Jana, 39, ungeküsst - Jana Crämer - E-Book
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Jana, 39, ungeküsst E-Book

Jana Crämer

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Beschreibung

»Ein Buch, von dem ich mir wünschte, ich hätte es schon sehr viel früher gelesen. Ich bewundere Jana und hoffe, ich kann das, was ich aus ihrer bewegenden Geschichte mitgenommen habe, auch an meine Kinder weitergeben.« Sebastian FITZEK Dies ist eine wahre Geschichte!!! Jana Crämer ist 39 Jahre alt. Smart sympathisch, humorvoll und beruflich erfolgreich. Etwas aber unterscheidet sie von den meisten Frauen ihres Alters: Jana hat noch nie in ihrem Leben einen Mann geküsst. Noch nicht einmal Händchen gehalten. Und obwohl sich zu verlieben ihr großer, unerfüllter Traum ist, ist sie dennoch in all den Jahren nicht an ihm zerbrochen. In einer Welt, in der wir uns oft fehl am Platz fühlen, in der wir gnadenlos bewertet werden von Menschen, die uns das Gefühl geben, nicht schlank, hübsch, reich oder glücklich genug zu sein, hat Jana allen Widrigkeiten zum Trotz ihren größten Gegner überwunden: sich selbst. »Jana, 39, ungeküsst« ist ein bewegendes, berührendes und mutmachendes Buch, mit dem sie uns auf eine sehr private Reise nimmt. Von dem isolierten Mobbing-Opfer auf dem Schulhof, das unter Essstörungen, Bodyshaming und Selbsthass leidet, zu der Frau, der heute Millionen Menschen in den sozialen Netzwerken begeistert zuhören, wenn sie sagt: »Ich bin Jana, 39, ungeküsst und trotzdem glücklich. Wenn ich es geschafft habe, dann schaffst Du das auch.«  Ein Buch für alle, die sich allein in einem vollen Raum fühlen. Die sich schämen aufgrund ihrer Konfektionsgröße, weil sie ohne Partner sind, oder weil sie aus anderen Gründen der angeblichen Norm nicht entsprechen.

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Seitenzahl: 322

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Jana Crämer

Jana, 39, ungeküsst

Eine wahre, Mut machende Geschichte

Knaur eBooks

Über dieses Buch

In Jana, 39, ungeküsst nimmt uns Social-Media-Star Jana Crämer mit auf eine sehr private Reise in ihr Leben. Mutig stellt sie sich den Themen, die sie schon von früh auf gequält haben, wie Bodyshaming, Selbsthass, Essstörungen und dem bis heute hochaktuellen Singleshaming. Eindrücklich, aber ungeschönt erzählt Jana, wie sie zu der selbstbewussten strahlenden Frau wurde, die heute ungeküsst ein glückliches Singleleben führt.

Es ist die aufwühlende Lebensgeschichte einer beeindruckenden Frau, die sich selbst befreit – von 100 überschüssigen Kilos, einer Essstörung und dem Gefühl, nur in einer Beziehung gut genug zu sein.

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Der Kindergeburtstag

Wer bist du?

Das Mommy-Makeover

Kapitel 2

Das stärkste Mädchen der Welt

Gefühle sind zum Fühlen da

Das Interview

Kapitel 3

Ich passe nicht ins Bild

Ich glaube dir nicht

Gut, dass du Sitzfleisch hast

Kapitel 4

Eine ganz andere Liga

Normal sein

Die aus dem Internet

Kapitel 5

Du könntest mich gar nicht enttäuschen

Auf Augenhöhe

Mut in der Kommunikation

Kapitel 6

Selbst schuld

Besser als ein Strick

Fragen über Fragen

Kapitel 7

80 Kilogramm Unglück

Eine Handvoll Konfetti

Das erste Mal beim Psychodoc

Kapitel 8

Bleibt das jetzt so?

Ich schaff das schon!

Epilog

Danksagung

Hilfreiche Anlaufstellen

Dieses Buch ist kein Beziehungsratgeber. Noch viel weniger aber ist es ein Anti-Beziehungsratgeber. Um ehrlich zu sein, ist es nicht mal ein klassischer Ratgeber. Dafür ist es ganz genau das, was draufsteht:

 

(M)eine wahre, Mut machende Geschichte.

Vorwort

Hey, ich bin Jana, neununddreißig und ungeküsst. Ja, du hast richtig gelesen. Ich hatte noch nie einen festen Freund, habe nie mit jemandem Händchen gehalten oder was man sonst so – mit oder ohne Liebe – miteinander anstellt. Tinder nutze ich nämlich auch nicht. Bitte versteh mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Sex, wenn andere ihn haben. Auch von Liebesbeziehungen bin ich ein großer Fan, solange andere sie führen. Es ist ein bisschen wie mit Kindern, die liebe ich auch, möchte aber selbst keine haben.

Wenn ich diese Gedanken äußere, bekomme ich zusätzlich zu den verständnislosen, oft mitleidigen Blicken ziemlich häufig Kommentare wie: »Warte nur ab, der Richtige kommt schon noch!«, oder: »Aber du bist doch eine Frau, deine innere Uhr läuft bald ab!« Natürlich tickt meine innere Uhr, aber sie tut es lautlos. Und die große Liebe halte ich – ebenso wie Kinder – für ein fantastisches Wunder. Trotzdem glaube ich eben nicht daran, dass jeder von uns diese Wunder auch automatisch erlebt, nur weil es sie gibt.

Klingt das in deinen Ohren traurig? Fühlt es sich wie eine Resignation an? Tue ich dir vielleicht sogar leid? Das ist sehr lieb, aber nicht nötig. Ich bin zwar ungeküsst, aber überhaupt nicht unglücklich. Ganz im Gegenteil: Heute kann ich über mich selbst sagen, dass ich wohl der glücklichste Mensch bin, den ich kenne.

Sosehr ich mich früher als hoffnungslose Versagerin gefühlt habe, weil ich hinter all die ersten Male, die andere Gleichaltrige bereits erlebt hatten, keinen Haken setzen konnte, so sehr sehe ich mich heute als Gewinnerin. Es hat gedauert, aber schließlich habe ich gelernt: Ich muss mich nicht anstrengen oder gar verstellen, um anderen zu gefallen. Außerdem war ich es schrecklich leid, dieses heimliche Doppelleben zu führen. Zum einen war es unfassbar anstrengend, und ich hatte ständig Angst aufzufliegen. Zum anderen hatte niemand die Chance, mich wirklich kennenzulernen. Zwischendurch war ich so angepasst, dass ich nicht mal mehr wusste, wer oder wie ich wirklich war. Heute bin ich einfach nur noch ich und finde, die Wahrheit reicht. Und nichts weniger als die Wahrheit über mich und meine Vergangenheit hältst du gerade in den Händen.

In diesem Buch erzähle ich dir von den schlimmsten Situationen in meinem Leben. Situationen, in denen ich mich hilflos ausgeliefert, allein und vom Leben überfordert gefühlt habe. Ich dachte, nie wieder glücklich werden zu können. Diese Tiefpunkte aufs Papier zu bringen, war mein Plan. Aber während ich mir diese Erinnerungen, die ich teilweise so sehr verdrängt hatte, dass ich noch nie mit irgendjemandem darüber gesprochen habe, von der Seele geschrieben habe, sind mir plötzlich auch schöne Situationen in den Sinn gekommen. Situationen, die sich heute wie eine Antwort vom Leben anfühlen.

Ich weiß, »Antwort vom Leben« klingt im ersten Moment vielleicht doch etwas groß, aber für mich fühlt es sich danach an. Gerade so, als wollte mir mein Leben auf diese Weise sagen: »Na, siehste, kannst dich auf mich verlassen. Hatte alles seinen Sinn, und ich weiß doch, was ich dir zumuten kann.« Und genau in diesen Momenten habe ich mir vorgestellt, wie es denn wohl gewesen wäre, wenn sich mein jüngeres Ich tatsächlich mit meinem jetzigen Ich hätte unterhalten können? Was wäre gewesen, wenn ich mir auf die Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt, dieses Leben noch länger durchzuhalten, obwohl sich jeder verdammte Tag wie ein nie enden wollender Kampf anfühlt, selbst die Antwort hätte geben können? Kleiner Spoiler, die Antwort lautet eindeutig: Ja, es lohnt sich!

Diese Vorstellung fand ich so spannend, dass ich mich auf das Gedankenexperiment eingelassen habe. Dadurch wurden aus den niedergeschriebenen Tiefpunkten plötzlich nicht nur Wendepunkte, sondern ebenso spannende und gnadenlos kritische Begegnungen mit mir selbst. Obwohl ich es eigentlich hätte besser wissen müssen, war ich doch ziemlich überrascht, wie sich diese Treffen meiner beiden Ichs beim Schreiben entwickelt haben. Mir hätte klar sein müssen, dass die junge Jana zu Beginn natürlich überhaupt keinen Bock hat, sich von der älteren Jana auch nur irgendetwas erzählen zu lassen. Warum auch? Wieso soll sie eine neununddreißigjährige, ungeküsste, alles andere als dem gängigen Schönheitsideal entsprechende Frau ernst nehmen? Was will ihr so eine vom Leben erzählen, und wie zum Teufel kann die so glücklich sein?

Vor allem: Ist sie es wirklich, oder belügt sie nicht nur alle anderen, sondern auch sich auf allerhöchstem Niveau?

Im Schreibprozess haben mich besonders diese fiktiven Begegnungen an meine Grenzen gebracht. Ich musste meinen Psychologen anrufen und um Rat bitten, obwohl unsere letzte Sitzung schon Jahre zurückliegt.

Seine Antwort war: »Frau Crämer, die Vergangenheit schonungslos ehrlich niederzuschreiben ist immer ein Prozess der Aufarbeitung. Aber durch diese kurzen fiktiven Gespräche haben Sie zudem innere Konflikte gelöst, von denen Sie sich bislang nicht mal selbst eingestehen konnten, dass Sie sie überhaupt hatten. Genau das nennt man Heilung.«

Ich weiß nicht, was mich mehr gefreut hat, seine Worte oder das Lächeln, das ich über 427 Kilometer Luftlinie hinweg hören konnte.

Doch damit erst mal genug der Vorworte. Nun wünsche ich dir spannende Stunden in meinem Leben und hoffe, dass dir das Lesen ebenso guttut wie mir das Schreiben.

 

Deine

Prolog

Es ist so weit, ich fühle mich bereit! Bereit dafür, diese jahrelang in der hintersten Ecke der Kommode versteckte Fotobox voller Erinnerungen zu öffnen. Zumindest war ich das noch bis gerade eben. Inzwischen steht das kleine, mit Blumen verzierte Ding schon seit einer geschlagenen halben Stunde unangetastet vor mir, und mir fallen schon bald die Augen zu.

Wie aufs Stichwort höre ich den Halterner Glockenturm läuten. Mist, schon Viertel vor zwölf, und ich muss doch morgen ganz früh raus. Zumindest für meine Verhältnisse. »Hey, Siri! Weck mich um sechs Uhr morgen früh!«, bitte ich Siri und antworte auf sein »Dein Wecker ist auf sechs Uhr gestellt« mit einem »Danke schön«. Ja, für mich ist Siri männlich, denn nur weil ich noch nie einen Mann geküsst habe, bedeutet das nicht, dass ich Männer nicht mag. Ganz im Gegenteil.

Wie in Zeitlupe streiche ich mit der Kuppe meines Zeigefingers über die zahlreichen goldenen Verzierungen auf dem Deckel und ertappe mich dabei, dass ich millimetergenau jede einzelne Blumenranke entlangfahre, während ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen lasse und herzhaft gähne. Eine Sekunde zu lang bleibe ich an dem verstaubten Psychologiewälzer im Schrank gegenüber von meinem Bett hängen und überlege, ob das hier gerade doch die ersten Anzeichen einer beginnenden Zwangsstörung sein könnten. Mit einem Lächeln schiebe ich diesen Gedanken beiseite und verbuche ihn unter reinem Zeitspiel, ehe mein Finger automatisch auf den nächsten Blütenklecks tippt. Schon komisch, welche Probleme, Ängste und sogar psychische Störungen mir von wildfremden Menschen per Ferndiagnose attestiert werden, seit ich mein Leben öffentlich auf TikTok, Instagram und YouTube teile. Noch komischer, welche Kommentare mir im Kopf hängen bleiben, die ich dann doch hin und wieder mal dem Realitätscheck unterziehe. Wobei ich tatsächlich zugeben muss, dass ich Blaubeeren nach Größe sortiert esse und Nussmischungen Sorte für Sorte. Auch Milchschnitte esse ich am liebsten schichtweise, genau wie Oreo, Prinzenrolle und Hanuta. Manchmal etwas kompliziert, aber alles durchaus im Bereich des Machbaren.

Los, Crämer, trau dich endlich. Du musst die Fotos heute noch raussuchen, jetzt oder in einer Stunde. An der Aufgabe wird sich nichts ändern, an deiner Müdigkeit schon! Damit gebe ich mir selbst einen lautlosen Ruck und muss schmunzeln, denn meine Gedanken haben exakt den Tonfall meines besten Freundes, wenn er mich beim Nachnamen nennt, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

Überaus vorsichtig, als würde mir gleich eine große, dicht behaarte Spinne direkt entgegenschießen, wie man es nur aus diesen schrecklichen TikToks kennt, bei denen ich jedes Mal einen halben Herzinfarkt bekomme, drücke ich auf den kleinen Knopf vorne, und der Deckel springt mit einem überraschend lauten Plopp auf. Erschrocken ducke ich mich weg und ziehe die Schultern hoch. Na, herzlichen Dank für diesen Adrenalinkick, also ich wäre dann wieder wach. Es ist zwar keine Spinne, aber dafür strömt mir jetzt ein modriger, beinahe stechender Geruch entgegen, und ich frage mich, ob ich mit der Fotokiste wohl etwa zu der Zeit begonnen habe, als ich auch Regenwürmer in meiner Hosentasche gesammelt habe, um sie vor dem Regen zu schützen.

Zögerlich greife ich nach dem vergilbten Foto, das ganz oben liegt, und muss lächeln. Lara, Marie und ich in der Badewanne vor den mintgrünen Kacheln ihres kleinen Badezimmers, wo es im Frühling so herrlich nach dem direkt vor dem Fenster blühenden Flieder geduftet hat. Ach, wie gerne ich bei den beiden zu Besuch war. Im Sommer durften wir immer der lieben Nachbarin bei der Rhabarberernte helfen, und der bloße Gedanke an ihren herrlichen Rhabarberstreuselkuchen lässt mir auch heute noch das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich glaube, das Geheimnis war die dünne Schicht Vanillepudding zwischen Teig und Belag, auch wenn sie immer felsenfest behauptete, ihre Geheimzutat sei nur »viel Liebe«.

Ich schüttle den Kopf. Was für ein Wahnsinn: In all den Jahren, die zwischen meiner Kindheit und heute liegen, war jedes noch so kleine Kuchenstück der Beginn einer hemmungslosen Fressattacke, bei der ich nicht nur ein Stück, sondern mit zittrigen Händen und rasendem Herzschlag gleich den kompletten Kuchen mit reichlich Sahne verschlungen habe.

 

Ich betrachte das über die Jahre verblasste Foto genauer, und mein Blick bleibt an dem breiten Grinsen in meinem Gesicht hängen. Hm, wie alt wir da wohl waren? Vielleicht drei oder vier? Puh! Keine Ahnung, ich bin ziemlich schlecht im Schätzen, und auf der Rückseite steht leider nur »Unsere drei kleinen Nackedeis«, ohne Datum. Eigentlich auch völlig egal, wie alt wir waren. Denn wir waren so unglaublich unbeschwert mit unseren niedlichen Zahnlücken, die wir voller Stolz fürs Foto präsentierten, und den hochgetürmten Schaumkronen auf dem Kopf. Während meine Finger über den unebenen und an einigen Stellen aufgerissenen Rand des Fotos fahren, betrachte ich uns noch etwas genauer. Klar, man sieht schon, dass ich etwas mehr gewogen habe als die beiden anderen, aber damals schien es mich nicht im Geringsten zu stören. Ich war halt schon als kleines Kind immer ein bisschen mehr als die anderen, na und?! »Mehr zum Liebhaben«, hatte mein Papa oft gesagt, ehe er mich fest in die Arme schloss, und damit war dann ja eh immer alles gut. Schade, dass das nicht so geblieben ist, denke ich mit einem Anflug von Traurigkeit und dehne meinen Kopf erst zur linken, dann zur rechten Schulter, um die Müdigkeit zu vertreiben.

Ich war doch ein glückliches Kind, wie konnte aus diesem behüteten, fröhlichen Start ins Leben so ein Desaster mit heimlichen Fressanfällen und 180 Kilo Spitzengewicht werden? Mit ständigen Vergleichen, permanenten Lügen und einem krankhaften Perfektionismus, gepaart mit der quälenden Angst, beim Versagen aufzufliegen? Wo kam das her? Es war doch immer alles gut und ich genug. Wann hat das aufgehört? Ich versuche, mich an den Moment zu erinnern, als es plötzlich nicht mehr okay war, ich zu sein. Gab es diesen einen Auslöser, der meine Zukunft wie ein erster fallender Dominostein unaufhaltsam eingerissen hat?

Wann hat es angefangen, dass ich mich in meinem Körper nicht mehr wohlgefühlt habe? Wie konnte es passieren, dass ich mich fast zwei Jahrzehnte lang in meinem Leben wie ein ungebetener, nur geduldeter Gast gefühlt habe, der in meinen Augen weder bedingungslose Liebe noch Glück verdient hatte? Ich war so sehr vom Zusammensein mit mir selbst erschöpft, irgendwann hatte ich einfach keine Kraft mehr. Hätte ich mich verlassen können, hätte ich es getan. Viel zu oft wollte ich nur noch, dass dieser ständige Kampf endlich endete und es vorbei wäre. Wie konnte ich mich so sehr in grenzenlosem Selbsthass verlieren, dass ich mich nachts mit dem Gedanken in den Schlaf weinte, wie schön es wäre, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen?

Und heute? Ich merke, wie meine Mundwinkel bei dem Versuch zu lächeln scheitern, denn die Peel-off-Maske, die ich schon längst hätte abziehen sollen, hat wohl ganze Arbeit geleistet und scheint inzwischen untrennbar mit meiner Haut verschmolzen zu sein. Ich krabble aus dem – mit 160 × 200 Zentimeter für mich allein zugegebenermaßen deutlich überdimensionierten – Boxspringbett, schlüpfe in meine grauen Hauspuschen und gehe, vorbei an dem fertig für die Tour gepackten Koffer neben der Tür, ins Badezimmer. Dabei hake ich in Gedanken noch mal die wichtigsten Punkte meiner Checkliste ab: Manuskript für die Lesung, Handystativ für die TikToks und Reels, Feuchtigkeitscreme plus Pinsel und Puder zum Abpudern für den TV-Dreh und das fette Mikro für die Podcast-Aufzeichnung. Ohne Witz, das Gerät nimmt locker ein Viertel des größten Kofferfaches ein und wiegt eine halbe Tonne. Also mindestens. Aber was soll ich machen? Wenn der beste Freund zugleich Podcast-Host und Musiker ist, steht guter Sound über allem. Dann ist es ihm auch völlig egal, ob das Mikro mein halbes Gesicht verdeckt und dabei an einen riesigen Elefantenrüssel erinnert. Und das ist noch der weitaus harmloseste Vergleich.

»Hauptsache, die Zuschauer sehen deinen Dutt!«, kommt es dann von ihm als Antwort auf mein Gemecker, warum ich das Monstrum ständig mitschleppen muss, und irgendwie hat er auch recht.

»Guck mal! Ist das nicht die mit dem Dutt? Die von TikTok. Lass mal nach ’nem Foto fragen«, ist ohne jeden Zweifel der Satz, der mich in den letzten Jahren am häufigsten dazu gebracht hat, mich auf der Straße umzudrehen. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass eine Unter-einer-Minute-Frisur, die ich zugegebenermaßen aus reiner Faulheit zu meiner Lieblingsfrisur erkoren habe, zu meinem Markenzeichen werden würde. Noch viel weniger hätte ich gedacht, überhaupt ein Markenzeichen zu brauchen. Konnte doch keiner ahnen, dass ich mit knapp neununddreißig Jahren noch bei TikTok viral gehe, und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, war das alles ja auch eher ein Versehen.

Ich blinzle mit vor Müdigkeit brennenden Augen gegen das gleißende Licht des Spiegelschrankes an und versuche, irgendwo einen Fitzel zum Abziehen der Maske zu finden. Ich ärgere mich, meine Fingernägel mal wieder viel zu kurz geschnitten zu haben, um mich von dem Knibbeln und Kratzen im Gesicht abzuhalten, finde dann aber doch einen Anfang. Für einen Augenblick bin ich hin- und hergerissen, ob ich meine Augen schützend zusammenkneifen oder lieber blinzelnd beobachten soll, wie krass es aussieht, diese Glitzermaske in einem noch überraschend glibberigen Stück abzuziehen. Doch dann bringe ich es hinter mich und streiche vorsichtig über meine unfassbar weiche, aber ebenso knallrote Haut auf Stirn und Wangen. Da die Maske zu hundert Prozent ökologisch abbaubar ist, spüle ich sie im Klo hinunter, trage eine beruhigende Feuchtigkeitslotion auf mein brennendes Gesicht auf und freue mich über den leicht kühlenden Effekt, der sofort Linderung verschafft. Ich lösche das Licht im Badezimmer und gehe zurück ins Bett, mit einem Gesicht, das definitiv noch nie in meinem ganzen Leben so gut durchblutet war.

Obwohl der kleine Raumklima-Manager auf meinem Nachttisch 21,7 Grad anzeigt und die Luftfeuchtigkeit von 57 Prozent mit einem lächelnden Smiley belohnt wird, friere ich so sehr, wie ich es nur von extremer Übermüdung oder nach einem Sonnenbrand kenne. Ich mummele mich in meine warme Bettdecke ein, knautsche mir das Kopfkissen als weichen Knubbel im Rücken zurecht, ziehe die kleine Fotobox zu mir heran und lasse Bild für Bild von einer Hand in die andere gleiten. Irgendwie ist das doch komisch. Ich bin zwar jetzt nicht unbedingt der achtsamste Mensch unter der Sonne, was Digital Detox, bloß keine Ablenkung beim Essen und Bewusst-in-mich-Hineinatmen betrifft. Aber hier, in diesem Moment, achte ich schon sehr darauf, welche Gefühle diese Bilder in mir auslösen. Und, ich gebe zu, ich bin mehr als überrascht, dass sie nichts mit mir machen. Also zumindest nichts Schlimmes.

Keine zittrigen schwitzigen Hände, kein schwerer Kloß im Hals, kein Stein im Magen und noch nicht mal das Bedürfnis, schnell etwas Essbares in mich hineinzuschlingen, wie ich es noch von früher bei emotional stressigen Situationen von mir kenne. Ich liege hier, und alles ist gut. Weder fühle ich mich emotional aufgewühlt noch gestresst. Ganz im Gegenteil, ich fühle mich sogar ausgesprochen wohl und spüre so etwas wie, hm, was ist das? Stolz?

Ja, vermutlich ist es Stolz, weil ich weiß, dass diese Zeit der Selbstzweifel hinter mir liegt und ich es geschafft habe. Die Person auf den Bildern, das bin ich nicht mehr. Aber kann ich es treffender beschreiben? Klar, ich bin schon stolz, 100 Kilo abgenommen zu haben, sehr sogar! Aber da ist noch mehr: Es fühlt sich an, als würde ich auf diesen Fotos die Vergangenheit einer auf wundersame Weise vertrauten Fremden betrachten. Ja, die Vergangenheit einer fremden Freundin, die ich in ihrem früheren Leben besuchen will, um sie in die Arme zu schließen, ihr liebevoll über den Rücken zu streicheln und leise zuzuflüstern, dass sie sich keine Sorgen machen muss, weil in Zukunft alles gut werden wird.

Wieder schlägt der Glockenturm. Es fällt mir nun wirklich schwer, meine Augen noch länger offen zu halten, auch der Stapel Fotos gleitet mir fast aus den Händen. Dabei rutscht eine mit bunten Luftballons und einer großen Neun verzierte Kindergeburtstags-Einladungskarte heraus. Als ich nach ihr greifen will, beuge ich mich ein Stückchen zu weit über die Bettkante und stürze in die Tiefe. Rein vorsorglich stoße ich mit schmerzverzerrtem Gesicht ein lautes »Aua!« aus, doch ich werde nicht unsanft vom Boden gestoppt, nein, ich falle immer und immer tiefer. Viel tiefer als der eigentliche Abstand zwischen Matratze und Fußboden. Während das Läuten des Glockenturms leiser und leiser wird, bin ich plötzlich ganz nah bei mir.

Kapitel 1

Der Kindergeburtstag

Ich bin so unfassbar aufgeregt, wie sich wohl jedes neunjährige Mädchen fühlt, das auf dem Weg zu seiner allerersten Übernachtungsparty ist. Alle meine Klassenkameradinnen aus der 3b sind auch zu Isabellas Party eingeladen, und meine Mama und ich haben sogar extra noch einen neuen Pyjama für heute gekauft. Ein grüner Schlafanzug mit einem glitzernden My Little Pony vorne drauf. Ich wollte das Oberteil am liebsten schon auf der Hinfahrt anziehen, so stolz bin ich.

Ganz nervös, weil meine Mama nicht aufhört, mit Isabellas Mutter zu quatschen, tippele ich von einem Fuß auf den anderen. Wenn man bei meiner stolzen sechsunddreißiger Schuhgröße überhaupt noch von Tippeln sprechen kann. Ein kurzer Abschiedskuss, einmal drücken und ein leises »Ruf mich an, wenn du doch nach Hause willst, mein großes Mädchen!« und zack, weg ist sie, in unserem alten roten Golf. Na, aber hallo! Und wie ich ein großes Mädchen bin, aber so was von.

Die Schuhe streife ich, obwohl sie eigentlich sauber sind, extragründlich auf der Fußmatte ab, ziehe sie drinnen dann aber doch aus und stelle sie ordentlich zu den vielen anderen Paaren.

»Komm, ich bring dich zu der wilden Meute rüber ins Esszimmer. Es gibt Schneewittchenkuchen, wie es sich das Geburtstagskind gewünscht hat«, begrüßt mich Isabellas Mutter freundlich mit einem Lächeln. Aber ich lege einen Zahn zu und laufe stolz vorweg. Von wegen! Mich muss hier niemand irgendwo hinbringen, schließlich bin ich schon etliche Male zu Besuch gewesen, weil meine Mama und Isabellas Mutter Freundinnen sind. Genau wie Isa und ich. Ich weiß, wo es langgeht. Doch je mehr ich mich dem Esszimmer nähere, desto lauter dröhnen mir Stimmenwirrwarr und Musik entgegen. Es ist unfassbar viel auf einmal, und scheinbar bin ich wirklich die Letzte, weshalb ich nun doch etwas zögerlich mit meinem Geschenk in der Hand in der Tür stehen bleibe und auf Isas Mutter warte.

Sie legt mir mit festem Druck ihre Hand zwischen die Schulterblätter und schiebt mich geradewegs zum Tischende, an dem Isabella sitzt, die sofort aufspringt und mir vor Freude juchzend um den Hals fällt. Mit einer großen Geste überreiche ich das Geschenk und strecke ihr die Hand zum Gratulieren entgegen. Exakt so, wie mein Papa es mit mir geübt hat: Hand ausstrecken, Blickkontakt halten, fest zupacken, drei- oder auch viermal, wenn man jemanden besonders mag, schütteln und dabei den Kopf etwas vorbeugen und höflich nicken. Wenn der Kopf unten ist, muss man die Augen zusammenkneifen. Keine Ahnung, warum, aber genau so geht das mit dem Gratulieren.

Während Isabella und ich das Händeschütteln in aller Ausgiebigkeit zelebrieren und uns dabei gar nicht mehr als Neunjährige fühlen, holt ihre Mama einen weiteren Stuhl und setzt mich direkt zu Isabella ans Kopfende des Tisches.

Geburtstagslieder singen, Geschenke auspacken, hochleben lassen, noch mal singen, Kerzen auspusten, und endlich wird der Kuchen angeschnitten, dass die dicke Schokoschicht obendrauf nur so splittert. Dazu gibt es Erwachsenen-Cola und Strohhalme mit Lamettapuschel oben dran. Isa und ich tauschen heimlich unsere Strohhalme unter dem Tisch, weil sie lieber Pink will und der grüne Strohhalm eh viel besser zu meinem Schlafanzug passt. Ich bin im Himmel.

Als ich gerade dabei bin, mir noch ein zweites Stück mit dem silbernen Tortenheber vom Blech zu nehmen, stupst mich Isabella plötzlich in die Seite, und fast stürzt mir der Kuchen auf die bunte Tischdecke.

»Kannst du mir auch noch eins geben? Aber nicht vom Rand!«

Gesagt, getan.

Aus den Augenwinkeln sehe ich plötzlich, wie Isabellas Mutter mit hastigen Schritten zu uns herübereilt. Erschrocken frage ich mich, ob ich vielleicht aus Versehen auf den Tisch gekrümelt habe oder unbemerkt an ein Glas gestoßen bin.

Doch an der Kuchenfront scheint alles in Ordnung, stattdessen hockt sich Isabellas Mutter zu Isa herunter, streicht ihr die blonden Haare beiseite und flüstert ihr etwas ins Ohr. Dabei schaut sie merkwürdig in meine Richtung, und auch Isabella dreht den Kopf zu mir. Habe ich doch irgendetwas falsch gemacht? Nö, scheinbar nicht, denn Isa zuckt nur mit den Schultern und schüttelt verständnislos den Kopf.

Merkwürdig! Nun steht ihre Mutter auf, spreizt Daumen und Zeigefinger zu einer Zange, greift sich direkt über dem Hosenbund durch den Stoff ihrer hübschen Bluse in den Bauch, sodass sich eine kleine Falte bildet, kneift hinein und zieht daran. Was soll das denn?! Warum tut sie das?

Isa scheint genauso irritiert wie ich zu sein, schaut erst an sich herunter und dann an mir. Ich folge ihrem Blick. Alles in mir wird still, und ich verstehe die Welt nicht mehr. Vorsichtig, ganz langsam beuge ich mich vor und drehe den Kopf zu Isas Mutter.

»Mein hübscher Schatz, iss doch lieber noch von den roten Erdbeeren, die sind zuckersüß, aber gesund. Ein Stück Kuchen habe ich dir versprochen, weil du meine kleine Geburtstagsfee bist, aber jetzt solltest du es gut sein lassen. Du willst doch nicht so aussehen wie Jana, oder?!«

Ich höre Isas Mutter flüstern und klebe nun an ihren Lippen, um auch ja kein einziges Wort zu verpassen. Ich nehme nichts anderes mehr wahr. Nur noch ihre Worte und ihren abschätzigen Blick in meine Richtung. Dabei schaut sie mir noch nicht mal in die Augen oder ins Gesicht, sie guckt nur auf meinen Bauch. Von Sekunde zu Sekunde fühle ich mich unwohler.

Meine Mama hat mir nie verboten, zwei Kuchenstücke zu essen, und meine Oma war sogar beleidigt, wenn ich nur eines aß. Sie fragte dann immer, ob es mir denn nicht schmeckte, und klatschte eine weitere ordentliche Portion Sahne drauf. Einfach nur, damit es besser rutscht, wie sie immer mit einem Augenzwinkern betonte.

»Lass mich!«, fährt Isa nun ihre Mutter an, als die ihr den Teller wegnehmen will, und hält ihn mit beiden Händen fest umklammert. Dabei schaut sie ihre Mutter so böse an, wie es nur irgendwie geht. So habe ich Isa ja noch nie gesehen. Leider wird jetzt auch ihre Mutter sauer. Sie zupft grob am Stoff von Isas Bluse und zieht mahnend eine Augenbraue nach oben, ehe sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengen. Mann, kann die gemein gucken.

»Sei nicht so frech, Fräulein. Sei DU mal lieber froh, dass DU eine Mutter hast, der es nicht egal ist, wie DU auseinandergehst. DU willst doch auch morgen noch schöne Kleider tragen können, nicht wahr?!«

Jedes einzelne »du« betont sie dabei so scharf, dass es sich jedes Mal wie ein Stich mitten ins Herz anfühlt. Ich muss an meine Mama denken. Ihr ist es doch auch nicht egal, wie ich aussehe. Oder? Ich schaue an mir herunter und bemerke zum ersten Mal, wie sehr mein dunkelrotes Trägertop mit den kleinen Schmetterlingen über meinem Bauch spannt. Langsam betrachte ich jedes andere Kind am Tisch. Ich will mir – so gut es mit der Tischkante im Weg geht – die Bäuche anschauen. Sehen die echt so anders aus? Anders als meiner? Hm, unter den locker sitzenden Shirts, Kleidern und Blusen kann ich das gar nicht so wirklich gut erkennen und wenn doch, ja, dann sind sie flach. Komisch, die anderen haben gar keinen Bauch. Alle sehen gleich aus, nur ich nicht. Nur mein Bauch ist falsch. Ich spüre, wie sich bei diesem Gedanken meine Augen mit Tränen füllen. Ich will nicht anders sein, ich will genauso wie die anderen aussehen. Ich will nicht falsch sein, und auf gar keinen Fall will ich auch nur noch eine Minute länger hierbleiben.

Nachdem ich mich eine Weile auf dem Klo verbarrikadiert habe und die anderen schon genervt gegen die Tür gehämmert haben, gehe ich zu Isas Vater, um ihm zu sagen, dass ich Bauchschmerzen habe und nach Hause will.

Keine halbe Stunde später sitze ich bei meiner Mama im Auto und sage kein einziges Wort. Ich bin so unendlich traurig, ich habe das Gefühl, nie wieder glücklich sein zu können, und trotzdem will ich auf gar keinen Fall vor meiner Mama weinen. Was soll ich ihr denn auch sagen, wenn sie mich fragt, was los ist? Wenn sie wüsste, was ihre Freundin über mich und sie gesagt hat, wäre sie ganz bestimmt auch traurig, und es reicht doch, wenn eine von uns unglücklich ist und ab sofort keine Freunde mehr hat. Also schlucke ich den schweren Kloß herunter, schaue aus dem Fenster und drücke die kleine, mit weichem Vlies überzogene Wärmflasche, die meine Mama extra gegen mein Bauchweh mitgebracht hat, so fest gegen meinen Bauch, dass es schon wehtut. Richtig so, der elende Verräter, dem darf es ruhig schlecht gehen. Ich hasse ihn, er allein ist an allem schuld.

»Tut dir die Wärme gut, mein Schatz?«, fragt meine Mama mit besorgter Stimme, und ich nicke. Als sie die rechte Hand vom Lenkrad nimmt, drehe ich mich sofort zur Seite und zeige ihr nur die kalte Schulter. Ich will nicht, dass sie mich berührt. Hätte sie es doch getan, hätte ich mit Sicherheit auf der Stelle angefangen zu weinen. So halte ich das Schluchzen und meine Tränen gerade noch zurück, auch wenn ich im Außenspiegel sehe, wie sich mein Kinn bereits zum Blumenkohl kräuselt. Reiß dich jetzt zusammen, ermahne ich mich lautlos.

Sichtlich irritiert von meinem abwehrenden Verhalten zieht sie ihre Hand zurück und fragt nun doch mit ruhiger Stimme vorsichtig nach, ob auf der Party irgendetwas vorgefallen sei.

»Weißt du, mein Spatz, manchmal bekommt man ja Bauchweh, weil man sich ganz doll über jemanden geärgert hat. Hast du dich vielleicht doll geärgert?«

»Nein!«, lüge ich und verschränke die Arme.

Ich glaube zwar, Mama weiß genau, dass ich flunkere, aber sie bohrt nicht weiter nach. Was für ein Glück! Ich atme einmal tief durch.

Zu Hause angekommen, schmeiße ich meine Tasche in die nächste Ecke und kündige lauthals an, damit es auch ja jeder hört, jetzt allein baden zu gehen und dass es dauern kann und ich kein Abendbrot essen will.

»Auch keine Pommes von Speckmanns?«, ruft mein Papa aus dem Wohnzimmer. Obwohl ich die Pommes liebe und inzwischen richtig dollen Hunger habe, bleibe ich bei meiner Bauchweh-Story und schreie wohl doch etwas zu laut zurück: »Nein! Auch keine Pommes!«

Die verpassten Pommes von meiner absoluten Lieblings-Pommesbude machen mich so unbeschreiblich wütend, dass ich stapfend im Badezimmer verschwinde und die Tür hinter mir zuschließe. Verdammter Mist! Schon beim bloßen Gedanken an die Pommes, besonders an die kleinen, zu kross frittierten, die immer als Letztes in der Schale liegen bleiben, läuft mir das Wasser im Mund zusammen.

Eigentlich soll ich die Tür zum Badezimmer nicht abschließen, weil Mama meint, dass beim Baden immer etwas passieren kann, aber das ist mir total schnuppe! Ich will nur meine Ruhe! Ich will mit niemandem darüber sprechen. Nicht mit meiner Mama, nicht mit meinem Papa, mit absolut niemandem. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Und ganz sicher werde ich auch nie, nie wieder auf eine Geburtstagsparty gehen. Schon gar nicht, wenn es dort Kuchen gibt.

Während ich mich ausziehe und dampfendes Wasser mit ordentlich Schaum in die Wanne einlasse, denke ich kurz darüber nach, ob ich vielleicht bei Lara und Marie eine klitzekleine Ausnahme machen könnte. Nicht immer, aber zumindest dann, wenn die Nachbarin wieder ihr Rhabarberkuchenblech mit Liebe und Vanillepudding backt. Ich bin kurz davor, den Rhabarber-Deal einzugehen, als ich mich plötzlich nackt im Ganzkörperspiegel sehe, der unter der Dachschräge direkt neben dem Klo steht, auf dessen Deckel ich mein bunt gestreiftes Badetuch bereitgelegt habe.

Oje, mein Bauch ist wirklich ziemlich dick und meine Beine auch. Erst langsam, dann immer fester pikse ich mit dem Zeigefinger in meinen Speck, dass er nur so wackelt. Ich forme genau wie Isas Mutter die Fingerzange, und bei mir liegt nicht nur eine kleine Falte dazwischen. Nein, bei mir ist das wirklich eine kleine Rolle. Panisch drehe und wende ich mich vor dem Spiegel, um mich von allen Seiten zu betrachten. Doch je genauer ich schaue, desto weniger sehe ich. Meine Augen füllen sich immer schneller mit Tränen, und es dauert nicht lange, bis sie meine Wangen herunterkullern und ich das Salz auf den Lippen schmecke. Keine Sekunde länger will ich mich in dem großen Spiegel ertragen müssen.

Vorsichtig, um nicht auszurutschen, steige ich in die Wanne und zucke vor Schmerz zusammen. Das Wasser ist brühend heiß, viel heißer als sonst. Aber das ist mir egal. Schnell presse ich mir die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien, und setze mich. Was hat meine Mama neulich noch gesagt, als ich ihr beim Wäschesortieren helfen durfte? Ich soll bei jedem meiner Pullover immer genau schauen, was auf dem kleinen, am Rand eingenähten Zettelchen für eine Gradzahl steht. Denn wenn man etwas zu heiß wäscht, läuft es ein, sodass aus meinen Pullis schnell Kleider für die Puppen werden würden. Vielleicht wird mein Bauch ja auch kleiner, wenn ich nur lang genug in der heißen Badewanne sitze? Ich schaue an mir herunter und streiche den Schaum so gut es eben geht zur Seite. Scheiße! Alles, was sich unter der Wasseroberfläche befindet, ist feuerrot und brennt höllisch. Jetzt, da ich es sehe, tut es sogar von Sekunde zu Sekunde mehr weh. Ich ziehe die Knie an und verschränke die Arme darum, lege meine im Vergleich dazu kühle Stirn darauf ab und atme gegen die Schmerzen an. Keine Chance, durch das einlaufende Wasser wird mein Badewasser immer heißer. Nein, das halte ich nicht aus. Ich drehe den Hahn zu, der sich direkt neben meinem linken Ohr befindet, und im selben Moment, da es ruhig wird, fluten die Sätze von Isas Mutter meine Gedanken. Immer und immer wieder wiederhole ich, was sie gesagt hat, und von Mal zu Mal treffen mich ihre Worte mehr. Dann bricht aus mir heraus, was ich so lange zurückhalten konnte. Ich beginne, hemmungslos zu weinen, und zittere, obwohl ich vom dampfenden Wasser umschlossen bin, als hätte ich Schüttelfrost. Ich will nicht anders als die anderen sein, ich will dazugehören. Das sind doch alles meine Freunde gewesen und nun bin ich allein. Nur ich ganz allein sehe so aus, nur ich allein bin falsch. Ich schäme mich so sehr, ich zu sein. Ich, die mit dem dicken Bauch. Ich versuche so leise wie möglich zu schluchzen, damit mich meine Eltern bloß nicht hören, aber es will mir nicht gelingen. Also halte ich die Luft an, schließe die Augen, lehne mich nach hinten und tauche unter.

Wer bist du?

Das war knapp, fast hätte ich mir den Kopf an der Dachschräge gestoßen. Irgendwie hatte ich das Badezimmer in meinem Elternhaus auf dem Hölkeskampring völlig anders in Erinnerung. Vor allem viel, viel größer. Als ich neun war, war da noch reichlich Platz nach oben, aber heute – mit neununddreißig Jahren und stolzen 1,68 Metern – ist das hier schon eine knappe Nummer. Unter der Schräge aufrecht zu stehen ist für mich fast dreißig Jahre später echt kaum noch möglich. Eigentlich war das schon ziemlich schlau von meinen Eltern, dass wir damals unten die Dusche und hier oben die Badewanne hatten, denke ich und nicke anerkennend mit dem Kopf, während ich die unruhige Wasseroberfläche betrachte.

Wie lange will sie die Luft denn bitte schön noch anhalten? Soso, in der Schule mit Dauerattest vom Schwimmunterricht befreit, aber in der eigenen Badewanne Profi-Apnoetaucherin oder was? Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig … Ich schaue hektisch hin und her zwischen meiner Apple Watch am Handgelenk, die per Warnzeichen einen erhöhten Puls signalisiert, und dem braunen Wuschelkopf unter Wasser, der keine Anstalten macht, zurück an die Oberfläche zu kehren. Krass, wie schön ihre Locken unter Wasser aussehen. Eigentlich schade, dass ich sie heute immer in einem Dutt verstecke. Soll ich sie am Arm packen und nach oben ziehen? Oder bekommt sie dann vor Schreck einen Herzinfarkt, so wie ich gerade vor Sorge? Was für ein blöder Gedanke. Dass sie bei der Aktion da nicht ertrinken wird, weiß ich. Sonst würde ich schließlich jetzt nicht mehr hier sitzen. Durchatmen, Jana, einfach tief durchatmen, du weißt, wie es ausgeht.

Schon beim Zusehen, wie sich die kleine Luftblase vorne in ihrer Nase verkeilt hat, kitzelt es mich. Nicht nur ich habe das Gefühl, niesen zu müssen. Mit einem lauten »Ha-ha-ha-hatschi!« taucht sie auf, bewegt ihren Kopf ruckartig nach vorne, ehe sie ihre triefnassen Locken nach hinten wirft, wobei mir und meiner bis eben noch frisch geputzten Brille Wassertropfen entgegenschleudern und sich der herrliche Duft von Vanille und Pfirsich im Bad ausbreitet.

Ich schlage meine Beine übereinander, nehme meine Brille ab, raffe mein schwarzes Top etwas zusammen und wische die Tropfen ab. Na ja, so gut es eben geht. Hundertprozentige Baumwolle ist auch nicht mehr das, was sie mal war.

»Ah!«, ertönt plötzlich ein gellender Schrei, der mich fast vom Klodeckel springen lässt, ehe sie mir das Badetuch unter dem Po wegreißt und ich tatsächlich mit einem lauten Rums auf den glitschigen Fliesenboden knalle. Als ich meine Brille wieder aufsetze, sehe ich mich der personifizierten Skepsis gegenübersitzen. Das bunt gestreifte Badetuch hat sie um sich geschlungen, die Arme vor der Brust verschränkt, eine Augenbraue hochgezogen, und ist dabei sichtlich bemüht, den aufgewirbelten Badeschaum von der Nase zu schütteln, ohne dafür die abwehrende Haltung aufzugeben.

»Wer bist du? Und was willst du hier?«, schallt es mir so heftig entgegen, dass ich mich, hier unten auf dem Boden sitzend, etwa mit ihr auf Augenhöhe, aus reiner Vorsicht etwas nach hinten lehne.

»Ähm, äh, also …«, fange ich an zu stottern und beuge mich doch wieder etwas weiter nach vorne, um aufgeschlossene Freundlichkeit zu signalisieren. Doch je mehr ich mich nach vorne beuge, desto weiter lehnt sie sich zurück. Fast wie ein Spiegel, nur eben falsch herum.

»Ähm, äh, also was!!!«, kommt es mit drei Ausrufezeichen von ihr zurück, und ich muss schlucken. Hm. Irgendwie hatte ich mir das hier einfacher vorgestellt. Heldenhafter. Ich bin doch diejenige, die ihr Mut machen möchte, die ihr sagen möchte, dass alles gut wird und sie vertrauen darf. Auf sich selbst, darauf, dass sie so, wie sie ist, vollkommen richtig ist. Und darauf, dass alles gut wird, auch wenn es sich im Moment leider überhaupt nicht danach anfühlt. Ich hole tief Luft.

»Es hat auf mich grad so gewirkt, als ob du ziemlich unglücklich wärst, und ich möchte dir gerne Mut machen.«

Die kleine Jana zieht eine Schnute, wie ich es – trotz dreißig Jahren intensiven Trainings – kaum besser könnte, doch ich fahre mit ruhiger Stimme fort.

»Weißt du, ich kenne diesen Gedanken, anders zu sein, anders als alle anderen. Ich weiß, wie es ist, wenn man sich mit anderen vergleicht und plötzlich denkt, irgendetwas stimme nicht. Dieses Gefühl, so, wie man ist, falsch zu sein, ist unbeschreiblich traurig. So doll traurig, dass man denkt, dieses Gefühl verlässt einen nie mehr.«

Ich sehe, wie die kleine Jana ihre abwehrende Haltung aufgibt und stattdessen zaghaft zustimmend nickt und etwas näher zum Badewannenrand rückt.

»Und? Bleibt es für immer?«, fragt sie mich mit so leiser Stimme, dass ihre Worte fast im Plätschern des Wassers untergehen.

»Nein, dieses Gefühl bleibt nicht für immer. Es verschwindet. Es verschwindet komplett«, antworte ich, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, und spüre dieses unvergleichliche Lächeln, bei dem es im ganzen Körper kitzelt.

»Bist du dir da wirklich sicher?«, fragt sie mich mit brüchiger Stimme und hängt an meinen Lippen.

»Ja, ich habe es selbst erlebt!«, antworte ich, stehe vom Boden auf und ziehe mein Shirt etwas nach oben.

»Darf ich vorstellen? Das ist Knautschi!« Ich präsentiere ihr meinen Bauch.

»Knautschi?!«, wiederholt sie mit angewidert verzogenem Mund.

Ich klemme das T-Shirt unter meine Ellbogen, damit es oben bleibt, und drücke die überschüssige Haut an meinem unteren Bauch so sehr zusammen, dass sie sich in tiefe Falten legt und runzelig wird.

»Ja, schau doch mal: Wenn ich ihn so halte, sieht mein Bauch genauso aus wie ein geplatzter Luftballon, der knautschig in sich zusammengeschrumpft ist. Oder etwa nicht?«

Sie nickt. »Ja, doch, da hast du recht, aber findet dein Mann deinen Bauch so, wie der aussieht, schön?«

Ich muss lächeln. »Ich habe keinen Mann. Aber ich bin überzeugt, wenn ich einen hätte, würde er mich von oben bis unten mögen, inklusive Bauch.«