Intelligente Emotionalität - Margit Koemeda-Lutz - E-Book

Intelligente Emotionalität E-Book

Margit Koemeda-Lutz

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Beschreibung

Emotionen gelten in der Öffentlichkeit zumeist als störend. Unsere Erziehung arbeitet auf emotionale Beherrschung hin. Trotz wissenschaftlicher Forschritte auf dem Gebiet der Emotionsforschung wird selten anderswo als in der Psychotherapie und im privaten Bereich der Familie der Umgang mit Gefühlen geschult. Ein Unterrichtsfach "Intelligente Emotionalität> gibt es bisher nicht. Die Autorin legt ein umfassendes Werk zum Thema Emotionen vor. Sie bezieht sich auf aktuelle neurobiologische und psychologische Erkenntnisse und gibt praktische Anleitungen zu einem lebendigen und achtsamen Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen.

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Emotionen gelten in der Öffentlichkeit zumeist als störend. Unsere Erziehung arbeitet auf emotionale Beherrschung hin. Trotz wissenschaftlicher Forschritte auf dem Gebiet der Emotionsforschung wird selten anderswo als in der Psychotherapie und im privaten Bereich der Familie der Umgang mit Gefühlen geschult. Ein Unterrichtsfach 'Intelligente Emotionalität> gibt es bisher nicht. Die Autorin legt ein umfassendes Werk zum Thema Emotionen vor. Sie bezieht sich auf aktuelle neurobiologische und psychologische Erkenntnisse und gibt praktische Anleitungen zu einem lebendigen und achtsamen Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen.

Dipl. Psych. Dr. Margit Koemeda-Lutz ist Körperpsychotherapeutin in freier Praxis, Fakultätsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft (SGBAT) und des International Institute (IIBA) for Bioenergetic Analysis.

Margit Koemeda-Lutz

Intelligente Emotionalität

Vom Umgang mit unseren Gefühlen

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrofilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © 2009 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlagabbildung: © Theresa Lucero – ww.decularts.com Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-020839-1

E-Book-Formate

pdf:

epub:

978-3-17-028140-0

mobi:

978-3-17-028141-7

Inhalt

Einführung

I Grundlagen

1 Was sind Emotionen?

1.1 Offene Fragen und einige Antworten

1.2 Emotionen als Teilkomponenten anderer Prozesse

2 Normen und Leitbilder

2.1 Von der relativen Freiheit des Menschen

2.2 Unterschiede und Invarianzen über verschiedene Kulturen hinweg

3 Wie entstehen Emotionen?

3.1 Was geschieht im Gehirn?

3.2 Was geschieht im Körper?

4 Zur emotionalen Entwicklung

4.1 Anlagen

4.2 Umwelt

4.3 Entwicklungsverläufe

4.4 Kulturelle Unterschiede

5 Wie können wir unsere eigenen und die Gefühle anderer beeinflussen?

5.1 Erlösung aus der Verhaltenshemmung – Maria

5.2 Verachtung, Überheblichkeit und die Angst, verletzt zu werden – Christof

5.3 Mögliche Beweggründe für selbstverletzendes Verhalten – Kerstin

5.4 Formen der intra- und interindividuellen Gefühlsregulation

II Anwendungen

6 Vom Umgang mit Trauer – Hilfe, ich sehe nur noch schwarz

6.1 Trauerreaktionen

6.2 Wenn die Seele nur mehr schwarz sieht: Depression

7 Umgang mit Ärger, Wut und Zorn

7.1 Wie ansteckend sind Gefühle?

7.2 Ärger als wichtige Fährte zu einer verdrängten Erinnerung – Thomas

7.3 Wie frühere Erfahrungen unser gegenwärtiges Erleben und Verhalten bestimmen – Variationen

7.4 Mitgefühl und tröstende Berührung statt Selbstverletzung – Kerstin

7.5 Arbeit am Ärgerausdruck

8 Das Paradoxon der Angst

8.1 Zur Neurobiologie von Furchtreaktionen

8.2 Gefühlskultur – konkret

9 Lust und Liebe

9.1 Zur Neurobiologie von Lust und Liebe

9.2 Beispiele

9.3 Übungen

10 Was Gefühle zur Gesundheit beitragen – und wann sie krank machen

10.1 Am Beispiel von Herz- und Kreislauferkrankungen

10.2 Schmerzstörungen

10.3 Krebserkrankungen

Schlussbetrachtungen und Ausblick

Literatur

Stichwortverzeichnis

Anhang

Checkliste für emotionale Gesundheit

Adressen

Angaben zur Autorin

Dank

Viele inspirierende Gespräche im Vorfeld und während der Entstehung dieses Buchprojektes verdanke ich Eveline Herzer, Ermatingen und Kilchberg. Kritische Anmerkungen zu einzelnen Kapiteln oder früheren Fassungen des Manuskripts gaben mir mein Mann Jens Koemeda, meine Eltern Herta und Karlheinz Lutz, Felix Müller, Chefarzt für Neurologie der Spital Münsterlingen AG, sowie meine Kollegen, Vita Heinrich und Hugo Steinmann, Bioenergetische Analytiker in Osnabrück und Stans. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Die Zusammenarbeit mit meiner Verlagslektorin, Frau Nicole Köhler, war mir eine große Freude. Auch ihr gilt mein aufrichtiger Dank.

Nicht zuletzt möchte ich noch erwähnen, dass ohne meine Patienten, die mich an ihrer Suche nach Heilung und ohne meine Supervisandinnen, die mich an der Schulung ihrer therapeutischen Fertigkeiten teilhaben ließen, dieses Buch nie geschrieben worden wäre. Ich hoffe, dass die Essenz der mir anvertrauten Geschichten und Probleme trotz aller notwendigen Verfremdungen, die ich zum Zweck der Anonymisierung vorgenommen habe, erhalten geblieben ist.

Einführung

Unser tägliches Leben – Denken, Sprechen und Tun – wird ständig von Gefühlen begleitet. Nur ausnahmsweise wird es von ihnen dominiert. Wenn ich manchmal spaßeshalber Leute frage: „Haben Sie heute schon eine Emotion gehabt?“, dann ernte ich häufig ein Lächeln; anschließend ein Schulterzucken. Und unter Umständen sagen sie, vielleicht ein bisschen verlegen, wie mir scheint: „Nein. Eigentlich nicht“. Sie bemerken nicht, dass dem Lächeln und der kleinen Pause, bevor sie antworteten, eine, wenn auch minimale, Gefühlsregung zugrunde lag.

Während wir uns beim Erwachen in Erinnerung rufen, wer wir sind, wo wir uns befinden, welche Jahreszeit wir gerade haben, welches Wetter ist, was wir gestern getan haben und was heute auf dem Tagesprogramm steht, gesellt sich zu diesem sich allmählich zusammensetzenden Gesamtbild zumeist eine Stimmung, eine Vorfreude, eine ängstliche Gespanntheit, ein Gefühl der Belastung, eine angenehme Aufregung, ein Widerwille oder Neugier.

Vielleicht hat man etwas geträumt, woraus man mit einem Gefühl der Lust, einer Bedrückung oder einer unerklärlichen Unruhe erwacht. Und je nachdem, ob man in Eile ist oder Zeit hat, wird man körperlich dem jeweiligen Gefühl entsprechend gespannt, wohlig, zögerlich oder schwungvoll aus dem Bett steigen, oder, nur von der Eile getrieben, rasch aufstehen, sich duschen und anziehen. Man könnte sagen, dass diese Stimmungen den Tonarten in der Musik entsprechen. Sie prägen jeweils für eine gewisse Zeitspanne unser ganzes Denken und Tun.

Angenommen, man erwacht mit einem Gefühl der Bedrückung, weil eine Aufgabe ansteht, die man schon seit einigen Tagen vor sich herschiebt, und bei der nicht klar ist, ob man sie bewältigen wird oder nicht. Dann fallen einem beim Frühstück mit hoher Wahrscheinlichkeit Dinge ein, die auch nicht so rund laufen. Das Gespräch mit dem Partner oder den Kindern mag einen gereizten Unterton haben. Man wird das Wetter draußen als zu warm oder zu kalt, zu windig oder zu ruhig und schwül, jedenfalls als unangenehm empfinden und körperlich vermutlich Spannungen wahrnehmen, im Bauch, im Nacken, vielleicht sogar einen leichten Schmerz hier oder dort.

Ganz anders, wenn man aus einem Traum erwacht, in dem man fliegen konnte, zauberhafte Landschaften zu sehen bekam und am Ende eine geliebte Person umarmen durfte. Dann wird man alle notwendigen Dinge schwungvoll erledigen, wird mit einem Gefühl der Zufriedenheit und Selbstsicherheit Nachbarn und Kolleginnen grüßen und wohlgemut sein Tagewerk in Angriff nehmen.

Es stellt sich vielleicht die Frage: Woher kommt so ein Traum? Habe ich am Abend vorher etwas besonders Raffiniertes gegessen oder getrunken? Und wie kann etwas derart Flüchtiges wie ein Traum die Stimmung eines ganzen Tages prägen? Oder, wie bereits erwähnt, eine anstehende schwierige Aufgabe oder ein Mitmensch verderben mir die Laune. Eine erfreuliche Begebenheit ermutigt mich. Es scheinen innere und äußere Auslöser zu sein – ein Traum, Erinnerungen, Gedanken, schwer oder leicht verdauliche Speisen, eine Begegnung, ein Erlebnis – die Stimmungen prägen und Gefühle auslösen.

Nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens regen solche inneren und äußeren Reize ganz bestimmte Strukturen im Gehirn (sie sollen später in diesem Buch vorgestellt und beschrieben werden: s. Kap. 3.1) zu verstärkter Aktivität an, welche in engem Zusammenhang mit dem Erleben von emotionalen Bewegungen stehen. Unter bestimmten Bedingungen breitet sich die Aktivität von hier aus auf weitere Gehirnareale aus. Und es werden verschiedene Botensysteme in Gang gesetzt, die ihrerseits in mehreren Körperorganen Veränderungen bewirken, wenn sich Emotionen voll entfalten. Wir können äußerlich typische Veränderungen in der Körperhaltung, der Gestik und Mimik beobachten. Auch die Stimme kann sich verändern – Tonlage und Sprechtempo. Jemand bekommt einen roten Kopf oder wird plötzlich blass. Und innerlich spüren wir vielleicht, wie unser Herz schneller schlägt, wie uns heiß wird, wir einen trockenen Mund oder plötzlich kalte Füße bekommen. Diese – häufig nicht willentlich beeinflussbaren – Veränderungen spielen eine wichtige Rolle in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Wenn wir darauf achten und diese Veränderungen zu deuten wissen, sind sie auch für unser Selbstverständnis wichtige Signale. Sie beeinflussen, was wir als nächstes tun werden, häufig um ein Vielfaches rascher, als wenn wir auf der Grundlage von vernünftigen Überlegungen entscheiden müssten, ob wir uns einer Auseinandersetzung stellen oder uns zurückziehen.

Gefühle geben unserem Erleben, Handeln und Kommunizieren „Farbe“. Sie können angenehm oder unangenehm sein. Manchmal haben sie zerstörerische oder auch krankmachende Wirkungen. Ob ihre Wirkungen zuträglich oder schädlich sind, hängt zum einen von ihrer Qualität ab: Hass, Neid, Eifersucht, Angst, Wut oder Ekel machen uns, wenn wir sie über längere Zeit hinweg leugnen, nicht als zu uns gehörig anerkennen und nicht zum Ausdruck bringen, krank. Liebe, Freude, Zuversicht und Neugier stärken, wenn wir ihnen Raum geben, unsere Vitalität und Gesundheit. Zum anderen spielen selbst bei diesen sogenannten positiven Gefühlen deren Intensität und Dauer eine Rolle: Liebesgefühle, die zu intensiv und vielleicht nur einseitig sind, können einen Menschen „verzehren“. Wer dauerhaft von Neugier getrieben wird und nie zur Ruhe kommt, wird ebenfalls mit der Zeit Schaden nehmen. Milder Stress vermag anregend und lernförderlich zu wirken, traumatischer Dauerstress kann schwere Depressionen auslösen und zum Absterben von ganzen Nervenzellverbänden führen. Richtig dosierte und gezielt kommunizierte Wut ist imstande, entscheidende Veränderungen einzuleiten; unkontrollierte Wutausbrüche können zu sinnloser Zerstörung, zu Gewalt, in die Verzweiflung, ins Gefängnis oder in die Psychiatrie führen. Ein Ziel menschlicher Entwicklung und Reifung ist es daher, einerseits die eigenen Gefühle zu regulieren, zu dosieren und in geeigneter Form zu kommunizieren zu lernen und andererseits zu lernen, Gefühle von anderen wahrzunehmen, zu deuten und in geeigneter Form darauf zu reagieren.

Was „geeignete Formen“ sind, wird im Folgenden noch zu diskutieren sein. Einzelne wie auch Menschengruppierungen können sich (kollektiv) in Gefühle hineinsteigern oder (gegenseitig) beruhigen. Obwohl Gefühlen häufig Qualitäten von Naturgewalt und Urwüchsigkeit zugeschrieben werden, soll im Folgenden gezeigt werden, dass es lohnende Mittelwege zwischen vollkommener Unterdrückung und unbeherrschtem Ausagieren gibt. Diese zählen zu den Erscheinungsformen intelligenter Emotionalität. Unter „intelligenter Emotionalität“ verstehe ich ein harmonisches Zusammenspiel von Denken, Fühlen und Handeln, das es erlaubt, im Einklang mit der jeweiligen Umwelt Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, und persönliche oder übergeordnete Ziele zu verfolgen. Im Erleben und Verhalten steht das gesamte Spektrum der Emotionen zur Verfügung. Angst, Wut, Neid, rasende Begierde oder Verachtung können erlebt, toleriert, wahrgenommen, verarbeitet und in geeigneter Form bzw. in einer ausgewogenen Mischung aus Impulskontrolle und Expressivität kommuniziert werden. Voraussetzung für eine solchermaßen verstandene intelligente Emotionalität ist eine differenzierte Selbst- und eine genaue Wahrnehmung anderer.

In der Geschichte der abendländischen Philosophie wurden Emotionen überwiegend den niederen Trieben zugeordnet, die es zu überwinden oder zumindest zu beherrschen galt. In selteneren Fällen, z. B. in der Romantik, schrieb man den Gefühlen als Teil einer ungezähmten Natur Aspekte der Verheißung und einen beinahe utopischen Wert zu. Neu in der Moderne und Postmoderne ist die technische und chemische Beeinflussbarkeit unserer Emotionen, die auch vollkommen neue Fragen, z. B. die nach der Wünschbarkeit aufwirft.

Den Umgang mit Gefühlen lernen wir Menschen während des Heranwachsens vorwiegend im familiären Umfeld, später auch im Freundeskreis und mit anderen wichtigen Bezugsgruppen. Häufig geschehen diese Lernvorgänge unbewusst: z. B. „ein gebranntes Kind scheut das Feuer“ – ohne dass es darüber nachdenken oder entsprechende Entscheidungen treffen müsste. Die Erfahrung des Sich-Verbrennens war so schmerzhaft, dass die betreffende Person in Zukunft einen weiten Bogen um mögliche Quellen solcher Erfahrungen machen wird. Wichtige emotionale Lernvorgänge finden übrigens in einer Zeit statt (bereits intrauterin und in den ersten Lebensmonaten), in der die Gehirnstrukturen, die für ein explizites, bewusstes Lernen zuständig sind, noch nicht reif genug sind, um zu funktionieren. Diese frühen Lernerfahrungen prägen die Persönlichkeit.

Emotionales Lernen findet auch weiterhin ein Leben lang statt, ohne dass der einzelne Mensch hierin eine besondere gesellschaftliche Unterstützung erfährt. Es gibt zum Beispiel bisher kein Unterrichtsfach zur Schulung einer „Emotionalen Intelligenz“ oder „Intelligenten Emotionalität“.

In unserer Kultur heißt Erwachsenwerden, die emotionalen Stürme der Kindheit und Pubertät hinter sich zu lassen, ruhig und vernünftig zu werden, sich den Aufgaben des Lebens zu stellen – ohne große Gefühlsschwankungen, d. h. seine Emotionen zu kontrollieren. Dieser „Ideal-Norm“ entsprechen Angehörige der bildungsbürgerlichen Schicht vermutlich stärker als Menschen aus unteren Einkommens- und Bildungsschichten.

Mit der Gründung einer Familie, dem Einstieg in ein Berufsleben, manchmal auch mit dem Erwerb von Grundeigentum, Bausorgen und finanziellen Belastungen findet eine deutliche Abkühlung des Gefühlslebens statt. Junge Menschen versuchen noch eine Weile lang, ihr Leben „in vollen Zügen zu genießen“, sich zu berauschen und tanzend auf Partys zu vergnügen, sich an Sportveranstaltungen heiser zu schreien und politisch zu ereifern. In diesen Kontexten erleben sie heftige Gefühle.

In vielen Fällen nimmt dieser Elan aber mit wachsenden Verpflichtungen und Arbeitsbelastungen drastisch ab. Was an emotionalen Bewegungen übrig bleibt, ist der gelegentliche oder häufige Ärger über die Partnerin, ausgelöst durch die kleineren oder größeren alltäglichen Unverträglichkeiten, Reibereien mit Kollegen oder der Chefin; Kinder können ihre Eltern vorübergehend auf die Palme bringen; manchmal lachen wir über etwas; ein Fernsehfilm treibt uns vielleicht kurzfristig Tränen der Rührung oder des Mitgefühls in die Augen; immer wieder macht uns etwas neugierig, eine nicht zu Ende erzählte Geschichte, die wir aufgeschnappt haben, eine innere oder äußere Reise, die wir unternehmen könnten. Meistens ruft uns aber schnell die Dringlichkeit der anstehenden Sachgeschäfte wieder zurück. Wir haben keine Zeit mehr, uns unseren Gefühlen hinzugeben bzw. uns von ihnen leiten zu lassen.

Gleichwohl hat auch diese ständige Gefühlsunterdrückung und -drosselung emotionale Folgen. Sie wird zu inneren Spannungen führen und uns langfristig ein trauriges Gefühl geben, dass wir nämlich einen wesentlichen Teil unserer Lebendigkeit verfehlen, dass wir vorzeitig absterben, ohne die Fülle unseres Lebens richtig ausgekostet zu haben.

Im Folgenden möchte ich dafür plädieren, dass wir uns die Fähigkeit erhalten sollten, uns von unseren Emotionen bewegen zu lassen. Zwar ist es nützlich, wenn wir diesen Bewegungen nicht hilflos ausgeliefert sind, wenn wir in der Lage sind, unsere Gefühle zu zügeln, uns nichts anmerken zu lassen und uns zu beruhigen.

Gleichzeitig sollten wir aber auch die Bereitschaft behalten, uns unseren Gefühlen von Zeit zu Zeit in ihrer ganzen Fülle hinzugeben: die Knie schlottern, die Kiefer vibrieren, unser Herz rasen zu lassen, wenn wir Angst haben und präsent zu bleiben – unsere Lebensfreiheit nicht einzuschränken, um jegliches Angsterleben zu vermeiden oder in Ohnmachtszustände zu flüchten, um nicht erleben zu müssen, was auf uns zukommt. Oder uns groß und weit werden zu lassen und aus vollem Herzen zu lieben – anstatt uns chronisch engherzig vor Verletzungen schützen zu wollen. Wir sollten uns von Zeit zu Zeit weinen, schluchzen und erschüttern lassen von unseren unerfüllten Sehnsüchten, erfahrenen Kränkungen und Verletzungen – anstatt vor ungelebter Trauer in einer Depression zu versteinern.

Gelebte Gefühle verbinden uns mit der Gegenwart. Sie führen uns dahin, wo wir unmittelbar betroffen sind – zum Anwesendsein mit Haut und Haar, zur Fülle unserer Lebendigkeit.

Eine kürzlich unternommene Reise, die mich in geothermisch aktive Regionen auf der Nordinsel von Neuseeland führte, brachte mir die beeindruckende Instabilität der Erdkruste in diesen Gegenden zum Bewusstsein. In Mitteleuropa sind wir es gewohnt, dem Boden unter unseren Füßen fest zu vertrauen. Schon im Mittelmeerraum, insbesondere in Südosteuropa ist dies anders. In Neuseeland, wo die tektonischen Platten des Indischen Subkontinents und Australiens aufeinander treffen, ist die Erdkruste enormen Kräfteeinwirkungen ausgesetzt, was zu einem gehäuften Auftreten von Erdbeben und einer erhöhten vulkanischen Aktivität führt; außerdem zeigen sich diese geothermischen Bedingungen in sprudelnden Schlammlöchern, in dampfenden Tümpeln, stinkenden Schwefelpfützen und in von Zeit zu Zeit aufschießenden Geysiren.

Dabei drängte sich mir der Vergleich zu menschlichen Persönlichkeiten auf: Was wir an der Oberfläche sehen, sind gewachsene, mehr oder weniger gefestigte Persönlichkeitsstrukturen, die sich normalerweise in vorhersehbaren Bahnen bewegen. Die Erdoberfläche ist Erosionskräften wie Wind und Regen ausgesetzt. Menschliche Persönlichkeiten erfahren Stress, Zurückweisungen und Liebe. Sie sind verschiedenen materiellen und sozialen Bedingungen ausgesetzt, machen prägende Lebenserfahrungen und umhüllen gleichzeitig einen „flüssigen“, ungestalteten, schöpferischen inneren Kern, in dem Triebe, Motivationen und Emotionen als manchmal gegensätzliche, manchmal einander potenzierende Kräfte am Werk sind. Diese setzen immer wieder die erstarrte Oberfläche Zerreißproben aus oder nutzen bestehende Lücken, um durchzubrechen.

Es wird uns Menschen wohl weder je gelingen, die unbändigen Kräfte aus dem Erdinneren noch die Energien aus dem Kern unseres Selbst wirklich zu beherrschen. Aber so, wie wir Seismographen erfunden haben, um schon die Vorboten größerer Beben zu erfassen, um uns in Sicherheit bringen zu können oder Bauweisen entwickelt haben, die zumindest mildere Beben unbeschadet überstehen, und die Erdwärme sowie heiße Quellen gegen winterliche Kälte zu nutzen gelernt haben, möchte ich im Folgenden dazu einladen, die Energie unserer Gefühle genauer zu untersuchen, den Umgang damit zu kultivieren, um die Entfaltung destruktiver Wirkungen möglichst zu minimieren und ihre belebenden und wohltuenden Aspekte nutzen zu lernen. Aus meiner Sicht wohnt Emotionen ein großes schöpferisches und Veränderungen bahnendes Potenzial inne.

Das vorliegende Buch möchte zu einem kreativen, achtsamen und kultivierten Umgang mit unseren Emotionen und den Gefühlen anderer anregen. Emotionen können – wenn sie richtig wahrgenommen, sorgfältig abgestimmt, regelmäßig „gereinigt“, gut reguliert und intelligent kommuniziert werden – zu wertvollen Energiequellen für unser tägliches Denken und Handeln werden.

IGrundlagen

Im Anhang (S. 147–149) befindet sich eine Checkliste zur emotionalen Gesundheit. Sie kann zur Selbstüberprüfung an dieser Stelle ausgefüllt werden.

1 Was sind Emotionen?

1.1 Offene Fragen und einige Antworten

Definitionen

Im weiteren Text möchte ich folgende Begriffsunterscheidungen vornehmen: Unter Emotionen sind allgemein solche Vorgänge zu verstehen, die von limbischen Strukturen im Gehirn ausgehen. Sie beeinflussen andere zentralnervöse Bereiche und bewirken Veränderungen an Organen und Gefäßen. Außerdem lösen sie beschreibbare mimische und gestische Ausdrucksmuster aus und bereiten ganz bestimmte Verhaltensweisen vor. Unter Gefühlen ist das subjektive Erleben dieser Vorgänge zu verstehen. Affekte schließlich sind Sonderfälle von emotionalen Vorgängen, die durch einen plötzlichen Beginn sowie durch eine hohe Erregungsintensität gekennzeichnet sind.

Beweggründe und ständige Begleiter

Emotionen bewegen uns – zu Tränen, wenn wir traurig sind; zu Flucht oder Erstarrung, wenn wir Angst haben; zur Tat, wenn wir uns ärgern; zum Verschwinden-Wollen, wenn wir uns schämen. Neugier treibt uns, die Welt zu erkunden, Liebe lässt uns über die bisherigen persönlichen Grenzen hinauswachsen und strebt nach Verschmelzung und (Ver-)Bindung mit dem geliebten Menschen. Trauer führt in den Rückzug, Ekel lässt uns Abstand nehmen, Grenzen ziehen oder bereits Einverleibtes wieder ausspucken. Erstaunen bindet unsere Aufmerksamkeit usw.

Unsere Wahrnehmungen, Empfindungen, Erinnerungen, unser gesamtes Erleben, Denken und Handeln sind untrennbar mit emotionalen Aspekten verknüpft. Visuellen Eindrücken z. B. ordnet unser Gehirn – ganz von selbst – gefühlsmäßige Qualitäten zu, im Sinne von „angenehm“, „unangenehm“, „wichtig“, „unwichtig“, „traurig“, „lustig“ usw. Dasselbe gilt für akustische Reize, für Gerüche, taktile Empfindungen, übrigens auch für Wahrnehmungen und Empfindungen, die aus dem Körperinneren kommen – die Spannung im linken Arm, ein leises Vibrieren im Bauch, eine Frischeempfindung auf der Haut, ein etwas erhöhter Blutdruck. Sie machen uns glücklich oder bedrücken uns. In aller Regel nehmen wir kaum Notiz von all diesen subtilen Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühlsregungen. Selbst Reizverarbeitungen, die in tiefer liegenden, nicht bewusstseinsfähigen Gehirnzentren stattfinden, werden mit emotionalen Stellungnahmen versehen, die uns ihrerseits nur, falls sie eine gewisse Intensität oder Dringlichkeit annehmen, zu Bewusstsein kommen; sie fügen sich ansonsten zu einer allgemeinen momentanen Grundstimmung zusammen, die sich im Verlauf eines Tages mehrmals verändert. Wir mögen beim Aufstehen heiter gestimmt sein, werden mit ein, zwei unangenehmen Dingen konfrontiert, die uns ärgern, fühlen uns aber insgesamt ausgeruht und heiter, weil der Urlaub noch nicht lange zurück liegt, treffen unerwartet eine gute Freundin, deren Wohlbefinden zusätzlich auf uns abfärbt, müssen dann an einer langweiligen Sitzung, in der alle um den heißen Brei reden, teilnehmen, ohne den Mut aufzubringen, das vermiedene Thema selbst anzusprechen, gehen also frustriert und missmutig in die Kaffeepause usw.

Wo immer auch unsere Gedanken und dazwischen geflochtenen Erinnerungen herkommen, die wenigsten von ihnen sind frei von emotionalen Einfärbungen. Kurz fällt mir wieder ein, dass uns unsere Katze am Morgen eine halbtote Maus vor die Schlafzimmertür gelegt hatte. Ich ekle mich leise. Meine Erinnerung spielt mir nochmals den Vorgang der Entsorgung vor. Ich habe mit spitzen Fingern den Schwanz der Maus angefasst und sie so – sie atmete noch! – angewidert und mitleidig aus dem Haus getragen. Ich plane den bevorstehenden Einkauf fürs Wochenende, lustlos, weil ich finde: Warum immer ich? Dann krame ich mein Manuskript aus dem Schreibtisch, an dem weiter zu arbeiten ich mir für den Vormittag vorgenommen habe. Und siehe da: Meine Gedanken schließen mühelos an meine gestrige Arbeit an. Es macht mir Freude, sie in Worte zu fassen, weil es in diesem Moment unerwartet leicht geht. Dann plötzlich stockt es, weil mir einfällt, dass ich beinahe einen wichtigen Anruf vergessen hätte. Es geht um einen Konflikt mit den Nachbarn. Unangenehm, aber unumgänglich. Der Schreibfluss ist augenblicklich unterbrochen, und ich kämpfe innerlich gegen meine Unlust an, dieses Telefonat in Angriff zu nehmen.

Flüchtig oder lang anhaltend

Gefühle sind oft nur vorübergehend. In diesem Fall sprechen wir von emotionalen Zuständen („states“): Eine Jugendliche fürchtet sich vor einem unmittelbar bevorstehenden Sprung vom Drei-Meter-Brett. Gefühle können aber als Grundstimmungen auch von langer Dauer oder sogar persönlichkeitsprägend sein. Dann reden wir von Charakterzügen („traits“): ein ängstlicher Mensch. Man bezeichnet Menschen als lustig, melancholisch, jähzornig oder mutig und meint damit Zeit überdauernde, die jeweilige Person charakterisierende Tendenzen zu bestimmten Gefühlslagen, und zwar relativ unabhängig von der konkreten äußeren Situation.

Ein Kind, das den Spitznamen „Heulsuse“ trägt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit weiblich, weil Weinen und Weiblichkeit in unserer Kultur immer noch eng miteinander verknüpft sind. Das Kind neigt dazu, in Tränen auszubrechen, wenn ihm etwas weggenommen wird, wenn ein Lehrer es streng anspricht, wenn es vom Fahrrad stürzt und sich die Knie aufschlägt, ja, sogar dann, wenn es beim Wettrennen als erstes durchs Ziel kommt und als Siegerin gefeiert wird.

Ganz anders ein sogenanntes „Zornbündel“, häufiger männlich als weiblich. So ein Kind beginnt oft zu toben, wenn es nicht bekommt, was es sich in den Kopf gesetzt hat. Es widerspricht vehement und weiß sich lautstark zu verteidigen, wenn ein Lehrer es streng anredet. Wenn es vom Fahrrad stürzt, wird es laute Flüche ausstoßen, wird vielleicht sogar sein Fahrrad packen und es wütend nochmals auf den Boden schmettern und sofort Schuldige für sein Missgeschick benennen, die es dann auch sogleich heftig anklagt.

Angeboren oder erlernt?

Überdauernde Fühl- und Verhaltenstendenzen sind einerseits als Temperament angeboren und bilden sich andererseits aufgrund wiederholter Erfahrungen in der familiären Umwelt, mit den ersten Spielgefährten, in der Schule und den ersten Liebesbeziehungen in ihrer besonderen Ausprägung erst heraus. Ein Kind, das von einem zwei Jahre älteren Geschwister immer wieder vorgeführt bekommt, dass es ein bisschen weniger schlau oder geschickt und immer eine Spur langsamer ist, wird auf lange Sicht weniger Selbstvertrauen und Wagemut entwickeln, als wenn es selbst als Erstgeborenes ungestört an seinen Erfolgen hätte wachsen können.

Die meisten emotionalen Vorgänge dringen nicht ins Bewusstsein

Jemand errötet, sein Herz beginnt, schneller zu schlagen; bestimmte, mit emotionalen Prozessen befasste Hirnareale – auf die ich später noch eingehen werde (s. Kap. 3.1) – können aktiv werden, ohne dass die betreffende Person ein subjektiv wahrgenommenes Gefühl erlebt.

Obwohl uns – wie schon erwähnt – emotionale Reaktionen nur dann zu Bewusstsein kommen, wenn sie eine bestimmte Intensität erreichen, werden innere und äußere Reize laufend einer gefühlsmäßigen Bewertung unterzogen. Ohne bewusst darauf zu achten, verfolgen wir zum Beispiel ein Gespräch am Nachbartisch. Unser Gehirn stuft es als unwichtig ein, bis unser Name fällt oder einer der Gesprächspartner plötzlich laut wird, eventuell auch auffällig leise, weil er eine vertrauliche Mitteilung zu machen gedenkt – dann werden wir sofort hellhörig und richten unsere ganze Aufmerksamkeit auf dieses Gespräch, das uns eigentlich gar nichts angehen sollte. Unsere Sinne nehmen also laufend sehr viel mehr wahr, als was wir – abhängig von unserer jeweiligen Bedürfnislage – mit unserer gerichteten Aufmerksamkeit beachten können.

Ein Teilprozess der emotionalen Verarbeitung besteht darin, diese Wahrnehmungen nach „wichtig“ und „unwichtig“ zu sortieren und unsere Aufmerksamkeit entsprechend zu lenken. Ein anderer permanent durchgeführter Bewertungsprozess meldet uns, ob Dinge angenehm oder unangenehm sind, z. B. auch Zustände im Inneren unseres Körpers. Bewusste Beachtung ist auch hier nur erforderlich, wenn diese Bewertungen eine gewisse Ausprägung annehmen: z. B. eine bestimmte Körperhaltung bei meiner Arbeit wird so unangenehm, dass sie zu schmerzen beginnt. Oder mein Hunger ist so stark geworden, dass ich unverzüglich etwas essen muss. Oder eine Rhabarbercreme schmeckt so überaus köstlich, dass ich das Gespräch unterbreche und der Gastgeberin ein Kompliment mache.

Aus dem breiten Strom der Sinnesdaten, die fortwährend aus der Umwelt sowie unserem Körperinneren zwecks Weiterverarbeitung unser Gehirn erreichen, erhalten nur die wenigsten unsere gezielte Aufmerksamkeit. Gleichmäßig rauschender Verkehrslärm, menschliche Stimmen, fühlbare Darmbewegungen, Muskelspannungen usw. spielen sich am Rande unserer Wahrnehmung ab, ohne weiter beachtet zu werden. Damit sie aber unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, müssen sie überraschend sein, bzw. uns in besonderer Weise persönlich betreffen: z. B. ein unerwartet lautes Quietschen von Bremsen in unserer unmittelbaren Nähe oder ein plötzlicher, stechender Schmerz unter dem rechten unteren Rippenbogen.

Normalerweise sind hier unbewusst funktionierende Mechanismen am Werk, die eingehende Informationen nach deren Wichtigkeit für das jeweilige Individuum bewerten, in kürzester Zeit die Aufmerksamkeit darauf lenken und gleichzeitig Prozesse in Gang setzen können, die ihrerseits angemessene physiologische und dazu passende Verhaltensreaktionen vorbereiten und ausführen lassen.

Emotionen können tief in den Körper hinein wirksam werden

Emotionale Bewegungen gehen mit Veränderungen des Blutdrucks, der Pupillengröße, der Spannung der Skelettmuskulatur, des Hautwiderstandes, der Darmbewegungen, der Herz- und Atemfrequenz, in neurochemischen, immunologischen und hormonellen Vorgängen einher.

Ich sitze seit über einer Stunde vor meinem Computer und stelle plötzlich fest: Mein Kopf ist heiß. Ich beginne zu schwitzen. Aber schon seit geraumer Zeit beiße ich offensichtlich die Zähne zusammen, halte die Schultern hochgezogen und habe nicht mehr darauf geachtet, wie ich sitze. Mir fällt auf, dass ich die linke Pobacke mehr belaste als die rechte; dadurch verklemme ich mich in der linken Leistengegend, mein Rücken hält sich schief. Mir ist extrem unwohl.

Was tue ich denn hier? Ich arbeite an einer kniffligen Aufgabe, deren Lösung mir nicht so recht gelingen will. Ich habe mich buchstäblich in die Bewältigung dieser Aufgabe hinein verbissen, und weil ich sie nicht unmittelbar erreichen kann, habe ich mich verkrampft.

Mein Zustand hat mit Stress und einer gewissen Angst zu tun: Ich erwarte von mir, dass ich die Aufgabe rasch und richtig löse, und ich fürchte zu versagen. Das Gewahrwerden meines körperlichen Zustandes (der somatische Aspekt einer Emotion) unterbricht mein Tun. Ich nehme eine bewusste Neubewertung der Situation vor: Ich muss nicht (wie ich unbewusst von mir verlangt habe) und muss vor allem nicht sofort (es hat Zeit bis nächste Woche) diese Aufgabe allein lösen (ich kann Kolleginnen zu Rate ziehen; ich habe die Aufgabe freiwillig übernommen; es ist möglich, sie auch wieder an die Projektleiter zurückzugeben). Ich beschließe, eine Pause einzulegen und etwas anderes zu tun. Ich bewege meinen Kopf, der schon gar nicht mehr so heiß ist; auch das Schwitzen hat nachgelassen. Mein Nacken entspannt sich; ich lockere meine Schultern, rücke auf meinem Stuhl hin und her, strecke und dehne mich, gähne ein paar Mal und fühle mich schon sehr viel wohler als noch vor einigen Minuten. Wer weiß, vielleicht fällt mir die Lösung des Problems oder zumindest eine Teillösung ja ein, während ich in der Mittagspause noch die fehlenden Zutaten für die Gemüselasagne kaufe, die ich am Abend für unsere Gäste zubereiten will.

Gemischte Gefühle – oder schließen unterschiedliche Emotionen einander aus?

Kann ich gleichzeitig ärgerlich und traurig sein? Nicht wirklich zur selben Zeit. Es gibt allerdings Zustände, die wir als „gemischte Gefühle“ bezeichnen, z. B. die Angstlust, bei der sich eine Person in einem gewissen Erregungszustand befindet und zwischen Angst und Lust hin- und herschwankt.

Um einer Antwort auf die hier gestellte Frage näher zu kommen und eine Ahnung zu erhalten, welche wahrnehmbaren körperlichen Veränderungen mit den entsprechenden Emotionen einhergehen, ist es empfehlenswert, sich gefühlsmäßig in die im Folgenden skizzierten Situationen hinein zu versetzen.

Melancholie

: Ich sitze z. B. an einem nebligen Nachmittag in einem nur spärlich bevölkerten Bistro und warte auf den nächsten Zug, weil ich den vorhergehenden verpasst habe. Ein leicht melancholisches Gefühl macht sich breit, und dabei werde ich vermutlich weder besonders tief noch rasch atmen. Auch mein Herz wird eher langsam schlagen. Hände und Füße werden sich eher kühl als heiß anfühlen.

Sorge

: Eine gute und eng vertraute Freundin ist durch eine unerwartete berufliche Veränderung ins Ausland nach Übersee versetzt worden. Es kommen immer wieder Momente, in denen ich sie akut und heftig vermisse. Auch dieser Gefühlszustand hat etwas mit Trauer zu tun, dürfte aber mit einer höheren Erregung verbunden sein. Ich fühle mich beunruhigt und etwas ängstlich, wie ich in Zukunft ohne diese Freundin auskommen werde. Wenn ich daran denke, atme ich rascher, mein Herzschlag beschleunigt sich; vielleicht bekomme ich sogar leicht feuchte Hände und beginne zu schwitzen.

Ärger und Trost

: Unsere siebenjährige Tochter hat schon wieder ihre Schultasche mitten im Flur liegen gelassen. Ich habe es zu spät bemerkt und ihr erlaubt, noch rasch bei der erkrankten Freundin vorbeizuschauen. Ich ärgere mich, weil ich ihr schon hundertmal gesagt habe, dass sie ihre Tasche in ihr Zimmer bringen soll. Kurz darauf klingelt ein anderes Nachbarskind, und versucht, ganz in Tränen aufgelöst, zu erzählen, was ihm zugestoßen ist. Seine Mutter ist nicht zu Hause. Ich biete ihm etwas zu trinken an und versuche es, so gut es geht, zu trösten. Als fünf Minuten später die eigene Tochter wieder ins Haus schlüpft, kann ich nicht mehr mit ihr schimpfen. Mein Ärger über ihre unbelehrbare Schlampigkeit hat sich während meiner Tröstungsbemühungen aufgelöst und ist verflogen.

Erschrecken und Wut

: Ich überhole auf der Autobahn mit 150 km/h einen langen Lastwagen mit Anhänger. Hinter mir fährt ein anderer Wagen mit Lichthupe dicht auf, zieht, nachdem ich mein Überholmanöver beendet habe, knapp vor mir ebenfalls auf die rechte Spur und steigt auf die Bremse, so dass ich scharf bremsen muss. Ich erschrecke und kriege sodann eine Riesenwut auf diesen Raser. Diese Gefühle passen insofern gut zueinander, als sich bei beiden die Muskulatur anspannt, der Herzrhythmus und die Atemfrequenz beschleunigen. Ich kann gar nicht so genau unterscheiden, ob der Schreck oder die Wut im Vordergrund steht.

Variationen innerhalb und Unterschiede zwischen Gefühlen

In Angstzuständen ziehen sich die Blutgefäße zusammen, die periphere Durchblutung wird schwach. Wir werden blass. Wir spannen unsere Willkürmuskulatur an, um mögliche Angriffe abwehren zu können. Darmbewegungen lassen nach; Verdauungsvorgänge werden ausgesetzt. Die Körpertemperatur sinkt. Wir sind hellwach. Wenn Neugier in den Vordergrund tritt, sind wir ebenfalls sehr wach, aber wir lösen uns aus der Erstarrung, die Blutgefäße erweitern sich, Darmbewegungen setzen wieder ein, die Körpertemperatur steigt, unsere Muskulatur entspannt sich.

Es gibt also bei unterschiedlichen Emotionen einerseits Überlappungen in den sie begleitenden körperlichen Vorgängen und andererseits klar gegensätzliche physiologische Anpassungsreaktionen. Neben diesen Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Gefühlen, gibt es bei jedem einzelnen Gefühl auch Intensitätsvariationen: Ein Anflug von Ängstlichkeit kann sich zu einer heftigen Panikattacke steigern. Während ersterer lediglich zu einer Verlangsamung der jeweiligen Bewegung oder Tätigkeit, einem vorübergehenden Zögern oder Innehalten führt, bringt eine Panikattacke eine augenblickliche Verhaltenslähmung mit sich, die auch eine plötzliche Atemnot oder sogar einen kurzzeitigen Atemstillstand beinhalten und dadurch zu einem vorübergehenden Bewusstseinsverlust führen kann.

Sind Emotionen dominant in der Verhaltenssteuerung?

Jemand kann noch so sehr einsehen, dass Spinnen in Mitteleuropa harmlose Tiere sind. Wer an einer ausgeprägten Spinnenangst leidet, wird, wenn er im äußersten Augenwinkel etwas Dunkles mit langen dünnen Beinen hinter seiner Bettkante hervorkrabbeln sieht, sofort mit einer Beschleunigung seines Herzschlags, einem Aufschrei und panischer Angst reagieren.

Oder: Man nimmt sich tausendmal vor, sich nicht mehr provozieren zu lassen. Wenn eine verhasste Person auftaucht und genau mit den Bemerkungen zu sticheln beginnt, die einen schon immer auf die Palme gebracht haben, wird man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit – wider bessere Vernunft – aufregen, laut werden und eventuell sogar zuschlagen.

Oder: Ich kann geplant haben, an diesem Nachmittag eine notwendige Arbeit zu erledigen, die mir ziemlich zuwider ist. Ich habe es sogar meiner Vorgesetzen versprochen. Aber just als ich anfangen will, klopft eine Kollegin an der Tür. Ich bitte sie herein, und weil gerade Fasnacht und es heute ziemlich ruhig im Institut ist, verplaudern wir den ganzen Nachmittag.

Vor allem bei dem zuletzt genannten Beispiel ist der Ausgang des Kampfes zwischen Lust und Unlust auch von der Persönlichkeit des betreffenden Menschen abhängig. Man kann gelernt haben, Unlust auf sich zu nehmen, wenn man sich davon einen längerfristig größeren Lustgewinn verspricht oder eher der Philosophie anhängen: Das Leben ist kurz, ich möchte vor allem so viel Spaß wie möglich haben.

Je intensiver die jeweilige Emotion und die damit verbundene Erregung ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, sich wider die eigene Vernunft zu verhalten – falls Gefühl und Verstand in unterschiedliche Richtungen weisen.

Starke Emotionen haben Priorität und unterbrechen andere Tätigkeiten