf die Terrorherrschaft hatten sie alle Viehherden der Aristokraten getötet. Die Stadt erklärte sich zu der unabhängigen Polis Megara. Was könnte Platon als Aristokrat in diese Kleinstadt gelockt haben?

Sicher wollte Platon den Philosophen Euklid von Megara besuchen. Zum einen gab es für beide viel zu erzählen, vor allem über gemeinsame Erinnerungen an die Zeit, als sie noch Schüler von Sokrates gewesen waren. Zum anderen hatte Euklid in der Stadt am Golf eine eigene Philosophenschule gegründet und Platon wollte wissen: Zu welchen philosophischen Auffassungen war Euklid gelangt?

Wahrscheinlich beriet er sich mit Euklid auch noch einmal über seine Reisepläne. Sollte er nach Milet, Ephesos oder Knidos reisen? Schließlich hatten dort an der Küste von Kleinasien solch berühmte Naturphilosophen wie Thales, Anaximenes und Heraklit gewirkt. Doch hatte nicht Sokrates diese klugen Köpfe hart kritisiert?

Der Vorwurf von Sokrates lautete: Thales, Anaximenes, Heraklit und andere Naturphilosophen hätten allein nach der Beschaffenheit der Natur gefragt, es komme aber darauf an, über die Beschaffenheit des menschlichen Denkens und Handelns nachzudenken. Und konnte Platon in diesen Städten überhaupt Anregungen für eine gerechte Staatsform erhoffen? Mussten sich diese Städte doch ihr Wohlergehen mit Übereinkünften und Zugeständnissen an den persischen König erkaufen.

Letztlich entschied sich Platon in seinen Reisplänen für griechische Städte, die sowohl in ihrer Größe als auch in ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung gegenüber Athen nicht zu sehr abfielen. Aus dieser Sicht boten sich Syrakus auf Sizilien und Cyrene (im heutigen Libyen) an. Syrakus war die zweitgrößte griechische Stadt nach Athen. Cyrene war die größte unter den von griechischen Siedlern in Nordafrika gegründeten Städten. Auch Tarent erkor Platon als Reiseziel. Die Stadt galt als neues kulturelles Zentrum von Unteritalien.

Selbst Ägypten soll auf der Reiseliste des Weltenbummlers gestanden haben. Einzelheiten und Daten einer solchen Reise kann die Quellenlage jedoch nicht eindeutig ausweisen. Könnte es sein, dass der Aufenthalt in Ägypten einige Jahrhunderte später von Anhängern Platons nur erfunden worden ist? Einiges spricht für diese Annahme: Auf diese Weise hätten sie ihren wie einen Gott verehrten Philosophen mit den Traditionen der ägyptischen Wissenschaft in Verbindung bringen können und so Platons ohnehin schon großen Ruhm in der Nachwelt noch weiter gesteigert.

Als sicher gilt: Platon bestieg in Megara einen Frachtensegler, der ihn zunächst immer am Peloponnes entlangführte, vorbei an den Inseln Kythera, Antikythera und einigen weiteren kleineren Inseln, bis das Schiff schließlich Kreta erreichte – die Insel, wo einst Aphrodite aus dem Schaum der Meeresflut geboren und ans Licht gestiegen war. Kreta versperrte wie ein Querriegel den Weg an die nordafrikanische Küste.

Auf Kreta wechselte Platon das Schiff. Er suchte sich einen schnelleren Segler. Der Bootsmann hatte schon mehrmals die riskante Überfahrt zwischen Kreta und der afrikanischen Küste gemeistert – riskant, da zwischen Kreta und der nordafrikanischen Küste keine Insel mehr dem Schiff den Kurs wies und auch nachts gesegelt werden musste. Sicher verglich Platon seine lange Reise entlang der afrikanischen Küste nicht mit den Irrfahrten des Odysseus. Indes hoffte er bestimmt, dass die Bewohner von Cyrene ihn gastfreundlich aufnehmen würden, so wie die Einwohner dieses Küstenstriches einst den Helden Odysseus mit seinen Gefährten wohlwollend eingeladen hatten.

Während der vielen Stunden auf See dachte Platon immer aufs Neue über einen gerechten Staat nach. Ob er sich auch Gedanken über die Entstehung und den Aufbau der Welt hingab? Geht es um die Entstehung der Welt, dann lauten die allerersten Fragen: Kann die Welt aus dem Nichts, aus einer gähnenden Leere entstanden sein? Ist sie allein oder mithilfe einer göttlichen Macht entstanden? Wie ist die Welt aufgebaut?

Wir wissen nicht, ob Platon bereits zu dieser Zeit solche Fragen erwog – vermutlich noch nicht. Falls doch, fand dieses Besinnen ein Ende, als am Horizont der Hafen von Apollonia auftauchte.

Heute ist dieser frühere Hafen von Cyrene weitgehend im Mittelmeer versunken. Die Küste von Libyen hat sich im Laufe der Jahrhunderte gesenkt. Die Stadt Cyrene selbst liegt im Hochland in einer grünen Senke. Ihren Wohlstand verdankten die Bürger einem florierenden Handel mit Gewürzen und Getreide. Die Landschaft um Cyrene war eine riesige Kornkammer. Zeitweilig versorgte Cyrene 40 griechische Städte mit Weizen und Gerste.

In dieser Stadt gab es für Platon vieles zu bestaunen, zum Beispiel ihm unbekannte Früchte wie die Lobosfrucht. Ob Platon beim Probieren einer dieser fremden Köstlichkeiten daran dachte, dass die Gefährten des Odysseus beim Verspeisen dieser Frucht ihre Heimat vergessen haben sollen? Wird sich Platon beim Erblicken der Tempel für Apollo und für Zeus, beim Bewundern der Agora mit dem Tempel für Bacchus und der Stoa für Hermes und Herkules in Cyrene mit Wehmut an seine Heimatstadt erinnert haben? An die Agora in Athen mit dem Tempel für Hephaistos und an den Burgberg mit der Akropolis? Heute zählen die Ruinen all dieser Bauwerke in Cyrene zum Welterbe der Menschheit, atmen immer noch Leben.

In Cyrene interessierte sich Platon wiederum eingehend für die in der Verfassung verankerten Rechte und Pflichten der Menschen sowie für die Philosophenschule der Stadt. Wie in Megara hatte auch diese Schule ein Schüler von Sokrates gegründet. Weit über die Stadt hinaus genoss die Schule einen erstklassigen Ruf. In Cyrene lernte Platon den berühmten Mathematiker Theodoros von Cyrene (460 - 399 v.Chr.) gerade noch vor dessen Tod kennen. Erinnern Sie sich, liebe Leser, aus Ihrem Mathematikunterricht daran, was den Ruhm dieses Mannes begründete? Theodoros hatte als einer der Ersten die Irrationalität aller Zahlen von 3 bis 17 (außer den Zahlen 4, 8 und 16) bewiesen. Schon vorher war bekannt, dass die Wurzel aus 2 eine irrationale Zahl ist.

Als wichtigstes Ergebnis seiner Reise nach Cyrene entpuppte sich für Platon die Begegnung mit dem Mathematiker Theaitetos. Dieser Schüler des Theodoros schloss sich mehr als ein Jahrzehnt später Platon an und stand Platon in allen Fragen der Geometrie zur Seite.

Am Königshof in Syrakus

Als nächstes Ziel steuerte Platon Syrakus an. Schon von Weitem zeigte sich der Ätna. Seit Jahrhunderten wies er den Seefahrern den Weg nach Sizilien. Siedler aus Korinth hatten die ersten Häuser auf der kleinen Insel Ortygia im Mündungsgebiet zweier Flüsse errichtet. Die Stadt hatte sich rasch auf das Festland von Sizilien ausgedehnt. Die griechischen Ankömmlinge und deren Nachfahren waren über Jahrhunderte gezwungen, ihre Selbständigkeit gegen Karthago zu verteidigen.

Im Jahre 405 v.Chr. wählte die Stadt ihren Sohn Dionysios (430 - 367 v.Chr.) zum Feldherrn und gewährte ihm große Sondervollmachten für den Kampf gegen die Feinde aus Nordafrika. Im Friedensschluss erkannten die Karthager schließlich Dionysios als Herrscher von Syrakus an. Danach stieg er zum mächtigsten Tyrannen der Antike auf. Dionysios gründete eine der lang andauerndsten Dynastien jener Zeit. Historiker nannten ihn später Dionysios I. Dessen Macht stützte sich auf eine Leibgarde und eingebürgerte Söldner. In wechselvollen Kämpfen unterwarf der Tyrann den größten Teil Siziliens, ohne allerdings die Karthager jemals gänzlich von der Insel vertreiben zu können.

Die Insel Ortygia ist Syrakus vorgelagert. Auf der Insel hatten die Griechen zwei Tempel zu Ehren von Apollon und Athena erbaut. Bereits lange vor dem Einlaufen ihrer Schiffe in den Naturhafen von Syrakus begrüßten beide Tempel die Ankommenden. Bei einem seiner ersten Besuche hinüber auf das Festland, in die andere Stadthälfte, freute sich Platon auf einen Besuch im Theater. Das eindrucksvolle Rund bot mit seinen 60 in den Fels geschlagenen Sitzreihen Platz für 15 000 Menschen. Viele große Dichter wie Äschylos ließen ihre Werke zuerst in diesem Theater uraufführen.

An einem späteren Tag wird Platon auch das andere, das abschreckende Gesicht von Syrakus entdeckt haben, zum Beispiel das Ohr des Dionysios, eine künstlich in den Fels gehauene Höhle – 64 Meter lang, 20 Meter hoch und 11 Meter breit. Der geschwungene Eingang in diese Hölle erinnert an ein menschliches Ohr. Die Höhle diente dem Tyrannen als gnadenloses Gefängnis. Die außergewöhnliche Akustik der Höhle ließ in einem Loch oberhalb des Eingangs selbst ein leises Flüstern noch hörbar werden, weshalb dieser Ort so gut zum Bespitzeln der Gefangenen taugte. In einem benachbarten Steinbruch ließ Dionysios I. Kriegsgefangene – auch aus Athen – erbarmungslos bis zum Tod ausbeuten.

Als Platon in Syrakus eintraf, bereitete sich die Stadt bereits auf den nächsten Waffengang vor. Dionysios I. wollte die Karthager vom letzten Zipfel im Südwesten von Sizilien vertreiben, auch aus der Stadt Motye auf einer kleinen vorgelagerten Insel. Mit hohen Gehältern lockte Dionysios I. eine große Zahl von Handwerkern nach Syrakus. Sie kamen aus Unteritalien, vom griechischen Mutterland und selbst aus dem Staatsgebiet von Karthago. Mit wertvollen Geschenken motivierte er die Techniker, Möglichkeiten zu erkunden, wie ein Damm bis zu der Insel gebaut werden könnte, auf der Motye lag. Zugleich spornte er die Ingenieure an, neuartige Belagerungstechniken zu ersinnen, mit denen er von diesem Damm aus die Stadt erobern könnte.

Unter ihren Händen entstanden auf Rädern fahrbare Türme – etwa sechs Stockwerke hoch. Von deren obersten Plattformen aus konnten Soldaten schmale Fallbrücken auf die Mauern von Motye herablassen und die Stadt erstürmen. Findige Spezialisten konstruierten Katapulte, welche Brandpfeile und schwere Speere über größere Entfernungen schossen, als es die stärksten Söldner mit ihrer Muskelkraft vermochten. Einfallsreiche Könner entwickelten aus den Katapulten die mächtigste Waffe der Antike die Steinschleuder. Damit katapultierten die Soldaten steinerne Geschosse bis zu einer Masse von 120 Kilogramm auf Stadtmauern und auch darüber hinweg – mitten in die Verteidigungsanlagen und Wohnhäuser hinein.

Seinen enormen Finanzbedarf deckte Dionysios I. mit der Inbesitznahme des Vermögens politischer Gegner. Weitere Einnahmequellen verschaffte er sich mit Kriegsgefangenen, die er als Sklaven verkaufen ließ. Selbst vor dem Einzug von Tempelschätzen scheute er nicht zurück.

Die Hofhaltung des Tyrannen verschlang ein Vermögen. Auf Ortygia hatte sich Dionysios I. eine prächtige Residenz erbauen lassen. Seine Amtstracht, das Herrscherornat, orientierte sich an persischen Vorbildern. Dionysios I. wollte seinen Ruhm als mächtigster Tyrann weit in die antike Welt hinaustragen. Dazu lud er Dichter und Philosophen ein, die seinen Hof zu einem kulturellen Zentrum der griechischen Welt werden ließen.

Auch Platon genoss die Gastfreundschaft des Tyrannen. Der Aufenthalt am Hofe von Dionysios I. dürfte indes für den Philosophen wenig ertragreich gewesen sein. Welche zündende Idee für einen gerechten Staat sollte dort aufflammen? Als einzigen Erfolg konnte Platon die Freundschaft verbuchen, welche er mit Dion, dem jungen Neffen des Tyrannen geschlossen hatte. Auch dieser wird später zu Platon nach Athen kommen.

Umso erfolgreicher gestaltete sich seine Reise nach Tarent.

Bei den Pythagoreern in Tarent

Die Jahre in Tarent (im heutigen Süditalien) hinterließen in Platons Denken die prägendsten Spuren der langjährigen Reise. In dieser pulsierenden Stadt genoss ein Mann das größte Vertrauen der Bevölkerung, sein Name: Archytas. Obwohl die Verfassung die Wiederwahl eines Strategen nicht zuließ, wählten die Bürger sieben Mal hintereinander Archytas zum Feldherrn der Stadt. Die Lebensdaten von Archytas sind extrem unsicher – geboren zwischen 435 und 410 v.Chr. und gestorben zwischen 355 und 350 v.Chr. Zu jener Zeit erhob sich Tarent zur tonangebenden Kraft am Golf von Tarent, ließ Kroton, die ehemals führende Stadt in Unteritalien, weit hinter sich zurück.

Archytas entwickelte Tarent zu einem Hauptsitz der mathematischen Studien jener Zeit. Unter den Zeitgenossen wurde er mit der Lösung eines der drei unlösbaren klassischen Probleme der antiken Mathematik bekannt. Kennen Sie aus dem Mathematikunterricht noch diese Legende?

Eines Tages brach auf der Insel Delos eine Seuche aus, die kein Ende nehmen wollte. Die Menschen schickten Boten nach Delphi, um das Orakel zu befragen. Als die Ausgesandten zurückkehrten, überbrachten sie die Antwort der Pythia: Die Seuche höre auf, wenn die Bewohner von Delos den Altar verdoppelten, den sie Apollon geweiht hatten. Der Altar besaß die Gestalt eines Würfels. Hinter dem Orakel verbarg sich damit ein mathematisches Problem: Ein Würfel soll allein mit Zirkel und Lineal – ohne Maßstab – in einer endlichen Anzahl von Schritten verdoppelt werden. Die Lösung von Archytas entsprach dieser Forderung nicht ganz, denn er musste seine Konstruktionen auf zwei senkrecht zueinanderstehenden Ebenen ausführen.

Archytas war nicht nur Mathematiker, er war vor allem der letzte führende Kopf der Pythagoreer. Sie kennen noch den Satz des Pythagoras? Dieser gehört nicht zu dem, was für Platon an Pythagoras interessant war – es ist auch ziemlich sicher, dass Pythagoras diesen Lehrsatz in Ägypten kennengelernt und nicht selbst entdeckt hat. Womit beeindruckte dann Archytas den Weltenbummler Platon?

Im ausgehenden 6. Jahrhundert v.Chr. hatte Pythagoras in der wegen seines wohltuenden Klimas noch heute viel gerühmten Stadt Kroton eine Gemeinschaft Gleichgesinnter gegründet. Welche Motive Pythagoras zum Verlassen seiner Heimatinsel Samos bewogen hatten? Das ist nicht ganz klar. War es allein seine Ablehnung der Herrschaft des Tyrannen Polykrates? Kam möglicherweise die Furcht vor einer persischen Eroberung seiner Heimat hinzu? Oder war Pythagoras vielleicht doch vor allem von seinen Landsleuten enttäuscht, weil bei diesen seine Ideen keinen Anklang fanden? Sicher spielte vieles zusammen.

Nach ihrem Gründer benannten die Süditaliener die Mitglieder der von Pythagoras gegründeten Gemeinschaft als Pythagoreer. Ihr Bund bestimmte in den nächsten eineinhalb Jahrhunderten maßgeblich das wissenschaftliche, religiöse und politische Leben der meisten Städte in Unteritalien. Sicher hörte Platon viele Legenden über Pythagoras. Allein verbürgte historische Zeugnisse fehlten schon damals, denn Pythagoras hat nichts Schriftliches hinterlassen.

Die Mitglieder des Bundes waren in zahlreichen öffentlichen Ämtern tätig. Auf diese Weise gewannen die Pythagoreer einen immer größeren politischen Einfluss auf die Gesetzgebung und die Verwaltung vieler süditalienischer Städte. Sie gestalteten das Leben im Sinne einer streng aristokratischen Ordnung. Die Sittenlehre der Pythagoreer kannte nichts Höheres als die Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze. Ohne Obrigkeit – so glaubten sie – könnte das Menschengeschlecht nicht bestehen. Die wissenschaftlichen Forschungen der Pythagoreer rankten sich um Fragen nach der Ordnung und dem Aufbau der Welt.

Um 490 v.Chr. entstand in Kroton erstmals eine stärkere Bewegung gegen den Einfluss der Pythagoreer. Weitere Aufstände folgten, einige mündeten in grausame Verfolgungen der Pythagoreer. In Syrakus prüfte Dionysios I., wie weit es her sei mit der gerühmten Verbundenheit der Pythagoreer im Angesicht des Todes. Erinnern Sie sich noch an Ihre Schulzeit? Diese Prüfung gab den Hintergrund für Schillers Ballade „Die Bürgschaft“:

„Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich

Möros, den Dolch im Gewande;

Ihn schlugen die Häscher in Bande.

„Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“

Entgegnet ihm finster der Wüterich.

„Die Stadt vom Tyrannen befreien!“

„Das sollst du am Kreuze bereuen.“

...

Nur in Tarent gelangten die Pythagoreer mit Archytas ein letztes Mal zu großer Blüte. Dem inzwischen schon fast 40-jährigen Platon widerfuhr der Glücksfall, die Gastfreundschaft dieses bedeutenden Mannes zu gewinnen, ohne dass es zu einer echten Freundschaft gekommen wäre. Archytas war es, der Platon in das Leben und in die Lehren der Pythagoreer einführte.

Schmuggeln wir uns als stumme Zuhörer in eines ihrer Gespräche über die Lehren der Pythagoreer ein.

Der Geheimschlüssel der Harmonien

„Lieber Platon, in den letzten Wochen kreisten unsere Gespräche immer wieder um die unsterbliche Seele. Ich sprach davon, wie die Seele aus einer Art Lebewesen in eine andere Art übergeht, weshalb wir Pythagoreer keine Tiere töten und deren Fleisch nicht essen. Lange verweilten wir bei der Frage: Wie kann die Seele innerhalb dieser Seelenwanderung gereinigt werden? Einig waren wir uns, dass die Seele aus drei Teilen besteht. Diese haben ihren Sitz in verschiedenen Regionen des Körpers: die Vernunft im Kopf, der Mut in der Brust und das Begehren im Bauch.“