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Jack London – Gesammelte Werke E-Book

Jack London

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Beschreibung

Mit Index Die wichtigsten Werke von Jack London: Der Seewolf Wolfsblut Nordlandgeschichten Martin Eden König Alkohol An der weißen Grenze Das Mondtal Der Ruhm des Kämpfers Der Mexikaner Felipe Rivera Der Schrei des Pferdes Wer schlug zuerst? Das Ende vom Lied Das Wort der Männer Die Liebe zum Leben Der Sohn des Wolfs Das weiße Schweigen Die Männer von Forty-Mile In fernem Lande Auf der Rast Das Vorrecht des Priesters Die Weisheit der Reise Das Weib eines Königs Eine Odyssee des Nordens Der Seebauer Die glücklichen Inseln Auf der Makaloa-Matte Die Gebeine Kahekilis Koolau, der Aussätzige Leb wohl Jack! Aloha ʻOe Der Sheriff von Kona Das Haus des Stolzes Die Tränen Ah Kims Chun Ah Chun Die Herrin des Großen Hauses Drei Sonnen am Himmel Die Heirat der Lit-Lit Jees Uck Braunwolf Bastard Negore, der Feigling Quartier für einen Tag Der König und sein Schamane Ein Sohn der Sonne Aloysius Pankburns wunder Punkt Die Teufel von Fuatino Die Witzbolde von Neu-Gibbon Eine kleine Abrechnung mit Swithin Hall Ein Abend in Goboto Federn der Sonne Parlays Perlen In den Wäldern des Nordens Das Gesetz des Lebens Nam-Bok, der Lügner Der Herr des Geheimnisses Die Männer des Sonnenlandes Die Krankheit des Einsamen Häuptlings Keesh, der Sohn des Keesh Ligouns Tod Li Wan, die Schöne Der Bund der Alten Jerry der Insulaner Kid & Co. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 7149

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Jack London

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Jack London

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-47-5

null-papier.de/577

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

An der wei­ßen Gren­ze

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Das Mond­tal

Ers­tes Buch

Zwei­tes Buch

Drit­tes Buch

Der Ruhm des Kämp­fers

Der Ruhm des Kämp­fers

Der Me­xi­ka­ner Fe­li­pe Ri­ve­ra

Der Schrei des Pfer­des

Wer schlug zu­erst?

Das Ende vom Lied

Das Wort der Män­ner

Die Lie­be zum Le­ben

Der See­wolf

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Der Sohn des Wolfs

Das wei­ße Schwei­gen

Der Sohn des Wolfs

Die Män­ner von For­ty-Mile

In fer­nem Lan­de

Auf der Rast

Das Vor­recht des Pries­ters

Die Weis­heit der Rei­se

Das Weib ei­nes Kö­nigs

Eine Odys­see des Nor­dens

Der See­bau­er

Die glück­li­chen In­seln

Auf der Ma­ka­loa-Mat­te

Die Ge­bei­ne Ka­he­ki­lis

Koo­lau, der Aus­sät­zi­ge

Leb wohl Jack!

Alo­ha ʻOe

Der She­riff von Kona

Das Haus des Stol­zes

Die Trä­nen Ah Kims

Chun Ah Chun

Die Her­rin des Gro­ßen Hau­ses

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Drei Son­nen am Him­mel

Drei Son­nen am Him­mel

Die Hei­rat der Lit-Lit

Jees Uck

Braun­wolf

Ba­stard

Ne­go­re, der Feig­ling

Quar­tier für einen Tag

Der Kö­nig und sein Scha­ma­ne

Ein Sohn der Son­ne

Ein Sohn der Son­ne

Aloy­si­us Pank­burns wun­der Punkt

Die Teu­fel von Fua­ti­no

Die Witz­bol­de von Neu-Gib­bon

Eine klei­ne Abrech­nung mit Swi­thin Hall

Ein Abend in Go­bo­to

Fe­dern der Son­ne

Par­lays Per­len

In den Wäl­dern des Nor­dens

In den Wäl­dern des Nor­dens

Das Ge­setz des Le­bens

Nam-Bok, der Lüg­ner

Der Herr des Ge­heim­nis­ses

Die Män­ner des Son­nen­lan­des

Die Krank­heit des Ein­sa­men Häupt­lings

Keesh, der Sohn des Keesh

Li­gouns Tod

Li Wan, die Schö­ne

Der Bund der Al­ten

Jer­ry der In­su­la­ner

Vor­wort

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Kid & Co.

Ein Miss­griff der Schöp­fung

Die Ge­schich­te ei­nes klei­nen Man­nes

Eier

Die neue Stadt

Das Wun­der des Wei­bes

Kö­nig Al­ko­hol

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Lock­ruf des Gol­des

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Mar­tin Eden

Ers­ter Band

Zwei­ter Band

Meu­te­rei auf der El­si­no­re

1

2

3

4

5

6

7

8

11

Mi­cha­el der Bru­der Jer­rys

1

2

4

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Nach­wort

Nord­land­ge­schich­ten

Ne­go­re, der Feig­ling

Der Kö­nig und sein Scha­ma­ne

Das Wort der Män­ner

Der Gott sei­ner Vä­ter

Das Vor­recht des Pries­ters

Die Weis­heit der Rei­se

Nam-Bok, der Lüg­ner

Der Bund der Al­ten

Jan, der Un­ver­bes­ser­li­che

Die große Fra­ge

Li­wan, die Schö­ne

Süd­see-Ge­schich­ten

Die Per­le

Der Wal­zahn

Mau­ki

Der blas­se Schre­cken

Otoo, der Hei­de

Die furcht­ba­ren Sa­lo­mon­in­seln

Der un­ver­meid­li­che wei­ße Mann

Feu­er auf See

Wolfs­blut

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Drit­ter Teil

Vier­ter Teil

Fünf­ter Teil

In­dex

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An der weißen Grenze

1

Alle Lu­ken des Damp­fers wa­ren of­fen. Quiet­schen­de, krei­schen­de und pol­tern­de Krä­ne tauch­ten mit spit­zen Ha­ken in sei­nen Bauch ein. Unabläs­sig hol­ten sie Kis­ten und Las­ten der Gold­grä­ber her­vor und schwan­gen sie hin­über in of­fe­ne Leich­ter, die zu bei­den Sei­ten längs des Schif­fes la­gen. Tau­send Men­schen has­te­ten auf Deck um­her und tra­ten ein­an­der auf die Füße. Die Schau­er­leu­te wa­ren im Streik, und die Pas­sa­gie­re muss­ten selbst ihre La­dung lö­schen. Es war kei­ne Ord­nung. Grup­pen­wei­se strit­ten sie sich um das Ei­gen­tums­recht an be­stimm­ten Las­ten, die mit »Punkt 2« oder »Punkt 2 Strich« ge­zeich­net wa­ren. Dann und wann kam es zu Schlä­ge­rei­en.

Der Ers­te Of­fi­zier ging durch das To­hu­wa­bo­hu und mach­te ein hei­te­res Ge­sicht, als gin­ge ihn die gan­ze Sa­che nichts an.

»Gold­grä­ber sind eine leicht ver­derb­li­che Fracht«, sag­te er zu Fro­na Wel­se. »Sie zit­tern um jede Mi­nu­te …«

»Und ich erst!« rief Fro­na. »Ich zit­te­re auch um jede Mi­nu­te. Da, schaun Sie da hin­über! Dort, wo der Fluss mün­det, zwi­schen den Kie­fern, se­hen Sie das große Block­haus? In dem bin ich ge­bo­ren!«

»Dann al­ler­dings, dann hät­te ich auch Eile«, lach­te er. »Also dann wol­len wir Ih­nen mal ein biss­chen un­ter die Arme grei­fen.«

Sie war das ein­zi­ge jun­ge Mäd­chen an Bord, un­ter mehr als tau­send Män­nern. Er lots­te sie ga­lant an die Re­ling, wo ver­zwei­fel­te Pas­sa­gie­re stan­den und mit Schrift­stücken wink­ten. Sie brüll­ten ihre Fracht­zei­chen und fluch­ten wie die Hei­den.

»Der Pro­vi­ant­meis­ter sagt, ent­we­der ist er schon ver­rückt ge­wor­den, oder er wird es au­gen­blick­lich«, er­zähl­te der Ers­te Of­fi­zier, wäh­rend er Fräu­lein Wel­se über die Lauf­plan­ke half.

»Da­bei geht es bei uns noch ganz fried­lich her. Se­hen Sie da drü­ben den ›Stern von Beth­le­hem‹?«

Er zeig­te auf einen Damp­fer, der eine Mei­le ent­fernt vor An­ker lag.

»Die Hälf­te von den Pas­sa­gie­ren da drü­ben hat Pack­pfer­de be­stellt. Die wol­len nach Ska­guay und dem Wei­ßen Pass. Dort soll es neue Gold­fun­de ge­ben. In ei­nem Jahr will je­der von ih­nen Mil­lio­när sein. Ihre Pfer­de ste­hen am Strand und gra­sen fried­lich, und die Leu­te kom­men nicht vom Schiff weg. Da ist eine Art von Meu­te­rei aus­ge­bro­chen.«

»He, Sie!« rief er ei­nem Ru­der­boot zu, das sich vor­sich­tig am äu­ßers­ten Ran­de des schwim­men­den Wirr­warrs hielt.

Eine win­zi­ge Bar­kas­se, die mit he­ro­i­schem Mut an ei­ner mäch­ti­gen Schu­te zerr­te, ver­such­te, dem Ru­de­rer den Weg ab­zu­schnei­den, aber der Mann leg­te sich ein­fach vor ih­ren Bug. Er be­kam einen Stoß und fiel der Län­ge nach in sein Boot. Das Boot dreh­te sich und stopp­te jetzt den gan­zen Ver­kehr.

Eine paar lan­ge Ka­nus, voll­ge­la­den mit Wa­ren, Gold­grä­bern und In­dia­nern, dräng­ten an ihm vor­bei zum Strand und ver­hed­der­ten sich in­ein­an­der. Als der Ru­de­rer wie­der auf die Füße kam, ließ er einen Ha­gel von Flü­chen auf alle Ka­nu­leu­te und Leicht­er­schif­fer nie­der­fah­ren. Ein Mann auf dem Leich­ter beug­te sich zu ihm hin­über und schwur, dass er nie einen arm­se­li­ge­ren Sohn ei­ner Hün­din ge­se­hen hät­te, wäh­rend die Wei­ßen und In­dia­ner in den Ka­nus in ein brül­len­des Hohn­ge­läch­ter aus­bra­chen.

»Scher dich zum Sa­tan!« rief ei­ner aus dem Kanu, »hät­test du lie­ber ru­dern ge­lernt!«

Die Faust des Ru­de­rers krach­te ge­gen das Kinn des an­de­ren, der be­täubt auf einen Wa­ren­sta­pel fiel. Er war da­mit aber noch nicht zu­frie­den. Weiß vor Wut, woll­te er sich in das Kanu hin­über­schwin­gen und wei­ter auf den Mann ein­dre­schen, der be­haup­tet hat­te, er könn­te nicht ru­dern. Ein Gold­grä­ber im sel­ben Kanu, der in all dem nur Zeit­ver­geu­dung sah, nes­tel­te an sei­ner Re­vol­ver­ta­sche, und man konn­te große Din­ge er­war­ten. Aber dann wur­de dem Ru­de­rer aus dem Kanu her­aus ein Rie­men über den Schä­del ge­schla­gen, so­dass er für den Au­gen­blick kampf­un­fä­hig war, das Kanu be­kam sei­nen Weg wie­der frei, und ge­ra­de als Mord und Tot­schlag un­ver­meid­lich schie­nen, war die klei­ne Mei­nungs­ver­schie­den­heit plötz­lich zu Ende.

Der Schiff­s­of­fi­zier warf einen ver­stoh­le­nen Blick auf das Mäd­chen … viel­leicht wur­de sie ohn­mäch­tig, und er muss­te sie auf­fan­gen? Aber ihr Ge­sicht war voll ver­gnüg­ter Span­nung. Sie war noch hüb­scher ge­wor­den.

»Es ist mir ja lieb, dass der Re­vol­ver nicht ge­knallt hat«, sag­te sie, »aber so was macht doch Spaß, fin­den Sie nicht?«

In­zwi­schen war der Ru­de­rer wie­der auf die Bei­ne ge­kom­men und leg­te sein Boot an die Schiffs­wand.

»Eine Dame an Land!« schrie der Of­fi­zier. »Wie viel?«

»Zwan­zig Dol­lar.«

»Der Kerl ist ein Räu­ber«, sag­te der Of­fi­zier zu Fro­na. »Zwan­zig Dol­lar für die paar hun­dert Me­ter! Für einen Mann wür­de er wahr­schein­lich fünf­und­zwan­zig for­dern. Rich­ti­ge See­räu­be­rei! Ei­nes schö­nen Ta­ges wird er da drü­ben hän­gen an ei­ner von den Kie­fern.«

»Hal­ten Sie’s …«, rief der von un­ten.

»Sie ha­ben ver­dammt gute Ohren!«

»Mit den Flos­sen bin ich auch nicht lang­sam, wenn Sie’s dar­auf an­kom­men las­sen.«

»Und ganz be­son­ders schnell mit dem Maul!«

»Muss ich auch, bei mei­nem Ge­schäft, sonst käm’ ich nicht weit un­ter all den Hai­fi­schen. Ich soll ein Räu­ber sein? Was seid ihr denn dann? Tau­send Pas­sa­gie­re auf­ein­an­der ge­packt wie die Öl­sar­di­nen … und für nichts ge­sorgt! Be­zah­len lasst ihr euch zwei­mal so­viel wie in der ers­ten Klas­se, und füt­tern tut ihr sie mit Zwi­schen­deck­fraß! Möch­te wis­sen, wer von uns ei­gent­lich See­räu­ber ist!«

»Also, mein ver­ehr­tes Fräu­lein …«, sag­te der Of­fi­zier zu Fro­na. »Al­les Gute! Ich hät­te Sie gern an Land be­glei­tet. Aber Sie se­hen ja selbst: ein biss­chen muss ich doch hier noch zu­se­hen. Die Leu­te ha­ben das gern. Je­den­falls kön­nen Sie sich dar­auf ver­las­sen, dass ich für Ihr Ge­päck sor­ge.«

Sie drück­te ihm die Hand und klet­ter­te in das Boot. Es schwank­te stark, im Au­gen­blick wa­ren die Bo­den­bret­ter über­spült, und ihre Füße stan­den im Was­ser. Sie blieb ganz ru­hig, setz­te sich auf die Steu­er­ducht und zog die Bei­ne hoch.

»Das geht ja nicht!« rief der Of­fi­zier von oben. »Kom­men Sie zu­rück, Fräu­lein Wel­se! So­bald es mög­lich ist, las­se ich Sie mit ei­nem von un­se­ren Boo­ten an Land brin­gen.«

Er klet­ter­te die Strick­lei­ter hin­un­ter und woll­te das viel zu leich­te Boot mit Ge­walt zu­rück­hal­ten, aber der Ru­de­rer hat­te für so­viel Rit­ter­lich­keit kein Ver­ständ­nis und schlug ihm über die Knö­chel.

»Willst mir mei­nen Pas­sa­gier aus­span­nen? Hast wohl Sehn­sucht nach dem Him­mel?«

»Ein fei­er­li­cher Ab­schied!« rief Fro­na Wel­se ihm mit strah­len­dem Ge­sicht zu. »Ha­ben Sie tau­send Dank, Sie sind ein Rit­ter!«

»Das ist ein Weib!« sag­te der Rit­ter vor sich hin und rieb sei­ne ge­trof­fe­nen Fin­ger­knö­chel. Er hat­te plötz­lich Sehn­sucht, im­mer in die­se grau­en Mäd­chen­au­gen zu se­hen, hat­te Lust, sei­nen Be­ruf über Bord zu wer­fen und mit ihr nach Klon­di­ke zu zie­hen.

*

Ein falscher Rie­men­griff … Platsch! hat­te Fro­na eine di­cke Hand voll Was­ser mit­ten im Ge­sicht.

»Nur nichts übel­neh­men«, ent­schul­dig­te sich der Boots­mann. »Man tut, was man kann, aber es kommt nicht im­mer viel da­bei her­aus.«

»Scheint mir doch so«, lach­te sie gut­mü­tig.

»Ich mach’ mir gar nichts aus der See«, sag­te der Mann bit­ter, »aber man muss se­hen, wie man’s wie­der zu ein paar Dol­lars bringt. Wäre schon längst in Klon­di­ke, hab’ aber ver­fluch­tes Pech ge­habt. Auf dem ›Win­di­gen Arm‹ hab’ ich mei­ne gan­ze Aus­rüs­tung ver­lo­ren … bei­na­he hat­te ich den Kram schon über den Pass hin­über­ge­schafft.«

Aber­mals: Schwupp, Platsch! Sie schüt­tel­te sich das Was­ser aus den Au­gen und frös­tel­te, als eine nas­se La­dung ihr den war­men Rücken hin­un­ter­rann.

»Sie wer­den’s schaf­fen!« sag­te der Mann. »Sie sind aus dem rich­ti­gen Holz für die­ses Land ge­schnitzt. Wol­len Sie ganz hier­blei­ben?«

Sie nick­te freund­lich.

»Sie wer­den’s schaf­fen! Also, wie ge­sagt, mei­ne Aus­rüs­tung ist da oben zum Teu­fel ge­gan­gen, und jetzt muss ich all das Zeugs neu zu­sam­men­brin­gen. Kann man da bil­li­ger ru­dern als für zwan­zig Dol­lar die Fahrt? Wis­sen Sie, Fräu­lein, schlim­mer als die an­de­ren bin ich auch nicht. Was mei­nen Sie, für die­se alte Ba­de­wan­ne ha­ben sie mir hun­dert Dol­lar aus den Zäh­nen ge­ris­sen. Drü­ben in den Staa­ten ist sie kei­ne zehn wert. So ist es hier mit al­lem. Auf dem Weg nach Ska­guay zahlt man Ih­nen für einen al­ten Huf­na­gel einen Vier­tel­dol­lar. Ein Mann geht in die Knei­pe und trinkt einen Whis­ky, schmeißt zwei Huf­nä­gel auf die The­ke, und es ist o.k. Huf­nä­gel sind da oben Schei­de­mün­ze.«

»Sie müs­sen ein tüch­ti­ger Kerl sein, dass Sie gleich noch ein­mal an­ge­fan­gen ha­ben! Wie hei­ßen Sie ei­gent­lich? Vi­el­leicht be­geg­nen wir uns wie­der ein­mal.«

»Ich? Wie ich hei­ße? Also Del Bi­shop, Gold­grä­ber. Wenn wir uns wie­der be­geg­nen, dann müs­sen Sie von vorn­her­ein wis­sen … mein letz­tes Hemd geb’ ich für Sie her, Fräu­lein! Ent­schul­di­gen Sie, ich mei­ne na­tür­lich, den letz­ten Bis­sen Brot geb’ ich für Sie.«

»Dan­ke«, sag­te sie. »Das kam von Her­zen. Das hört man gleich.«

Er hielt einen Au­gen­blick mit Ru­dern inne und fisch­te aus dem Was­ser zu sei­nen Fü­ßen eine alte Kon­ser­ven­do­se her­vor.

»Schöp­fen Sie lie­ber!« be­fahl er und warf ihr die Dose zu. »Leck war die Kis­te schon vor­her, aber vor­hin hat sie noch eins ab­be­kom­men.«

Fro­na mach­te sich ge­hor­sam an die Ar­beit. So oft sie sich bück­te, ho­ben und senk­ten sich die Ber­ge mit ih­ren Glet­schern am Ho­ri­zont. Hin und wie­der ruh­te sie aus und sah nach dem von Men­schen wim­meln­den Strand, auf den sie zu­steu­er­ten, und dann wie­der auf die Bucht, in der an zwei Dut­zend große Damp­fer an­ker­ten. Von je­dem die­ser Schif­fe ging ein Strom von Leich­tern, Käh­nen, Ka­nus hin und her zum Lan­de. Sie dach­te an die Hör­sä­le, in de­nen sie vor ein paar Wo­chen noch zu Fü­ßen ih­rer Leh­rer ge­ses­sen hat­te. Die­se Welt hier war ihr lie­ber … vor der hat­te sie Re­spekt.

»Aber Sie ha­ben mir Ihren Na­men noch nicht ge­sagt«, mahn­te Bi­shop höf­lich.

»Ich hei­ße Wel­se«, ant­wor­te­te sie. »Fro­na Wel­se.«

Sein Mund stand of­fen, er starr­te sie an: »Dann ist ja … Ja­cob Wel­se … Ihr al­ter Herr?«

»Ja­wohl, wenn Sie nichts da­ge­gen ha­ben.«

Er spitz­te die Lip­pen, stieß einen Pfiff aus und ließ die Rie­men glei­ten. »Klet­tern Sie in den Stern und zie­hen Sie die Bei­ne hoch!« be­fahl er. »Ge­ben Sie mir die Dose.«

»Ar­bei­te ich denn nicht or­dent­lich?«

»Doch, sehr gut so­gar. Aber Sie sind … Sie sind …«

»Genau das­sel­be, was ich vor­her war. Ru­dern Sie wei­ter … das ist Ihre Ar­beit, und mei­ne be­sor­ge ich.«

»Alle Ach­tung, Sie wer­den’s schaf­fen«, mur­mel­te Bi­shop und beug­te sich wie­der über die Rie­men. »Ja­cob Wel­se ist Ihr al­ter Herr! Don­ner­wet­ter, das hät­te man wis­sen sol­len!«

Auf der san­di­gen Land­zun­ge, im Ge­wim­mel ge­schäf­ti­ger Men­schen, die wie Amei­sen hin und her ihre Las­ten tru­gen, schüt­tel­te sie dem Fähr­mann die Hand.

Er war sehr stolz. »Nicht ver­ges­sen, Fräu­lein, mein letz­ter Bis­sen Brot ge­hört Ih­nen.«

»Und Ihr letz­tes Hemd auch! Ver­ges­sen Sie das nicht.«

»Ganz be­stimmt!«

Als sie da­von­ge­gan­gen war, sah er ganz ent­rückt sei­ne Hand an, die sie ge­drückt hat­te.

»Das ist ein Mä­del … Don­ner­wet­ter!«

*

Das Trip­peln auf städ­ti­schem Pflas­ter hat­te ihre Füße nicht ver­dor­ben. Im Au­gen­blick fand sie hier auf hei­mi­schem Strand die leich­ten, lan­gen Wan­der­schrit­te wie­der, die an­de­re mit viel Mühe ler­nen müs­sen. Mehr als ein Gold­grä­ber sah mit der­sel­ben Be­wun­de­rung wie Bi­shop auf ihre lan­gen, elas­ti­schen Bei­ne, aber die meis­ten blick­ten ihr ins Ge­sicht und freu­ten sich über den of­fe­nen, ka­me­rad­schaft­li­chen Blick ih­rer Au­gen. Wenn ei­ner sie an­lä­chel­te, lä­chel­te sie zu­rück, er­mun­ternd, hei­ter, mit­füh­lend, je nach­dem, aber im­mer ka­me­rad­schaft­lich.

Für sie schi­en die Zeit rück­wärts ge­rollt, auf ein­mal war sie wie­der in je­nes Mit­tel­al­ter zu­rück­ver­setzt, in dem sie her­an­ge­wach­sen, in dem es kei­ne Bah­nen und Au­to­mo­bi­le, nur Kar­ren und brei­te Bücken als Ver­kehrs­mit­tel gab. Män­ner, de­nen man an­sah, dass sie bis­her nur mit der Ak­ten­map­pe un­term Arm spa­ziert wa­ren, beug­ten sich un­ter schwe­ren Las­ten. Ihre Bei­ne be­weg­ten sich schwer und stol­pernd, sie wa­ren die­se An­stren­gung nicht ge­wöhnt, und ihre Ge­sich­ter perl­ten von Schweiß. An­de­re lu­den ihr Ge­päck mit stil­lem Tri­umph auf vier­räd­ri­ge Kar­ren und scho­ben los, aber sie blie­ben ste­cken, wo der ers­te große Stein ih­nen den Weg ver­sperr­te. Nach et­li­chem Kampf füg­ten sie sich dann den für Rei­sen in Alas­ka gel­ten­den Grund­sät­zen, lie­ßen den Kar­ren ste­hen oder zo­gen ihn an den Strand zu­rück, um ihn zu ei­nem fa­bel­haf­ten Preis an die Chechaquos zu ver­kau­fen, die noch spä­ter als sie ge­lan­det wa­ren. Neu­lin­ge wan­der­ten mit zehn­pfün­di­gen Colt-Re­vol­vern, Pa­tro­nen­gür­teln und Jagd­mes­sern drauf­los, aber bald merk­ten sie, wie un­nütz die­se Mord­ge­päck­stücke wa­ren. Re­vol­ver, Pa­tro­nen und Mes­ser gar­nier­ten ihre Spur.

Hier, an die­sem Strand, den da­mals noch kein Strom gold­gie­ri­ger Män­ner durch­flu­tet hat­te, war Fro­na Kind ge­we­sen. Hier hat­te sie im Gra­se ge­spielt und er­schau­ernd ge­hört, wie das Echo ihre Stim­me von Glet­scher zu Glet­scher trug und wi­der­hall­te. Über die­ses Gras stapf­ten jetzt zehn­tau­send Män­ner rast­los hin und her. Zehn­tau­send an­de­re wa­ren un­ter­wegs über den Chil­coot. Aber­mals Zehn­tau­send hat­ten die Päs­se schon über­wun­den und mar­schier­ten zu die­ser Stun­de die Gold­fel­der an.

Die Dyea stürz­te sich, wie in al­ten Ta­gen, rau­schend und to­send ins Meer, aber an ih­ren Ufern quäl­ten sich Män­ner in wo­gen­den Rei­hen an Tau­en und Rie­men, schlepp­ten schwer be­la­de­ne Boo­te her­an und lösch­ten die Fracht.

Die Tür zu dem La­den, in dem einst Bi­ber­fän­ger oder Pelz­händ­ler ihre be­schei­de­nen Ein­käu­fe ge­macht hat­ten, war jetzt von ei­ner lär­men­den Schar von Kun­den ver­sperrt. Wo einst ein ein­sa­mer Brief Mo­na­te und Jah­re dar­auf ge­war­tet hat­te, ab­ge­holt zu wer­den, sah Fro­na jetzt die Post in Hau­fen lie­gen. Auf­ge­reg­te Leu­te schri­en nach ih­rer Kor­re­spon­denz. Auch die Waa­ge vor der The­ke war um­la­gert. Ein In­dia­ner warf sei­nen Pa­cken auf das Wie­ge­brett, ein wei­ßer Be­am­ter krit­zel­te das Ge­wicht in sein No­tiz­buch, ein neu­er Pa­cken flog her­an, ver­schnürt und be­reit, auf dem Rücken ei­nes Man­nes über den Chil­coot zu rei­sen.

Zu Fro­nas Zei­ten war hin und wie­der ein­mal das Ge­päck ei­nes Gold­grä­bers oder Händ­lers für sechs Cent das Kilo über den Chil­coot trans­por­tiert wor­den. Der Chechaquo, des­sen Ge­päck ge­ra­de ab­ge­wo­gen wur­de, sah trau­rig in sei­ne Brief­ta­sche.

»Acht Cent«, bot er dem In­dia­ner.

Gro­ßes Hohn­la­chen.

»Vier­zig Cent«, ver­lang­te die Rot­haut.

Der Mann sah sich ängst­lich um, mit tief­trau­ri­gem Ge­sicht. Er las das Mit­ge­fühl in Fro­nas Au­gen und starr­te sie an.

»Stel­len Sie sich vor, Fräu­lein, drei Ton­nen Ge­päck hab’ ich und soll vier­zig Dol­lar für hun­dert Pfund be­zah­len! Das sind 2400 Dol­lar für drei­ßig Mei­len!« schrie er ganz ver­zwei­felt. »Was soll ich tun?«

Fro­na riet ihm: »Be­zah­len Sie die vier­zig Cent, sonst schmei­ßen sie Ih­nen den gan­zen Kram vor die Füße.«

Der Mann sag­te: »Dan­ke, Fräu­lein«, be­folg­te aber ih­ren Rat nicht, son­dern fing wie­der an zu han­deln. Der ers­te In­dia­ner trat vor und streif­te sich, ohne ein Wort zu sa­gen, die Tra­g­rie­men ab. Als der Gold­su­cher sich eben ent­schlos­sen hat­te nach­zu­ge­ben, er­höh­ten die Last­trä­ger ih­ren Preis auf 45 Cent. Er lä­chel­te trüb und nahm auch die­se For­de­rung an, aber in die­sem Au­gen­blick trat ein an­de­rer In­dia­ner zu der Grup­pe, flüs­ter­te ein paar Wor­te, und gleich dar­auf er­tön­te ein Hur­ra.

Im Handum­dre­hen hat­ten alle In­dia­ner ihre Las­ten ab­ge­wor­fen und lie­fen da­von, um die Nach­richt zu ver­brei­ten, von die­ser Stun­de an kos­te die Fracht nach dem Lin­der­mann­see fünf­zig Cent!

Über den Platz vor dem Hau­se gin­gen drei Män­ner, nach de­nen alle Ge­sich­ter sich dreh­ten und alle Häl­se sich reck­ten. Sie wa­ren schlecht ge­klei­det, ei­gent­lich zer­lumpt. In ei­nem zi­vi­li­sier­ten Ge­mein­we­sen hät­te der Dorf­po­li­zist ihre Pa­pie­re sehr ge­nau an­ge­schaut, denn er hät­te sie für Va­ga­bun­den ge­hal­ten.

»Der Fran­zo­sen-Louis!« flüs­ter­te ein Chechaquo sei­nem Kum­pan zu. »Be­sitzt drei El­do­ra­do-Claims in ei­nem Block! Sei­ne zehn Mil­lio­nen ist der schwer!«

Der Fran­zo­sen-Louis hat­te ir­gend­wo un­ter­wegs sei­nen Hut ver­lo­ren und durch ein aus­ge­fran­s­tes sei­de­nes Tuch er­setzt. Trotz sei­nen zehn Mil­lio­nen trug er das Ge­päck selbst auf sei­nem brei­ten Rücken.

»Der mit dem Bart ist der Strom­schnel­len-Bill, auch ei­ner von den El­do­ra­do-Kö­ni­gen.«

»Wo­her wis­sen Sie das?« frag­te Fro­na miss­trau­isch.

»Wo­her ich das weiß? Ich weiß es eben, ver­ste­hen Sie, Fräu­lein! Wenn ei­ner sein Bild alle fünf Mi­nu­ten in sämt­li­chen Zei­tun­gen hat, dann weiß man eben, wie er aus­sieht.«

»Wer ist der Drit­te?« frag­te sie. Ihr Be­richt­er­stat­ter stell­te sich auf die Ze­hen­spit­zen.

»Den kenn’ ich nicht«, ge­stand er be­trübt. Dann frag­te er sei­nen Ne­ben­mann.

»Du, der Ma­ge­re, mit dem aus­ra­sier­ten Voll­bart, der mit dem Lap­pen ums Knie, wer ist das?«

In die­sem Au­gen­blick aber stieß Fro­na einen Freu­den­schrei aus und stürz­te auf den Mann mit dem Voll­bart zu.

»Matt! Mein lie­ber, al­ter Matt!«

Der Mann schüt­tel­te ihr die Hand, aber sein Ge­sicht schi­en miss­trau­isch. Er hat­te kei­ne Ah­nung, mit wem er sprach.

»Du kennst mich nicht mehr, Matt? Un­ter­steh dich, mir zu sa­gen, dass du mich nicht mehr kennst! Wenn nicht so viel frem­de Leu­te hier wä­ren, be­kämst du jetzt auf der Stel­le einen Kuss, dass du’s nur weißt, al­ter Bär!«

»Na­tür­lich, ich ken­ne Sie na­tür­lich … aber wenn Sie mich tot­schla­gen, im Au­gen­blick kom­me ich nicht dar­auf …«

Sie zeig­te auf das Haus, in dem sie ge­bo­ren war.

»Jetzt hab’ ich’s!« rief er. Als er sie dann aber von oben bis un­ten ge­mus­tert hat­te, war er wie­der ent­täuscht. »Kann nicht sein. Muss mich ir­ren. In dem Stall da ha­ben Sie nie ge­wohnt.«

Fro­na nick­te hef­tig mit dem Kopf.

»Dann bist du’s also doch? Die klei­ne, blon­de Hexe, im­mer bar­fuß und mit blo­ßen Bei­nen? Die ich im­mer hab’ käm­men müs­sen?«

»Ja, ja!«

»Der klei­ne Sa­tan, der mit dem Hun­de­ge­spann durch­ge­brannt ist und mit­ten im Win­ter über den Pass woll­te, weil ihr der alte Matt er­zählt hat­te, dort drü­ben höre die Welt auf?«

»Matt, lie­ber al­ter Matt! Und weißt du noch, wie ich mit den Mäd­chen aus dem In­dia­ner­la­ger schwim­men ge­gan­gen bin?«

»Und ich dich gra­de noch an den Wu­scheln ge­kriegt hab’, wie du schon am Er­sau­fen warst!«

»Und wie du da­bei einen von dei­nen neu­en Gum­mi­schu­hen ver­lo­ren hast?«

»Na, ob ich das noch weiß! Gra­de erst bei dei­nem Va­ter ge­kauft, da im La­den, für zehn Dol­lar, Gott er­bar­me sich mei­ner.«

»Und dann bist du fort­ge­zo­gen … über den Pass ins Land hin­ein … und hast nichts mehr von dir hö­ren las­sen. Alle Welt hat ge­glaubt, du wärst tot.«

»Was du al­les noch weißt! Und warst doch so ein win­zi­ges Frau­en­zim­mer.«

»Acht Jah­re alt war ich.«

»Lass mich mal nach­rech­nen, Mä­del. Zwölf Jah­re war ich drin­nen im Land, heut’ zum ers­ten Mal wie­der an der Küs­te. Dann hast du jetzt also dei­ne zwan­zig auf dem Bu­ckel?«

»Und bin fast eben­so groß wie du, al­ter Matt!«

»Ein aus­ge­wach­se­nes, großes Mä­del und gar nicht so übel. So’n biss­chen mehr Fleisch könn­test du gern auf den Kno­chen ha­ben.«

»Mit zwan­zig braucht man kein Fett. Füh­le lie­ber hier!«

Sie streck­te ihm den ge­beug­ten Arm hin und zeig­te ihre Mus­keln.

»Don­ner­wet­ter!« Er griff tüch­tig zu. »Als ob du fürs täg­li­che Brot ge­schafft hät­test.«

»Das nicht, aber Keu­len­schwin­gen, Bo­xen, Fech­ten! Au­ßer­dem Schwim­men, zwan­zig Klimm­zü­ge hin­ter­ein­an­der! Und dann kann ich noch auf den Hän­den lau­fen!«

»Dann hast du dei­ne Zeit nicht schlecht an­ge­wen­det. Hier ha­ben die­se Kaf­fern er­zählt, du wärst fort­ge­reist, um da drü­ben Bü­cher zu büf­feln.«

»Das ist heu­te nicht mehr ganz so, Matt. Sie pfrop­fen ei­nem den Kopf nicht mehr so voll, dass die Bei­ne zu dünn wer­den, um ihn zu tra­gen. Aber du, was machst du, Matt? Was hast du in die­sen zwölf Jah­ren al­les ge­trie­ben?«

»Also schau mich an, Mä­del. Wie ich vor dir ste­he, bin ich Herr Matt­hew McCar­thy, Kö­nig Matt der Ers­te aus der El­do­ra­do-Dy­nas­tie. Mein Be­sitz ist un­be­grenzt, und ich hab’ mehr Gold­staub ge­macht, als ich je ge­träumt hät­te. Jetzt hab’ ich ge­nug, jetzt möcht’ ich wie­der mal einen an­stän­di­gen Whis­ky gra­ben. Ei­nen von der rich­ti­gen Sor­te, ehe ich st­er­be. Dazu fah­re ich rü­ber in die Staa­ten, denn hier her­aus kommt im­mer nur das ge­pansch­te Zeug. Au­ßer­dem will ich mich nach mei­nen Vor­fah­ren um­se­hen. Ich glau­be be­stimmt, dass ich wel­che habe. Wenn du im üb­ri­gen ein paar Pfund Gold­staub nö­tig hast, kannst du’s mir ja sa­gen.«

»Den hol’ ich mir selbst, wenn ich wel­chen brau­che.«

Der Ir­län­der Matt bahn­te sich jetzt sei­nen Weg durch die Men­ge der Chechaquos, die ehr­fürch­tig vor ihm zur Sei­te wi­chen, und in sei­nem Fahr­was­ser se­gel­te die leich­te, klei­ne Fro­na. In den Au­gen all die­ser Leu­te wa­ren sie bei­de eine Art Göt­ter des Nor­dens.

»Der El­do­ra­do-Kö­nig Matt McCar­thy und eine rich­ti­ge Wel­se, wirk­lich und wahr­haf­tig, eine Toch­ter von Ja­cob Wel­se!«

*

Sie trat aus dem glit­zern­den Bir­ken­wald her­aus und flog leicht über die be­tau­te Wie­se da­hin, wäh­rend die ers­ten Son­nen­strah­len auf ih­rem flat­tern­den Haar flamm­ten. Die Erde strotz­te von Feuch­tig­keit und quoll un­ter ih­ren Fü­ßen, und die nas­sen Pflan­zen schlu­gen ihr ge­gen die Knie, dass flüs­si­ge Dia­man­ten leuch­tend sprüh­ten. Die Mor­gen­rö­te färb­te ihre Wan­gen und fun­kel­te in ih­ren Au­gen, und sie glüh­te von Ju­gend und Lie­be. Denn da sie kei­ne Mut­ter ge­habt, war sie am Bu­sen der Na­tur auf­ge­wach­sen, und sie lieb­te die al­ten Bäu­me und die Sch­ling­pflan­zen lei­den­schaft­lich. Das un­deut­li­che Ge­mur­mel er­freu­te ihr Ohr, und der feuch­te Bro­dem der Erde stieg ihr süß in die Nase.

Dort, wo der obe­re Teil der Wie­se in ei­nem dunklen, en­gen Wald­weg ver­schwand, fand sie zwi­schen langs­ten­ge­li­gem Lö­wen­zahn und leuch­ten­den But­ter­blu­men ein Bü­schel Alas­ka-Veil­chen. Sie warf sich der Län­ge nach zu Bo­den, be­grub ihr Ant­litz in der duf­ten­den Küh­le und press­te die pur­pur­ne Pracht an sich. Sie schäm­te sich nicht. Sie war zu den kom­pli­zier­ten Le­bens­be­din­gun­gen der großen Welt, zu ih­rem Schmutz und zu ih­rer ver­derb­li­chen Hit­ze ge­wan­dert und war ein­fach, rein und ge­sund wie­der­ge­kehrt. Und sie freu­te sich des­sen, wie sie jetzt dalag und zu­rück­g­litt zu den al­ten Ta­gen, als die Welt mit dem Ho­ri­zont be­gon­nen und ge­en­det hat­te und sie über den Pass ge­reist war, um den Ab­grund zu schau­en.

Fro­nas Kind­heit war un­ter sehr har­ten Be­din­gun­gen ver­lau­fen. Es hat­te nur we­ni­ge, aber stren­ge Bin­dun­gen für sie ge­ge­ben, die sie spä­ter den »Brot- und Bett­glau­ben« nann­te. Das war, so­viel ihr be­kannt war, auch der Glau­be ih­res Va­ters ge­we­sen, von dem sie im üb­ri­gen wuss­te, dass sein Name un­ter den Män­nern einen gu­ten Klang hat­te. Es war der Glau­be, mit dem star­ke, rei­ne Män­ner je­der Ge­fahr trotz­ten oder in den Tod gin­gen, der Glau­be Ja­cob Wel­ses und Matt McCar­thys, der In­dia­ner­jun­gen, mit de­nen sie ge­spielt hat­te, der In­dia­ner­mäd­chen, de­ren Feld­her­rin sie im Ama­zo­nen­krieg ge­we­sen, der Wolfs­hun­de so­gar, die sich in den Strän­gen müh­ten und Schlit­ten über den Schnee zo­gen. Das war ein ge­sun­der Glau­be, greif­bar und gut.

Ein Rot­kehl­chen zirp­te aus dem Bir­ken­wald, ein Reb­huhn schwirr­te im Wal­de auf, ein Eich­hörn­chen schoss über ih­rem Kopf mit si­che­rem Sprung von ei­nem Baum zum an­de­ren. Der Tag be­gann. Vom Fluss her, den sie nicht sah, tön­ten die Rufe der Glücks­jä­ger, die sehr früh das La­ger ver­las­sen hat­ten und an­fin­gen, sich ih­ren schwe­ren Weg nach Nor­den zu er­kämp­fen.

Als Fro­na Gras und Blu­men lan­ge ge­nug um­armt hat­te, stand sie auf und schlug den al­ten Weg nach dem La­ger des Dyea-Stam­mes ein. Sie be­geg­ne­te ei­nem Kna­ben, der bis auf die ge­flick­ten Ho­sen ein nack­ter Bron­ze­gott war. Er such­te Holz und sah sie bös an. Sie sag­te ihm in der Dyea-Spra­che gu­ten Mor­gen, aber er lach­te frech, und als sie wei­ter­ging, streck­te er ihr die Zun­ge her­aus. So war es frü­her nicht ge­we­sen. Als sie dann ei­nem großen, fins­ter bli­cken­den Sit­ka-In­dia­ner be­geg­ne­te, grüß­te sie nicht.

Am Ran­de des Wal­des sah sie das La­ger vor sich lie­gen, aber nicht das alte La­ger mit sei­nen zwan­zig oder drei­ßig Hüt­ten, die un­or­dent­lich über das Ge­län­de ver­streut wa­ren. An sei­ner Stel­le be­fand sich da ein mäch­ti­ges Dorf. Es reich­te bis zum Flus­sufer hin­ab, wo die lan­gen Ka­nus, je zehn oder zwölf in ei­ner Grup­pe, la­gen. Von weit­her wa­ren die Stäm­me hier zu­sam­men ge­kom­men. Sie sah lau­ter frem­de In­dia­ner mit ih­ren Wei­bern und Hun­den, ih­rem Hab und Gut. Fro­na er­kann­te Män­ner aus Ju­neau und Wran­gel, Styx mit bren­nen­den Au­gen von jen­seits des Pas­ses, krie­ge­ri­sche Chil­coots und Ein­ge­bo­re­ne der Kö­ni­gin-Char­lot­te-In­sel. Die meis­ten mus­ter­ten sie fins­ter, fast zor­nig; ein paar fre­che Ha­lun­ken rie­fen ihr un­an­stän­di­ge Wor­te zu.

Sie kränk­te sich nicht, aber sie stell­te mit Trau­er fest, dass die Zei­ten un­ter dem pa­tri­ar­cha­li­schen Zep­ter ih­res Va­ters vor­bei wa­ren. Wie ein scheuß­li­cher Brand war die Zi­vi­li­sa­ti­on über die­ses Volk hin­weg­ge­gan­gen. Durch eine of­fe­ne Zelt­tür sah sie aus­ge­zehr­te Ge­stal­ten im Krei­se auf dem Fuß­bo­den hocken. Vor dem Zelt lag ein Hau­fen zer­bro­che­ner Fla­schen … Zu ih­res Va­ters Zeit hat­ten die In­dia­ner kein Feu­er­was­ser und kei­ne Fla­schen ge­kannt. Auf ei­ner De­cke, die als Spiel­tisch diente, ver­teil­te ein wei­ßer Mann mit ge­mei­nen Zü­gen Spiel­kar­ten, Gold- und Sil­ber­mün­zen kul­ler­ten auf der De­cke um­her. Ein paar Schrit­te da­von schnurr­te ein Glücks­rad. In­dia­ner, Män­ner und Frau­en, setz­ten ihre müh­sam ver­dien­ten Gro­schen, um prunk­vol­le Ge­win­ne zu er­gat­tern, die ih­nen nichts nüt­zen konn­ten. Aus Wig­wams und Hüt­ten ka­men die brü­chi­gen Töne bil­li­ger Spiel­do­sen.

Vor der of­fe­nen Tür ih­res Wig­wams hock­te eine alte Squaw1 im Son­nen­schein und schäl­te Wei­den­zwei­ge. Als Fro­na vor­bei­ging, hob sie den Kopf und stieß einen schril­len Schrei aus. Dann mur­mel­te sie mit zahn­lo­sem Mund:

»Hi – hi! Ten­as Hi-hi!«

Es durch­rie­sel­te Fro­na bei die­sem Wort. »Ten­as Hi-hi!« Das war ihr Name ge­we­sen … es be­deu­te­te »das klei­ne La­chen« … da­mals, als sie hier un­ter den In­dia­nern ge­lebt hat­te. Sie dreh­te sich um und kau­er­te ne­ben der Al­ten nie­der.

»Sag rasch, Mut­ter, sag mir rasch dei­nen Na­men!«

»So schnell hast du uns ver­ges­sen, Ten­as Hi-hi? Und doch sind dei­ne Au­gen jung und scharf. Nip­uh­sa hat müde alte Au­gen, aber ihr Herz ver­gisst nicht so rasch.«

»Du bist mei­ne alte Nip­uh­sa!« rief Fro­na und strei­chel­te die schmut­zi­gen Run­zel­hän­de.

»Frei­lich bin ich Nip­uh­sa, die dich in den Ar­men ge­wiegt hat! Dei­nen Na­men habe ich dir auch ge­ge­ben, klei­nes La­chen, und wenn die alte Nip­uh­sa nicht Kräu­ter für dich ge­sam­melt hät­te, für Me­di­zin­tee, dann wärst du gar nicht hier, denn ein­mal hat der Tod dich ha­ben wol­len. Dein Schat­ten ist auf mich ge­fal­len, klei­nes La­chen, da hab’ ich gleich ge­wusst, dass du es bist. Du hast noch das­sel­be Haar, wie brau­ner Tang, und den­sel­ben Mund und die­sel­ben Au­gen. Nip­uh­sa war oft streng mit dir, wenn dein Mund Wor­te spre­chen woll­te, die Lüge wa­ren. Aber du hast im­mer ge­wusst, dass Nip­uh­sa dich lieb hat. Ai, ai! Ganz an­ders sind die wei­ßen Frau­en, die jetzt ins Land kom­men!«

»Hat eine wei­ße Frau kei­ne Ehre mehr un­ter euch?« frag­te Fro­na. »Eure Män­ner wer­fen böse Din­ge in mein Ohr, und so­gar die Kna­ben la­chen ein häss­li­ches La­chen, wenn sie mich se­hen. So war es nicht, als ich hier ein Kind war.«

»Ai, ai! Es ist, wie du sagst, klei­nes La­chen. Aber du musst kein zor­ni­ges Wort auf ihre Häup­ter wer­fen. Die wei­ßen Frau­en sind schuld dar­an, die jetzt zu uns kom­men. Sie se­hen alle Män­ner mit fre­chen Au­gen an; ihre Her­zen sind un­rein, und sie ha­ben kei­nen Mann, auf den sie wei­sen kön­nen und sa­gen: ›Dies ist mein Herr.‹ Des­halb sind dei­ne Frau­en un­ter uns ohne Ehre.«

Jetzt wur­de ein Zelt­zip­fel ge­ho­ben, ein al­ter Mann trat her­vor, grunz­te et­was und kau­er­te sich zu den bei­den.

»So ist Ten­as Hi-hi wie­der­ge­kom­men in die­sen schlim­men Ta­gen«, sag­te er mit dün­ner, zit­tern­der Stim­me.

»Wa­rum sind die Tage schlimm, Mus­kim?« frag­te Fro­na. »Sind eure Bäu­che nicht voll vom Mehl und Fleisch und von dem Pro­vi­ant des wei­ßen Man­nes? Ver­die­nen eure jun­gen Män­ner nicht Reich­tü­mer mit Las­ten­tra­gen und Pad­deln? Und brin­gen sie dir nicht, wie in al­ter Zeit, ihr Op­fer der, Fleisch, Fi­sche und De­cken? Ha­ben eure Wei­ber nicht Tü­cher in hel­len, glei­ßen­den Far­ben? Wa­rum sind die Tage schlimm?«

Der alte Me­di­zin­mann war er­regt. In sei­ne Au­gen trat ein Schim­mer, der an die Glut sei­ner Man­nes­jah­re ge­mahn­te.

»Un­se­re Frau­en tra­gen Tü­cher in hel­len, glei­ßen­den Far­ben! Aber sie schau­en nur nach den Au­gen der wei­ßen Män­ner, und die jun­gen Män­ner ih­res ei­ge­nen Blu­tes se­hen sie nicht. Des­halb ver­meh­ren un­se­re Stäm­me sich nicht; die klei­nen Kin­der hin­dern un­se­re Schrit­te nicht mehr. Die Bäu­che sind voll vom Mehl und Fleisch und vom Pro­vi­ant des wei­ßen Man­nes, aber sie sind noch vol­ler vom Fu­sel des wei­ßen Man­nes. Wohl ver­die­nen un­se­re jun­gen Män­ner Reich­tü­mer mit Las­ten­tra­gen und Pad­deln. Aber sie sit­zen nachts beim Kar­ten­spiel und las­sen die Dol­lars wie­der da­hin rol­len, in die Ta­sche des wei­ßen Man­nes, aus der sie ge­kom­men sind. Sie spre­chen böse Wor­te zu­ein­an­der, he­ben oft die Fäus­te im Zorn, und ihr Blut ist böse ge­wor­den. Nur we­ni­ge brin­gen dem al­ten Me­di­zin­mann Op­fer­ga­ben, Fleisch, Fi­sche und De­cken. Die jun­gen Frau­en ge­hen nicht mehr die al­ten Wege, die jun­gen Män­ner eh­ren nicht mehr die al­ten To­tems und die al­ten Göt­ter. Des­halb sind es schlim­me Tage, Ten­as Hi-hi, und mit Kum­mer muss der alte Mus­kim ins Grab ge­hen.«

»Ai! Ai! So ist es!« klag­te Nip­uh­sa.

»Dein Volk ist toll und hat mein Volk toll ge­macht«, fuhr Mus­kim fort. »Es kam wie bö­ser Wind über das sal­zi­ge Was­ser, dein Volk, und es geht – ach – wer weiß, wo­hin!«

»Ai, wer weiß, wo­hin?« jam­mer­te Nip­uh­sa und schau­kel­te lei­se hin und her.

»Im­mer ge­hen sie Frost und Käl­te ent­ge­gen. Und im­mer zahl­rei­cher kom­men sie, Woge um Woge!«

»Ai! Ai! Frost und Käl­te ent­ge­gen! Es ist ein wei­ter Weg, dun­kel und kalt!« Nip­uh­sa schau­er­te und leg­te ihre Hand auf Fro­nas Arm. »Und du gehst auch dort­hin, Frost und Käl­te ent­ge­gen?«

Fro­na nick­te nur.

»Das klei­ne La­chen geht auch! Ai! Ai! Ai!«

Plötz­lich stand der alte Matt vor Fro­na.

»Seit ei­ner hal­b­en Stun­de war­tet das Früh­stück auf dich, und Andy, die alte Hexe, jam­mert und tobt … Gu­ten Mor­gen, Nip­uh­sa, gu­ten Mor­gen, Mus­kim«, sag­te er zu den In­dia­nern. »Eure Au­gen ha­ben mein al­tes Ge­sicht wohl ver­ges­sen?«

Die bei­den grunz­ten einen Gruß, dann sa­ßen sie schwei­gend und un­be­weg­lich da.

»Jetzt aber schnell, Fro­na! Mein Damp­fer geht um Mit­tag, und ich möch­te noch ein biss­chen von dir ha­ben!«

in­dia­ni­sche Frau(en)  <<<

2

Fro­nas Aus­rüs­tung war auf den Rücken von ei­nem Dut­zend In­dia­nern un­ter der Auf­sicht Bi­shops schon vor meh­re­ren Stun­den ab­ge­gan­gen. Sie selbst trug einen klei­nen Rei­se­ran­zen und ih­ren Fo­to­ap­pa­rat, als Berg­stock einen Wei­den­stab, den Nip­uh­sa ihr zu­recht­ge­schnitzt hat­te. Mit Del Bi­shop war sie sehr rasch han­dels­ei­nig ge­wor­den. Als sie von dem Früh­stück mit Matt McCar­thy zu­rück­ge­kehrt war, hat­te der Ru­de­rer sie im La­den er­war­tet.

»Sie wol­len ins Land hin­ein. Das will ich auch. Sie brau­chen einen Mann zur Beglei­tung. Wenn Sie noch kei­nen bes­se­ren ge­fun­den ha­ben, bin ich ge­ra­de der rich­ti­ge. Ich war schon mal drin im Land, ich weiß Be­scheid. Fürch­ten tu ich mich vor dem Teu­fel nicht, und wenn Ih­nen ei­ner was tun will, dann muss er erst mit Del Bi­shop fer­tig wer­den. Das ist nicht leicht. Wenn wir glück­lich bei Ja­cob Wel­se an­ge­kom­men sind, le­gen Sie ein gu­tes Wort für mich ein, und er gibt mir die Aus­rüs­tung für ein Jahr. Ein­ver­stan­den? Da­mit Schluss. Über den Pro­vi­ant hin­aus lass ich mir nichts be­zah­len.«

Ehe Fro­na noch ihre Zu­stim­mung ge­ge­ben hat­te, war er schon bei der Ar­beit und such­te die bes­ten Pack­trä­ger aus. Sie merk­te so­fort, dass er wirk­lich et­was von der Sa­che ver­stand. Fro­na mar­schier­te mit ih­rem Ran­zel bes­ser als die meis­ten Gold­grä­ber, die sich schwer be­la­den hat­ten und alle hun­dert Schrit­te halt­ma­chen muss­ten. Trotz­dem fiel es ihr schwer, mit sechs jun­gen Schwe­den Schritt zu hal­ten, in de­ren Spur sie ging. Das wa­ren ge­wal­ti­ge Ge­sel­len, blon­de Rie­sen, und je­der trug sei­ne hun­dert Pfund auf den Schul­tern. Au­ßer­dem scho­ben und zo­gen sie einen schwe­ren Kar­ren, der mit wei­te­ren sechs­hun­dert Pfund be­la­den war. Ihre Ge­sich­ter wa­ren la­chen­de Son­nen, sie strahl­ten von Le­bens­lust. Das Mar­schie­ren, Schlep­pen und Schie­ben war ih­nen Kin­der­spiel. Sie san­gen laut und war­fen den Vor­bei­kom­men­den in ih­rer Spra­che lus­ti­ge Grü­ße zu. Wenn sie lach­ten, dröhn­te jede Brust wie ein Cel­lo.

Sie über­hol­ten al­les; die Men­schen tra­ten bei­sei­te, um sie vor­über­zu­las­sen, und sa­hen ih­nen nei­disch nach. Wenn es berg­auf ging, setz­ten sie sich aus lus­ti­gem Trotz in Trab; bergab lie­ßen sie die ei­sen­be­schla­ge­nen Rä­der ih­res Wa­gens über das Ge­stein ras­seln, dass Fun­ken sprüh­ten. Sin­gend und la­chend bahn­ten sie sich den Weg durch eine dunkle Wald­stre­cke, bis sie zu der Furt im Flus­se ka­men.

Am Ufer lag ein Er­trun­ke­ner und starr­te un­be­weg­lich in die Son­ne. Ein Mann stand ne­ben ihm und frag­te auf­ge­regt:

»Wo ist sein Ka­me­rad? Hat er kei­nen Ka­me­ra­den ge­habt?«

Zwei an­de­re hat­ten ihre Las­ten ab­ge­wor­fen und nah­men In­ven­tar vom Be­sitz des To­ten auf. Der eine rief laut die ver­schie­de­nen Ge­gen­stän­de aus, der an­de­re no­tier­te sie auf ein Stück schmut­zi­ges Pack­pa­pier. Über den Sand wa­ren Brie­fe und auf­ge­weich­te Schrift­stücke zer­streut. Auf ei­nem aus­ge­brei­te­ten Ta­schen­tuch lag der Bar­be­stand des To­ten: ein paar Gold­mün­zen und viel Kup­fer. Vie­le Män­ner, die in Ka­nus und Boo­ten über den Fluss fuh­ren, nah­men gar kei­ne No­tiz von der Sa­che. Die Schwe­den aber wur­den für einen Au­gen­blick ernst.

»Wo ist sein Ka­me­rad? Hat er kei­nen Ka­me­ra­den ge­habt?« frag­te auch sie der auf­ge­reg­te Mann. Sie schüt­tel­ten die Köp­fe. Sie ver­stan­den kein Eng­lisch. Dann wa­te­ten sie in das Was­ser hin­ein.

Vom an­de­ren Ufer her­über rief je­mand eine War­nung. Sie blie­ben ste­hen und be­rie­ten sich. Dann gin­gen sie wei­ter. Die bei­den Män­ner, die das Ver­zeich­nis vom Ei­gen­tum des To­ten auf­nah­men, un­ter­bra­chen ihre Ar­beit und sa­hen den Schwe­den nach. Sie stan­den jetzt bis zum Gür­tel in der rei­ßen­den Strö­mung, mit Rie­sen­kräf­ten an den Kar­ren ge­klam­mert, der den Wel­len eine ge­wal­ti­ge Flä­che bot. Sie kämpf­ten furcht­bar, dann schi­en das schlimms­te Stück über­stan­den. Als das Was­ser den bei­den vor­ders­ten Rie­sen nur noch bis zu den Kni­en reich­te, riss dem drit­ten plötz­lich ein Tra­g­rie­men durch. Sei­ne Last warf sich mit ei­nem Ruck auf die lin­ke Schul­ter; er woll­te sich da­ge­gen stem­men und ver­lor das Gleich­ge­wicht. Im sel­ben Au­gen­blick stol­per­te der zwei­te, griff hil­fe­su­chend um sich, und ei­ner zog den an­de­ren in die Flut. Die bei­den fol­gen­den Män­ner ver­lo­ren den Halt, denn jetzt war die Kar­re um­ge­stürzt und wur­de über die Furt hin­aus ins tie­fe Was­ser ge­ris­sen.

Ein paar­mal tauch­ten die Män­ner wie­der auf und war­fen sich rück­wärts in die Tra­g­rie­men. Aber sie wur­den ihre Las­ten nicht los, sie kämpf­ten wie Hel­den, aber es stieg über mensch­li­che Kräf­te. Zoll um Zoll san­ken sie wie­der un­ter. Ihre Ruck­sä­cke, die sich voll Was­ser ge­so­gen hat­ten, hin­gen wie stei­ner­ner Bal­last an ih­nen. Nur der eine Mann, des­sen Tra­g­rie­men ge­ris­sen war, wur­de sei­ner Last le­dig, aber er ver­such­te nicht, das Ufer zu ge­win­nen, son­dern blieb bei sei­nen Ka­me­ra­den. Fünf­zig Me­ter strom­ab­wärts zer­stäub­te die Flut an ei­nem za­cki­gen Fels­riff; hier ka­men sie noch ein­mal zum Vor­schein. Zu­erst der halb zer­schmet­ter­te Kar­ren, dann die Män­ner in ei­nem gräss­li­chen Ge­wirr von Köp­fen, Ar­men und Bei­nen. Das Was­ser schmet­ter­te sie ge­gen die Klip­pen und spül­te sie über das Riff.

Ein Dut­zend Ka­nus war den un­glück­li­chen Schwe­den nach­ge­fah­ren; auch Fro­na war un­ter de­nen, die ret­ten woll­ten. Sie sah einen der jun­gen Rie­sen mit blut­über­ström­ten Hän­den nach dem Fel­sen grei­fen, sah sein wei­ßes Ge­sicht und sei­nen ver­zwei­fel­ten Kampf. Der ein­zi­ge sei­ner Ka­me­ra­den, der noch schwim­men konn­te, stürz­te sich mit mäch­ti­gen Be­we­gun­gen auf ihn zu. Sei­ne Hand hat­te ihn fast schon er­reicht – da schleu­der­te auch die­sen Mann eine Sturz­wel­le ins Ge­bro­del.

Den einen schwim­men­den Mann nahm ein Kanu auf; alle an­de­ren er­dros­sel­te die Flut. Eine Vier­tel­stun­de lang fuh­ren die Boo­te frucht­los auf und ab, dann fan­den sie die To­ten im Schlamm ste­cken. Man nahm ein paar Pfer­de von ei­nem Trans­port­zug am Ufer, um­schlang die Lei­chen mit ei­ner Lei­ne, und so wur­de die schreck­li­che Last an Land ge­zo­gen. Fro­na sah die fünf jun­gen Rie­sen mit ge­bro­che­nen Glie­dern schlaff und re­gungs­los im Schlamm lie­gen. Sie wa­ren im­mer noch vor die Kar­re ge­spannt; die arm­se­li­gen trie­fen­den Las­ten hin­gen noch an ih­ren Rücken. Der sechs­te saß mit tro­ckenen Au­gen be­täubt in der Mit­te.

Ein paar Schrit­te ent­fernt von ih­nen floss der Strom des Le­bens wie im­mer. Fro­na schloss sich ihm an und zog wei­ter.

*

Die dunklen, mit Rot­tan­nen be­stan­de­nen Ber­ge stie­ßen am Dyea-Pass zu­sam­men. Die Füße der Men­schen zer­stampf­ten die feuch­te Erde, auf die nie ein Son­nen­strahl fiel, zu Schlamm und Mo­rast. Vie­le Fuß­we­ge zo­gen durch die feuch­te Wüs­te. Auf ei­nem die­ser Wege traf Fro­na einen Mann, der sich nach­läs­sig in den Schmutz ge­wor­fen hat­te. Er lag auf der Sei­te mit ge­spreiz­ten Bei­nen, von ei­ner schwe­ren Last zu Bo­den ge­drückt. Sei­ne Wan­ge ruh­te in dem wei­chen Schlamm wie auf ei­nem Kis­sen. Er sah müde und zu­frie­den aus. Als er Fro­na sah, wur­de sein Ge­sicht noch hel­ler; er grüß­te sie mit den Au­gen.

»Höchs­te Zeit, dass Sie ka­men«, be­grüß­te er sie. »Ich war­te schon eine Stun­de auf Sie.«

Fro­na beug­te sich über ihn.

»Ma­chen Sie mir nur den Rie­men los, lie­bes Fräu­lein«, bat er, »ein ver­damm­tes Ding! Die gan­ze Zeit habe ich ihn nicht zu fas­sen ge­kriegt.«

»Sind Sie ver­letzt?« frag­te sie.

Er schlüpf­te aus dem Rie­men her­aus und be­fühl­te sei­nen ver­dreh­ten Arm.

»Nein, ge­sund wie ein Fisch! Auch der Arm, Gott sei Dank.«

Er streck­te die schmut­zi­ge Hand nach ei­ner nied­ri­gen Tan­ne aus und wisch­te sie an den Zwei­gen ab.

»Also stel­len Sie sich vor, ich stol­pe­re über die­se klei­ne Dreck­wur­zel da, und – bums! – lie­ge ich wie eine Schild­krö­te mit­ten im Dreck und kann den Rie­men nicht zu fas­sen krie­gen. Eine gan­ze Stun­de lie­ge ich schon so da; die an­de­ren zie­hen da un­ten vor­bei, und kei­ner sieht mich. Im­mer­hin, ich hab’ mich aus­ge­ruht.«

»Wa­rum ha­ben Sie nie­mand ge­ru­fen?«

»Dass ei­ner zu mir her­auf­klet­tern soll? Die ar­men Teu­fel ha­ben mit sich selbst ge­nug zu tun! Wenn ich mir vor­stel­le, mich lässt ei­ner da her­auf­krab­beln, nur weil er aus­ge­rutscht ist … Aus dem Dreck her­aus­zie­hen würd’ ich ihn schon, aber dann ihm das Fell ver­to­ba­ken und ihn zu­letzt wie­der hin­ein­schmei­ßen. Au­ßer­dem konn­te ich mir ja den­ken, dass schließ­lich auch mal hier je­mand vor­bei­kommt.«

»Sie pas­sen hier­her! Sie sind der rich­ti­ge Mann für dies Land.«

»Bin ich auch!« sag­te er, wuch­te­te sei­nen Pa­cken auf die Schul­ter und trab­te los. »Auf je­den Fall hab’ ich mich or­dent­lich aus­ge­ruht.«

Der Weg ging jetzt steil ab­wärts durch einen Mo­rast zum Flus­sufer. Eine schlan­ke Kie­fer lag als Brücke über dem to­sen­den Schaum. In der Mit­te bog sich der Stamm so tief, dass er das Was­ser be­rühr­te. Wel­len schlu­gen da­ge­gen und setz­ten ihn in zit­tern­de Be­we­gung. Die Stie­fel der Pack­trä­ger hat­ten sei­ne vom Was­ser über­spül­te Ober­flä­che glatt­ge­schlif­fen. Über zwan­zig Me­ter maß die­se schwan­ken­de, ge­fähr­li­che Brücke. Fro­na be­trat sie, fühl­te, wie das Vi­brie­ren un­ter ih­rem Ge­wicht hef­ti­ger wur­de, hör­te das Rau­schen des Was­sers, sah das wil­de To­sen – und schau­der­te zu­rück.

Sie hock­te sich am Weg nie­der und tat, als wäre sie mit ih­rem Schuh­werk be­schäf­tigt, denn In­dia­ner tra­ten aus dem Wald her­vor. Vier kräf­ti­ge Män­ner schrit­ten vor­an, ih­nen folg­te eine Schar von schwer be­las­te­ten Frau­en mit Kin­dern, und den Schluss mach­te ein Dut­zend Hun­de, de­nen die Zun­ge zum Hal­se her­aus­hing. Auch die Hun­de und so­gar die kleins­ten Kin­der wa­ren be­packt.

Im Vor­bei­ge­hen mach­te ei­ner der Män­ner eine Be­mer­kung über Fro­na. Sie ver­stand die Wor­te nicht, aber das hel­le Ki­chern, das durch den gan­zen Zug lief, trieb ihr die Scham­rö­te in die Wan­gen.

Der Füh­rer trat bei­sei­te; dann be­schritt ei­ner nach dem an­de­ren den ge­fähr­li­chen Pfad. Kei­ner durf­te an­tre­ten, ehe der letz­te jen­seits das Ufer er­reicht hat­te. In der Mit­te, wo der Stamm sich bog, wur­de er vom Ge­wicht des Men­schen tief un­ter die Was­ser­flä­che ge­drückt. Es war schwer, den Halt zu wah­ren, wenn der kal­te, rei­ßen­de Strom die Knö­chel über­spül­te. Aber selbst die Klei­nen gin­gen ohne Zö­gern hin­über, nur die Hun­de win­sel­ten und muss­ten ge­trie­ben wer­den. Als der Füh­rer schon den Stamm be­tre­ten hat­te, dreh­te er sich zu Fro­na um:

»Dort oben ist der Weg für Pfer­de«, sag­te er und wies auf die Berg­wand. »Du gehst bes­ser den Weg für Pfer­de! Das hier ist nichts für dich.«

Fro­na schüt­tel­te den Kopf und war­te­te, bis er am an­de­ren Ufer stand. Dann setz­te sie den Fuß auf den Baum­stamm und schritt in den wir­beln­den Schaum hin­ein, wäh­rend die Au­gen des frem­den Vol­kes auf ihr ruh­ten. Ihr Herz krümm­te sich vor Angst, aber so viel war sie ih­rem Stolz und ih­rer Ras­se schul­dig.

*

Sie traf einen Mann, der wei­nend am We­grand saß. Er hat­te einen Schuh aus­ge­zo­gen; sein Fuß war ge­schwol­len und wund­ge­lau­fen. Rings um ihn lag sein schlecht ver­schnür­tes Ge­päck zer­streut.

»Kann ich Ih­nen hel­fen?« frag­te sie.

»Mir kann kei­ner mehr hel­fen. Der Rücken ist bei­na­he ge­bro­chen, die Füße sind ka­putt.« Er heul­te laut: »Mei­ne Ka­me­ra­den ha­ben mich im Stich ge­las­sen und sind wei­ter­ge­zo­gen. Aber ich kom­m’ kei­nen Schritt mehr von der Stel­le. Ach, mei­ne Frau, mei­ne Kin­der! Ich hab’ sie in den Staa­ten ge­las­sen … nie wer­de ich sie wie­der­se­hen. Ich muss ster­ben, was soll ich sonst nur tun? Was soll ich nur tun?«

»Wa­rum ha­ben Ihre Ka­me­ra­den Sie ver­las­sen?«

»Weil ich nicht so stark bin wie sie. Weil ich nicht so schlep­pen kann wie sie. Aus­ge­lacht ha­ben sie mich und sind wei­ter­ge­gan­gen.«

»Aber Sie sind stark und jung, Sie wie­gen min­des­tens Ihre hun­dert­fünf­zig Pfund und ha­ben kein Fett am Leib.«

»Hun­dert­fünf­und­fünf­zig.«

»Hat Ih­nen je was ge­fehlt?«

»Nein.«

»Und Ihre Ka­me­ra­den? – Sind das alte Gold­grä­ber?«

»So we­nig wie ich. Wir ha­ben im sel­ben Ge­schäft ge­ar­bei­tet. Wir ken­nen uns seit Jah­ren! Und da ge­hen sie hin und las­sen mich ein­fach im Dreck lie­gen, da­mit ich kre­pie­re.«

»Mein lie­ber Mann«, sag­te Fro­na streng, »Sie könn­ten ge­nau das­sel­be leis­ten, aber Sie sind weich­lich, Sie ha­ben Mit­leid mit sich selbst. Sie kön­nen nicht mit, weil Sie nicht wol­len. Das ist kein Land für Sie. Hier braucht man an­de­re Män­ner! Die Kno­chen ha­ben nichts zu sa­gen, auf das Herz komm­t’s an, und das ha­ben Sie nicht. Ver­kau­fen Sie Ihren Kram, und fah­ren Sie nach Hau­se zu Ihren Kin­dern. Hier kön­nen wir Sie nicht brau­chen, hier ge­hen Sie ein, und was hat Ihre Fa­mi­lie dann? Ma­chen Sie, dass Sie in drei Wo­chen wie­der zu Hau­se sind, und schla­gen Sie sich die Gold­grä­be­rei aus dem Kopf! Le­ben Sie wohl.«

Die Mit­tags­son­ne brann­te auf das Fels­ge­wirr nie­der, das die »Stei­ner­ne Waa­ge« heißt. Zu bei­den Sei­ten er­ho­ben sich vom Eis ge­furch­te Er­drif­fe nackt und in ih­rer Nackt­heit stark. An der Wand des stur­mum­braus­ten Chil­coot-Fel­sens kroch eine Rei­he von Män­nern em­por, eine dün­ne, end­lo­se Ket­te. Vom Ran­de des ver­krüp­pel­ten Wal­des un­ten zog sie sich wie ein schwar­zer Strich über die blen­den­de Eis­flä­che, be­weg­te sich im Schneck­en­tem­po die stei­le Bö­schung hin­an, wur­de im­mer schwä­cher und dün­ner, bis sie wie eine Ko­lon­ne von Amei­sen jen­seits des Pas­ses ver­schwand.

Wäh­rend Fro­na am Wege kau­er­te und ihr Früh­stück ver­zehr­te, hüll­te sich der Chil­coot in wal­len­de Ne­bel und wir­beln­de Wol­ken. Dann brach ein Un­wet­ter, von Ha­gel kra­chend, auf die müh­se­lig vor­drän­gen­den Zwer­ge ein. Das Ta­ges­licht er­losch, aber Fro­na wuss­te: im­mer wei­ter, im­mer wei­ter zog sich dort oben die lan­ge Rei­he von Amei­sen hin, an den Berg ge­klam­mert, un­er­müd­lich, im­mer tiefer in die Wol­ken hin­ein. Der ewi­ge Wil­le zum Sieg die­ser Men­schen durch­beb­te sie. Jetzt trat auch sie in die Rei­he ein, die aus dem Sturm hin­ter ihr auf­tauch­te und im Sturm vor ihr ver­schwand.

Auf der Höhe des Pas­ses wur­de sie ge­packt: ein Wir­bel­wind aus damp­fen­dem Ne­bel drück­te sie zu Bo­den. Auf Fäus­ten und Kni­en kroch sie die mäch­ti­ge Vul­k­an­rin­ne des Chil­coot-Tals vor­wärts, stun­den­lang. Dann end­lich er­reich­te sie die öden Ufer ei­nes Kra­ter­sees. Die Flut war auf­ge­wühlt und mit weißem Schaum be­deckt. Hun­dert klei­ne Hau­fen von Ge­päck war­te­ten am Ufer dar­auf, über­ge­setzt zu wer­den, aber es ging kein Boot über den See.

Ein elen­des Ske­lett aus Holz­rip­pen mit ei­nem Se­gel­tuch­über­zug lag auf dem Fel­sen. Da­ne­ben hock­te ein jun­ger Bur­sche mit schwar­zen Au­gen und hel­lem Ge­sicht. Ja, er sei der Fähr­mann, sag­te er, aber für heu­te hät­te er die Ar­beit nie­der­ge­legt. Fün­f­und­zwan­zig Dol­lar nahm er sonst für die Über­fahrt, aber heu­te fuhr er nicht mehr.

»Bei die­sem Sau­wet­ter, was den­ken Sie denn?«

»Aber mich set­zen Sie doch noch über?«

»Dort drü­ben ist es noch schlim­mer, als man von hier aus glaubt. Nicht ein­mal die großen Holz­boo­te kom­men durch; das letz­te hat der Sturm an die West­küs­te ge­wor­fen. Eine gan­ze La­dung von Trä­gern ist an Bord, von hier aus hat man al­les se­hen kön­nen. Von da, wo sie jetzt lie­gen, kom­men sie nicht wei­ter. Da müs­sen sie la­gern, bis der Sturm vor­bei ist. Das ma­chen wir nicht, Fräu­lein.«

»Aber mein La­ger­ge­rät ist schon in Hap­py Camp, hier kann ich doch nicht blei­ben«, sag­te Fro­na mit ver­füh­re­ri­schem Lä­cheln. »Sei­en Sie ein Mann und brin­gen Sie mich hin­über.«

»Nein.«

»Ich gebe Ih­nen fünf­zig.«

»Nein, sage ich.«

»Ich bin ein Mä­del, aber ich habe kei­ne Angst!«

Der Bur­sche fuhr auf und kehr­te sich ge­gen sie mit zorn­fun­keln­den Au­gen. Die Wor­te, die ihm auf der Zun­ge la­gen, be­hielt er für sich, aber Fro­na konn­te sie von sei­nem Mun­de le­sen. Ge­gen den Sturm ge­beugt, stan­den sie ne­ben­ein­an­der wie See­leu­te auf schwan­ken­dem Deck und sa­hen ein­an­der trot­zig in die Au­gen. Ihm kleb­te das Haar in nas­sen Lo­cken um die Stirn; das ihre peitsch­te in trie­fen­den Sträh­nen um ihr Ge­sicht.

»Also los!«

Der Bur­sche schob mit ei­nem wü­ten­den Ruck sein Boot ins Was­ser und warf die Rie­men hin­ein.

»Stei­gen Sie ein! Aber nicht für fünf­zig Dol­lar. Sie be­zah­len den­sel­ben Preis wie alle an­de­ren.«

Ein Wind­stoß pack­te die Nuss­scha­le. Die Breit­sei­te vor­aus, flog sie sechs Me­ter weit über das Was­ser. Fro­na nahm die Schöpf­kel­le zur Hand, schwe­re Sprit­zer klatsch­ten den bei­den in die Ge­sich­ter, sta­chen und brann­ten in ihre Haut.

»Hof­fent­lich trei­ben wir nicht an Land«, keuch­te er und beug­te sich über die äch­zen­den Rie­men. »Wäre kein Ver­gnü­gen für Sie.«

Da­bei sah er sie wü­tend an.

»Wir wer­den schon nicht«, sag­te Fro­na und lä­chel­te.

Sie tra­ten auf schlüpf­ri­ge Fel­sen, als das Boot sein Ziel er­reicht hat­te. Zu bei­den Sei­ten er­ho­ben sich trie­fen­de Stein­wän­de, der Re­gen braus­te im­mer noch nie­der wie aus un­er­schöpf­li­chen Mul­den.

Fro­na woll­te hel­fen, das Boot zu ber­gen.

»Ma­chen Sie lie­ber, dass Sie vor­wärts kom­men«, brumm­te der Fähr­mann. »Von hier bis Hap­py Camp sind es noch zwei Mei­len, aber ein Weg für Zie­gen oder Af­fen. Kein Wald mehr. Sie wer­den noch Ihr Wun­der er­le­ben. Also vor­wärts! Auf Wie­der­se­hen!«

Fro­na drück­te ihm die Hand und sag­te: »Sie sind ein tap­fe­rer Kerl!« Dann mar­schier­te sie drauf­los. Und der tap­fe­re Kerl sah ihr be­wun­dernd nach.

*

Hap­py Camp be­stand aus ei­nem Dut­zend Zel­ten, die sich am äu­ßers­ten Ran­de der Baum­gren­ze mit spit­zen Pfäh­len wie ver­zwei­felt in den Bo­den krall­ten. Fro­na ging, aus­ge­pumpt von den wil­den Stra­pa­zen die­ses Ta­ges, von Zelt zu Zelt. Der Wind stieß sie vor sich her; ihr nas­ser Rock hing wie Blei an den Hüf­ten. Ein­mal hör­te sie durch die Lei­nen­wän­de einen Mann un­ge­heu­er­lich flu­chen und dach­te be­se­ligt: das ist Bi­shop! Aber als sie hin­einsah, hat­te sie sich ge­irrt. Erst das letz­te Zelt des La­gers schi­en ihr ein­la­dend. Sie lüf­te­te die Zelt­tür: drin­nen lag ein Mann auf den Kni­en und blies mit al­ler Kraft in die Glut ei­nes rau­chen­den Öf­chens.

Fro­na trat ein. Nas­ser Rauch schlug ihr in den Mund, sie muss­te hus­ten. Da erst be­merk­te der Mann, dass er einen Gast be­kom­men hat­te.

»Bin­den Sie die Klap­pe wie­der zu, und ma­chen Sie sich’s be­quem«, sag­te er, ohne sei­ne Be­schäf­ti­gung zu un­ter­bre­chen.

Ein Hau­fen Zwerg­kie­fern­zwei­ge lag, in pas­sen­de Stücke zer­hackt, aber nass, ne­ben dem Ofen. Fro­na sah, dass er nicht ge­nü­gend ge­füllt war, hock­te sich nie­der und leg­te sach­ver­stän­dig die feuch­ten Schei­ter auf. Der Mann er­hob sich, hus­te­te den Rauch aus und sah Fro­na mit ge­röte­ten Au­gen an.

»Trock­nen Sie Ihr Zeug«, sag­te er. »Ich sor­ge für Abend­brot.«

Er goss Was­ser aus ei­nem Ei­mer in die Kaf­fee­kan­ne und stell­te sie auf den Ofen. Dann ging er mit dem Ei­mer hin­aus, um ihn neu zu fül­len. Als er ver­schwun­den war, griff Fro­na nach ih­rem Ran­zen, und als er wie­der­kam, stand sie in ei­ner tro­ckenen Blu­se da und wrang die nas­se aus. Wäh­rend er in der Pro­vi­ant­kis­te nach Tel­lern und Be­stecks kram­te, spann­te sie eine Lei­ne zwi­schen den Zelt­stan­gen aus und häng­te ihre Wä­sche zum Trock­nen auf.

Die Tel­ler wa­ren schmut­zig. Wäh­rend der Mann ge­bückt da­stand und sie wusch, wech­sel­te sie auch noch die St­rümp­fe und zog ein Paar fei­ner, wei­cher Mo­kass­ins an. Das Feu­er brann­te jetzt. Bis­her hat­ten die bei­den kaum ein Wort ge­spro­chen. Der Mann be­nahm sich, als sei es das Na­tür­lichs­te von der Welt, dass ein jun­ges Mäd­chen in Nacht und Un­wet­ter zu ihm her­ein­ge­schneit kam. Fro­na nahm ein- oder zwei­mal einen An­lauf, um et­was zu sa­gen, aber er schi­en ihre An­we­sen­heit ver­ges­sen zu ha­ben, und so schwieg sie.

Nach­dem er mit der Axt eine Dose Pö­kel­fleisch ge­öff­net hat­te, warf er ein Dut­zend Speck­schei­ben in die Pfan­ne. Dann koch­te er Kaf­fee und hol­te aus der Pro­vi­ant­kis­te einen kal­ten schwe­ren Pfann­ku­chen her­vor. Die­se De­li­ka­tes­se prüf­te er zwei­felnd und sah da­bei Fro­na an. Dann schmiss er das klit­schi­ge Ding zum Zelt hin­aus und warf eine Hand­voll Schiffs­zwie­back auf ein Wachs­tuch, das auf dem Bo­den lag und als Ess­tisch die­nen soll­te. Die Zwiebä­cke wa­ren zer­krü­melt, vom Re­gen auf­ge­weicht; sie bil­de­ten einen schmut­zig wei­ßen Brei.

»Mehr habe ich nicht, das da muss als Brot gel­ten.«

»Ei­nen Au­gen­blick!« Ehe er pro­tes­tie­ren konn­te, hat­te Fro­na die Schiffs­zwie­ba­cke auf das sie­den­de Fett und den Speck in der Pfan­ne ge­wor­fen. Sie goss ein paar Tas­sen Was­ser dazu und ver­rühr­te al­les über dem Feu­er. Als es ei­ni­ge Mi­nu­ten lang aus der Pfan­ne ge­schluchzt und ge­seufzt hat­te, schnitt sie das Pö­kel­fleisch in Schei­ben und tat es zu dem üb­ri­gen, salz­te und pfef­fer­te. Ein an­ge­neh­mer Duft stieg aus der Pfan­ne auf. Als er nun sei­nen Tel­ler auf dem Knie ba­lan­zier­te und das Ge­richt kos­te­te, sag­te er:

»Das schmeckt, Don­ner­wet­ter, wie das schmeckt! Wie nen­nen Sie das?«

»Gold­grä­ber­sa­lat«, sag­te sie kurz, und dann aßen sie bei­de wie hung­ri­ge Wöl­fe.

Nach und nach hat­ten Fro­nas Au­gen sich an den Rauch und das Halb­dun­kel ge­wöhnt, schwei­gend stu­dier­te sie das Ge­sicht ih­res Wir­tes. Es lag Kraft und Aus­druck dar­in, aber selt­sam, das war ein Ge­lehr­ten­kopf … Sol­che Au­gen kann­te sie bei Män­nern, die vie­le Näch­te lang über Bü­chern ge­ses­sen hat­ten. Die Au­gen wa­ren braun, es wa­ren schö­ne, sym­pa­thi­sche Au­gen. Bei Tag wür­den sie wahr­schein­lich grau, bei­na­he grau­blau aus­se­hen. Fro­na wuss­te Be­scheid, ihre bes­te und ein­zi­ge Freun­din auf der Uni­ver­si­tät hat­te ge­nau sol­che Au­gen ge­habt.

Sein Haar war tief­blond und schim­mer­te im Ker­zen­licht, sein loh­far­be­ner Schnurr­bart war ein we­nig ge­lockt. Un­ter sei­nen Ba­cken­kno­chen la­gen schwa­che Höh­len, die Fro­na ver­däch­tig schie­nen. Aber sei­ne mus­ku­lö­se, schlan­ke Fi­gur mit den brei­ten Schul­tern be­ru­hig­te sie wie­der. Er schi­en den Fün­f­und­zwan­zig nä­her zu sein als den Drei­ßig.

»De­cken hab’ ich nicht viel«, sag­te er nach lan­gem Schwei­gen. »Mei­ne In­dia­ner kom­men erst mor­gen früh vom Lin­der­mann­see zu­rück. Sie ha­ben al­les mit­ge­nom­men, was ich ent­beh­ren kann. Aber es wird ge­hen; ich habe noch ein paar di­cke Män­tel, die tun es auch.«

Er kehr­te ihr den Rücken und öff­ne­te einen Wachs­tuch­bal­len. Dann nahm er aus der Klei­der­kis­te zwei Män­tel und warf sie auf die aus­ge­brei­te­ten De­cken.

»Sie sind vom Tin­gel­tan­gel?« frag­te er, schein­bar ganz gleich­gül­tig, als wüss­te er die Ant­wort im vor­aus. Fro­na er­in­ner­te sich an Nip­uh­sas Fluch über die wei­ßen Wei­ber, die ins Land ge­kom­men wa­ren, und plötz­lich er­kann­te sie, in wel­chem Lich­te sie stand.

Er fuhr fort: »Ges­tern Abend wa­ren zwei Tin­gel­tan­gelda­men bei mir, vor­ges­tern drei. Da hat­te ich aber noch mehr Bett­zeug. Merk­wür­dig, all die­se Da­men ha­ben Pech, im­mer ist ihre Aus­rüs­tung ver­lo­ren. Dass die Sa­chen sich wie­der­ge­fun­den hät­ten, habe ich nie ge­hört. Alle sind sie Stars, dar­un­ter tun sie’s nie. Sie sind doch ge­wiss auch ein Star?«

Zu ih­rem Är­ger wur­de Fro­na rot: »Ich bin nicht vom Tin­gel­tan­gel.«

Er brei­te­te ein paar Mehl­sä­cke ne­ben den Ofen aus und mach­te ein zwei­tes Bett zu­recht.

»Aber Ar­tis­tin sind Sie doch?« be­harr­te er.

»Lei­der bin ich kei­ne Ar­tis­tin, ab­so­lut nicht.«

Zum ers­ten Mal schi­en er sie an­zu­se­hen, aber dies­mal auf­merk­sam, vom Kopf bis zu den Fü­ßen. Er ließ sich Zeit zu sei­ner Mus­te­rung.

»Ich bit­te Sie um Ent­schul­di­gung«, sag­te er. »Dann muss ich Ih­nen aber sa­gen, dass Sie eine große När­rin sind. In dies Land kom­men nur zwei Sor­ten Frau­en: die mit ih­ren Män­nern oder Vä­tern, das sind die an­stän­di­gen, und dann die an­de­ren, die man aus Höf­lich­keit Tin­gel­tan­gel-Ster­ne oder Ar­tis­tin­nen nennt. Eine drit­te Sor­te hat hier kei­nen Platz. Wer nicht zur einen oder an­de­ren ge­hört, kommt un­ter die Rä­der. Des­halb sage ich Ih­nen: Sie sind ein sehr dum­mes Mä­del und kön­nen nichts Bes­se­res tun als um­keh­ren, so­lan­ge es mög­lich ist. Ich will Ih­nen einen In­dia­ner bis Dyea mit­ge­ben und Geld für die Rück­rei­se nach den Staa­ten. Sie wer­den von ei­nem Frem­den kein Geld neh­men wol­len, aber es ist ja nur ge­lie­hen. Sie schi­cken mir den Kies zu­rück, wenn es Ih­nen passt.«

Fro­na hat­te ver­sucht, ihn zu un­ter­bre­chen, aber er schnitt ihre Wor­te mit ei­ner Hand­be­we­gung ab.

»Ich dan­ke Ih­nen«, setz­te sie an, aber er un­ter­brach:

»Sie sol­len ge­hor­chen und nicht dan­ken.«

»Ich dan­ke Ih­nen trotz­dem, aber das heißt: dan­ke nein«, be­harr­te sie. »Zu­fäl­lig ir­ren Sie sich so ziem­lich in al­lem. Ich woll­te mei­ne Trä­ger hier in Hap­py Camp tref­fen, sie sind mit Zelt und Bett und al­lem, was der Mensch braucht, ein paar Stun­den vor mir ab­mar­schiert. Ein Boot ist heu­te Nach­mit­tag vom Sturm an die West­küs­te des Kra­ter­sees ver­schla­gen wor­den, dar­in müs­sen mei­ne Leu­te ge­we­sen sein. So kommt es, dass ich wie ein nack­ter Spatz bei Ih­nen her­ein­ge­weht bin. Ihr Rat, ich soll um­keh­ren, ist ge­wiss gut ge­meint, aber mein Va­ter er­war­tet mich in Daw­son. Wir ha­ben uns drei Jah­re lang nicht ge­se­hen. So weit sind Sie hof­fent­lich be­ru­higt, mein Herr Gast­wirt? Dann er­lau­ben Sie freund­lichst, dass ich ein biss­chen zu Bett gehe.«

»Das ist doch un­mög­lich!« rief er, dem plötz­lich be­wusst wur­de, dass er es mit ei­ner jun­gen Dame zu tun hat­te.

»Ja, was denn? Sind etwa in den an­de­ren Zel­ten noch an­de­re Frau­en?«

»Nur in ei­nem Zelt, da sind zwei oder drei … Aber gra­de das ist gar nichts für Sie.«

Er über­leg­te mit An­stren­gung; das Se­gel­lei­nen des Zel­tes bausch­te sich im Sturm, der drau­ßen brüll­te.

»Ein Mann, der heu­te im Frei­en über­nach­ten muss, ist ver­lo­ren«, sag­te er. »Die an­de­ren Zel­te sind über­füllt. Was tut man da? …«

»Vi­el­leicht kann ich heu­te Abend noch nach dem Tie­fen­see kom­men?« frag­te Fro­na, halb mit­lei­dig, halb iro­nisch.

»Sie kön­nen doch un­mög­lich im Dun­keln über den Fluss set­zen!«

»Sie ha­ben of­fen­bar Angst vor mir?«

»Nicht für mich.«

»Also schön, dann geh’ ich ins Bett.«

»Ich blei­be auf und sehe nach dem Feu­er«, sag­te er ge­dehnt.

Fro­na sprang auf und schrie. »Jetzt hab’ ich den Un­sinn aber satt! Sind wir in ei­nem Bür­ger­dorf mit drei Gast­hö­fen, oder sind wir auf dem Weg zum Nord­pol? Ich geh’ zu Bett, und Sie gehn auch zu Bett, und da­mit bas­ta.«

»Gute Nacht«, sag­te sie nach zwei Mi­nu­ten, als sie ihre Glie­der mit Wohl­be­ha­gen in der Wär­me ge­streckt hat­te. Eine Vier­tel­stun­de spä­ter frag­te sie:

»Sind Sie noch wach?«

»Ja, was gibt es?«

»Ha­ben Sie Spä­ne?«

»Was für Spä­ne?«

»Zum Feu­er­an­ma­chen mor­gen früh, na­tür­lich. Sonst ste­hen Sie auf und ma­chen wel­che.«

Er ge­horch­te, ohne zu wi­der­spre­chen, aber sie hör­te nichts mehr …

Als sie die Au­gen auf­schlug, war die Luft voll vom fri­schen Duft ge­bra­te­nen Specks. Die Son­ne fiel durch den auf­ge­schla­ge­nen Zelt­vor­hang her­ein. Drau­ßen zo­gen trupp­wei­se Last­trä­ger vor­bei mit Pfei­fen und Sin­gen. Es tat gut, aus dem war­men Bett her­aus dies eif­ri­ge Le­ben zu se­hen, dann re­kel­te Fro­na sich auf die an­de­re Sei­te und mach­te noch ein­mal die Au­gen zu. Als ihr Wirt Speck und Brat­kar­tof­feln fer­tig hat­te, sag­te er freund­lich:

»Gu­ten Mor­gen, Fräu­lein. Ob Sie gut ge­schla­fen ha­ben, brau­che ich nicht zu fra­gen. Das hab’ ich ge­hört.«

Nach dem Früh­stück lie­ßen sie sich vor dem Zelt die war­me Son­ne auf den Pelz schei­nen. Bald dar­auf bog eine Schar wohl­be­kann­ter Män­ner um den Glet­scher beim Kra­ter­see und mar­schier­te auf Hap­py Camp zu. Sie klatsch­te in die Hän­de.

»Dort kommt mein Ge­päck! Mein Trans­port­füh­rer wird schön die Ohren hän­gen las­sen, aber ich kann ihn trös­ten. Das gan­ze Aben­teu­er war wun­der­schön.«

Sie häng­te sich das Rän­zel und die Ka­me­ra über die Schul­tern und nahm Ab­schied.

»Auf Wie­der­se­hen, lie­ber Gast­wirt, und ha­ben Sie tau­send Dank für al­les.«

»Da ist doch nichts zu dan­ken. Ich täte das­sel­be gern für je­den …«

»… Tin­gel­tan­gels­tern!«

Er sah sie vor­wurfs­voll an und sag­te: »Ich weiß Ihren Na­men nicht und will ihn auch gar nicht wis­sen.«

»So un­ge­recht wol­len wir nicht sein, denn Ihren Na­men ken­ne ich, Herr Van­ce Cor­liss. Ich hab’ ihn näm­lich auf den Ge­päck­zet­teln ge­le­sen. Ich hei­ße Fro­na Wel­se. Auf Wie­der­se­hen!«

Sie mach­te sich im Lauf­schritt auf die Bei­ne.

»Ihr Va­ter ist doch nicht etwa …?« schrie er ihr nach.

Sie wand­te den Kopf: »Na­tür­lich. Und wenn Sie nach Daw­son kom­men, be­su­chen Sie uns!«

Eine Vier­tel­stun­de spä­ter stieß sie auf ihre Ka­ra­wa­ne. Del Bi­shop ließ durch­aus nicht die Ohren hän­gen.

»Gu­ten Mor­gen«, grüß­te er. »Ich sehe Ih­nen an, dass Sie eine fa­mo­se Nacht ge­habt ha­ben, wenn es auch nicht mein Ver­dienst ist.«

»Sie ha­ben sich doch nicht um mich ge­sorgt, Bi­shop?«

»Ge­sorgt? Um eine Wel­se? Nee, da hat­te ich an­de­res zu tun, vor al­lem, dem Kra­ter­see mei­ne Mei­nung ins Ge­sicht zu spu­cken. Ich kann das Was­ser nicht lei­den. Im­mer spielt es mir sol­che Strei­che. Aber Sie müs­sen nicht den­ken, dass ich Angst da­vor habe! Ich kann’s nur nicht lei­den.«

*

Ja­cob Wel­se war Groß­kauf­mann in ei­nem Lan­de, das sonst noch kei­nen Han­del kann­te, ein aus­ge­reif­tes Pro­dukt des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts in ei­ner Ge­sell­schaft, die pri­mi­tiv war wie die der al­ten Van­da­len. Als Mo­no­po­list großen Stils herrsch­te er über die un­ab­hän­gigs­ten Men­schen, die je in ei­nem Win­kel der Welt zu­sam­men­ge­kom­men wa­ren. Als ein Mis­sio­nar der Wirt­schaft pre­dig­te er das Evan­ge­li­um der Zweck­mä­ßig­keit und der Macht. In sei­nem Glau­ben an die na­tür­li­chen Rech­te der Men­schen beug­te er, selbst De­mo­krat, alle un­ter sei­nen star­ken Wil­len. Die Herr­schaft Ja­cob Wel­ses – das war sein un­ge­schrie­be­nes Evan­ge­li­um. Mit sei­nen Hän­den, ganz al­lein, hat­te er ein Reich auf­ge­baut; un­ter sei­nem Kom­man­do ver­brei­te­te sich die Be­völ­ke­rung über ein Ge­biet von hun­dert­tau­send Mei­len Um­fang und zog sich wie­der zu­rück. Städ­te wuch­sen und ver­schwan­den auf sein Ge­bot. Den­noch war er ein Mann aus dem Vol­ke ge­blie­ben. Hier in der Prä­rie hat­te er sei­nen ers­ten Atem­zug ge­tan. Der blaue Him­mel war das Dach über sei­ner Wie­ge ge­we­sen, und die­se Wie­ge hat­te aus ei­nem Bün­del grü­nen Heus be­stan­den.