Jäger des verlorenen Zeitgeists - Frank Jöricke - E-Book

Jäger des verlorenen Zeitgeists E-Book

Frank Jöricke

0,0

Beschreibung

Leben Sie noch? Oder nostalgieren Sie schon? Wie Indiana Jones auf der Jagd nach dem heiligen Gral, ist Frank Jöricke dem Zeitgeist auf der Spur. Der Autor des erfolgreichen Debüts, "Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage", jagt unser aller Lebensgefühl. Dieses Sachbuch ist eigentlich eine Fortsetzung seines Erfolgsromans mit anderen Mitteln. Wieder nimmt uns Werbetexter, Bad-Taste-Dj und Autor Frank Jöricke mit auf eine ebenso kurzweilige wie erhellende Tour durch die jüngere Populärkulturgeschichte der Bundesrepublik. Er erklärt, dass früher nicht alles besser, aber vieles anders war. Und warum Grönemeyers Frage, "Wann ist ein Mann ein Mann?", noch immer nicht beantwortet ist. Warum es die Frauen auch nicht leichter haben. Und wie es mental um die heute Dreißig-, Vierzig- und Fünfzigjährigen steht. Höchste Zeit, sich die 70er, 80er, 90er und 00er Jahre mal näher anzuschauen. Und die Gegenwart gleich mit. Denn die Welt ist ziemlich kompliziert geworden. Kaum einer blickt noch durch. Einer schon: Frank Jöricke begibt sich in den Dschungel von Vergangenheit und Gegenwart, rodet die Nostalgie und stürzt sich in die Untiefen der Popkultur. Greift, wenn es sein muss, zur Peitsche und legt mit spitzer Feder reihenweise Wahrheiten frei: Warum Michael Jackson ein Revolutionär war, warum die 80er eine Lüge sind und warum das mit der Liebe so schwierig geworden ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 135

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jäger des verlorenen Zeitgeists

Der Autor:

Seine Tätigkeit als Werbetexter hat Frank Jöricke (*1967) aus Trier nicht geschadet. Im Gegenteil, zeichnet sich doch seine Sprache durch ihre Treffsicherheit und lebendige Fabulierkunst aus. Erweitert um den Blick des Texters, der schon von Berufs wegen immer ein genaues Sensorium für die kleinen und großen Widersprüche des Lebens haben muss, verfällt er dennoch nicht dem Zynismus oder der Verklärung. Mit einem Auszug aus seinem Roman Mein liebestoller Onkel … zog er bis ins Finale des Poetry Slams in Trier. Außerdem gilt Jöricke als der Entdecker von Guildo Horn, arbeitet nebenbei als Bad-Taste- und Ü-30-DJ, ist Ex-Fußballschiedsrichter und manischer Blutspender (75 x in 19 Jahren!) – dabei sind seine Bücher alles andere als anämisch!

Frank Jöricke erklärt die Welt

KLAR SCHIFF

1. Guido Eckert:

Zickensklaven. Wenn Männer zu sehr lieben

1. Aufl. 2009, ISBN 978-3-932927-43-0

1. Aufl. 2013, eISBN 978-3-932927-59-1 (epub)

2. Peter Wiesmeier:

Ich war Günther Jauchs Punching-Ball!

Ein Quizshow-Tourist packt aus

1. Aufl. 2010, ISBN 978-3-932927-45-4 (vergriffen)

1. Aufl. 2013, eISBN 978-3-932927-58-4 (epub)

3. Guido Eckert:

Der Verstand ist ein durchtriebener Schuft

Wie Sie garantiert weise werden

1. Aufl. 2010, ISBN 978-3-932927-47-8

1. Aufl. 2013, eISBN 978-3-932927-60-7 (epub)

4. Maternus Millett:

Das Schlechte am Guten

Weshalb die politische Korrektheit scheitern muss

1. Aufl. 2011, ISBN 978-3-932927-46-1

1. Aufl. 2013, eISBN 978-3-932927-61-4 (epub)

5. Frank Jöricke:

Jäger des verlorenen Zeitgeists

Frank Jöricke erklärt die Welt

1. Aufl. 2013, ISBN 978-3-932927-55-3

1. Aufl. 2013, eISBN 978-3-932927-62-1 (epub)

1. Auflage 2013 / Originalausgabe

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2013

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Nils. A. Werner, www.nils-a-werner.de / Wolfgang Neumann

Bestellen Sie unseren Newsletter unter www.solibro.de/newsletter. Infos vom Solibro Verlag gibt es auch bei Facebook und Twitter.

www.solibro.de

verlegt. gefunden. gelesen.

„Wenn ich gewusst hätte, dass es alles nicht mehr geben würde, hätte ich versucht, mich besser zu erinnern.“

Armin Mueller-Stahl, Avalon

Inhalt

Lebst du noch oder nostalgierst du schon?

Früher war alles besser? Ein Streifzug durch die letzten Jahrzehnte

Die 80er – das verlorene Jahrzehnt

Die 90er – das verworrene Jahrzehnt

Die 00er – das ewige Jahrzehnt

Früher war alles besser! Auf Schatzsuche in der Vergangenheit

1968 – das Jahr des Schlagers

Der alte Mann und der Mord

New Hollywood – als Kommerz cool war

Sehnsucht nach Jancker

Der Star – ein armes Würstchen

Zu viel Blut – wie Vampire unser Hirn leersaugen

Wann ist ein Mann ein Maaahann? Und wie ist es um die moderne Frau bestellt?

James Bond ist tot

Madonna altert nicht

Burt Reynolds, nackt

Der schwangere Mann – ein Trauerfall

Frauen zum Abgewöhnen

Gute Unterhaltung? Womit wir uns die Zeit vertreiben

DISCO ohne Disco – Fernsehen in den Zeiten vor MTV

Der große Rock ’n’ Roll-Schwindel

Die Comedy GmbH

Herzschmelze in Duisburg

Wir Trendtrottel

Nach Harald Schmidt – das langsame Sterben des Fernsehens

Nach dem Sieg ist vor dem Absturz – der schnelle Tod der Gecasteten

Der Tod steht ihm gut – der zu späte Erfolg des W. Herrndorf

Schöne neue Welt Eine Exkursion in die Gegenwart

Das hässliche Gesicht von Facebook

Zu sexy für den Rest – Deutschland wird Provinz

Henry Ford hätte es gefallen

Kein Echtleben im falschen

Kommunismus 2.0

Instantfeste

Sehnsucht nach der stillen Nacht

Zurück zum Rudel

Helden des Zeitgeists Figuren, die uns die Welt erklären

Hildegard Knef – die Überlebenskünstlerin

Die Welt vor Alice Schwarzer

Als die Gegenwart neu war

Sean Connery – der letzte Kerl

Robert Bauer – der Krieg ist nicht beendet

Michael Jackson – der verkannte Revolutionär

Stephan Sulke – der Schöne-Lieder-Macher

Ferris macht blau – Überleben in der Erwachsenenwelt

Marc Fischer – Chronist des prallen Lebens

George Michael – ein Star wie Du und ich

Christian von Boetticher – Liebe in den Zeiten von Facebook

Bettina und Christian Wulff – Liebe in Zeiten des Kapitalismus

Selbstverwirklichung – was zuletzt geschah (seit 1776)

„Danke!“

Register

Bildnachweis

Dem wahren Popliteraten

Joachim Lottmann

Lebst du noch oder nostalgierst du schon?

Vorwort

Opa schloss 1945 mit dem Leben ab. Dabei hatte er den Zweiten Weltkrieg erfolgreich überstanden. Alle Kugeln und Kanonen der Alliierten hatten ihm nichts anhaben können. Und dennoch muss er entscheidend getroffen worden sein. Denn mit Kriegsende hörte er auf, sich für die Gegenwart zu interessieren. Adenauer und Erhard waren ihm ebenso egal wie Lennon und McCartney. Und was er von Rudi Dutschke und den „langhaarigen Bombenlegern“ hielt, fragte ich ihn besser erst gar nicht.

Opa war keine Ausnahme. Für meinen Mathelehrer, einen Alt-68er, endete der Weltenlauf mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt. Über die Nachrüstung und die Machtergreifung Helmut Kohls ist er nie hinweggekommen. Wie so viele Menschen verstand er nicht, dass der Zeitgeist sich gedreht hatte.

Und wie ist es um die heute Dreißig-, Vierzig-, Fünfzigjährigen bestellt? Die Generation Revival. Menschen, die bei Tears For Fears Tränen der Rührung vergießen und bei Nostalgieanfällen Dr. Alban konsultieren? Höchste Zeit, sich die 60er, 70er, 80er, 90er und 00er Jahre mal ein wenig näher anzuschauen. Und die Gegenwart gleich mit.

Dieses Buch handelt vom Zeitgeist. Davon, dass früher zwar nicht alles besser, aber vieles anders war. Und davon, warum die Gegenwart so ist, wie sie ist. Warum wir zwischen Facebook und Vampirfilmen die Orientierung verlieren. Warum Grönemeyers Frage, „Wann ist ein Mann ein Mann?“, noch immer nicht beantwortet ist und warum es die Frauen auch nicht leichter haben.

Es ist nicht immer einfach, den Zeitgeist zu entdecken. Dieser findet sich nämlich nicht nur in den Partner- und Bumsbörsen des Internet oder in den Latte-Macchiato-Bars der „Kreativen“. Oft versteckt er sich dort, wo man ihn nicht vermutet. Zum Beispiel bei Krimidinnern, Ukulelenorchesterkonzerten oder Länderspielen der deutschen Nationalelf – schon Sepp Herberger wusste: „Die Wahrheit ist auf dem Platz.“

Viel Spaß also mit der Wahrheit und der ein oder anderen gut frisierten Lebenslüge. Die gehört zum Zeitgeist nämlich seit jeher dazu.

Früher war alles besser? Ein Streifzug durch die letzten Jahrzehnte

Die 80er – das verlorene Jahrzehnt

Ständig werden die 80er abgefeiert – warum eigentlich?

Je weiter die 80er Jahre zurückliegen, desto großartiger erscheinen sie vielen – höchste Zeit für eine Richtigstellung.

Irgendwas muss schiefgelaufen sein in der Gegenwart: Depeche Mode beschallen immer noch die Großraumhallen der Welt, Michael Jackson verkauft als Toter mehr Alben als die meisten Lebenden, und unlängst ist die gefühlte 17te Best-of-Zusammenstellung von Frankie Goes To Hollywood erschienen – bemerkenswert für eine Band, die nur zwei reguläre Platten veröffentlicht hat.

Sagte ich „Platten“? Es muss natürlich CDs heißen. Zu den technischen Neuerungen, die uns die 80er brachten, gehören auch jene kleinen Scheiben, die Musikredakteure seinerzeit gern als „Silberlinge“ bezeichneten – ein gewagter Begriff für ein Produkt, dessen Herstellungskosten bei unter 10 Cent liegen, und dennoch passend zu einem Jahrzehnt, das um große hohle Worte nie verlegen war.

Dafür sorgten schon die Wanderprediger der Sekten BAP und U2, Wolfgang Niedecken und Bono Vox. Junge Menschen, die sich von den Amtskirchen abgewandt hatten, suchten ihr Heil bei selbst ernannten Messiassen, die zwar kein Wasser in Wein verwandeln konnten, aber Phrasen in Gold.

Bloß verkündeten Bono und Niedecken keine frohe Botschaft, sondern die Apokalypse. Wenn nicht grad wieder Bloody Sunday oder Kristallnaach drohte, herrschte die Sinnkrise. Das Leben als Jammertal. Die Passionsgeschichte, neu interpretiert von Wolle Niedecken. Keiner konnte so allumfassend leiden wie er, von A wie Afrika (Hunger) bis Z wie Zerrüttung (Beziehung). Der Anlass war dabei beliebig. Ob Nackt im Wind-Benefizsong oder Anti-WAAhnsinns-Festival in Wackersdorf – es gab immer eine Gelegenheit, die Schlechtigkeit der Welt anzuprangern. Was dabei auf der Strecke blieb, war der Spaß. Die Lebensfreude. Die Unbeschwertheit.

Und es sollte noch schlimmer kommen: Vernichtung drohte nicht nur in Tschernobyl, sondern auch in fremden Betten. Mit dem Aufkommen von Aids hörte das Liebesspiel auf, ein Spiel zu sein. Der kleine Tod konnte den großen nach sich ziehen. Spätestens, wenn Fragen wie „Kann man vom Küssen Aids kriegen?“ öffentlich diskutiert wurden, erhielten verunsicherte Jugendliche den ultimativen Angstkick.

Denn das war die eigentliche Seuche jener Jahre: Angst. In den 60ern konnte man unschuldig rebellieren, in den 70ern unschuldig kopulieren. In den 80ern war es unmöglich geworden, unschuldig zu agieren. Ganz gleich, ob es um den Umgang mit Rohstoffen ging oder den mit Geschlechtspartnern – mit einem Mal hatte jedes Fehlverhalten üble Konsequenzen. Selbst ein harmloses Biergartenbesäufnis musste mit dem Tod zigtausender Gehirnzellen bezahlt werden. Nichts blieb folgenlos. Und gutmeinende Menschen, wie Journalisten mit Enthüllungs-, Mediziner mit Aufklärungs- und Pädagogen mit Weltverbesserungsanspruch, wurden nicht müde, einen überall und ständig daran zu erinnern. So wurde eine ganze Generation zum Opfer der Informationsflut. Wir, die Kinder der 80er, wussten alles und kapierten nichts. Vor lauter Fakten verloren wir den Überblick. Wir lernten für die Schule, aber nicht fürs Leben. Wir gingen zur Uni, aber ohne Plan und ohne Ziel (weshalb jeder Dritte von uns das Studium abbrach). Anstatt uns auf das Leben einzulassen, simulierten wir es nur.

Weil auch die 80er nur eine Simulation waren. Die einen täuschten Musik vor (Modern Talking, Milli Vanilli), die anderen Regiekunst (Adrian Lyne, Tony Scott, Alan Parker). Es ist kein Zufall, dass die prägenden Filme jenes Jahrzehnts – Flashdance, Top Gun, Neuneinhalb Wochen, Angel Heart, Eine verhängnisvolle Affäre – von Werbefilmern stammen. Von Leuten, die wissen, wie man Oberflächen so zum Glitzern bringt, dass keiner mehr darauf achtet, was sich darunter abspielt.

Dort nämlich gärte es, gab es Menschen, die beides satthatten – die Penetranz der Oberlehrer wie den Zynismus der Verkäufer – und die nur auf einen Impuls warteten, um loszulegen. Doch das ist eine andere Geschichte. Die der 90er.

Zeitgeistentdeckung Nr. 1:

In den 80er Jahren wurde die geschickt verpackte Lüge gesellschaftsfähig. Davon haben wir uns bis heute nicht erholt.

Zum Weiterlesen

Maxim Biller: Die Tempojahre

Die 90er – das verworrene Jahrzehnt

Warum die 90er eine geistige Befreiung waren

Gemetzel auf dem Schlachtfeld, Gemetzel auf der Leinwand – und dennoch waren die 90er gar kein so schlechtes Jahrzehnt.

Das Tor zum Paradies stand sperrangelweit offen. Endlich war der Augenblick gekommen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ein neues goldenes Zeitalter stand unmittelbar bevor.

Das zumindest behaupteten 1990 die Leitartikelschreiber der großen Zeitungen. Mit dem Fall der Berliner Mauer wäre – so glaubten sie – nicht nur der Kalte Krieg zu Ende, nein, endlich würde auch der Weltfrieden Einzug halten. Alle Menschen würden Brüder.

An Brudermord hatte dabei leider niemand gedacht. Doch genau das geschah. Die jugoslawische Großfamilie, die jahrzehntelang leidlich miteinander ausgekommen war, zerstritt sich, als das Haushaltsgeld knapp wurde. Der folgende Geschwisterkrieg zwischen Kroaten, Serben, Bosniern und Albanern war die erste Überraschung der 90er: Das neue Zeitalter fühlte sich ziemlich alt an, ein wenig wie 1914.

Die zweite Überraschung war die, dass auch an anderen Orten der Welt kein Friede einkehrte. Solange zwischen den USA und der UdSSR das „Gleichgewicht des Schreckens“ geherrscht hatte, überlegten sich selbst durchgeknallte Drittweltdiktatoren zweimal, ob Sie beim Nachbarn einmarschieren sollten. Nun aber, da die UdSSR in ihre 15 Republiken zerfiel, rumste es an allen Ecken und Enden. Ob Kuwait, Tschetschenien oder Ruanda – plötzlich waren Krieg und Völkermord wieder en vogue. Worum es dabei im Einzelnen ging, war für Menschen, die nicht Peter Scholl-Latour hießen, meist kaum nachvollziehbar. Wer waren die Guten und wer die Bösen im Bergkarabach-Konflikt? Und wo lag dieser Berg Karabach überhaupt?

Alles war so schrecklich kompliziert geworden. Und nicht einmal die Musik brachte Klarheit. Denn auch dort hatten sich die alten Frontstellungen – hier Radiopop und Stadionrock, dort Indie-Pop und Punkrock – aufgelöst. Am 11. Januar 1992 endete der Kalte Krieg der Musikszene. An diesem Tag erreichten Nirvana mit Nevermind Platz 1 der US-Charts. Damit war das Unvorstellbare eingetreten: Eine Independent-Band führte die Verkaufshitparade an, und das auch noch mit Grunge, einem musikalischen Bastard aus Hardcore-Punk und Metal!

Einen Kontinent weiter verhalfen Rammstein der Neuen Deutschen Härte zum kommerziellen Durchbruch. Sogar der oft atonale Techno fand seine Herde. An der ersten Loveparade 1989 hatten 150 Leute teilgenommen, 1994 waren es 120.000, 1999 über 1,5 Millionen.

Der Underground war Mainstream geworden. Das Extreme zog die Massen. Selbst Gewaltverherrlichung war nicht länger ein Fall für die Subkultur. Mit Reservoir Dogs, einem anderthalbstündigen Blutbad für Menschen mit robustem Magen, machte der ehemalige Videothekar Quentin Tarantino die Bosse in Hollywood auf sich aufmerksam. Dort stürzte man sich auf sein Drehbuch für Natural Born Killers und stellte ihm einen Blankoscheck für Pulp Fiction aus – zwei Filme, die Serien- und Auftragskiller ziemlich cool aussehen lassen. Was Millionen von Kinogängern nicht weiter störte.

Auch Gangsta-Rapper, wie Ice-T oder Snoop Doggy Dogg, wurden allenfalls milde dafür gerügt, dass sie in ihren Texten Straftatbestände wie Zuhälterei und Drogenhandel anpriesen. Schwerer hatten es da jene, die wie eh und je brav ihre drei Akkorde droschen. So schimpfte der Techno-Pionier Wolfram Neugebauer (Wolle XDP): „Rock ist reaktionär. Leute, die heute Rockmusik hören, leben in der Vergangenheit.“

Nur traf dies nicht auf Bands wie Pulp, Blur und Oasis zu, die Rockmusik spielten und dennoch auf der Höhe der Zeit waren. Und genau das machte die 90er aus: Für jede Behauptung ließ sich ein Dutzend Gegenbeispiele finden. Kein Wunder, dass FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in der Aufsatzsammlung Der westliche Kreuzzug nicht weniger als „41 Positionen zum Kosovo-Krieg“ versammelte. Und jeder der 41 Autoren hatte irgendwie recht und irgendwie unrecht.

Das war verwirrend, aber gleichzeitig befreiend – weil Sowohl-als-auch mehr Spaß macht als Entweder-oder und weil die großen Vereinfacher (Ideologen, Extremisten, Verschwörungstheoretiker) plötzlich als Dummköpfe dastanden. Und so lösten die 90er dann doch noch das Versprechen der 80er ein: „Anything goes! Alles geht!“ Oder, um mit der großen Philosophin Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf zu sprechen: „Wir machen uns die Welt, widde widde wie sie uns gefällt.“

Zeitgeistentdeckung Nr. 2:

In den 90er Jahren begann die große Unübersichtlichkeit. Seitdem wissen wir nicht mehr, wer die Guten sind und wer die Bösen.

Zum Weiterlesen

Judith Hermann: Sommerhaus, später

Die 00er – das ewige Jahrzehnt

Und täglich grüßt das Murmeltier: Wie uns die 00er Jahre verfolgen

Die Börsen fahren mal wieder Achterbahn, Al-Kaida ist noch immer nicht besiegt, und Harald Schmidt lästert wie eh und je ab. Es ist, als ob die 00er Jahre nie aufgehört hätten. Ein Rückblick auf ein Jahrzehnt, das nicht enden will.

Biene Maja ist schuld. Mit ihr fing alles an. Danach kamen Kermit und Miss Piggy, dann die schnellen Autos und schließlich der Staatsanwalt. So geht – in aller Kürze – die Geschichte des Medienunternehmens EM.TV, das mit den Rechten an Zeichentrickfilmen bekannt wurde, danach überteuert die Mutterfirma der Muppets und die Formel 1-Vermarktungsrechte erwarb, Bilanzen fälschte und sich am Ende finanziell übernahm. Und es ist die Geschichte des Neuen Markts, der viele solcher Jungunternehmen kannte, die rasant abhoben und noch schneller abschmierten. Vor allem aber ist es die uralte Geschichte der Gier. Vom Traum, ohne Anstrengung reich zu werden. Nur mit Aktien. Und zumindest am Anfang gelang dies sogar: Wer Ende 1997 mit 5.000 Mark einstieg, war Anfang 2000 Millionär. Und wer Anfang 2000 mit einer Million Euro einstieg, hatte Anfang 2003 noch 5.000 übrig.

Und irgendwie ist es auch die Geschichte des World Wide Web. Dass eine Nation braver Bausparer über Nacht zu tollkühnen Börsenzockern wurde, ist eine Folge des Internets und der damit verbundenen Möglichkeit, per Mausklick Aktien zu kaufen und zu verkaufen. Das Web beschleunigte nicht nur den Wertpapierhandel, sondern auch die Kommunikation. Flatrate sei Dank konnten Leute, die seit Jahren keinen Brief mehr geschrieben hatten, endlich rund um die Uhr „chatten“ und „mailen“. Und flirten. Der deutsche Wortschatz wurde um die „Internetbekanntschaft“ bereichert. Längst ist die virtuelle Welt ein Ort realer Annäherungsversuche. Menschen verlieben sich nicht länger in verräucherten Eckkneipen, sondern vor Computerbildschirmen. Die sichere Distanz und die Gewissheit, sich jederzeit zurückziehen zu können, macht es selbst Schüchternen leicht, die Fühler auszustrecken.

Doch der Zweifel bleibt. Nicht nur Papier ist geduldig, sondern auch die Eingabemasken der sozialen Netzwerke und Partnerportale. Nirgendwo wird so unverblümt geflunkert und so schamlos geschönt wie im Web, oder sagen wir’s netter: Imagepflege betrieben. Muss ja keiner wissen, dass das Foto im Netz schon neun Jahre alt ist und allenfalls zufällige Ähnlichkeit mit lebenden Personen aufweist. Spätestens bei der Begegnung in 3D mit Geruchs- und Tonspur – „Date“ hieß das früher – tritt die Ernüchterung ein: Glamourgirl entpuppt sich als piepsende graue Maus, und Adonis hat Schuppen und Mundgeruch. Wieder ein Traum geplatzt.