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Fachkräfte, die geflüchtete und zugewanderte Eltern in ihrer Erziehungskompetenz während eines Inklusionsprozesses unterstützen, benötigen Kenntnisse über die besonderen Auswirkungen von Migration auf das familiäre System. Abgeleitet aus dem muttersprachlichen Elterntraining »Eltern Aktiv REFUGIO München«, das die speziellen Bedürfnisse von zugewanderten und geflüchteten Familien berücksichtigt, stellt Barbara Abdallah-Steinkopff relevante Inhalte und Methoden vor, um sie für die professionelle Erziehungsberatung nutzbar zu machen. Der Leitgedanke von kultursensibler Beratung ist, die Familien über die veränderten Lebensbedingungen und Anforderungen im neuen Land eingehend zu informieren und eine Orientierung in der Erziehung anzubieten, die beiden Kulturen gerecht wird. Die Darstellung einer kultursensiblen Haltung mit entsprechenden Vorgehensweisen, wie die Methode des Interkulturellen Pendelns, dienen dazu, den Fachkräften Handlungskompetenz und Sicherheit für den Beratungsalltag mitzugeben.
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Seitenzahl: 134
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Geflüchtete Menschen psychosozialunterstützen und begleiten
Herausgegeben von
Maximiliane Brandmaier
Barbara Bräutigam
Silke Birgitta Gahleitner
Dorothea Zimmermann
Gastherausgeberin:
Annett Kupfer
Barbara Abdallah-Steinkopff
InterkulturelleErziehungskompetenzenstärken
Ein kultursensibles Elterncoaching für geflüchtete und zugewanderte Familien
Mit 8 Abbildungen und 3 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: Nadine Scherer
Satz und Layout: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISSN 2625-6436
ISBN 978-3-647-90126-8
Inhalt
Geleitwort der Reihenherausgeberinnen
1Gesellschaftliche Relevanz eines muttersprachlichen Elterntrainings
2Entstehung des muttersprachlichen Elterntrainings Eltern Aktiv
3Geflüchtete Menschen – eine heterogene Gruppe
4Lebensbedingungen der Flüchtlingskinder
4.1Kindheit im Wartezustand
4.2Situation der Vorschul- und Schulkinder
4.3Diskriminierungsrisiken für Flüchtlinge in Deutschland
4.4Institutionelle Diskriminierung an Schulen
4.5PTBS- und Depressionsrate bei Flüchtlingen
4.6Zusammenspiel von vergangenen und gegenwärtigen belastenden Erfahrungen
5Gründe für das muttersprachliche Elterntraining
6Sozialisation in unterschiedlichen Lebenskontexten
6.1Unterschiedliche Selbstkonzepte
6.2Unterschiedliche Erziehungsvorstellungen
6.3Kulturelle Unterschiede in der Eltern-Kind-Beziehung
7Postmigrationsstressoren
7.1Migrationskonzepte
7.2Forderung nach »Kulturwegweisern«
7.3Auswirkungen von Migration auf die Familiendynamik
7.3.1Wechsel von Großfamilie zu Kernfamilie
7.3.2Belastungen für die Partnerschaft
7.3.3Spagat zwischen unterschiedlichen Erziehungsstilen
7.3.4Bedürfnis nach Zugehörigkeit in der kindlichen Entwicklung
7.3.5Gefahr einer unangemessenen Pathologisierung
8Konzeptuelle Überlegungen bei der Entwicklung des Trainingsmanuals
9Das 5-Module-Modell des Elterntrainings Eltern Aktiv Refugio München
9.1Erfahrungen aus dem Beratungsalltag und Erwartungen an die Flüchtlingseltern
9.2Welches Wissen brauchen Flüchtlingseltern?
9.3Unterschiedliche Migrationsdauer
9.4Einsatz von muttersprachlichen Trainerinnen und Trainern
9.5Gesellschaftspolitische Leitgedanken für Eltern Aktiv
9.6Inhaltlicher Aufbau – spezielle flüchtlingsrelevante Themen und Beziehungsgestaltung
9.7Zur Einführung in das Elterntraining
9.8Entwicklung eines persönlichen interkulturellen Wegweisers
9.9Ziele in der Erziehung
9.10Anregungen für zu Hause
9.11Statements über Kindererziehung und Familienleben
10Methoden des Elterntrainings
11Schwierigkeiten bei der Durchführung des Elterntrainings
11.1Schonverhalten und Versorgung der Flüchtlingseltern
11.2Genderspezifische Aspekte in der Erziehung – Einfluss von Verwandtschaft und Exilgemeinde
11.3Kommunikationsstile
11.4Stereotype und Vorurteile
11.5Fehlende Wahrnehmung von Ressourcen
11.6Überweisungsgründe an Eltern Aktiv
12Good Practice
12.1Hilfreiche kultursensible Haltung – Nichtwissen erfordert Exploration
12.2Verständnis schaffen
12.3Methoden, um »innere Bilder zurechtzurücken«
12.4Kultursensible Verhaltensbeobachtung
12.5Migration bedeutet Veränderung –Wie viel Veränderung ist zumutbar?
12.6Hilfreiche Methode in der kultursensiblen Kommunikation: das Interkulturelle Pendeln
12.7Methoden zur Veranschaulichung von Veränderungen nach Migration
13Umgang mit Konflikten und Gewalt in der Erziehung
14Die beschriebenen Methoden und Vorgehensweisen im Überblick am Beispiel »Spielen«
15Ergänzende Methoden im Elterntraining
16Geschichten zur Veranschaulichung
16.1Geschichte zur Veranschaulichung des Dilemmas, es immer allen recht zu machen
16.2Geschichte über Assimilation – Die weiße Dohle
16.3Geschichte über Assimilation – Die Dohle und die Taube
17Fazit
18Literatur
Geleitwort der Reihenherausgeberinnen
Barbara Abdallah-Steinkopff widmet sich in diesem Band dem seit 2005 von Refugio München durchgeführten muttersprachlichen Elterntraining Eltern Aktiv, das Eltern mit Fluchtgeschichte und Migrationserfahrung bei der Stärkung ihrer Erziehungskompetenz hilft und dabei besondere Rücksicht auf trauma- und migrationsspezifische Erziehungsprobleme nimmt. Als langjährige Psychotherapeutin hat sie auf der Grundlage wahrgenommener Bedarfslagen eben jenes Training, in das sie einführt, selbst mitentwickelt und erarbeitet.
Um uns Leser*innen darin einen Einblick zu geben und die für Beratung, Begleitung und Behandlung geflüchteter Familien hilfreichen Überlegungen und Ansätze auf ein sicheres Fundament zu stellen, führt die Autorin zunächst kultursensibel und mit Blick auf die Diversität der Zielgruppe an die Lebenswelt von Flüchtlingsfamilien und speziell „Flüchtlingskindern“ heran, unter besonderer Berücksichtigung der sozialen und rechtlichen Lebensbedingungen. Dabei verweist sie anhand von Studienergebnissen (u. a. zu Kindheit im Wartezustand, struktureller Benachteiligung, Traumatisierung, Diskriminierung) auf die Relevanz eines stabilen, unterstützenden Umfeldes – für das sich das Elterntraining einsetzt. Jene durch die Autorin nachvollziehbar und anschaulich dargestellten Einflussfaktoren vergangener wie gegenwärtiger Belastungssituationen auf die Eltern-Kind-Beziehung, Situationen der Parentifizierung und damit weiteren Überlastung der Kinder sowie Gefühle der Überforderung der Eltern waren für Refugio München Anlass, bisherige Angebote um ein muttersprachliches, die Eltern stärkendes Training zu erweitern.
Um ressourcenorientiert gemeinsam an Erziehungskompetenzen arbeiten zu können, braucht es für die professionellen Helfer*innen, so die Autorin, zum einen Wissen über Selbstkonzepte und hier vorrangig Wissen über Wertvorstellungen, Kindheitsbilder, Erziehungsziele und Eltern-Kind-Beziehungen. Neben jenen spezifisch auf Erziehung besprochenen Faktoren stellt Barbara Abdallah-Steinkopff zum anderen Konzepte von Migration- und Akkulturationsprozessen und Kenntnisse von in der Migration – für Familie und ihre Dynamiken – liegende Stressfaktoren als relevant dar. Dass bei diesen Ausführungen immer die Gefahr einer ungewollten Vereindeutigung, Homogenisierung und Stereotypisierung droht, ist sich die Autorin bewusst, und wagt den Drahtseilakt, einerseits für die Beratung wichtige Wissensbestände zu vermitteln und andererseits das Wissen um Nichtwissen offenzuhalten. Genau darüber sensibilisiert sie Professionelle, hilft beim empathischen Einfühlen und beim Verstehen anderer Lebenswelten, als Grundlage für eine gelingende Hilfebeziehung und unterstützende Veränderungsprozesse.
Welche Funktion das am Empowerment orientierte Elterntraining schließlich im gesetzten Kontext einnimmt, wie Barbara Abdallah-Steinkopff diesen einbezieht und auf welchen Wegen, über welche Themen, Methoden und Module die formulierten Ziele – wie das Anreichern von Wissensbeständen, das Reflektieren gewohnter sowie das Lernen neuer Verhaltensweisen und das Einüben im Erziehungsalltag – verfolgt werden, verraten die folgenden Seiten. Dabei berichtet die Autorin einfühlsam und anschaulich auch von Grenzen des Trainings, möglichen (und erlebten) Schwierigkeiten und dem Umgang mit Konflikten wie von hilfreichen Haltungen, Beobachtungen und Kommunikationsformen. Dass all das in Summe kein Quasi-Manual bietet, sondern je angepasst an die individuelle Lebenssituation der Familien Einsatz findet, ist selbstverständlich.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre, die sicher auch neue Ideen für die eigene (präventive) Arbeit mit geflüchteten und migrierten Eltern bietet.
Annett Kupfer (Gastherausgeberin)
Silke Birgitta Gahleitner
Dorothea Zimmermann
Maximiliane Brandmaier
Barbara Bräutigam
1Gesellschaftliche Relevanz eines muttersprachlichen Elterntrainings
Zahlen von 2017 belegen, dass die Mehrheit der Asylantragstellerinnen und Antragsteller in Deutschland jünger als 30 Jahre ist. Dabei bilden Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren mit 39 % die größte Gruppe, gefolgt von 19 % jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren. Die geschlechtsspezifische Verteilung ist bei den Kindern mit 55 % Jungen und 45 % Mädchen relativ ausgewogen, im Gegensatz zu der zweitgrößten Gruppe der jungen Erwachsenen, die zu 74 % aus Männern und zu 26 % aus Frauen besteht. Mit 61 % zu 39 % haben mehr Männer als Frauen einen Asylantrag gestellt. In den Jahren 2016 und 2017 kamen die meisten Antragstellerinnen und Antragsteller aus Syrien, gefolgt von Afghanistan und Irak (Bundeszentrale für politische Bildung, 2018).
Die große Zahl der Flüchtlingskinder bedeutet für Erziehungsinstitutionen, wie Kitas, Schulen, Freizeiteinrichtungen und Erziehungsberatungsstellen, dass sie sich gegenwärtig und zukünftig auf die Inklusion dieser Kinder einstellen müssen. Ein Einblick in die multiplen Belastungen für Flüchtlingsfamilien nach ihrer Ankunft in Deutschland, damit verbundene Risiken, aber auch Ressourcen im Inklusionsprozess sowie zur Stärkung der Familien entwickelte Konzepte kann dabei hilfreich sein.
Dieses Buch richtet sich daher an alle Berufsgruppen und ehrenamtlich Tätigen, die Flüchtlingsfamilien nach ihrer Ankunft in Deutschland dabei unterstützen möchten, sich in einem für sie fremden Land zurechtzufinden. Langjährige Erfahrungen des psychosozialen Behandlungszentrums Refugio München mit geflüchteten Menschen sowie Überlegungen, Anregungen und Methoden, die seit 2005 im muttersprachlichen Elterntraining Eltern Aktiv Refugio München (Kurzform: Eltern Aktiv) erarbeitet und entwickelt wurden, können für die allgemeine Beratung und Unterstützung von Flüchtlingsfamilien mit besonderem Fokus auf die Erziehung ihrer Kinder nutzbar gemacht werden. Ausgehend von einem allgemeinen Verständnis für die Lebensbedingungen der Flüchtlingsfamilien und insbesondere der Flüchtlingskinder werden konzeptuelle Überlegungen am Beispiel des muttersprachlichen Elterntrainings für den Betreuungs- und Beratungsalltag vorgestellt.
Zum besseren Verständnis darüber, in welcher Lebenswelt sich Flüchtlingsfamilien zurechtfinden und welche spezifischen Belastungen und Herausforderungen sie meistern müssen, wird in der ersten Hälfte des Buches ein Überblick über entsprechende Fakten und relevante Forschungsbefunde der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie gegeben. Die zweite Hälfte des Buches widmet sich dem muttersprachlichen Elterntraining Eltern Aktiv, um dann im letzten Schritt bewährte Einstellungen, Vorgehensweisen, Methoden und relevante Themen aus dem Training Eltern Aktiv für eine allgemeine Elternberatung nutzbar zu machen. Es kann aus Kapazitätsgründen nicht auf inhaltliche Aspekte der Module des Elterntrainings eingegangen werden, die eine in Deutschland gängige Praxis in der Elternberatung darstellen und auf dem Trainingsmanual von Graf (2005) basieren. Der Fokus dieses Buches liegt ausschließlich auf der Vermittlung von kultursensiblen Überlegungen und Ansätzen, die als Grundlage für die allgemeine Beratung und Behandlung von Flüchtlingsfamilien dienen sollen. Das gesamte Manual des Elterntrainings ist noch nicht veröffentlicht worden. Der Ratgeber für Eltern wird begleitend zum Elterntraining an die teilnehmenden Eltern weitergegeben.
2Entstehung des muttersprachlichen Elterntrainings Eltern Aktiv
Wie kam es zu dem muttersprachlichen Elterntraining Eltern Aktiv bei Refugio München? Kosovarische Klientinnen und Klienten, die wegen ihrer Symptomatik nach traumatischen Erfahrungen an einem psychotherapeutischen Stabilisierungsprogramm bei Refugio teilnahmen, wünschten sich ein zusätzliches Angebot für Eltern. Sie glaubten, sie seien keine guten Mütter und Väter, da sie aufgrund ihrer psychischen Belastungen keine Geduld mit ihren Kindern und keine Kenntnisse über das Leben in Deutschland hätten. Anni Kammerlander, ehemalige Geschäftsführerin von Refugio München, ich, Barbara Abdallah-Steinkopff, Psychotherapeutin, und Shqipe Krasniqi, ehemalige Sprachmittlerin, griffen diese Anregung auf. Nach langen konzeptuellen Überlegungen und der Suche nach möglichen Finanzierungen entstand bei Refugio München das muttersprachliche Elterntraining Eltern Aktiv. Entwickelt wurde das Konzept in Teamarbeit. Nach einem mehrtägigen Seminar von Johanna Graf zur Einführung ihres Elterntrainings »Familienteam – das Miteinander stärken« (2005) erfolgte die Modifikation dieses Manuals für flüchtlingsspezifische Belange. Ziel des neuen Elterntrainings war die Stärkung der Erziehungskompetenz von Eltern mit Flucht- und Migrationshintergrund unter Berücksichtigung von trauma- und migrationsspezifischen Erziehungsproblemen. Gemeinsam mit Farida Akhtar, Melisa Budimlic, Gisela Framheim, Shqipe Krasniqi, Renate Laub, Frederic Lwano (alphabetisch geordnet) und mir, Barbara Abdallah-Steinkopff, wurde ein flüchtlingsspezifisches Trainingsmanual entwickelt. Besondere Unterstützung erhielt Eltern Aktiv von Anni Kammerlander, der ehemaligen Geschäftsführerin von Refugio München, die die Finanzierung mit verschiedenen Institutionen über Jahre organisierte und sicherte. Das Projekt wurde von 2005 bis 2008 von Aktion Mensch, von 2008 bis 2011 von Aktion Mensch für Individuelle Elternseminare und von 2008 bis 2011 von Childhood für Gruppenseminare finanziert. Ab November 2011 übernahm das Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München die Finanzierung des Elterntrainings.
Das Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU), insbesondere durch die ehemalige Mitarbeiterin des Fachbereichs Migration und Gesundheit, Maria Gavranidou, und ihrer Nachfolgerin, Vreni Steinack, unterstützte und unterstützt Refugio München als Kooperationspartner bei der Organisation von Veranstaltungen und Tagungen. Die frühe und langjährige Unterstützung des RGUs trug zur Bekanntmachung in der Münchner Fachöffentlichkeit bei.
In Kooperation mit Prof. Joscha Kärtner, Leiter der Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie am Institut für Psychologie in Münster, wird zurzeit im Rahmen einer Masterarbeit ein Fragebogen entwickelt, der zur Evaluation des muttersprachlichen Elterntrainings eingesetzt werden soll.
Das muttersprachliche Angebot des Elterntrainings Eltern Aktiv umfasst 26 Sprachen (alphabetisch geordnet): Albanisch, Amharisch, Arabisch, Bosnisch/Serbisch/Kroatisch, Bulgarisch, Dari/Farsi, Deutsch, Englisch, Ewe (Mina), Französisch, Italienisch, Kikongo, Kotokoli (Lossa), Kurdische Sprachen (Kurmanci, Sorani), Paschtu, Portugiesisch, Russisch, Türkisch, Somali, Swahili, Vietnamesisch.
3Geflüchtete Menschen – eine heterogene Gruppe
In diesem Buch werden die Begriffe »Flüchtlinge«, »Schutzsuchende« und »Geflüchtete« synonym verwendet, obwohl der Begriff »Flüchtling« immer wieder diskutiert und hinterfragt wurde. Refugio hat sich diesbezüglich der Argumentation von Pro Asyl angeschlossen:
»Wer ›Flüchtling‹ sagt, transportiert auch den historischen und rechtlichen Bedeutungshorizont. ›Geflüchtete‹ zu sagen, ist hipper, der Begriff in Wortsinn und Wortstruktur wohl unproblematisch (und lässt sich im Gegensatz zu Flüchtling gendern), aber auch noch ohne historische Bedeutung. Schon allein wegen des Hinweises auf die verbürgten Rechte der ›Flüchtlinge‹ kann er – zumindest vorerst – nicht aufgegeben werden« (Pro Asyl, 2016).
Das »Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge« vom 28. Juli 1951, genannt»Genfer Flüchtlingskonvention« (GFK), ist ein völkerrechtliches Abkommen. Es definiert, wer als Flüchtling anzusehen ist und welche Rechte Flüchtlinge genießen. Es ist die wichtigste Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts. In der Genfer Flüchtlingskonvention ist der Begriff »Flüchtling« definiert als Person, die sich »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung […] den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann« (Art. 1 (A) Abs. 2 GFK).
Die drei oben genannten Begriffe – Flüchtlinge, Schutzsuchende, Geflüchtete – bezeichnen eine Gruppe, die sich durch ihre Heterogenität auszeichnet. Die Menschen in dieser Gruppe unterscheiden sich durch Bildungsgrad, Religionszugehörigkeit, Gesundheit und Familienstand. Sie kommen aus der Stadt- oder Landbevölkerung. Sie bringen unterschiedliche Wertvorstellungen, Menschenund Weltbilder mit. Ihre Biografien und Sozialisationen unterscheiden sich und somit auch ihre Ressourcen und Kompetenzen. Zudem können verschiedenste Merkmale, wie beispielsweise Hautfarbe, religiöse Zugehörigkeit oder sexuelle Identität zu Diskriminierungserfahrungen im Herkunfts- und Aufnahmeland führen. Im Aufnahmeland wird die Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen oft strukturell verwehrt. So macht beispielsweise in Deutschland ein unsicherer Aufenthaltsstatus eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nahezu unmöglich. Die Anregungen und die Unterstützung, die diese Menschen benötigen, sind entsprechend vielfältig.
Die Heterogenität dieser Gruppe bedingt, dass Beratungs- und Therapieangebote manchmal stark modifiziert werden müssen. Der Fokus dieses Buches liegt auf der Beschreibung der Diversität von Flüchtlingsfamilien, damit Fachkräfte im beruflichen Kontext sie besser begleiten können. Anzumerken ist, dass wir diejenigen, die gut alleine zurechtkommen, selten im Beratungskontext sehen und daher die Vielfalt an Ressourcen, die Flüchtlingsfamilien zur Verfügung haben, nur unzureichend kennenlernen.
4Lebensbedingungen der Flüchtlingskinder
Die Analyse der speziellen Lebensbedingungen von Kindern auf der Flucht ist eine wichtige Voraussetzung für eine effektive Beratung der Flüchtlingseltern. Orientiert an den spezifischen sozialen und rechtlichen Lebensbedingungen lassen sich sinnvolle Überlegungen und Maßnahmen ableiten, die für den Erziehungsalltag von Bedeutung sind.
4.1Kindheit im Wartezustand
In den vergangenen zwei Jahren kamen etwa 350.000 Kinder und Jugendliche in Begleitung ihrer Eltern nach Deutschland, um hier Schutz vor Krieg und Gewalt oder eine bessere Zukunft zu suchen. Die Studie »Kindheit im Wartezustand«, erstellt durch den Bundesfachverband für Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V. (BumF) im Auftrag von UNICEF Deutschland (Lewek u. Naber, 2017), beleuchtet umfassend die Lebensumstände dieser Mädchen und Jungen in Flüchtlingsunterkünften. Die Studienergebnisse zeigen, dass die Bedürfnisse und Rechte dieser Kinder dort trotz der großen Anstrengungen der Zuständigen auf allen Ebenen und stark rückläufiger Zuzugszahlen vielerorts noch nicht im vollen Umfang beachtet werden.
Die Autorinnen der Studie führten 2016 bundesweit eine quantitative, anonyme Online-Umfrage unter hauptund ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Flüchtlingseinrichtungen durch. Die Auswertung der Umfrage sowie ergänzender Interviews mit geflüchteten Familien ergab zwei zentrale Befunde:
–Lange Wartezeiten: Geflüchtete Kinder verbringen oftmals sehr lange und für ihre Entwicklung äußerst wertvolle Zeit in einem Wartezustand. Sie warten auf eine Entscheidung über die Asylanträge ihrer Familie, auf den Arztbesuch, Zugang zu Schulen und Kitas und insbesondere auf eine dauerhafte, geeignete Bleibe. Währenddessen leben sie über viele Monate oder sogar Jahre in Flüchtlingsunterkünften, die in vielen Fällen nicht sicher und nicht kindgerecht sind. Das Zusammenleben mit vielen fremden Menschen auf engem Raum, mangelnde Privatsphäre und fehlende Rückzugsorte, zum Teil problematische hygienische Bedingungen und fehlende Schutzkonzepte haben Auswirkungen auf die Sicherheit und das Wohlergehen der Kinder. Gerade für jene, die oft schon eine lange Fluchterfahrung hinter sich haben, ist ein stabiles, schützendes und förderndes Umfeld jedoch besonders wichtig.
–Ungleiche Versorgung und Förderung: Geflüchtete Kinder haben die gleichen Rechte auf Schutz und Förderung wie alle Kinder. Die Studie macht jedoch deutlich, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche gegenüber Gleichaltrigen in Deutschland benachteiligt werden, z. B. bei der Gesundheitsversorgung und beim Zugang zu Bildung. Auch innerhalb der Gruppe der Flüchtlingskinder gibt es je nach Bundesland und zunehmend je nach Herkunftsland und zugeschriebener Bleibeperspektive große Unterschiede: Während einige der geflüchteten Kinder und Jugendlichen schnell eine Schule besuchen, problemlos zum Arzt gehen können und nur kurz in Flüchtlingsunterkünften verweilen müssen, gilt dies bei Weitem nicht für alle. Schutz, Förderung und Versorgung hängen vom Zufall des Aufenthaltes oder der Herkunft ab (Lewek u. Naber, 2017).
4.2Situation der Vorschul- und Schulkinder