Intrigen am Lago Maggiore - Bruno Varese - E-Book
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Intrigen am Lago Maggiore E-Book

Bruno Varese

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Beschreibung

»Urlaubslektüre mit viel Lokalkolorit, echten Typen und einem außergewöhnlichen Ermittler« Mokka Ein goldener Septembertag am Lago Maggiore. Matteo Basso, ehemaliger Polizeipsychologe und nun Betreiber einer Macelleria, könnte endlich sein neues Leben in Cannobio genießen und in Ruhe Verdi-Opern hören. Hätte er nicht seinem Freund Luigi jede Menge Fleisch- und Wurstspezialitäten für dessen Geburtstagsfeier auf der malerischen Isola dei Pescatori versprochen. Als Matteo sich vom rauschenden Fest davonstehlen will, macht er eine grausame Entdeckung: Aufgespießt am weithin sichtbaren Einhorn-Denkmal der Isola Bella hängt ein lebloser Körper. Gemeinsam mit Kommissarin Nina Zanetti, der sich Matteo in seinem letzten Fall zaghaft angenähert hat, macht er sich an die Ermittlungen. Was treibt jemanden zu einer so plakativen Hinrichtung? Haben die Sportfunktionäre, die in der Nacht auf jener Nachbarinsel feierten, etwas damit zu tun? Und was hat es mit dem Gemälde auf sich, auf dem der Mord vorweggenommen wurde? Die Spuren führen Matteo und Nina an berühmte Wallfahrtsorte hoch in den Bergen, an die ligurische Küste und bis auf die legendäre Mailänder Galopprennbahn. Entdecken Sie den Lago Maggiore auf den Spuren von Matteo Basso: Zur Krimireise in Kooperation mit Maggioni Tourist Marketing.

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Seitenzahl: 378

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Bruno Varese

Intrigen am Lago Maggiore

Ein Fall für Matteo Basso

Mit Karten von Oliver Wetterauer

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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

1

Wie mit wildem Pinsel eine Spur zu dramatisch hingeworfen und entschieden zu goldgetränkt setzte sich der Himmel von den Bergen ab, die durch die langsam einbrechende Dämmerung in ein sattes, an Lapislazuli erinnerndes monochromes Blau getaucht waren. Die Oberfläche des Lago Maggiore reflektierte dieses unwirkliche Spiel der Farben, nur hier und da von einzelnen silbernen Gischtstreifen durchzogen. Hätte man diese Landschaft auf einem Gemälde gesehen, man hätte dem Künstler Verklärung oder gar Kitsch vorgeworfen.

Aber dieser Anblick war zweifelsohne echt. Matteo lächelte in sich hinein. Auch nach all der Zeit, die er nun wieder am Lago Maggiore lebte, konnte er sich nicht sattsehen an dem See und der üppig bewachsenen Berglandschaft, die diesen umgab. In den höheren Lagen dominierten Buchen, Erlen und Kastanien das Bild, und entlang des Ufers verwandelten Kamelien, Rhododendren, Azaleen, Mimosen, Oleander, Palmen und Orangenbäume die Landschaft in einen südländischen Garten Eden.

Vielleicht, das allerdings musste Matteo eingestehen, war die Isola dei Pescatori, auf der Luigi heute Abend seinen Geburtstag feierte, noch ein wenig idyllischer als seine kleine Terrasse in Cannobio, wo er die meisten Tage ausklingen ließ. Die Isola war wie ein Miniatur-Wunderland, wo sich auf wenigen Metern beinahe alles fand, was der Romantiker oder die zahllosen Sehnsuchtsreisenden mit Bella Italia verbanden. Ein Dorf aus hellgetünchten Häusern mit grünen oder blauen Fensterläden, roten Ziegeldächern und länglichen Balkonen, die von dem spitzen Glockenturm von San Vittore überragt und von engen Gässchen durchschnitten wurden. Es gab den kleinen Hafen mit den Fischerbooten am Südufer der Insel, dessen Einfahrt von einer Statue der betenden Madonna beschützt wurde, und zu guter Letzt war da der malerische, schmale und von mächtigen Bäumen flankierte Landstreifen im Nordosten, wo die Fischer früher ihre Netze eingefärbt und zum Trocknen ausgelegt hatten.

Und dann diese einzigartige Lage inmitten des Borromäischen Golfs: Man wusste gar nicht, wohin man zuerst schauen sollte. Gegenüber lag das lombardische Ostufer des Sees, wo die Lichter Lavenos wie Glühwürmchen im Dunkel flackerten. Wendete Matteo den Blick nach rechts, sah er die altehrwürdige Uferpromenade Stresas mit ihren Grandhotels. Und wenn er jetzt die 300 Meter zum anderen Ende der Insel schlendern würde, hätte er die barocke Pracht der Isola Bella vor sich. Am liebsten aber, das war ihm eben klar geworden, war ihm der weite Blick bis nach Verbania mit seinen Ortsteilen Pallanza und Intra, das von hier aus fast großstädtisch anmutete.

 

Matteo atmete die laue Spätsommerluft ein, strich die Locken zurück, die der Wind ihm ins Gesicht geweht hatte, und wunderte sich darüber, wie opulent seine Gedanken waren und wie operettenhaft und fast heiter-beschwingt er sich fühlte. Und weil das so gar nicht zu ihm passte, kramte er in den Tiefen seiner Hosentasche nach der Futura-Packung und dem Zippo, um sich mit dem herben Rauch einer Zigarette umgehend zu erden.

»Glückwunsch, du verschrumpelte Peperoni, das scheinst du ja ausnahmsweise einigermaßen anständig hinbekommen zu haben!«

Matteo sackte durch die Heftigkeit des Schlags, der ihn an der Schulter getroffen hatte, in die Knie. Neben ihm stand, verschmitzt grinsend, der alte Luigi und begutachtete das Buffet, das Matteo neben der Geburtstagstafel aufgebaut hatte und an dem sich die Gäste schon reichlich bedient hatten.

Woher nahm ein alter Mann wie Luigi nur diese Kräfte? Unauffällig betastete Matteo seine Schulter. Natürlich, die kleine Autowerkstatt, die Luigi mit seinen Kompagnons Flavio und Beppo betrieb, mochte ihren Teil dazu beitragen, dass die drei Alten erstaunlich fit waren. Aber es wäre ein Irrtum zu behaupten, dass allein die Reparaturen, die sie ausnahmslos an Liebhaberstücken vornahmen, sie sonderlich auf Trab halten würden. Den Großteil ihrer Energie verwendeten sie darauf, sich in ihrer Garage in Cannobio in nicht enden wollenden Zänkereien und gegenseitigen Beschimpfungen zu ergehen, die in der Regel mehrmals täglich durch die benachbarten Gassen des Städtchens am Ufer des Lago Maggiore hallten.

Dass diese Auseinandersetzungen eher eine Mischung aus Ritual und sportlichem Wettstreit waren, durchschaute man schnell. In Wirklichkeit liebten die Alten sich heiß und innig, auch wenn sie das niemals öffentlich zugeben würden. Matteo hatte die drei schrägen Vögel unmittelbar ins Herz geschlossen, nachdem er in seine alte Heimat zurückgekehrt war und die Macelleria seines verstorbenen Vaters übernommen hatte. Und das lag nicht nur daran, dass die drei sein geliebtes, aber leider äußerst prätentiöses und über dreißig Jahre altes Lancia Gamma Coupé schon einige Male wieder fahrtüchtig gemacht hatten. Natürlich nicht, ohne Matteo dafür zu verhöhnen, dass er mit so alberner Hingabe an einem dermaßen berguntauglichen Wagen hing. Aber Matteo ahnte, dass die drei seinen Lancia ebenfalls für ein Schmuckstück hielten, sonst würden sie sich dessen Macken nicht so leidenschaftlich zuwenden.

 

War es tatsächlich schon mehr als anderthalb Jahre her, dass er sein Mailänder Leben und seine Arbeit als Polizeipsychologe hinter sich gelassen hatte? Davor geflohen war, wäre wohl die korrektere Formulierung. Wer Seelen sezieren kann, der wird es auch mit ein paar Rinderhälften aufnehmen können, hatte er sich damals gesagt, und sich das Hinterzimmer der Macelleria mit dem Wenigen eingerichtet, das er aus seiner Mailänder Wohnung mitgebracht hatte. Matteo schüttelte den Kopf, um die unliebsamen Gedanken zu vertreiben. An die Vergangenheit wollte er heute Abend nicht denken.

»Gratulieren muss man heute vor allem dir, mein Lieber«, wandte Matteo sich an Luigi. »Wie alt bist du geworden? Siebzig? Fünfundsiebzig?«

Luigi schnaufte empört, ohne dass eindeutig festzustellen war, ob sich das Schnaufen auf die Frage nach seinem Alter bezog, oder ob Luigi doch etwas an Matteos Salsiccia-Ragout auszusetzen hatte, in dem er währenddessen ausgiebig mit einem Finger gerührt hatte, als könne er auf diese Weise nicht nur die Konsistenz des Gerichts, sondern seine Qualität insgesamt beurteilen. Nachdem er den Finger mit einer raschen Bewegung in den Mund gesteckt und wieder herausgezogen hatte, nickte er allerdings zufrieden. Hätte Matteo auch gewundert. Zwar war er alles andere als ein gelernter Fleischer, aber in den vergangenen Monaten hatte er seinen ganzen Ehrgeiz darauf verwendet, die alten Rezepturen seines Vaters wiederzubeleben und hier und da zu variieren.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Mit seinen Wurst- und Fleischspezialitäten hatte er sich mittlerweile einen Ruf erarbeitet, der seinen Vater sicherlich mit Stolz erfüllt hätte. Wahrscheinlich trug an diesem Abend nicht zuletzt die Kulisse des Lago und der Berglandschaft ihren Teil dazu bei, dass Luigis Geburtstagsmenü bei den Gästen auf so viel Begeisterung stieß. Matteo hatte sich, so war es verabredet gewesen, auf Gerichte aus der Region beschränkt.

Vom hinteren Ende der Tafel, an der die gut dreißig Gäste fröhlich aßen, tranken und plauderten, prosteten Beppo und Flavio Matteo und Luigi zu.

»Wirklich, nicht übel, Signor Basso!«, krähte Beppo hinüber. »Aber wo hast du Hornochse denn das Steinpilz-Risotto versteckt?«

Matteo zuckte mit den Schultern.

»Gestrichen. Es waren noch keine zu finden, leider.«

Ein brüllendes Lachen der beiden, in das Luigi sofort einstimmte, war die Antwort. Verdammt noch mal, ja. Matteo wusste selbst, dass September der ideale Monat war, um in den Bergen des Valle Cannobina oder im benachbarten Valle Vigezzo Steinpilze zu finden. Er hatte in den vergangenen Tagen viele Stunden vergeblich damit zugebracht, durch den Wald zu streifen und die Stellen zu suchen, zu denen ihn sein Vater als Kind mitgenommen hatte. Jedes Mal waren sie damals mit gefüllten Körben zurückgekommen. Seine Mutter hatte daraus die herrlichsten Gerichte zubereitet, und was an Pilzen übrig blieb, wurde zum Trocknen auf ein großes Drahtgeflecht gelegt.

Beppo japste nach Luft. Reichlich theatralisch, wie Matteo fand. Während Flavio zwischen seinen kaum weniger ausgestellten Lachsalven hervorstieß:

»Die Wälder sind voll davon, du Blindfisch! Ist ja schlimmer als beim Angeln.« Einige Gäste mussten nun ebenfalls kichern, was Matteo, wie er erstaunt feststellte, tatsächlich traf. Vor allem deshalb, weil er es als Spott über sein Ritual empfand, das er allmorgendlich, bevor er den Rollladen der Macelleria hochzog, zelebrierte und das er eigentlich für sich hatte behalten wollen. Nicht etwa, weil es ihm peinlich war, nicht, weil »überschaubar« ein reiner Euphemismus war, wenn es um seine Fang-Quoten ging, nein, im Gegenteil. Es ging ihm, wenn er seine Angel auswarf, nicht um den Erfolg. Es ging ihm um die Ruhe und Einsamkeit, die er jeden Morgen aufs Neue finden konnte, wenn er die steinige Böschung ans Ufer hinabstieg. Andere mochten andere Gewohnheiten haben.

Dem See und seinen Bewohnern beim langsamen Erwachen zuzusehen, die sanften Wellen ans steinige Ufer schwappen zu hören und die klare Luft zu atmen, war seine Art, den Tag zu beginnen. Und dieser morgendliche Zeitvertreib bannte wie durch ein Wunder die Schatten und düsteren Gedanken, die ihn während der Nächte bisweilen heimsuchten. Der See war seine Rettung gewesen. In dieser Hinsicht hatte Matteos Humor Grenzen.

Dass er keine Pilze gefunden hatte, hatte mit seinen Fähigkeiten als Angler absolut nichts zu tun. Matteo goss sich ein großzügig bemessenes Glas Dolcetto ein. Der Geschmack des Weines, die saftige Fruchtigkeit, die seinen Gaumen umspülte, stimmte ihn wieder mild. Der Wind vermischte sich mit dem Geplapper der Gäste und dem Geklapper der Messer und Gabeln, mit deren Hilfe die verschiedenen Salsicce, die Saltimbocca-Spieße oder die Bistecche alla fiorentina in mundgerechte Stücke portioniert wurden. Dazu gab es Polenta, die in einem großen holzbefeuerten Kupferkessel zubereitet wurde, in dem ein Bruder von Luigi, den Matteo nie zuvor gesehen hatte, zufrieden und ohne Unterlass rührte. Und wer danach immer noch hungrig war, dem würde ein Becher mit Vanilleeis, Schlagsahne und gesüßtem Kastanienpüree den Rest geben.

Matteo klopfte Luigi auf den Rücken, sehr viel sanfter selbstverständlich, als der Alte es zuvor bei ihm getan hatte, schlenderte zum Anleger hinüber und ließ sich auf der Kaimauer nieder. Die angebrochene Flasche Dolcetto nahm er mit. Für seinen Geschmack hatte er heute Abend genug geplaudert. Nicht, dass er Luigis Gäste nicht gemocht hätte. Aber irgendwann überkam ihn in Gesellschaft stets das Bedürfnis nach Alleinsein. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass das jemals anders gewesen war. Wie gern würde er jetzt in seinem Zimmerchen sitzen und Musik hören, zurückgelehnt in dem alten Ledersessel, eines der Möbelstücke, die er aus Mailand mitgenommen hatte.

Aber es war, wie ihm ein Blick auf seine Courage zeigte, gerade einmal neun Uhr, und es machte nicht den Eindruck, als ob dieses Fest bald vorbei wäre. Ganz im Gegensatz zu der Veranstaltung, die heute auf der benachbarten Isola Bella stattgefunden, aber mit dem Einbruch der Dämmerung wohl ihr Ende gefunden hatte. Wahrscheinlich hatte man eines der Passagierschiffe, die für gewöhnlich zwischen den Inseln und Stresa verkehrten, gechartert, um wieder ans Festland zu kommen. Während der späten Nachmittagsstunden waren immer wieder angestrengt klingende Jazz-Fetzen zu ihnen herübergeweht worden. Sicher irgendein steifer Empfang mit Vertretern aus Wirtschaft oder Politik.

Matteo war froh, dass dort nun Ruhe eingekehrt war. Nicht nur, weil er Jazz verabscheute und sein Herz den alten Opern gehörte. So ein Menschenauflauf von Wichtigtuern passte ganz einfach nicht zu den Inseln, fand er. Er für seinen Teil hätte auch auf die Touristen verzichten können, aber sie waren seit mehr als hundert Jahren Teil der Folklore, die sich hier täglich abspielte. Und sie garantierten den einfachen Menschen einen Wohlstand, für den man dankbar sein musste. Doch nur jetzt, wo keine Boote mehr verkehrten, entfalteten die kleinen Inseln und der Lago ihren wahren Zauber. Stille. Selbst die Bewohner und die Gäste der wenigen Hotels schienen ihre Stimmen gedämpft zu haben. Aber das konnte auch Einbildung sein.

Matteo fiel ein, dass er Luigi gar nicht gefragt hatte, warum er seinen Ehrentag ausgerechnet hier beging. Eine romantische Ader hatte Matteo bei ihm bisher nicht entdecken können. Oder wenn, dann nur, wenn Luigi in den Zeiten schwelgte, die er in linken Pariser Studentenkreisen verbracht hatte, was allerdings Jahrzehnte zurücklag. Vielleicht ein kleines amouröses Abenteuer in Jugendzeiten? Matteo holte erneut die Futura-Packung aus der Hosentasche.

Vermutlich steckte ein sehr viel profanerer Grund dahinter. Weil nachts keine Schiffe mehr zum Festland übersetzten, konnte Luigi sicher sein, dass keiner der Gäste frühzeitig die Feier verließ. Für jeden hatte er deshalb ein Zimmer im Belvedere reservieren lassen. So auch für ihn, und das schmeckte Matteo gar nicht. Oder sollte er einfach über seinen Schatten springen? Was war so schlimm daran, noch eine Weile der friedlichen Stimmung des Lago nachzuspüren und dann angenehm angetrunken in eines der Betten zu fallen?

Die zierliche, bronzene Madonna, die auf der äußersten Kante der Kaimauer thronte, schien, ähnlich wie er, versunken in den Anblick des Sees.

»Und du sorgst dafür, dass es friedlich bleibt, habe ich recht?«

Ein kurzer Schmerz durchfuhr Matteo. Natürlich hatte er heute Abend, wie an so vielen Abenden zuvor, an Gisella gedacht, die im vergangenen Frühjahr im Lago ermordet worden war. Die Polizei hatte ihren Tod zunächst für einen Badeunfall gehalten, und weil Matteo instinktiv gewusst hatte, dass das nicht stimmen konnte, war er unfreiwillig zum Ermittler geworden. Der Tod der guten Freundin und die tragischen Verwicklungen, die sich daraus entsponnen hatten, machten ihm noch immer zu schaffen.

Längeren Gesprächen mit Gisellas älterer Schwester Anna etwa, war er seither ausgewichen. Auch heute Abend hatte er sie gemieden. Vielleicht, weil er die Traurigkeit, die sich in ihr Gesicht eingegraben hatte, nicht ertragen konnte.

Als Psychologe, der sich über lange Zeit vor allem mit traumatisierten Polizeibeamten beschäftigt hatte, war er häufig mit Schmerz und Verlust konfrontiert gewesen. Doch die professionelle Distanz, die Anteilnahme zwar nicht ausschloss, aber vor allem darauf fokussiert war, den ihm anvertrauten Menschen zu helfen, hatte alles im Gleichgewicht gehalten. Natürlich war ihm manches nahegegangen, aber er hatte sich immer darauf verlassen können, dass die Rolle, die er bei den Behandlungen einnahm, ihn davor schützte, sich die Ängste und Erlebnisse der anderen zu eigen zu machen, sich davon überwältigen zu lassen. Aber sobald es sein eigenes Leben betraf, zappelte er hilflos wie ein Fisch am Haken.

Matteo seufzte, wobei er im letzten Moment versuchte, dem Seufzer noch einen grimmigen Beiklang zu verleihen. Er wollte jetzt nicht in Schwermut verfallen. Die gestattete er sich nur in der Einsamkeit seiner Macelleria. Oder an seinem Plätzchen unten am See. Rasch goss er sich ein weiteres Glas Dolcetto ein und stürzte es hinunter. Ihm war klar, dass er zu schnell trank, und dass der Rotwein es dennoch nicht schaffen würde, ihn in eine gelöste Stimmung hinübergleiten zu lassen. Aber vielleicht immerhin in eine gleichgültige.

Auf dem Festland brannten nur noch einzelne Lichter. Selbst die Grandhotels, die die mondäne Uferstraße von Stresa säumten, hatten ihre Kronleuchter schon gedimmt. Das Einzige, was die Beschaulichkeit des Abends störte – wenn auch nur marginal –, war das Flackern eines roten Lichts in Höhe des Fähranlegers von Stresa. Wahrscheinlich ein Wackelkontakt, dachte Matteo, oder wurde der Anleger gar nicht von Signallampen flankiert? Mit den Lichtfeuern von Häfen kannte er sich ebenso wenig aus wie mit der Lichterführung von Schiffen. Rot war Backbord, grün war Steuerbord – aber sonst? Für ein paar Augenblicke beobachtete er das nervöse rote Flackern, dann verlor sich sein Blick im Schwarz, in das die Oberfläche des Lago mittlerweile gehüllt war. Gegen den Schlag, der ihn nun am Rücken traf, war der von Luigi eine Streicheleinheit gewesen.

»Na, Dottore! Sonnst du dich hier schön in deinem Ruhm?!«

Matteo musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer ihn da hinterrücks anranzte. Dino, der Wirt der Osteria aus der Via Umberto, bei dem er hin und wieder ein Glas Nebbiolo trank, hatte ihn schon den ganzen Abend böse angefunkelt. Das musste man nicht ernst nehmen. Dino wurde von allen nur »der General« genannt, weil er einen überaus robusten Umgang mit seinen Gästen pflegte. Was aber nur bei denjenigen, die zum ersten Mal die Osteria betraten, für Irritationen sorgte. Für alle anderen gehörte die raue Behandlung irgendwie dazu, so wie das Essen, das selbst an guten Tagen allenfalls mittelmäßig war. Trotzdem war die Osteria eine Institution. Der Frage nach dem Warum war Matteo noch nie nachgegangen. Vermutlich lag es einfach an den Gästen selbst. Sie sorgten für eine gute Atmosphäre, und der Rest war egal.

Dass Dino beleidigt war, weil Luigi nicht ihn, sondern Matteo mit dem Geburtstagsbuffet betraut hatte, war absehbar gewesen. Matteo überlegte kurz, ob er Dino darauf hinweisen sollte, dass es wirklich überflüssig war, ihn als »Dottore« anzusprechen. Er war jetzt Fleischer. Nicht mehr Psychologe. Aber auch den Hinweis, dass »sonnen« angesichts der Lichtverhältnisse nicht unbedingt die treffendste Formulierung war, verkniff Matteo sich. Stattdessen streckte er Dino wortlos die Futura-Packung entgegen. Schnaufend ließ sich der Wirt neben ihn plumpsen und nestelte umständlich nach einer Zigarette. Offensichtlich war er betrunken.

Schweigend saßen die beiden nebeneinander und Matteo hing seinen Gedanken nach, als Dino ihn plötzlich grob am Arm packte.

»Verdammter Mist, Dottore«, flüsterte er entsetzt. »Hast du das gesehen?«

Matteo grummelte unwillig, woraufhin Dino ihn noch kräftiger schüttelte.

»Die bringen den um. Dottore. Die bringen den um!«

Matteo setzte sich auf und blickte ihn verwundert von der Seite an.

Mit flattriger Hand und ausgestrecktem Finger deutete Dino in die Dunkelheit des Sees.

»Über Bord geschmissen. Die haben den einfach über Bord geschmissen.« Mit vor Schreck aufgerissenen Augen starrte der Wirt ihn an. »Der ersäuft. Der ersäuft doch.«

»Wovon sprichst du? Was denn? Wo denn?«

Dino sprang auf und versuchte, Matteo ebenfalls zum Aufstehen zu bewegen.

»Verdammt noch mal, Dottore!«, in seiner Stimme lag echtes Entsetzen. »Wir müssen was tun, wir müssen den rausholen.« Hektisch blickte er sich um. »Mach ein Boot klar!«

Die ersten Gäste wurden auf das Geschrei aufmerksam und wandten mehr oder weniger interessiert die Köpfe um. Dass Dino laut wurde, war nichts Besonderes.

»Was genau hast du denn gesehen?«

»Eins dieser, dieser«, Dino geriet ins Stottern, »na, dieser Touristen-Fährschiffe. Da haben sie jemanden über Bord geschmissen.«

Matteo erhob sich, kniff erneut die Augen zusammen und schaute angestrengt in die Richtung, in die er gezeigt hatte. Den ganzen See, soweit er von hier aus einsehbar war, suchte er ab. Da war nichts. Absolut nichts. Tiefe Schwärze. Kein Boot, keine Lichter. Geschweige denn ein Mensch, der ins Wasser geschmissen worden war.

»Das hast du alles so genau gesehen? Bei der Dunkelheit?«

»Verdammt noch mal«, fuhr Dino ihn an. »Das Schiff war da. Jetzt seh ich es auch nicht mehr. Keine Ahnung, wohin es verschwunden ist.«

»Vielleicht ein Geisterschiff?«, frotzelte Matteo und legte dem Wirt den Arm um die Schulter. »Kann es sein, dass dir der Wein und zu viele alte Geschichten im Hirn herumspuken?«

Unwirsch machte Dino sich von ihm los.

»Was für eine alte Geschichte, Dottore? Was redest du? Willst du sagen, ich spinne?«

»Ich will nicht sagen, dass du spinnst«, gab Matteo besänftigend zurück. »Ich glaube nur, dass in einer bestimmten Umgebung, einer bestimmten Stimmung, plötzlich Erinnerungen aufgerufen werden, die ganz real erscheinen, aber eben nur Bilder sind.«

Verdammt noch mal, ja, wer wusste das besser als Matteo selbst. Plötzlich fröstelte ihn, als eine unvermutet kräftige Böe vom See über den Kai wehte. Dino blickte ihn konsterniert an. Matteo beeilte sich, das Pathos, das er gerade fabriziert hatte, aufzulösen. Er grinste und stieß Dino in die Seite.

»Diese alte Erzählung, meine ich. Die kennst du doch sicher. Von dem Jungen, der im Palazzo auf der Isola Bella aufwächst und bei einem nächtlichen Spaziergang durch den Garten auf diesen Mönch trifft, der sich ›Vater des Todes‹ oder so ähnlich nennt.

Dieser Mönch erzählt dem Jungen, dass dessen Schwester, die in Spanien lebt, in dieser Sekunde gestorben sei. Und dass er gleich ihren Leichnam über dem Lago schweben sehen wird. Der Junge fährt sofort auf den See. Und tatsächlich schwebt da für ein paar Momente ein totes Mädchen über dem Wasser.«

Dino zog seine buschigen Augenbrauen hoch. Dann brach er in grimmiges Gelächter aus.

»Dottore, du willst mich wohl für dumm verkaufen?! Ich habe gesehen, was ich gesehen habe. Und wer verzapft so einen Unsinn? Dante? Oder Dario Fo? Überhaupt, hör mir doch auf mit deinem Kulturquatsch. Davon verstehst du genauso wenig wie vom Essen. Geh doch deine Opern hören und lass mich in Ruhe.«

Dino machte auf dem Absatz kehrt, gab sich alle Mühe, sein Straucheln zu überspielen, und strebte eilig in Richtung des Buffets, wo die Getränke aufgebaut waren.

Kopfschüttelnd sah Matteo ihm nach. Der Alkohol machte seltsame Dinge mit den Menschen.

»Jean Paul ist es gewesen«, rief er dem Wirt hinterher, aber der drehte sich nicht um.

Matteo hatte als Sechzehnjähriger begonnen, Jean Pauls fast tausendseitiges Mammutwerk »Titan« zu lesen, nachdem er aufgeschnappt hatte, dass der erste Teil auf der Isola Bella spielte. Ein paar Abende hatte er durchgehalten, ohne wirklich viel zu verstehen von dem über 200 Jahre alten Buch. Und vielleicht hatte es auch nur daran gelegen, dass in dem kleinen Bergdorf Orasso, in dem er mit seinen Eltern damals noch lebte, obwohl sein Vater die Macelleria schon unten an den See verlegt hatte, wegen der Herbstgewitter ständig das Licht ausfiel, dass er den Roman irgendwann zur Seite gelegt hatte. Viel mehr als die Episode mit dem Mönch, die ihn damals zum Schaudern gebracht hatte, war ihm nicht im Gedächtnis geblieben.

Noch einmal suchte er mit den Augen den See ab. Blödsinn. Es hätte ja nicht nur ein Mensch, sondern gleich ein ganzes Schiff verschwinden müssen. Davon hatte der Mönch nichts gesagt. Und Dino hatte einfach zu viel getrunken.

Das Stimmengewirr der Festgesellschaft wurde zusehends lauter und klirrte schrill in seinen Ohren. Matteo spielte gerade mit dem Gedanken, sich einen ruhigeren Platz zu suchen oder während eines Spaziergangs die kleine Insel einmal zu umrunden, als schon wieder jemand neben ihn trat.

»Was macht denn so ein großer und schöner Mann ganz allein hier?«, raunte es. »Magst du nicht zu uns herüberkommen?« Eine üppige Mittvierzigerin in einem für diesen Anlass um einige Pailletten zu mondänen und für ihre Figur entschieden zu knappen Abendkleid hielt ihm ein Weinglas unter die Nase.

»Es ist noch genug zu trinken da«, säuselte sie. Matteos Blick blieb an ihrem kanariengelben Lidschatten hängen, den die vergangenen Stunden einigermaßen ramponiert hatten. Er merkte, wie sich alles in ihm verspannte. Hatte Luigi sie ihm nicht vorhin vorgestellt? Eine Nichte oder Großnichte? Aus Bergamo? Oder Turin? Auf jeden Fall war sie verspätet angekommen, weil sie noch einen Geschäftstermin gehabt hatte. Vermutlich erklärte das auch ihren Aufzug.

»Na, was ist nun?«, sie blinzelte zu ihm hinauf. Unverkennbar war das Glas, das sie schwungvoll vor ihm schwenkte, auch nicht das erste oder zweite, das sie sich an diesem Abend genehmigte. Warum auch. Hier wurde gefeiert. Aber wenn es nicht schon vorher klar gewesen war, dann wusste er nun endgültig, dass die Party für ihn vorüber war. Mit aller Kraft versuchte er, das Lachen Teresas aus seinem Kopf zu vertreiben, das diesem hier so ähnlich war. Sein Herz krampfte sich zusammen. So hatte sie immer gelacht, wenn es ihm auf einer Operngala oder einer Party zu viel geworden war. Es war ein liebevoll spöttisches und zugleich nachsichtiges Lachen gewesen. Matteo hatte sich so fest vorgenommen, nicht an Teresa zu denken. Nicht an Mailand. Nicht an die Vergangenheit.

Die Dame vor ihm strich ihm leicht über den Arm.

»Ich lass dich mal, hm?«

Matteo nickte dankbar. Gedankenverloren schaute er auf die Schaumkronen, die sich auf dem Wasser kräuselten. Ein Scharren riss ihn abrupt aus seiner Nachdenklichkeit. Er fuhr herum.

»Sagt mal, ihr Verbrecher. Das kann doch jetzt echt nicht wahr sein!«

Das Rumpeln hinter dem hölzernen Verschlag, in dem einige Fischer der Isola dei Pescatori ihre Gerätschaften lagerten, verriet Matteo, dass er sich nicht geirrt hatte.

»Na, kommt schon raus«, knurrte er.

Mit schlecht geschauspielerten schuldbewussten Mienen trottete Luigi mit Beppo und Flavio im Gefolge hinter der Längsseite des Verschlags hervor.

»Jungs, wie oft hab ich euch schon gesagt: Hört auf, mir nachzuspionieren.«

»Na ja«, Beppo senkte den Kopf und bohrte die Fußspitze in den Kies, konnte aber das Kichern in seiner Stimme kaum verbergen. »Sooo oft ja nun auch wieder nicht.«

Flavio reckte die Hände zum Himmel.

»Dio, Matteo, du bist jung. Wie alt bist du genau? Dreiundvierzig, vierundvierzig? Du brauchst eine Frau.«

Matteo schüttelte unwirsch den Kopf.

»Wo es doch letztes Jahr schon mit der Kommissarin nicht geklappt hat!« Luigi verdrehte versonnen die Augen. »So schön war die.«

Gegen seinen Willen musste Matteo schmunzeln. Ausnahmsweise hatte der Alte recht. Kommissarin Nina Zanetti hatte ihm wirklich gefallen. Sie war – gemeinsam mit ihrem abscheulichen Kollegen Buffon – mit den Ermittlungen zu Gisellas Tod betraut gewesen. Und obwohl er hin und wieder darüber nachgedacht hatte, sich bei ihr unter irgendeinem Vorwand zu melden, hatte er sie seit damals nicht mehr gesehen.

»Eure Motoren sind wohl zu heiß gelaufen, verschont mich mit diesem Blödsinn«, knurrte Matteo. Er wusste, dass er ihnen keine größere Freude bereiten konnte, als in ihre verbalen Gemetzel einzusteigen. »Eure Verkupplungsversuche sind noch plumper als eure knollennasigen Visagen. Ja, grinst nur. Ihr seid schlimmer als Kinder.« Vergnügt zogen die drei von dannen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Matteo, dass sich einer der jungen Männer, die Luigi für diesen Abend als Kellner engagiert hatte, an einem der Motorboote zu schaffen machte, die am Hafenbecken der Insel vertäut lagen. Er hatte angenommen, dass alle Anwesenden auf der Isola dei Pescatori übernachten würden. Nun sah er die Chance, dem Trubel hier zumindest für eine Weile zu entkommen. Niemand würde ihn vermissen. Und mit dem ersten Boot am Morgen wäre er wieder da, um aufzuräumen.

»He«, rief er in Richtung des jungen Mannes. »Stresa?«

Der schüttelte den Kopf.

»Nicht ganz. Piazzale Lido. Du weißt schon, die Anlegestelle an der Seilbahnstation zum Monte Mottarone.«

Umso besser. An diesem kaum frequentierten Bootsanleger kurz vor Stresa hatte Matteo seinen Lancia geparkt.

»Ich würde mitkommen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Momento, Matteo, was soll das denn?«

Luigi stand plötzlich neben ihm und war wirklich empört.

»Sei mir nicht böse, mein Lieber. Es war herrlich. Aber jetzt brauche ich ein bisschen Ruhe.«

Luigi murmelte beleidigt vor sich hin.

Der Motor des Bootes tuckerte schon leise. Der junge Kellner machte eine fragende Geste. Gleich, gleich, bedeutete Matteo ihm.

»Du hast doch viel zu viel getrunken. Wie willst du es denn bis nach Cannobio schaffen?«, versuchte der Alte, ihn umzustimmen.

»Keine Sorge. Ich mach ein kleines Nickerchen im Wagen, und morgen früh bin ich wieder da.«

Luigi winkte ab. Dann ging er langsam zu der Festgemeinschaft zurück, nicht ohne dabei nach Kräften zu schimpfen.

»Diese Rübe«, hörte Matteo noch, als er das Motorboot bestieg. »Genauso eine Diva wie sein albernes Auto.«

Als das Boot Fahrt aufnahm, nickte Matteo dem Mann am Steuer zu.

»Danke fürs Mitnehmen.«

»Da niente. Gern. Auch nicht so ein großer Partyfreund?«

Matteo grinste schief.

»Geht so.«

»Du hast das Buffet gemacht, oder? Sei froh, dass du nicht auf der Party da drüben gewesen bist.« Der Mann deutete zur Isola Bella hinüber. »Die Schnösel hätten kräftig die Nase gerümpft über so viel Hausmannskost.« Er grinste. »Aber mir hat es geschmeckt.«

»Was war das für eine Veranstaltung?«

»Keine Ahnung. Ich bin ja hier die ganze Zeit eingespannt gewesen. Aber wenn da etwas stattfindet, sind das meistens irgendwelche steifen Empfänge. Geschäftsleute aus Mailand oder Turin oder was weiß ich. Hab ein paarmal dort gekellnert. Aber ich frag nicht groß nach, wenn ich irgendwo Geld verdiene. Die Party von dem schrägen alten Vogel hat eindeutig mehr Spaß gemacht.«

»Was machst du sonst?«

Der junge Mann streckte Matteo die Hand entgegen.

»Roberto. Ich betreibe den kleinen Kiosk auf dem Parkplatz der großen Anlegestelle von Stresa. Abends bessere ich meine Einnahmen durch solche Kellnerjobs hin und wieder ein bisschen auf.«

»Matteo«, erwiderte Matteo. Da Roberto wusste, dass er für das Buffet zuständig gewesen war, war ihm sicher ohnehin klar, wen er da in seinem Boot mitnahm.

Es war nur ein vager Impuls, der Matteo zu seiner folgenden Frage bewog.

»Weißt du zufällig, ob hier nach Einbruch der Dunkelheit noch Schiffe verkehren?«

»Natürlich, wir fahren doch auch. Von einem Nachtfahrverbot habe ich noch nichts gehört.«

»Ich meine keine privaten Motorboote, sondern die Fährschiffe, die zu den Inseln und hinüber zum Ostufer des Lago fahren.«

»Nicht, dass ich wüsste. Die letzten Schiffe legen gegen 19.00 Uhr von den Inseln ab, dann sind sie gegen 19.15 Uhr in Stresa. Danach ist der Laden dicht.«

Matteo nickte nachdenklich. Sein Blick wanderte über die dunklen Wellen, die gegen das Boot schwappten. Die Anlegestelle war nicht mehr weit entfernt.

»Und wurde schon mal eins gestohlen oder entwendet?«

»Gestohlen? Die alten Kähne? Wozu das denn?«

Roberto fuhr eine so scharfe Kurve, dass Matteo unsanft gegen die Bordwand prallte, dann hatten sie den Anleger von Piazzale Lido erreicht.

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Als Matteo nach ein paar denkbar unbequemen Stunden erwachte und sich in dem Sitz seines Lancias hochrappelte, spürte er als Erstes einen stechenden Schmerz im Nacken. Vielleicht wäre ein Bett auf der Insel doch die bessere Variante gewesen.

Dann erstarrte er. Gänsehaut zog ihm den Rücken hinauf und ließ ihn seine Schmerzen unmittelbar vergessen. Matteo war der Überzeugung, schon relativ viel gesehen zu haben in seinem Leben. Live oder auf Bildern. Aber dieser Anblick war mit Abstand das Grausamste, was ihm je untergekommen war. Mit weichen Knien stieg er aus dem Lancia. Umständlich und mit fahrigen Fingern wühlte er sein Handy hervor. Ein kurzer Blick darauf sagte ihm, dass es kurz nach halb sieben war. Vielleicht war er der Erste, der sah, was sich auf der Isola Bella in der Nacht zugetragen hatte. Er drückte die Nummer der Kommissarin. Noch vor dem zweiten Klingeln war sie am Apparat.

»Pronto.«

»Basso, Matteo Basso hier. Sie erinnern sich an mich? Entschuldigen Sie die frühe Störung. Sie müssen sofort zur Isola Bella fahren. Es ist etwas passiert.«

»Was für eine Überraschung. Buongiorno Signor Basso, grazie. Wir wurden bereits informiert.«

In diesem Moment erblickte Matteo ein Polizeiboot, das mit Hochgeschwindigkeit über den Lago raste.

»Wie kommt es, dass Sie die Leiche entdeckt haben? Sieht man die etwa von Cannobio aus?« Nun hörte Matteo auch den Fahrtwind, gegen den die Kommissarin anschreien musste.

»Nein«, antworte er, »ich war zufällig in der Nähe.«

»Wie bitte? Sie müssen lauter sprechen.«

Matteo räusperte sich.

»Ich hatte in der Gegend zu tun«, brüllte er in den Apparat. Kurz zögerte er. Dann setzte er hinzu: »Ich war gestern Abend auf der Isola dei Pescatori und habe in Stresa übernachtet.«

»Seltsamer Zufall«, kam es von der anderen Seite. »Dass Sie wieder in der Nähe sind, wie im vergangenen Jahr.« Matteo sah, wie das Polizeiboot kurz vor dem Bootsanleger der Isola Bella abbremste. »Ich muss mir hier erst mal ein Bild von der Lage verschaffen. Ich melde mich gegebenenfalls später noch mal bei Ihnen.«

Damit hatte sie aufgelegt. Matteo ließ sich auf die Motorhaube des Lancias sinken und zündete sich eine Futura an. Nachdem er zwei tiefe Züge genommen hatte, fühlte er sich gestärkt genug und schaute wieder zur Isola Bella hinüber.

Auf dem Horn des Einhorns, das nicht nur am höchsten Punkt der barocken Gartenanlage stand, sondern wie ein Wahrzeichen über der Insel thronte und von weit her zu sehen war, hing ein Mensch. Der Körper durchbohrt von der eisernen Spitze. Matteo schauderte.

Wie viele Meter Luftlinie mochten es sein von der Leiche bis hin zu dem Platz, an dem er vor einigen Stunden noch am Kai gesessen und auf den See geschaut hatte?

Die Polizei, so viel konnte er aus der Entfernung sehen, hatte den Tatort mittlerweile erreicht und würde sich, auch da war er sicher, alle Mühe geben, den Toten von seiner Zurschaustellung zu befreien. Und umgekehrt das Einhorn von seiner makabren Last.

 

An sein Versprechen, beim Aufräumen zu helfen, dachte er keine Sekunde, stattdessen fuhr er nach Cannobio, um auf den möglichen Anruf der Kommissarin zu warten. Als Matteo eine gute Stunde später im Hinterzimmer seiner Macelleria stand und routiniert das Brät für die Salsiccia zubereitete, um danach den Naturdarm damit zu füllen, kreisten seine Gedanken unentwegt um den unbekannten Toten. Oder war es eine Sie?

Wer beging einen Mord, der darauf angelegt war, von möglichst vielen Menschen in möglichst kurzer Zeit gesehen zu werden? Organisierte Kriminalität? Aber selbst die ging, wenn auch brutal, doch in der Regel diskret vor. Eine Warnung? Ein Exempel? Da hatte jemand eine Hinrichtung vollzogen, wie sie plakativer kaum sein konnte.

Er griff nach den Fenchelsamen, die er in einer Tasse aufbewahrte, und durch eine ungeschickte Bewegung landete ihr gesamter Inhalt auf dem Fleisch. Sei es drum. Das würden die Kunden heute verkraften.

Und warum das Einhorn? Es zierte das Familienwappen der Familie Borromeo, der die Insel gehörte. Und wenn ihn nicht alles täuschte, sollte es Werte wie Ehre und Ergebenheit symbolisieren.

Himmel, schoss es ihm mit einem Mal durch den Kopf. Warum stand er eigentlich hier? Nicht bei ihm würde sich die Polizei zuerst melden, sondern bei Luigi und seinen Gästen. Schließlich waren sie ganz in der Nähe des Tatorts gewesen. Er hatte die drei Alten alleine gelassen. Matteo biss sich auf die Lippen. Was für ein schlimmes Erwachen mochte es wohl für die Gäste auf der Isola dei Pescatori gewesen sein? Hoffentlich hatte die Polizei sie nicht allzu sehr in die Mangel genommen. Aber wenn Matteo an Buffon, den älteren Kollegen von Nina Zanetti, an diesen untersetzten cholerischen Kerl mit Bürstenschnitt dachte, dann schwante ihm Böses.

Er warf einen Blick auf die Uhr, die über der Arbeitsplatte hing.

Kurz nach neun. Wenn er sich beeilte, erwischte er sie vielleicht noch. Rasch band Matteo die Schürze ab, warf sie achtlos zur Seite, wusch sich die Hände und band die Armbanduhr um. Sogar das Handy steckte er ein, auch wenn er dem kleinen Ding nach wie vor skeptisch gegenüberstand. Dass es von einer gewissen Nützlichkeit war, hatte er mittlerweile immerhin eingesehen.

Als er gute zwei Minuten später in seinem Lancia saß, hing das »chiuso«-Schild in der Ladentür, und nur der dichte Verkehr hinderte ihn daran, sich in den Straßenverkehr einzufädeln. Bauarbeiten, die sich nun schon seit Monaten hinzogen, stellten die Autofahrer beinahe täglich auf eine harte Geduldsprobe. Wollte man keinen erheblichen Umweg über die Berge in Kauf nehmen, war man gezwungen, die Uferstraße zu nehmen. Eine andere gab es nicht.

Die Reifen des Lancias kreischten empört auf, als Matteo eine winzige Lücke nutzte, um auf die Straße zu gelangen.

»Entschuldige, meine Schöne«, Matteo tätschelte das Lenkrad. »Ich weiß, das magst du nicht besonders. Ging gerade nicht anders.«

Hinter Verbania löste sich der dichte Verkehr auf. Matteo gab Gas und warf, bevor er zu einigen Überholmanövern der etwas rabiateren Art ansetzte, wiederholt einen sehnsüchtigen Blick auf den See. Sein idealer Morgen bestand nun wirklich nicht darin, Kleintransporter auf der SS34 zu überholen. Welchen Spaß empfanden nur die vielen Radrennfahrer inmitten dieses Verkehrs? Sie ruinierten ihre Gesundheit und hielten ihn zusätzlich auf.

Plötzlich schoss etwas laut hupend an der Fahrertür des Lancias vorbei, bremste scharf ab und war dann wieder hinter ihm. Von vorne kam ihm ein Reisebus gefährlich nahe. Matteo riss das Steuer zur Seite. Verdammter Mist. Wütend schaute er in den Rückspiegel, um zu sehen, was für ein Stümper da beinahe einen Kratzer in den Lack seiner schönen Diva gemacht hätte.

Die Vespa samt dem leuchtend roten Helm der Fahrerin kannte er nur allzu gut. Augenblicke später, nachdem noch ein paar entgegenkommende Wagen teils erschrocken, teils genervt gehupt hatten, schloss die Kommissarin zu ihm auf und gab ihm durch Handzeichen zu verstehen, dass er bei nächstbester Gelegenheit halten solle.

»Zufall? Oder wollten Sie zu mir?«, fragte Matteo, als er den Lancia an einer kleinen Tankstelle gestoppt hatte und ausgestiegen war.

Die Kommissarin nahm den Helm ab, schüttelte ihre halblangen, blondmelierten Haare und zog mit einem süffisanten Lächeln eine Augenbraue hoch. Einen Wimpernschlag lang war Matteo unbegreiflich, warum er seinen Plan, sich bei der Kommissarin zu melden, nicht umgesetzt hatte. Und nun war es schon wieder ein unschöner Anlass, der sie zusammenführte.

»Nun ja«, die Kommissarin wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Eine Geste, die Matteo sofort vertraut war. »Nachdem das mit Ihnen und dem Telefon immer eine knifflige Sache ist, dachte ich, ich versuche es lieber gleich auf direktem Weg.«

Dann wurde ihr Gesicht ernst.

»Eine ziemlich üble Sache, die da passiert ist.«

Matteo hatte derweil sein Handy aus der Tasche gezogen, um zu demonstrieren, dass er durchaus technikaffiner geworden war. Aber die drei entgangenen Anrufe, die ihm sein Display anzeigte, bewiesen ihm, dass er in dieser Hinsicht offenbar etwas zu optimistisch gewesen war.

»Haben Sie heute Morgen irgendwas bemerkt, das uns weiterhelfen könnte?«

Matteo schüttelte den Kopf.

»Nein, ich war heute Morgen, als ich den Toten sah, vollkommen überrascht. Und«, er suchte kurz das passende Wort, »entsetzt.«

Die Kommissarin nickte.

»Es handelt sich um eine männliche Leiche. Ende vierzig, vermutlich. Wir versuchen gerade, die Identität zu ermitteln. Sie haben also nichts gesehen. Auch gestern Abend nicht? Die Kollegen überprüfen momentan die Teilnehmer des Empfangs, der auf der Isola Bella stattgefunden hat.«

»Wenn ich das richtig mitbekommen habe, war der schon vor Einbruch der Dunkelheit vorbei«, merkte Matteo an. »Obwohl es natürlich möglich wäre, dass einer der Anwesenden dort geblieben ist. Oder besser: zwei.«

»Möglich.« Wieder dieses Lächeln. Matteo beeilte sich, den Blick ein paar Meter weiter auf den Tankwart zu lenken, der gerade einen Kunden abkassierte.

»Möglich wäre natürlich ebenso«, fuhr Nina Zanetti fort, »dass später noch jemand zurückgekommen ist. Warum haben Sie eigentlich nicht wie die anderen Gäste auf der Isola dei Pescatori übernachtet?«

Matteo zuckte die Schultern.

»Es ergab sich spontan die Gelegenheit, doch noch hinüber aufs Festland zu fahren.«

»Etwas präziser, wenn möglich.«

»Ein Kellner, der auf der Feier gearbeitet hat, war mit seinem eigenen Boot gekommen und hat mich mit nach Stresa genommen. Oder, um genauer zu sein: zum Anleger am Piazzale Lido, dort stand mein Wagen.«

»Und wohin sind Sie dann gefahren?«

»Nirgendwohin. Ich habe es mir im Auto bequem gemacht.«

Die Kommissarin schaute ihn halb belustigt, halb ungläubig an.

»In diesem Wagen? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Es ist ein Wunder, dass Sie überhaupt Platz hinter dem Lenkrad finden. Da schläft man ja besser im Stehen.«

Wenn Matteo an das Stechen im Nacken dachte, das ihn seit dem Aufwachen begleitete, konnte er ihr nur zustimmen.

Nina Zanetti schien ein weiterer Kommentar auf den Lippen zu liegen, den sie sich aber verkniff.

»Können Sie mir den Namen dieses Kellners sagen?«, fragte sie stattdessen und zückte ein kleines, reichlich zerfleddertes Notizbuch aus der Innentasche ihrer schwarzen Lederjacke.

»Ich kenne nur seinen Vornamen: Roberto«, sagte Matteo. »Wenn er nicht kellnert, betreibt er einen Kiosk in der Nähe des Schiffsanlegers in Stresa.«

»O.k.«, Nina Zanetti notierte etwas in ihrem Büchlein. Matteo erwischte sich dabei, dass er auf ihre Finger schielte. Noch immer kein Ring. Das besagte jedoch nichts. Und überhaupt interessierte ihn das alles im Grunde nicht.

»Irgendwelche Auffälligkeiten, äußerlich oder in dem, was er gesagt oder wie er sich verhalten hat? Können Sie ihn beschreiben?«

Matteo besann sich einen Augenblick.

»Da fällt mir nichts ein. Er ist Mitte zwanzig, würde ich sagen. Vielleicht auch Ende zwanzig. Ein netter Typ. Allerweltsfrisur. Schlank. Kleiner als ich.«

Die Kommissarin blickte von ihren Notizen auf.

»Das ist ja auch nicht sonderlich schwierig.«

Matteo ging über ihre spöttische Bemerkung hinweg. Er wusste selbst, dass seine Größe durch seine hagere Gestalt nur noch mehr betont wurde.

»Sagen Sie, ist der Mann ertrunken?«, fragte Matteo, denn er musste an das denken, was Dino gestern Abend gesehen haben wollte: ein Schiff und einen Menschen, der über Bord gegangen war.

»Die genaue Todesursache steht noch nicht fest. Aber auf Ertrinken oder auf eine längere Verweildauer im Wasser weist bis jetzt nichts hin. Gibt es einen Grund, dass Sie danach fragen?«

»Nein, gibt es nicht.«

Er wollte die Ermittlungen nicht durch Dinos fixe Idee auf unnötige Nebengleise führen.

»Hören Sie, ich darf Sie natürlich offiziell nicht in Ermittlungsergebnisse einweihen. Ich würde Sie in diesem ungewöhnlichen Fall aber dennoch gern in Ihrer Eigenschaft als Psychologe um Rat fragen.«

»Sie wollen vermutlich wissen, was für ein Täterprofil ich prognostiziere, wenn jemand sein Opfer öffentlich zur Schau stellt, und zwar so, dass es sofort entdeckt wird?«

Die Kommissarin nickte.

»Naheliegend wäre zunächst mal die Frage, wie man den Mann dorthin geschafft hat«, überlegte Matteo. »Nicht nur auf die Insel, sondern auf die Spitze des Horns. Das sind doch vom Boden aus sicher an die vierzig Meter.«

»Ich bin heute tatsächlich zum ersten Mal auf der Isola Bella gewesen«, fiel ihm die Kommissarin ins Wort. »Ich bin ja noch nicht so lange in der Gegend, ähnlich wie Sie. Oder nein, bei Ihnen ist das ja ganz anders.«

Sie bedachte ihn mit einem warmen Blick. Matteo seufzte innerlich auf. Es war wirklich eine Herausforderung, konzentriert zu bleiben.

»Man kommt näher heran an die Einhorn-Statue, als man aus der Entfernung denken würde«, erklärte die Kommissarin. »Von der Rückseite aus lässt sich die Statue durchaus besteigen. Der steinerne Schweif des Pferdes, äh, Einhorns, reicht fast bis zum Boden. Aber Sie haben dennoch recht. Unkompliziert ist es sicher nicht, einen Toten dort hinaufzuwuchten. Und bedenken Sie die Kraft, die nötig ist, ihn dann so aufzuspießen.«

»Mehrere Täter?«

Die Kommissarin wiegte den Kopf.

»Möglich.«

»Das heißt«, fragte Matteo, »Sie gehen davon aus, dass der Mann an einem anderen Ort ermordet und dann dort ausgestellt wurde?«

»Das tun wir«, bestätigte Nina Zanetti. »Aber noch mal zu dem Profil des Täters.«

»Das lässt sich natürlich besser einkreisen, wenn man eine Idee davon hat, was diese Zurschaustellung symbolisiert. In Verbindung mit dem Einhorn oder der Insel.«

Das ungeduldige Nicken der Kommissarin sollte wohl so viel heißen wie: So weit war ich mit meinen Überlegungen auch schon.

Matteo straffte den Rücken.

»Also, dem ersten Anschein nach würde ich sagen: Entweder organisierte Kriminalität oder ein Täter mit einem gesteigerten, aber gestörten Geltungsbedürfnis.«

Nina Zanettis Züge verdüsterten sich, was nicht an der Sonne liegen konnte, die mittlerweile auf sie niederbrannte. Nachdenklich ließ sie sich auf die Vespa sinken, als könne sie sich in dieser Position besser konzentrieren.

»Da ist noch etwas, zu dem ich gern Ihre Meinungen hören würde, weil es das Ganze noch eigenartiger macht. Aber bitte behalten Sie es für sich, die Aufregung der Leute ist schon groß genug. Dem Toten wurde eine Rippe herausgetrennt.«

»Ihm wurde was?«

»Sie haben schon richtig verstanden«, wütend trommelte sie mit den Fingern auf die Sitzbank der Vespa.

Matteo fuhr sich durch die Haare und bemerkte mit Schrecken, dass eine der Spangen, mit denen er seine widerspenstigen Locken während der Arbeit aus der Stirn klemmte, immer noch darin steckte. Unauffällig machte er die Spange los, und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden.

»Wer um alles in der Welt macht so etwas?«, fragte die Kommissarin in einem Ton, als würde sie ihm diese Frage zum wiederholten Mal stellen, »ein Verrückter?«

»Nun ja, der Prominenteste, der so etwas getan hat, ist meines Wissens bisher nicht unbedingt für seine Verrücktheit geächtet worden.«

»Helfen Sie mir auf die Sprünge?«

»Genesis. Adam. Rippe.«

»Mensch Basso, Sie halten sich wohl für besonders witzig.«

Auf der Stirn der jungen Kommissarin hatte sich eine kleine Zornesfalte gebildet. Das Klingeln ihres Handys hielt Matteo von einer Erwiderung ab. Sie entfernte sich ein paar Schritte und nahm dabei, unterbrochen von knappen Nachfragen, weitere Informationen ihrer Kollegen entgegen, wenn Matteo die Gesprächsfetzen richtig deutete.

Er hatte gar keinen Witz machen wollen. Abgesehen davon, dass das nun wirklich nicht seine Stärke war, war die Assoziation zur Schöpfungsgeschichte wirklich das Erste gewesen, was ihm in den Sinn gekommen war.

»Hat man die Rippe bei der Leiche gefunden?«, fragte er die Kommissarin, nachdem sie sich wieder zu ihm gesellt hatte.

Nina Zanetti verneinte.

»Aber die Identität des Toten ist mittlerweile geklärt. Ein gewisser Vittorio Ferretti, aus Santa Maria Maggiore. Sagt Ihnen der Name etwas?«

»Bedauere, nein.«

»Hat offenbar als Fotograf gearbeitet.«

Matteo überlegte. »Bei einem Fotografen denkt man natürlich als Erstes daran, dass er etwas festgehalten haben könnte, das er besser nicht gesehen hätte.«

»Und dass jemandem ganz und gar nicht gefallen hat, dass Ferretti das gesehen hat, und dass derjenige deswegen dafür sorgt, dass er künftig nichts mehr sehen wird«, setzte die Kommissarin Matteos Satz fort, ohne dass klar war, wie viel Bedeutung sie dieser Überlegung beimaß.

»Wir überprüfen ihn und seine Arbeit natürlich. Aber zunächst muss ich seine Frau informieren.«

Matteo holte die Futura-Schachtel aus der Tasche, klopfte eine Zigarette hervor und hielt sie der Kommissarin hin. Die nickte dankbar.

»Wollen Sie ihr sagen, in welchem Zustand ihr Mann gefunden worden ist?«

Nina Zanetti ließ sich Feuer geben.

»Ich befürchte, es ist besser, wenn ich es ihr sage, als wenn sie es morgen in der Zeitung liest oder im Fernsehen sieht.«

»Dann hoffe ich sehr«, Matteo gelang es nur mit mäßigem Erfolg, den ironischen Unterton zu unterdrücken, »dass Ihr Kollege Buffon die passenden Worte finden wird. Wenn er so auftritt, wie ich ihn in Erinnerung habe, wird die Wirkung nicht weniger erschütternd sein als die der Bilder, wenn es denn welche gibt.«

Buffon und er waren nach Gisellas Tod einige Male auf unangenehme Weise aneinandergeraten. Matteo bekam noch jetzt schlechte Laune, wenn er an den unangenehmen Typen dachte, der sich für unfassbar großartig hielt und dem es bei seinem Job um alles Mögliche ging, nur nicht um die Menschen selbst.

Nina Zanetti blies den Rauch der Futura aus.

»Keine Sorge. Buffon wird nicht dabei sein.«

»Wie erfreulich. Er ist doch nicht etwa krank?«