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Sandra ist Lehrerin und erhält kurz vor den Ferien eine überraschende Einladung. Ihre beste Freundin aus Schultagen lädt die Clique 25 Jahre nach dem Abitur in die Ferienvilla ihrer Eltern auf der kroatischen Insel Lošinj ein. Sandra ist neugierig, was aus den Träumen ihrer ehemals besten Freunde geworden ist. Und sie stellt sich die Frage, ob sie auch Nils, ihre Jugendliebe, wiedersehen wird. Auf der zauberhaften Mittelmeerinsel kommt es dann zu einigen Überraschungen ...
Ein wunderbarer Roman über die Liebe und das Leben vor kroatischer Sommerkulisse.
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Seitenzahl: 471
Sandra ist Lehrerin und erhält kurz vor den Ferien eine überraschende Einladung. Ihre beste Freundin aus Schultagen lädt die Clique 25 Jahre nach dem Abitur in die Ferienvilla ihrer Eltern auf der kroatischen Insel Lošinj ein. Sandra ist neugierig, was aus den Träumen ihrer ehemals besten Freunde geworden ist. Und sie stellt sich die Frage, ob sie auch Nils, ihre Jugendliebe, wiedersehen wird. Auf der zauberhaften Mittelmeerinsel kommt es dann zu einigen Überraschungen …
Ein wunderbarer Roman über die Liebe und das Leben vor kroatischer Sommerkulisse
Sofia Caspari, geboren 1972, hat schon mehrere Reisen nach Mittel- und Südamerika unternommen. Dort lebt auch ein Teil ihrer Verwandtschaft. Längere Zeit verbrachte sie in Argentinien, einem Land, dessen Menschen, Landschaften und Geschichte sie tief beeindruckt haben. Heute lebt sie – nach Stationen in Irland und Frankreich – mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Söhnen in einem Dorf im Nahetal.
S O F I A C A S P A R I
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durchdie Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Marion Labonte, Labontext
Titelillustration: © adehoidar/shutterstock; Ververidis Vasilis/shutterstock
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-9490-0
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Es war ein Ende, das alle kaum erwarten konnten. Denn dieses Ende war auch ein Anfang. Etwas Neues würde beginnen, lang ersehnte Träume in Erfüllung gehen. Daran zweifelte keiner in dieser unzertrennlichen Fünfer-Clique, denn jetzt, unmittelbar nach dem Abitur, stand ihnen die Welt offen, sie gehörte ihnen.
Wie der See und der Steinbruch in dieser milden Sommernacht.
Im Verlauf des Abends war es hier ruhiger geworden. Die Volleyballer hatten den letzten Ballwechsel gespielt, die Schwimmer das Wasser verlassen. Nach und nach hatten sich die offiziellen und inoffiziellen Picknickplätze am alten Steinbruch geleert, alle Feiern waren beendet, die Stimmen verklungen, letzte Lieder gespielt, die Kassettenrekorder und Gitarren weggepackt. Die Grillfeuer waren niedergebrannt, doch der Duft von Gebratenem und Kräutern hing noch angenehm in der Luft.
Nur Sandra und Nils, Daniela, Maike und Nicolai waren noch da und genossen gemeinsam den lauen Abend. Nicolai spielte Melodien auf seiner Gitarre, während Maike und Daniela immer wieder das Feuer schürten. Sandra strich über Nils’ weiche Haare, der seinen Kopf in ihren Schoß gebettet hatte. Dann beugte sie sich vor und küsste zärtlich seine – für einen Mann sehr vollen – Lippen. Das zumindest hatte sie als Erstes gedacht, als sie sich in der Oberstufe im Deutsch-Leistungskurs getroffen hatten, in dem er der Hahn im Korb gewesen war. Sie kannte seinen Ruf und war eigentlich sicher gewesen, dass sie nichts miteinander anfangen konnten. Auch, weil er ein wenig ausgesehen hatte wie der junge Sascha Hehn, sie aber eher auf Robert Smith von The Cure stand. Aber da war rasch etwas gewesen, was sie hatte aufmerken lassen: Nils wirkte immer wie jemand, der aus dem Vollen schöpfte. Zurückhaltung war nicht das Wort, das einem in Bezug auf ihn als Erstes in den Sinn kam, und bald stellte sich heraus, dass er auch auf The Cure stand. Seit Mitte der zwölften Klasse waren sie das Traumpaar der Schule, und wenn es auf der offiziellen Abschlussfeier einen Ballkönig und eine Ballkönigin gegeben hätte, dann wären das ohne Zweifel sie gewesen.
Nils öffnete die Augen, schob eine dunkelblonde lockige Strähne hinter Sandras Ohr zurück und betrachtete sie aufmerksam, so wie sie es von ihm kannte. Wieder küssten sie einander.
Über ihren Köpfen huschten im Lichte des Vollmondes Fledermäuse auf der Suche nach Insekten hin und her. Frösche quakten. Zwischen den alten, längst üppig bewachsenen Abraumhalden hatten sich viele Pflanzen und Tiere angesiedelt, seit der Steinbruch stillgelegt worden war. Tagsüber flitzten Eidechsen hin und her, und im See gab es sogar Fische. In der Abenddämmerung hatte hin und wieder einer mit einer plätschernden Wellenbewegung die Oberfläche in Richtung des goldroten Himmels durchbrochen.
Nicolai stimmte There’s no limit auf der Gitarre an.
No, no, no, no, no, no, no, no, no, no, there’s no limit … / No, no, no, no, no, no, no, no, no, no, there’s no limit …, sang Sandra still in ihrem Kopf, und sie fühlte sich tatsächlich frei, grenzenlos geborgen im Kreis ihrer Freunde und frei, endlich das zu tun, von dem sie schon lange geträumt hatte. Sie wollte Lehrerin werden, aber zuerst würde sie ein Jahr als Au-pair im Ausland verbringen – London vielleicht oder Vancouver oder New York, das würde sich in Kürze entscheiden. Nils würde an eine Journalistenschule gehen. Er hatte schon einen Platz und, nachdem die Schülerzeitung unter seiner Leitung einen kleinen Skandal im Rahmen eines Schulfestes aufgearbeitet hatte, bereits jetzt einen Ruf, der über ihr Gymnasium hinausging.
»Hey, eine Eule!«, rief Maike. Sandra hob den Kopf und sah das Tier, lautlos für ihre Ohren, gerade noch aus ihrem Blickfeld verschwinden. Lächelnd blickte sie zu Maike, die an der Uferlinie stand und versuchte, Steine über das Wasser flitschen zu lassen. Der Mond verfärbte die Oberfläche des Sees silbrig. In Strandnähe tanzten die Spiegelungen ihres Lagerfeuers auf dem Wasser. Wieder und wieder hüpften die Steine darüber, und Sandra war klar, dass Maike nicht aufhören würde, bevor es nicht mindestens sechsmal geklappt hatte, so oft wie bei Nicolai eine Weile zuvor. Maike war einfach ehrgeizig in allem, was sie tat, wahrscheinlich hatte sie auch deshalb das beste Abitur geschrieben. So war sie, Leistung war wichtig für sie. Ganz im Gegensatz zu Nicolai, dem Jüngsten im Bunde. Dass der Stein so häufig gesprungen war, war Zufall gewesen, und Nicolai würde ganz sicher keine Zeit mehr in die Verbesserung seiner Leistung investieren. Er war immer mit dem Mindestmaß zufrieden gewesen, außer wenn es um seine große Leidenschaft, die Musik, ging. Nicolai gab es so gut wie nie ohne Gitarre. Sogar in der Schule hatte er sie ständig dabei. Er spielte alles: Pop, Rock, aber auch Klassik. Seine Finger konnten den Saiten Töne entlocken, die Sandra immer wieder überraschten.
Dicht neben Sandra stieß Daniela einen wohligen Seufzer aus. Sandra streckte die Hand nach ihrer besten Freundin aus und berührte sie lächelnd. Selbst hier, neben dem Feuer sitzend, die Beine angezogen und die Arme um die Knie geschlungen, sah Dani unglaublich schick aus. Sie trug eine schmale Hose und einen nachtblauen Pullover, der lässig von ihrer Schulter gerutscht war. Ihre schwarzen Haare hatte sie im Nacken zu einem lockeren Dutt zusammengenommen, ihren Hals schmückte eine zarte, goldene Kette, die sie zum Abitur bekommen hatte. Untereinander scherzten sie nicht selten, dass Dani gewiss eine Weltklassedesignerin werden würde. Sandra würde es nicht wundern, wenn sie nach Paris ging. Ganz bestimmt aber würde sie eines Tages ihre eigene Boutique haben, und Sandra würde stolz darauf sein, echte Daniela-Modic-Klamotten zu tragen. Dabei war Danis Abschlussnote ganz und gar nicht berauschend, letztendlich aber hatte sie das Abitur geschafft, im Fach Kunst war sie sogar ausgezeichnet worden. Aber sie hatte auch wenig Zeit zum Lernen gehabt, denn ihre Eltern betrieben ein jugoslawisches Restaurant, und Dani musste an den Wochenenden häufig dort aushelfen. Heute hatte sie, wie so oft, das Essen für das Picknick mitgebracht, und obwohl Sandra eigentlich pappsatt war, hätte sie jetzt schon wieder eines dieser leckeren Cevapcici essen können. Zufrieden ließ sie ihren Blick über ihre Freunde gleiten: Dani würde also Designerin werden, sie selbst Lehrerin und Nicolai mit seiner Band berühmt. Maike würde eine angesehene Ärztin werden und Nils sicher irgendwann den Pulitzerpreis gewinnen.
Sandra ließ ihren Blick zärtlich auf seinem Gesicht ruhen.
»Beobachtest du mich?«, fragte er mit geschlossenen Augen.
»Vielleicht.«
Er öffnete die Augen und sah sie an, dann küssten sie einander. In wenigen Stunden würde der neue Tag anbrechen, in ihrem neuen Leben, in dem sie sich nicht mehr mindestens fünfmal die Woche in der Schule sahen. Aber sie würden sich selbstverständlich nicht aus den Augen verlieren. Das war klar.
Noch nie zuvor in ihren mittlerweile über zwanzig Jahren als Lehrerin hatten sich die Sommerferien so bedrohlich vor Sandra ausgedehnt. In den letzten Arbeitstagen war es ihr in der Schule gelungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen – es gab viel zu tun, Abschiede zu feiern, Mut zuzusprechen, Urlaubspläne auszutauschen –, aber dass Fred ihr vor ein paar Tagen die Scheidungspapiere hatte zukommen lassen, traf sie doch schwer.
Nun, was hatte sie sich eigentlich gedacht? Dass er seine Meinung nach einem Jahr Trennung noch ändern würde? Sie hatten sich in den letzten Wochen oder sogar Monaten nicht oft gesehen. Anfangs war das noch anders gewesen, wenn Sandra ihre Tochter Alex zu ihrem Vater gefahren hatte, aber die Fünfzehnjährige legte neuerdings keinen Wert mehr darauf, von Mama zu Papa oder umgekehrt gefahren zu werden. Sie könne das sehr gut alleine, schließlich sei sie keine drei mehr, hatte sie mehrfach betont. Sandra hatte jedenfalls keine Ahnung, wie oft Alex ihren Vater in den letzten Wochen überhaupt gesehen hatte. Außerdem hing sie ohnehin am liebsten mit ihren Leuten ab, manchmal wusste Sandra nicht einmal wo. Die Zeiten, in denen Alex sich an sie gekuschelt hatte oder nachts zu ihr ins Bett gekommen war, weil im eigenen Zimmer ein Monster sei, waren lange vorbei. Und auch wenn sich Sandra zu dieser Zeit mehr Ruhe gewünscht hatte, vermisste sie die Alex von damals sehr. Es war definitiv nicht leicht, mit diesem Teenager zusammenzuleben.
Und ab heute lagen sechs Wochen Ferien vor ihr. Sandra betrat ihre Wohnung, schloss die Tür hinter sich und schob mit dem Fuß die schwer beladene Schultasche beiseite. Mindestens eine Woche lang wollte sie nicht hineinschauen. Wenn sie überhaupt so lange durchhielt, denn was sollte sie ansonsten tun, wenn sie alleine war? Auch ihre Lieblingskollegin würde gleich zu Beginn in Urlaub fahren, mit den anderen hatte sie kaum privaten Kontakt. An ein oder zwei Tagen würde sie ihre Eltern besuchen, aber die hatten auch etwas vor: Ihre Mutter hatte von einer Reise in die Dominikanische Republik erzählt. Seit die beiden in Rente waren, reisten sie quasi ständig durch die Welt. »Was soll ich mit deinem Vater sonst auch anfangen?«, hatte ihre Mutter einmal spitz bemerkt. »Er ist ein ziemlicher Langweiler.«
Sandras Blick fiel auf das Bild der kleinen Alex im Flur. Und da war Fred. Damals waren sie glücklich gewesen, was war nur geschehen?
Sie betrachtete sich einen Moment in dem kleinen Flurspiegel. Ihre Haut sah in diesem Licht etwas käsig aus, war aber ansonsten ganz in Ordnung. Klar, sie war älter geworden, hatte Augenringe, feine horizontale Falten auf der Stirn, die Kerbe zwischen den Augenbrauen war tiefer, und in ihrem immer noch langweilig dunkelblonden Haar fanden sich inzwischen mehr silbrige Strähnen. Sollte sie es färben lassen? Sie war vierundvierzig, gottverdammt, und jetzt auch noch alleine – Single. Ja, manchmal hatte sie im letzten Jahr durchaus der Gedanke überfallen, dass es das jetzt wohl gewesen war: Das Leben war vorbei. Neues würde es nicht mehr geben, nein, es würde immer so weitergehen, tagein, tagaus, immer so weiter … Wie in einem Hamsterrad.
40 ist das neue 30, nee, so fühlte sich das wirklich nicht an. Eine neue Beziehung? Unwahrscheinlich in ihrem Alter. Und wollte sie das überhaupt? Sie war eine erwachsene Frau. Sie brauchte niemanden, der sich hier breitmachte und mit dem sie neue Rahmenbedingungen aushandelte.
Mit einem Seufzer schlüpfte Sandra aus ihrem Blazer und den Schuhen. Kurz darauf saß sie in der Küche, einen Kaffee und die Brigitte Woman vor sich, die Alex als ›Zeitschrift für alte Schachteln‹ oder schlimmer noch ›Magazin für Gammelfleisch‹ bezeichnete. Der Kühlschrank war leider ziemlich leer. Auch Fünfzehnjährige, die Bella Hadid nacheiferten, wuchsen und hatten manchmal viel mehr Hunger, als sie sich zugestehen wollten. In dieser Phase konnte der Blick in den Kühlschrank oder die Vorratsschränke sehr ernüchternd sein. Immerhin hatte Sandra noch ein paar Grissini im Schrank gefunden, dazu den Gorgonzola, den Alex ›voll eklig‹ fand und nicht gegessen hatte. Sandra kaute langsam und spülte mit etwas Kaffee nach.
Ihr Handy klingelte. »Fred« leuchtete auf dem Display auf. Ihr Mann.
Ex-Mann. Einmal hatten sie sich ewige Liebe geschworen, und es hatte sich richtig angefühlt. Sie waren auf derselben Uni gewesen, sogar im selben Fachbereich, hatten sich aber irgendwie erst während des Referendariats kennengelernt.
Sie nahm das Gespräch an. »Ja?«
»Hast du Post bekommen?«
»Hallo, Fred, schön, mal wieder von dir zu hören.«
Er sagte nichts. Sandra hörte ihn nur atmen, während ihr viele Dinge durch den Kopf gingen, aber dann konnte sie nichts davon sagen, sie hatte schon viel zu lange gewartet.
»Und?«, bohrte er nach.
»Hm.«
»Ich hoffe, du siehst ein, dass es besser so ist. Für alle.«
Sie sah ihn jetzt förmlich vor sich, im Flur seiner neuen Wohnung, immer noch jugendlich schlank, das Gewicht auf einem Bein, mit einer Schulter gegen die Wand gelehnt, einen Kaschmirpullover – na ja, dafür war es wahrscheinlich zu warm, aber der gehörte einfach zu ihrem Bild – locker über der Schulter, die Flasche Bollinger in der kleinen schicken Appartement-Küche auf dem Tisch, um ihre Einwilligung zu feiern.
»Hm«, machte Sandra noch einmal. Sie dachte an seine Neue, eine Dreißigjährige, gegenüber der sie sich wie eine Mutti vorkam. Es hatte Zeiten gegeben, da hätten sie und Fred gemeinsam über so etwas gelacht, über Männer, die sich jüngere Frauen suchten. Aber sie hatten verlernt, miteinander zu lachen, und Fred fand es ganz normal, dass er sich in die fünfzehn Jahre jüngere Mimi verliebt hatte, die bevorzugt enge Lederhosen und Designer-Oberteile trug (und darin gut aussah), und sich mit ihr ein wahres Liebesnest aufgebaut hatte.
Es ist so lächerlich.
Sandra schluckte die vielen falschen Worte hinunter. Anfangs hatte sie wütend über Mimis Namen gestichelt, aber Mimi war eigentlich ganz okay. Und Mimi, ebenfalls Lehrerin, hübsch, schlank, blond und langbeinig, eine Frau, die so manchem Pubertierenden sicherlich feuchte Träume bescherte, ließ sich auch durch nichts aus der Ruhe bringen. Und ja, sie war eine gute Lehrerin, und Sandra hätte sie gerne inbrünstiger gehasst, aber irgendwie war sie auch nett. Fred und sie hatten sich auf einer Fortbildung kennengelernt, ganz klassisch. Er und Sandra waren schnell ehrlich zueinander gewesen, und oh ja, das macht es ja soooo viel besser …
»Sandra?«
Sie konnte Freds Stimme anhören, dass er ungeduldig wurde. »Ja, schon klar, ich unterschreibe.« Sie war es einfach leid. Sie hatte es einfach so satt. Es war Zeit für endgültige Entscheidungen, auch wenn sie furchtbar weh taten.
Sie wechselten noch ein paar belanglose Worte, als wären sie nach sechzehn Jahren Ehe gezwungen, ein paar Worte miteinander zu reden. Bald sagte er, dass er jetzt auflegen müsse, und Sandra war froh darüber. Sie hatten sich ohnehin nichts zu sagen.
Sie legte das Telefon auf den Tisch und stopfte frustriert die letzten Grissini in sich hinein. Um zwanzig Uhr kam Alex nach Hause und ging grußlos direkt in ihr Zimmer. Sandra überlegte, ob sie nach dem Zeugnis fragen sollte, verschob das dann aber auf den nächsten Tag. Alex war versetzt worden, ansonsten hätte sie das mitbekommen. Das war die Hauptsache, zwischenzeitlich hatte es eher düster ausgesehen. In Alex’ Zimmer ging die Musik an.
Am ersten Ferientag war Alex früh wach. Sandra war überrascht, sie um kurz vor halb acht in der Küche zu sehen. Sie selbst machte sich gerade ihren ersten Kaffee und hatte schon Brötchen geholt, die ihre Tochter allerdings keines Blickes würdigte. Neuerdings frühstückte sie nicht, zumindest nicht mit Sandra.
»Was machst du denn schon hier? Ich dachte, ihr Teenager schlaft in den Ferien bis zum Mittagessen«, versuchte Sandra zu scherzen, aber der Versuch, eine lockere Stimmung zu schaffen, ging sofort nach hinten los. Jedes Gespräch mit Alex war dieser Tage ein wahres Minenfeld.
»Willst du mich hier nicht? Ich kann auch zurück in mein Zimmer gehen«, blaffte Alex zurück, bevor sie sich eine Tasse schwarzen Kaffee am Vollautomaten zog und sich auf ihren Stuhl fallen ließ. Sie trug ein schwarzes Schlafshirt und übergroße rosa Hausschuhe aus Kunstfell mit seltsamen Krallen daran, die bei jedem Schritt Klack, Klack, Klack auf dem Parkett machten.
Sandra atmete tief durch und nahm ein Glas aus dem Schrank. »Hey, ist ja schon gut. Willst du vielleicht ein Glas Wasser mit Zitrone?«
»Was soll der Scheiß? Ich habe Hunger.«
Sandra spürte Ärger in sich aufsteigen, schluckte ihn aber herunter. Verdammt, Alex war neuerdings so unberechenbar. Sie konnte jederzeit hochgehen und änderte ihre Vorlieben blitzschnell: Pubertät eben, die Zeit, in der die Eltern seltsam werden. Sandra stellte das Glas zurück in den Schrank und knallte die Tür zu. Blöderweise konnte auch sie sich nicht immer beherrschen. »In den letzten Wochen hast du den Scheiß getrunken.«
Das war jetzt aber sehr erwachsen, Sandra.
Alex starrte düster vor sich hin. »Und der bringt mal voll gar nichts.«
Sandra schluckte die Bemerkung herunter, dass die Gewichtsabnahme, die Alex sich davon versprochen hatte, viel eher daran gescheitert war, dass sie in letzter Zeit definitiv zu viele Chips gegessen hatte. Alex griff nach der Brigitte Woman und blätterte darin, während sie mit langsamen Schlucken und angewidertem Gesicht ihren Kaffee trank. Er schmeckte ihr nicht ohne Milch, das war auch heute deutlich zu sehen, aber die coolen Chicas in ihrer Klasse tranken ihn eben schwarz. Sandra stellte wortlos die frischen Brötchen auf den Tisch, holte Marmelade, Honig und Butter dazu und einen weiteren Teller. Alex nahm sich sofort ein Brötchen und tat Heidelbeermarmelade darauf. Als sie ihre Finger beim Essen mit Marmelade verschmierte, wirkte sie wieder so viel jünger. Sie schwiegen, während auch Sandra sich ein Brötchen schmierte.
»Und, was fängst du mit deinen Ferien an?«, fragte sie schließlich.
»Keine Ahnung«, sagte Alex undeutlich mit vollem Mund und griff nach einem weiteren Brötchen.
Sandra trank einen Schluck Milchkaffee. »Wirst du ein paar Tage bei deinem Vater sein? Habt ihr darüber gesprochen?«, fragte sie dann.
»Keine Ahnung. Hab ich doch schon vor ein paar Tagen gesagt.« Alex blickte sie düster an. »Der will bestimmt lieber mit seiner Tussi rummachen«, stieß sie hervor.
»Frag ihn doch.«
»Vielleicht.«
»Wir könnten ein paar Ausflüge machen«, schlug Sandra vor.
Alex blickte sie überrascht an. »Mama, ich bin kein Baby mehr.«
»Holiday Park, Phantasialand? Das wolltest du doch immer.«
»Soll ich etwa Karussell fahren, ja?« Alex verdrehte die Augen, dann stand sie auf und war auch schon an der Küchentür. »Lou ist noch im Lande. Ich denke, wir werden heute zusammen abhängen, bevor sie mit ihren Alten …«
»Alex!«
»… schon gut … Eltern wegmuss.«
Sandra nickte. Lou und Alex hatten sich Anfang der achten Klasse kennengelernt und waren seitdem quasi unzertrennlich. Sandra war sich immer noch nicht sicher, ob Lou der richtige Umgang war, aber sie wusste auch nichts Vernünftiges dagegen zu sagen. Lou färbte ihre Haare grün und redete davon, nach der zehnten Klasse von der Schule abzugehen. Wer braucht schon den ganzen Mist? Sandra hatte nie gedacht, dass es bei Alex einmal Thema sein würde, nicht das Abitur zu machen. Sie war eine gute Schülerin, selbst wenn sie sich nicht sonderlich anstrengte. Im letzten Jahr hatte sie allerdings viel geschwänzt und vor kurzem sogar davon geredet, Tätowiererin zu werden. Tätowiererin, was sagte man als Mutter da?
Alex verharrte noch zögernd in der Tür, dann sagte sie: »Ich dusch dann mal kurz.«
»Denk dran, dass du noch das Wohnzimmer aufräumen …«
Doch Alex war schon im Flur. Dann hörte Sandra, wie die Tür vom Badezimmer geöffnet und mit dem charakteristischen Quietschen wieder geschlossen wurde. Kurz darauf drang das Geräusch von rauschendem Wasser durch die hellhörige Wohnung.
Die Post kam an diesem Samstagmorgen früh. Dem Postboten war es zu gönnen, denn die Temperaturen würden im Laufe des Tages sicher noch deutlich zulegen. Kurz nachdem auch Sandra den Tisch abgedeckt, geduscht und eine Weile den Klängen von Nirvana gelauscht hatte, die aus Alex’ Zimmer drangen, hörte sie durch das gekippte Küchenfenster das unverwechselbare Klappgeräusch des Briefkastens.
Auf dem Weg hinunter sammelte Sandra im Flur die Lederjacke auf, die Alex ihr im Frühjahr abgeschwätzt und die gestern offenbar den Weg zur Garderobe nicht gefunden hatte. Ein kurzer Blick ins Wohnzimmer zeigte das immer noch unveränderte Chaos von Donnerstagabend, als Alex spontan Besuch von ein paar Freundinnen bekommen hatte, während Sandra den Abend im Arbeitszimmer verbracht hatte. Eigentlich hätte Alex das Durcheinander ohne weitere Ansage gestern noch beseitigen sollen, aber Alex hatte natürlich nichts getan. Sogar die Stereoanlage blinkte noch. Mit einem Seufzer stakste Sandra über auf dem Boden verteilte Decken und Kissen und schaltete das Gerät aus, sammelte auf dem Rückweg die Chipstüten ein und nahm sie mit dem wieder viel zu vollen Müll mit nach unten.
Im Briefkasten lag lediglich ein Brief. Die Schrift auf dem Umschlag kam Sandra bekannt vor, aber im ersten Moment wollte ihr nicht einfallen woher. Sie ging zurück in die Küche, in der es zu dieser Tageszeit angenehm sonnig war, und setzte sich mit einem frischen Kaffee an den Tisch. Für einen Moment sog sie den Duft des Kaffees ein, den sie immer geliebt hatte, außer während einer sehr kurzen Phase in der Schwangerschaft mit Alex. Durch die angelehnte Küchentür drangen dumpfe Bässe, Alex hatte ihre Musik jetzt noch etwas lauter gedreht. Sandra drehte den cremeweißen Umschlag um, doch es war keine Absenderadresse angegeben, nur ein kleines, verschnörkeltes DM.
DM? Sandra angelte im Sitzen ein Messer aus der Schublade direkt neben dem Herd und schnitt vorsichtig den Umschlag auf. Sie zog eine festere Klappkarte heraus, eine Einladung, nicht gekauft, sondern selbst gestaltet und doch edel.
DM. Daniela. Daniela Modic. Dani. Aber klar, so etwas konnte nur von Dani kommen … Was wollte sie, nach all den Jahren? Und warum jetzt? Wie lange hatten sie sich nicht gesehen?
Sandra hielt inne, war für einen kurzen Moment wieder fünfundzwanzig Jahre jünger, und die Welt lag verlockend offen vor ihr … Im Flur waren plötzlich Geräusche zu hören. Sandra schob die Karte eilig zurück in den Umschlag, kurz bevor Alex’ Kopf in der Türöffnung erschien.
»Ich geh jetzt mal zu Lou.«
»Aber nicht wieder so lange. Und denk an das Wohnzimmer«, hörte Sandra sich sagen, obwohl sie ganz sicher etwas anderes hatte sagen wollen, irgendwas im Sinne von »Habt Spaß« oder so.
Alex verzog den Mund.
»Wir wollen heute Abend mal zusammen essen, Alex. Ich mache auch dein Lieblingsessen, Pizza.«
Alex schüttelte den Kopf. »Weißt du, ich wollte dieses Jahr doch ab und zu ins Schwimmbad, ohne dass die Greenpeace anrufen müssen.«
Sandra wusste nicht, worauf sie hinauswollte.
»Schiebt den Wal zurück ins Wasser, du weißt schon.«
Sandra lachte, und auch Alex grinste. Also nahm sie die Sache vielleicht mit Humor, aber da konnte man sich auch täuschen.
»Wer keine Bikinifigur hat, muss nackt baden«, wagte Sandra dennoch einen Versuch.
»Sehr witzig, Mama.« Alex schwieg einen Moment. »Also tschüss dann«, fügte sie schließlich hinzu und verschwand durch die Haustür.
Sandra horchte und machte sich dann zögerlich mit dem Umschlag samt Karte auf den Weg ins Arbeitszimmer. Aus irgendeinem Grund machte sie die bevorstehende Lektüre der Karte nervös. War etwas passiert? Warum schrieb Dani nach so vielen Jahren? Und wie hatten sie sich eigentlich so aus den Augen verlieren können? Sie waren doch beste Freundinnen gewesen …
Es half nichts. Sie gab sich einen Ruck, fingerte die Karte aus dem Umschlag, setzte sich und klappte die Karte auf.
»Fünfundzwanzig Jahre Abitur sind ein Grund zum Feiern!«
Sandra blickte nachdenklich auf die Zeilen. War das wirklich so? Wenn sie es recht bedachte, gab es heute eigentlich eher nichts in ihrem Leben, was sie feiern wollte.
»Zu diesem Anlass möchte ich Euch spontan nach Lošinj einladen, auf eine der sonnenreichsten Inseln Europas. Wäre es nicht schön, einander mal wiederzusehen und sich an gemeinsame alte Zeiten zu erinnern?«
Wäre es das? Sandra starrte aus dem Fenster. Beim Öffnen des Umschlags war da doch dieses kurze Glücksgefühl gewesen, aber jetzt? Die anderen wiederzusehen konnte doch nur bedeuten, sich des eigenen Scheiterns um so bewusster zu werden. War es nicht besser anzuerkennen, dass die alten Zeiten aus und vorbei waren?
Und wollte sie vor allem Nils wirklich wiedersehen und sich mit ihm all der falschen Vorstellungen bewusst werden, die sie sich einmal gemacht hatte? Wollte sie wirklich all den kaputten Träumen wiederbegegnen?
Alex kam am frühen Abend nach Hause. Sie roch nach Zigarettenqualm, wie Sandra entsetzt bemerkte, und verlangte sofort etwas zu essen.
Sandra verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe noch nichts gekocht. Ich wusste ja nicht, wann du kommst.«
Alex zog die Augenbrauen zusammen. »Na ja, macht nix«, sagte sie dann unerwartet zahm.
Sandra öffnete die Türen zum Vorratsschrank. »Ich mach schnell die Pizza.«
»Och, nö, Mama.« An der Anrichte stehend begann Alex, sich das letzte Brötchen vom Morgen zu schmieren, und biss auch gleich hinein. Die Krümel flogen auf die Arbeitsplatte und den Boden. Sandra sah darüber hinweg, das war der Weg des geringsten Widerstands.
»Komm schon, lass uns was zusammen essen. Zum Ferienanfang.«
Alex verdrehte die Augen. »Pizza dauert ewig. Lou und ich wollten später noch ein bisschen rumlaufen. Es ist echt warm. Draußen ist richtig war los.«
»Du bist doch gerade erst heimgekommen. Und seit wann lauft ihr rum?«
Alex’ Blick sagte Sandra, dass sie das gar nichts anging. Sandra holte Mehl, Backpulver, Olivenöl und Salz und begann, einen schnellen Teig zu mixen. Alex beobachtete sie dabei.
»Ich bleibe nicht, Mama.«
Sandra reagierte nicht. »Weißt du inzwischen, was du in den Ferien machen willst?«, fragte sie stattdessen.
Alex zuckte die Achseln. »Nö, und geht’s dich was an?«
Sandra starrte auf ihren Teig und konzentrierte sich, so gut es ging, auf das Kneten. Die Bewegung tat ihr gut, und ja, sie konnte auch ein bisschen Wut in den Teig hineinkneten. Manchmal wollte sie einfach nicht besonders erwachsen reagieren, und das machte die Situation oft nicht besser.
Apropos erwachsen: Ihre Gedanken wanderten zu Danis Einladung. Sandra hatte eine Weile überlegt und dann schließlich nacheinander bei Nils, Maike und sogar Daniela angerufen, bisher jedoch ohne Erfolg. Allein die Nummern herauszufinden war nicht ganz einfach gewesen. Sie hatte Nils’ und Maikes Mutter erreicht und die Nummern erfragt, bei Nicolais Eltern hatte sie vorerst keinen Erfolg gehabt. Dessen ungeachtet waren offenbar alle unterwegs, nur sie, Sandra hockte zu Hause. So fühlte es sich jedenfalls an.
Vor ihrem inneren Auge tauchte Nicolais schlaksige Gestalt mit dem Wust sehr dunkler Locken auf. Nach dem Essen oder spätestens morgen würde sie es nochmal bei ihm versuchen, auch wenn es vermutlich noch unwahrscheinlicher war, ihn zu erreichen. Nicolai hatte immer ganz weit weggewollt, weg aus seinem spießigen Elternhaus mit dem Bankkaufmann-Vater und der Mutter, die seinetwegen zu Hause geblieben und später halbtags als Verkäuferin gearbeitet hatte, damit man sich – neben den Versicherungen und dem Häuschen, was abbezahlt werden musste – noch was gönnen konnte: einen neuen weißen Audi, Urlaub in Italien, dort, wo sich fast nur Deutsche befanden, man Deutsch sprach und es Schnitzel gab. Von Nicolai hatte Sandra nach dem Abi sehr bald gehört, dass er sich auf Reisen befand: Neuseeland, Australien, sogar die Arktis und die Mongolei. Das letzte Mal war allerdings lange her, seitdem hatte sie auch ihn aus den Augen verloren.
Ein Klirren riss Sandra aus ihren Gedanken. Alex hatte ihr Messer in die Spüle geworfen.
»Räumst du es bitte in die Spülmaschine?«
»Oh, Mann.«
Sandra musste sich jetzt doch sehr anstrengen, nichts weiter zu sagen. Manchmal wollte sie ihre Tochter am liebsten auf den Mond schießen.
Sandra nahm sich vor, zehnmal bei Nicolais Eltern klingeln zu lassen. Vier, fünf. Sie überlegte, wie lange sie schon nicht mehr mit Nicolais Mutter geredet hatte, und fragte sich, ob sie ihre Stimme wiedererkennen würde. Acht, neun. Nicolais Mutter war immer diejenige gewesen, die ans Telefon gegangen war, als sei das ihre Aufgabe. Sandra atmete durch. Gleich würde sie auflegen können. Sie war beinahe erleichtert. Sie telefonierte ohnehin nicht gerne, und bei Nicolais Familie hatte sie sich immer als Störenfried empfunden.
»Nicolai Diehl, hallo?«
Sandra hätte vor Schreck fast das Telefon fallen lassen.
»Hallo? Wer ist denn da?«
»Nicolai?«
»Ja, klar. Ist meine Nummer und mein Name. Und mit wem spreche ich, bitte?«
»Sandra.«
Ein langes Schweigen folgte, und Sandra dachte mit einem Mal, dass es verdammt peinlich werden würde, wenn er sich jetzt nicht an sie erinnerte. Das war immerhin möglich, denn Nicolai war ein cooler Kerl gewesen, und vermutlich war sie doch einfach zu durchschnittlich gewesen, ein beliebtes Mädchen, aber keines, an das man sich erinnerte …
»Sandra? Sandra Jaenicke?«
Sandra atmete vor Erleichterung laut aus.
»Was war das denn?«, fragte Nicolai überrascht, und dann fragten sie beide im gleichen Atemzug: »Hast du auch eine Einladung von Dani bekommen?«
Sandra musste vor Nicolai zugeben, dass sie erstaunt war, ihn zu Hause zu erreichen, doch er wusste zu berichten, dass er im letzten Jahr seiner Mutter nach einem Hüftbruch zur Seite gestanden hatte.
»Mein Vater war überfordert, weißt du, und er ist auch nicht mehr so fit, und echt, es war überraschend schön«, sagte er. »Meine Mutter und ich haben über ein paar alte Sachen geredet. Ich habe sie irgendwie besser kennengelernt. Komisch, nach so langer Zeit. Immerhin kennen wir unsere Eltern schon unser ganzes Leben.«
»Das klingt schön.« Sandra dachte an ihre Eltern, mit denen sie sich eigentlich gut verstand, und doch war da manchmal das Gefühl, dass Ungesagtes im Raum stand, das sie sich nicht erklären konnte. »Und wie geht’s deinem Vater heute?«
»Ganz gut insgesamt. Er sammelt immer noch Briefmarken. Daran kannst du dich doch sicher erinnern, oder? Seit er pensioniert ist, ist es noch schlimmer. Wenigstens muss ich heute samstags nicht mehr ran.« Nicolai lachte. »Wie du weißt, versuchen meine Eltern, bestmöglich jedem Klischee zu entsprechen«, sagte er dann und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Tja, ich versuche da inzwischen allerdings etwas verständnisvoller zu sein.«
»Man wird älter«, sagte Sandra langsam.
»In der Tat.«
Eine Weile war es still auf beiden Seiten. Sandra suchte nach Worten und entschied sich dann für: »Das muss schwer gewesen sein, neben der Arbeit für deine Mutter da zu sein.«
»Ach, das ging schon. Weißt du, ich betreibe einen Blog, und ich gebe ein bisschen Musikunterricht. Das ist hauptsächlich von zu Hause aus und …«
»Spielst du noch in einer Band?«, platzte Sandra dazwischen. »Irgendwie bin ich gar nicht mehr auf dem Laufenden.«
Es war albern, aber wenn sie an damals dachte, fühlte sie sich jünger. Vor ihrem inneren Auge sah er ohnehin genauso aus wie damals, als sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Sie verdrängte den Gedanken daran, dass er vielleicht eine Plauze hatte …
»Nee. Da bin ich raus. Hab’s aber lange gemacht.«
»Schade, ich hätte gedacht, zumindest du hast dir deine Träume erfüllt.«
»Du etwa nicht? Tut mir leid. Aber du bist Lehrerin, ja? Hab mal so was gehört.«
»Ja, bin ich. Ach Gott, es ist ganz okay. Ist vielleicht die Midlife-Crisis, die da aus mir spricht.« Sie lachte nicht, aus Angst, dass es ihr misslingen würde. »Vermisst du die Band?«
Wieder war es still. »Ich bin nicht unglücklich«, sagte Nicolai schließlich. »Ich betreibe wie gesagt einen Reiseblog. Der läuft nicht schlecht. Vielleicht guckst du ihn dir mal an?«
»Klar. Kriegst du da Reisen geschenkt?«
»Auch. Und Dinge, die man für Reisen gebrauchen kann, aber das ist echt nicht das Wesentliche. Und du? Bist du etwa unzufrieden? Hörte sich gerade so an.«
Sandra starrte auf einen tanzenden Lichtfleck an ihrer Wand. Irgendwo in einem der Nachbarhäuser war ein Fenster geöffnet worden. Sie hatte schon zu viel geredet, befand sie jetzt. »Das ist etwas hoch gegriffen«, hörte sie sich sagen. »Und nach einem Gespräch mit meiner Teenietochter bin ich, glaube ich, irgendwie oft unzufrieden …«
»Du hast Kinder?«
»Eins. Und du?«
»Nope.«
»Und keine Band?« Hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Das war ja mal richtig peinlich, schließlich war das hier kein Wettbewerb. Oh, Mann … Sie sprach etwas schneller. »Na ja, Träume gehen nicht immer in Erfüllung, bei dir hätte ich allerdings gedacht …«
»Ausgerechnet bei mir? Ich war doch der Anstrengungsvermeider schlechthin.« Nicolai lachte jetzt doch, und Sandra stimmte ein. Es klang etwas schief.
»Ich weiß auch nicht. Und echt, dass du bei deinen Eltern wohnst, hätte ich nie gedacht. Bleibst du jetzt hier und suchst dir eine eigene Wohnung?«
Nicolai räusperte sich. »Ach, weißt du, ich fand es nie wichtig, mich mit Besitz zu belasten. Das Zimmer bei meinen Eltern ist da, wir verstehen uns besser als früher. Das passt schon.«
Sandra wusste nicht, ob das gut war oder nicht, aber Nicolai klang wirklich ganz zufrieden. Wahrscheinlich machte sie sich einfach immer zu viele Gedanken.
Nach dem Ende des Gesprächs legte Nicolai das Telefon vor sich auf den Tisch und stieß es dann mit einem leichten Schubser von sich. Oh ja, es war schön gewesen, mit Sandra zu reden, aber auf eine gewisse Weise hatte das Gespräch das schwarze Loch in ihm noch einmal vergrößert. Er dachte an den Nicolai, der er bis vor kurzem gewesen war. Sandra erinnerte sich offenbar noch an ihn, an den coolen Nicolai, dem so vieles zufiel und der sich nie übermäßig anstrengte, außer, wenn es um seine Musik ging. Musik, das war sein Leben, die Kontrolle seiner Finger über seine Welt. Nach dem Abitur hatte er so weit wie möglich weggewollt – und jetzt? Jetzt war er hier, verkroch sich bei seinen Eltern und lebte ihr Leben, so wie sie es jahrelang gelebt hatten: Um 8:00 Uhr gab es Frühstück, um 12:15 Mittag, um 18:30 Uhr Abendbrot und um 15:00 Uhr Kaffee. Er lebte ihren Rhythmus, dazwischen arbeitete er an seinem Blog, spielte Gitarre, soweit das noch ging, aber nur für sich alleine, nicht mehr auf der Bühne.
Nie wieder auf der Bühne, weil sich das Leben entschieden hatte, ihm einen vor den Bug zu knallen. Einfach so. Er würde zunehmend die Kontrolle über seinen Körper verlieren. Er konnte nicht sagen, wie schnell, aber er würde sie verlieren. Stück um Stück.
Würde er irgendwann gar nicht mehr Gitarre spielen können? Wann? Er hatte immer Angst, sich darüber Gedanken zu machen. Er wollte nicht über die Krankheit nachdenken, auch wenn es das nicht besser machte. Manchmal sagte er sich, dass er sich noch mehr mit ihr auseinandersetzen müsse, Lösungen finden, Heilungsansätze, und dann recherchierte und las er, aber eigentlich wollte er nur weglaufen, und zwar so schnell er konnte. Doch man entkam seinem Schicksal nicht, indem man den Kopf in den Sand steckte.
Nicolai starrte das Telefon an, als könnte es noch einmal klingeln, so wie damals, als er auf den Anruf gewartet hatte, der sein Leben so grundlegend verändert hatte. Und wenn Sandra jetzt noch einmal anrief, dann würde er ihr alles sagen, einfach alles …
Er würde von der Diagnose erzählen, die ihn wie mit einem Vorschlaghammer getroffen hatte. Davon, wie er im Krankenhaus seine Mutter besucht hatte und da diesem Experten über den Weg gelaufen war, der, auf ein blödes, spontanes leichtes Zittern hin Nicolais Leben einfach so über den Haufen geworfen hatte. Was hatte der sich eigentlich dabei gedacht?
»Lassen Sie das prüfen. Vielleicht ist nichts, und wenn doch … Auch bei Parkinson hat es Vorteile, wenn man frühzeitig mit der Therapie beginnt, und die Therapien werden immer besser, dessen können Sie sich gewiss sein«, hatte er gesagt und dabei freundlich geschaut.
Nicolai hatte nichts gesagt. Er hatte sich in diesem Moment so gefühlt, als sei der Arzt in seinen Tanzbereich eingedrungen, als habe er sich etwas herausgenommen, was ihm nicht zustand. Parkinson? Schüttellähmung? Ich? Ich bin Musiker, das wäre das Todesurteil für meine Leidenschaft, hatte er gedacht und beschlossen, sich nicht untersuchen zu lassen. Allerdings hatte seine Mutter zugehört und natürlich nicht lockergelassen. Seine Mutter liebte Diagnosen und Ärzte, sie kannte ihren Körper in- und auswendig. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater, der wie er selbst stets zum Arzt gezwungen werden musste und somit zum Beispiel lange mit einem unentdeckten Leistenbruch unterwegs gewesen war.
Als er die Diagnose dann bekommen hatte, war eine Welt für ihn zusammengebrochen. Warum so früh? Warum er? Niemand in der Familie war je an Parkinson erkrankt. Hatte er irgendetwas falsch gemacht? Hatte er sich etwas vorzuwerfen? Das alles war jetzt wie viele Monate her? Einige, einige … Seit der Diagnose hatte Nicolai den Eindruck, dass er seinem Körper bei der Degeneration zusehen konnte. Inzwischen zitterte nicht nur sein rechter Arm immer häufiger leicht, immer wieder verlor auch sein rechtes Bein die Kraft, sodass er mitten im Schritt stolperte. Ganz schlimm war es, wenn sein Gesicht einfach einzufrieren schien und er nichts dagegen tun konnte. Das passte so überhaupt nicht zu ihm. Er war immer sehr beweglich gewesen; ein Seiltänzer, im wahrsten Sinne des Wortes. Einmal hatte er gehört, wie jemand ihn für betrunken gehalten hatte. Betrunken zu sein, dachte Nicolai, ist weitaus cooler als Herr Parkinson, der einem den Kopf klar lässt und den Körper verwirrt, sodass man sich auch noch beim Scheitern zusehen kann.
Nicolai hielt für einen Moment inne, griff nach seiner Teetasse auf dem Tisch und führte sie vorsichtig zum Mund. Er pustete leicht, bevor er trank, aus Gewohnheit, denn der Tee war längst erkaltet. Dann dachte er darüber nach, dass er eben im Gespräch gemeinsam mit Sandra entschieden hatte, Danis Einladung anzunehmen. Trotz allem. Warum hatte er das getan? Weil es sich gut angefühlt hatte, mit Sandra zu sprechen? Weil er die hübsche Sandra mit den dunkelblonden Haaren vor sich gesehen hatte und Nils und Maike und Daniela natürlich … Weil er einfach spontan sein wollte wie früher, als sie so viel zusammen geträumt und geplant hatten? Weil er sich danach sehnte, sich noch einmal so zu fühlen wie vor fünfundzwanzig Jahren? Aber das war natürlich ein Trugschluss, und das wusste er. Er würde sich nie wieder fühlen wie vor fünfundzwanzig Jahren, und sein Leben würde nie wieder so sein wie damals.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Alex verzog den Mund, stemmte die Hände in die Seiten und schaute ihre Mutter wütend an. »Du glaubst jetzt nicht, dass ich mit euch Gammelfleisch-Urlaub mache, oder was? Ich wollte mit Lou unterwegs sein, ins Schwimmbad, nach Köln fahren, abhängen …«
Gammelfleisch … Sandra spürte Ärger in sich aufwallen. Sie war eine erwachsene Frau in den Vierzigern. Gammelfleisch, was sollte das denn bitte heißen? Ihr erster Impuls war, sofort zurückzupatzen, aber sie hatte sich vorgenommen, ruhiger auf ihre herausfordernde Tochter zu reagieren, auch wenn ihr das nicht leichtfiel. Manchmal zählte Sandra innerlich bis zehn, bevor sie antwortete, manchmal gab es nicht genügend Zahlen, um ihre Wut zu zähmen. An den meisten Tagen konnte sie den Rabenmutteraward locker für sich beanspruchen.
»Weißt du überhaupt, ob Lou die Ferien über hier ist? Die Schuberts fahren im Sommer doch immer weg. Doch, du hast selber gesagt, dass …«
Alex zuckte die Achseln und schaute so blasiert, wie nur ein Teenie schauen konnte. »Ist mir egal, ich fahre nicht mit. Was soll ich überhaupt da? Das wird voll langweilig.«
»Es soll sehr schön dort sein und sehr sonnig«, hörte Sandra sich sagen. Vor Danielas Einladung hatte sie eigentlich nichts von Lošinj gewusst. Inzwischen und insbesondere nach der gestern gemeinsam mit Nicolai getroffenen Entscheidung hatte sie nicht nur ausführlich mit Dani telefoniert, sondern sich auch zumindest grob informiert: Die Insel war mit ihren etwa fünfundsiebzig Quadratkilometern eher klein und lag in der Kvarner Bucht, wie auch Krk oder Cres, die Sandra zumindest vom Namen her kannte. Die Villa, in die Dani sie eingeladen hatte, lag in der Čikat-Bucht, in der Nähe von Veli und Mali Lošinj. Laut Internet lag Veli Lošinj, das »große Lošinj«, malerisch am Fuße eines Berges, in einer engen Bucht auf der südöstlichen Seite der Insel. Der Hauptort der Insel hieß heute Mali Lošinj, was früher das »kleine Lošinj« gewesen war. Lošinj galt als sehr pflanzen- und insbesondere blumenreich und gehörte zu den sonnigsten Plätzen Europas, was Sandra ihrer Tochter gegenüber anzupreisen suchte.
Doch Alex zeigte sich wenig beeindruckt. »Sonne macht eh nur Hautkrebs«, murmelte sie.
»Sonne ist etwas Wunderbares.«
»Wenn du meinst.« In Alex’ Stimme schwang eine Mischung aus Genervtheit und Langeweile mit. »Ich fahre bestimmt nicht mit.«
Sandra bemerkte, dass sie vor Anspannung ihr linkes Handgelenk mit der rechten Hand umklammert hielt. Sie ließ los und wandte sich der Anrichte zu, um die letzten Reste des Mittagsgeschirrs in die Spülmaschine zu räumen. Jetzt, von einem Moment auf den anderen, hatte sie Alex’ Verhalten mal wieder richtig satt. »Tja, das tut es mir echt leid, aber ich bin deine Mutter, und du bist minderjährig und damit zu jung, um alleine zu bleiben«, sagte sie so ruhig wie möglich.
»Oh Mann.« Alex rollte mit den Augen. Das konnte sie wirklich gut. Sandra bückte sich und machte die Spülmaschine zu, um nicht doch noch die Beherrschung zu verlieren, aber es gelang ihr nicht ganz: »Du kannst natürlich gerne zu deinem Vater und seiner Neuen«, stieß sie hervor.
»Das war ja klar.« Alex schob die Unterlippe vor und stemmte die Hände in die Seiten. »Was anderes fällt dir nicht ein, als mich zu Papa abschieben, was?«
Das Gespräch lief jetzt eindeutig aus dem Ruder. Sandra konnte förmlich dabei zusehen und hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun sollte. Es war, als würde sie in einer Seifenkiste den Berg herunterrasen und feststellen, dass es keine Bremsen gab. Sie richtete sich auf und schaute ihre Tochter an. »Du hast die Wahl: Papa oder Gammelfleisch. Mindestens drei herrliche Wochen lang, schon ab der kommenden Woche. Aber beeil dich, ich will spätestens morgen die Flüge buchen.«
Alex’ Hände rutschten für einen Moment aus ihrer Taille, bevor sie sie fest vor dem Körper verschränkte. Sie schob die Unterlippe wieder vor und zog die Augenbrauen zusammen.
»Also?«
»Also?«, äffte Alex sie nach. Sandra hasste es, nachgeäfft zu werden. Sie starrte ihre Tochter wortlos an, dabei fiel ihr auf, dass sie sich schon wieder die Haare gefärbt hatte – ein Rotton –, natürlich ohne zu fragen. Ihre Wut verstärkte sich. Sie drehte sich kurz um, zupfte an ihrem linken Ärmel, tat dann so, als müsse sie einen Flecken von der Schranktür entfernen, und studierte die Zettel an der Kühlschranktür, entfernte einige abgelaufene Termine und warf eine Handvoll Zettel in den Papiermüll.
»Wann hast du dir eigentlich die Haare gefärbt?«, fragte sie dann doch über die Schulter.
»Geht’s dich was an?«
»Schon«, Sandra drehte sich um, »ich bin nämlich deine Mutter und für dich verantwortlich. Ich möchte gerne, dass du mich bei so etwas fragst.«
»Bin ich jetzt ein Baby?« Alex stieß Luft aus. »Soll ich jetzt alles so machen, wie du es willst, oder was?«
»Wenn du das sagst.« Mit dem Kopf nickte Sandra in Richtung des Telefons. »Aber wenn du dich für Papa entscheidest, ruf ihn vorher an. Dein Vater weiß sicher gerne frühzeitig Bescheid.«
»Weißt du was, genau das mache ich jetzt.« Alex schnappte sich das Telefon vom Küchentisch. »Dann bist du mich los, das wolltest du doch eh.« Die Tür schlug krachend hinter ihr zu. Sandra blieb für einen Moment reglos stehen, dann atmete sie langsam aus.
Fred rief abends an. Erfreut war er natürlich nicht. »Mimi und ich haben ein paar Wellness-Tage geplant. Die letzten Wochen vor den Sommerferien waren anstrengend, das weißt du.«
»Ja, das weiß ich. Das geht uns allen so. Tut mir echt leid, wenn dir da jetzt deine Tochter dazwischenkommt. Was denkst du eigentlich, was ich gemacht habe? Noten gewürfelt, Konferenzen geschwänzt und ansonsten ausgeruht?« Sandra hatte nicht so ätzend klingen wollen, aber es gelang ihr irgendwie nicht. Souverän war anders, aber es war, als ob Fred irgendetwas in ihr triggerte. Sie war oft einfach wütend, egal, was er sagte. Manchmal war es wirklich schwer, sich vorzustellen, dass sie einmal ein Paar gewesen waren, dass sie beide an Alex’ Bettchen gestanden und auf ihr süßes Baby herabgeschaut hatte, überwältigt von Glücksgefühlen und voller Pläne für eine gemeinsame Zukunft.
Scheiße … Jetzt wurde sie auch noch sentimental. Daran war bestimmt auch Danis Brief schuld.
»Was hast du unserer Tochter denn gesagt? Sie wirkte hinterher nämlich ziemlich zufrieden«, versuchte sie die Wogen zu glätten.
Sie hörte Fred atmen. »Ich hab ihr gesagt, dass sie jederzeit willkommen ist.«
»Aber richtig passt dir das nicht, was? Sei doch einmal im Leben ehrlich!«
»Verdammt, Sandra. Ja, es passt mir nicht. Kommen kann sie natürlich trotzdem, sie braucht ja keine vierundzwanzig Stunden Betreuung.«
»Na ja, sie ist fünfzehn. Du hast schon die Verantwortung.«
»Willst du mir jetzt erzählen, wie ich mit ihr umzugehen habe? Du hast schon immer zu viel für sie gemacht, und das ist auch heute noch so.«
»Wenn du meinst.«
Irgendetwas klapperte im Hintergrund, jemand sagte etwas – Mimi –, aber Sandra konnte nicht verstehen, was.
»Lass das jedenfalls mal meine Sache sein«, sagte Fred dann. »Ich fand immer, dass du ihr zu sehr auf der Pelle hockst. So wird sie nie selbstständig.«
»Sie ist selbstständig genug.«
»Findest du?«
Sandra schluckte eine weitere patzige Antwort herunter. Sie stellte sich ans Fenster und schaute nach draußen. Es war noch hell, aber der Stimmung nach eindeutig Abend.
»Na ja«, hörte sie Fred dann langsam sagen, »dann kommt sie also zu uns, muss ich wohl mit klarkommen.«
»Ja, das musst du«, sagte Sandra. »Zum einen, weil du es ihr ja schon zugesagt hast, zum anderen, weil ich keine unbefleckte Empfängnis hatte.«
»Kannst du ein Mal sachlich bleiben?«, fragte Fred aufreizend ruhig.
Aus dem Hintergrund erklang wieder Mimis Stimme, diesmal klar verständlich mit der Frage, mit wem er denn da so lange telefoniere. Dem folgte undeutliches Gemurmel, offenbar hielt Fred die Sprechmuschel zu. Als seine Stimme wieder laut zu hören war, zuckte Sandra zusammen.
»Du, ich muss jetzt gehen«, sagte Fred. »Wir wollten heute Abend noch weg. Wir haben Theaterkarten.«
»Viel Spaß.«
Sandras Tonfall klang unecht, und sie kam sich kindisch vor. Ändern konnte sie ihn nicht mehr. Sie würde jetzt ihre Flüge buchen und dann Daniela Bescheid geben, dann kam sie vielleicht auf weniger doofe Gedanken.
Als es angefangen hatte, war Maike manchmal mitten in der Nacht schweißgebadet aufgewacht, überzeugt davon, ihre Schicht verschlafen zu haben. Oder eine Diagnose falsch gestellt, Operationsbesteck im Körper vergessen oder eine falsche Medikation veranlasst zu haben. Eigentlich hatte sie sich immer schnell beruhigt – anfangs hatte es nicht mehr als ein paar Minuten gedauert, schließlich konnte sie logisch denken –, anschließend aber hatte sie dann doch immer einige Stunden wachgelegen, unfähig, zurück in den Schlaf zu finden. Natürlich war sie morgens, wenn der Wecker klingelte, dann immer völlig zerschlagen gewesen. Manchmal hatte sie zu weinen begonnen, sogar die ganze Fahrt bis ins Krankenhaus, um vor Ort dann wieder zu funktionieren, wie man es von ihr erwartete. Manchmal hatten Kollegen zu ihr gesagt: »Du siehst müde aus«, aber sie waren ja alle müde bei dem Job und den Bedingungen. Fünfzig-, teilweise Siebzig-Stunden-Wochen in Vollzeit waren die Normalität, und jeder Patient, dem sie sich nicht zuwenden konnte, so wie sie das eigentlich wollte, hinterließ eine Art Loch in ihr. Nach ihrem Zusammenbruch im Ärztezimmer war sie krankgeschrieben worden. Zuerst für ein halbes Jahr, aber auch jetzt schlief sie noch schlecht.
Allerdings weinte sie nicht mehr, wenn sie aufstand, oder dachte daran, einfach liegen zu bleiben. Nie wieder aufstehen.
Mittlerweile duschte sie morgens, bereitete das Frühstück vor, überprüfte die Brotdosen der Zwillinge, gab manchmal einen der kleinen Joghurts hinzu, die Gregor verachtete, weil viel zu viel Zucker drin war. Manchmal wachten die Zwillinge von selbst auf, manchmal musste sie sie wecken.
Um 8:30 Uhr brachte Maike sie zu Fuß in den Kindergarten. Auf dem Heimweg machte sie ein paar Erledigungen. Sie war immer gut organisiert gewesen, und auch jetzt achtete sie darauf, ihren Tag durchzustrukturieren, um nicht wieder in ein Loch zu fallen. Nachmittags gingen sie auf den Spielplatz, dann gab es einen Obstteller. Zum Abendbrot mit Vollkornbrot, vegetarischem Aufstrich und Rohkost kam Gregor meist nach Hause. Die Zwillinge wurden gebadet. Er las ihnen vor.
»Mama?« Das war Bo, der ältere der Zwillinge.
»Ja?«
Er hielt ihr zwei Legosteine hin. »Machst du zusammen?«
Sie zeigte es ihm, aber er wollte nicht zugucken. Er wollte nur, dass es zusammen war. Sein Bruder Fynn beobachtete sie, kam dann heran und legte einen Kopf auf Maikes Knie. Maike streichelte über sein Haar.
Manchmal dachte sie noch an die Zeit, in der ihr sogar das zu viel gewesen war. Damals war ihr alles schwergefallen, sogar, die Einkäufe wegzuräumen, auch das hatte sich gebessert. Einmal in der Woche ging sie noch zur Therapie. Sie wusste, dass sie immer noch schlecht aussah, kränklich irgendwie.
Gregor konnte das nicht verstehen. »Was ist denn los? Du arbeitest nicht, du passt nur auf die Zwillinge auf.«
Maike wusste keine Antwort darauf, als dass sich die Erinnerung an ihr altes Leben in ihr eingeprägt hatte und dass es schwer war, davon loszukommen. Lustig, sie war erst vierundvierzig Jahre alt und dachte schon an ihr altes Leben …
An diesem Abend, als die Kinder im Bett waren, redeten sie wieder über die Reise. Gregor fand sie zu gefährlich. Die Zwillinge seien erst zweieinhalb, ihr Immunsystem noch zart. »Übrigens«, setzte er jetzt an, »hast du den Badeschrank mit den Putzutensilien wieder mal offen gelassen.«
»Tut mir leid.«
»Mehr hast du nicht zu sagen? Irgendwann trinkt einer der Jungs Chlorreiniger, und dann?«
»Wir haben gar keinen Chlorreiniger«, entgegnete Maike hilflos.
Gregor schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Es geht darum, dass man manche Fehler nur einmal machen kann. Das müsstest du doch wissen, du bist Ärztin.«
Sie schwieg. Nachts im Bett lagen sie Rücken an Rücken. Maike starrte in die Dunkelheit.
Sandra parkte den Wagen bei der Drehbrücke von Osor. Der Ort lag noch auf Cres, und von hier war es laut Navi mit dem Mietwagen etwa noch eine halbe Stunde bis Mali Lošinj, und von dort aus nicht mehr weit zur Villa. Der Tag war herrlich und sonnig, und auch deshalb hatte sie nach dem frühen Flug und der längeren Autofahrt entschieden, dem Städtchen einen kurzen Besuch abzustatten. Möglicherweise lag das allerdings auch daran, dass sie sich zunehmend Gedanken um das Wiedersehen machte. Sie war jetzt froh, dass Nicolai sich entschieden hatte, nicht gleich mit ihr zu fliegen, sondern erst zwei Tage später anzureisen. Von Dani wusste sie, dass tatsächlich alle zugesagt hatten, der Kurzfristigkeit zum Trotz, und der Gedanke machte Sandra zunehmend unruhig. Was hatte sie dazu gebracht zu denken, dass es eine gute Idee sein könnte, die anderen nach so vielen Jahren wiederzusehen? Was hatte sie denn vorzuweisen?
Sandra stieg aus und machte sich daran, den kleinen Ort mit dem hübschen historischen Kern zu erkunden. Manche Häuser waren verputzt und gestrichen, bei manchen zeigten sich die rohen Steinmauern. Sandra gefielen vor allem die blauen Fensterläden, die sie auch schon von anderen Urlauben im Mittelmeerraum kannte. Glatte, bucklige Pflastersteine gaben den Gassen einen besonderen Charme, und überall wuchsen zahlreiche Pflanzen, Blumen und blühende Büsche. Hier und da zeigten sich noch die Überreste der einst vermutlich beeindruckenden Stadtmauer. Besonders auffällig aber waren die Statuen und Büsten, auf die sie an den verschiedensten und teilweise auch ganz unerwarteten Stellen traf. Die meisten davon, stellte Sandra bald fest, waren dem Thema Musik gewidmet.
Am Hauptplatz fand sie schließlich die wichtigsten Bauwerke vergangener Zeiten: den Bischofspalast, die Zisterne, den ehemaligen städtischen Ratssaal mit einer Loggia, der heute ein Museum beherbergte, und natürlich die Kathedrale Sveta Marija mit ihrem auffälligen, freistehenden Turm.
Da sie Hunger verspürte, entschied Sandra, einige Schritte weiter in einer Pizzeria einzukehren. Sie nahm an einem der Tische draußen Platz, bestellte und genoss den Schatten unter den Bäumen. Die einsame Fahrt war durchaus anstrengend gewesen, die Mittagssonne hatte ihr Übriges getan, und es tat gut, sich ein wenig auszuruhen. Bald war es so weit, bald würde sie die anderen wiedersehen. Was dann?
Etwas über eine Stunde später reihte Sandra sich in die Autoschlange vor der stählernen Drehbrücke ein, die nach Lošinj hinüberführte. Ein schmaler Kanal trennte hier die beiden eng beieinanderliegenden Inseln Cres und Lošinj voneinander. Bald würde die Brücke von Hand geöffnet werden, um den wartenden Booten die Abkürzung von der einen zur anderen Seite der beiden Inseln zu ermöglichen.
Sandra blickte sich um, während sie wartete. Die mediterrane, hügelige Landschaft mit ihrem typischen Baumbewuchs, die gelben Blüten des Ginsters, die dunkelgrünen Wacholderbüsche mit ihren stacheligen Blättern und das teils harte, graugrüne Gras, an dem sie auf der Fahrt sogar hier und da Ziegen oder Schafe hatte rupfen sehen, die Pflanzen am Seitenstreifen – Rosmarinbüsche, wilder Lorbeer, Ginster und Salbei – all das brachte eine Saite in ihr zum Klingen. Langsam ließ sie ihren Blick über die Gebäude im typisch kroatischen Stil und über das Meer gleiten, auf dem die Sonne geradezu verschwenderisch glitzerte – und verspürte mit einem Mal das Gefühl von Urlaub. Mit jeder Minute, die verstrich, fühlte sie sich entspannter. Dabei war es keineswegs so, dass Cres und wahrscheinlich auch Lošinj sich nur von ihrer lieblichen Seite zeigten, mit weichen Wiesen, Blumen und weißen Sandstränden, nein, hier, auf diesen Inseln, war die Erde oft steinig, und die Farben waren weniger strahlend: ein graues Oliv, ein rötliches Braun, ein helles Grau. Aber Sandra gefiel diese Wildheit und Ursprünglichkeit, die sich selbst hier an der Brücke noch zeigte, wo sich Häuser, Menschen, Autos und ein Campingplatz voller Caravans befanden.
Es war immer noch recht warm. Sandra ließ kurzentschlossen die Scheibe herunterfahren und atmete tief ein. Es roch nach einem Gemisch aus Rosmarin, Autoabgasen, Salz, Pinien und Zigarettenqualm. Irgendwo dudelte Balkan-Pop. Auch das war Urlaub, eine Geruchs- und Geräuschkulisse, die sie zu Hause nicht hatte.
Als endlich alle wartenden Boote den Kanal passiert hatten, wurde die Brücke wieder geschlossen, und kurz darauf fuhren die ersten Autos hinüber.
Bei aller Kargheit grüßte Lošinj Sandra mit viel Grün und den sommerlichen Überresten jener wunderbaren Blütenpracht, von der sie gelesen hatte. Sandra lenkte ihr Auto kurzerhand zur Seite, stieg aus und streckte sich. Das tut gut, dachte sie, und im nächsten Moment: Ich bin da.
Ein paar Grashüpfer sprangen davon. Zwischen groben Steinen wuchsen winzige blaue Blumen hervor. Ich bin da!
Kurz darauf fuhr sie am Meer entlang auf der D100 in Richtung Süden.
Sie fand eine Tankstelle und tankte nach. Bei Nerezine entfernte sich die Straße etwas von der Küste, um hinter Sveti Jakov wieder zum Meer zurückzukehren. Weiter und weiter ging es auf der zumeist geraden Strecke nach Süden, bis zu der Landmasse, auf der sich Mali und Veli Lošinj befanden, und die sich wie ein riesiger Finger in die blaue Adria hineinschob.
Sandra überquerte einen weiteren schmalen Kanal und erreichte Mali Lošinj. Sie müsse sich dort rechts halten, hatte Daniela gesagt, in Richtung des Waldgebietes Čikat, in dem die Villa lag. Tatsächlich wurde die Gegend bald waldreicher. Sandra fuhr an einer Kirche vorbei – dass musste die Kavalrija sein –, von der Dani berichtet hatte. Ein gutes Stück weiter kam ein Campingplatz, und dann war das Schild plötzlich da, wie aus heiterem Himmel: Nada – »Hoffnung« auf Kroatisch.
Sandra war so überrascht, dass sie auf die Bremse trat. Die Autoreifen knirschten auf dem Schotter, das Auto rutschte ein Stück und blieb dann stehen. Sandra verharrte einen Moment reglos und betrachtete den Weg, der vor ihr zwischen zwei Kalksteinblöcken und dann unter hohen Pinien hindurch von der Straße wegführte, dann setzte sie den Blinker und bog ab. Die Reifen knirschten erneut, Staub wirbelte auf, doch zwischen den Bäumen dämpften Piniennadeln die Geräusche. Nach etwa einer Minute zeichnete sich zwischen den Bäumen zunehmend ein dreistöckiges, hellgelbes Villengebäude ab, das, so erkannte Sandra, als sie den Wald hinter sich ließ, rechts und links jeweils von einer Rasenfläche mit Blumenrabatten gesäumt war. Ein schlanker, alter Herr mit schlohweißem Haar, blauer Arbeitshose mit weißem Hemd, rechte mit sorgsamen Bewegungen Blätter zusammen, hielt auf das Autogeräusch aber inne und verfolgte Sandras Ankunft mit neugierigem Blick.
Als Sandra das Auto erneut zum Stehen brachte und schließlich den Motor ausschaltete, flog auch schon die Tür der Villa auf, und eine elegante, dunkelblau gekleidete Frau in hochhackigen roten Schuhen eilte die Stufen herunter.
Sandra stieg aus dem Wagen. »Dani?«
»Sandra?«