Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen - Hendrik Cremer - E-Book

Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen E-Book

Hendrik Cremer

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Beschreibung

Deutschland rechts außen – eine Gefahr für uns alle Die Gefahr, die von der AfD ausgeht, wird im öffentlichen Diskurs nicht abgebildet. Die Partei wird verharmlost, indem sie etwa als »rechtspopulistisch« bezeichnet wird. Dabei hat sie sich längst zu einer rechtsextremen Partei entwickelt. Ihre Gewaltbereitschaft wird regelmäßig ausgespart. Zugleich erzielt sie hohe Zustimmungswerte, und Vertreter:innen demokratischer Parteien grenzen sich nicht genügend von ihr ab. Cremer zeigt eine Entwicklung, die angesichts der deutschen Geschichte lange nicht für möglich gehalten wurde. Die Strategie der AfD droht aufzugehen, wenn sich der Umgang mit ihr nicht grundlegend wandelt. Ein fundiertes Aufklärungsstück, um die Dimension des Angriffs auf die freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie zu erkennen.

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Nie wieder?

1_Was heißt »rechtsextrem«?

»Menschenrechte« – was heißt das eigentlich?

Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz: Der absolute Kern der freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie

Rassismus und Antisemitismus: Eine Geschichte der Gewalt

Schlüsselbegriff »Volksgemeinschaft«

Warum der Begriff »Rasse« heute vermieden wird

»Kulturelle Identität«: Ein neuer Deckname für Rechtsextremismus

Wegbereiter der AfD: Sarrazin als moderner »Rassenkundler«

Gewalt setzt sich fort

2_Was die AfD will: Eine »homogene Volksgemeinschaft«

Rechtsextremismus als Agenda: Eine Analyse der AfD-Parteiprogramme

Grundsatzprogramm 2016: Gegen »importierte kulturelle Strömungen«

Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017: Muslime – »eine große Gefahr«

Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021: Das Prinzip »Wir« gegen »die Anderen«

Konzept zur Sozialpolitik von 2020: Solidarität nur für »unser Volk«

Erstes Fazit: Die AfD untergräbt in ihren Programmen die Garantie der Menschenwürde

Zweites Fazit: Die national-völkische Ausrichtung ist in der AfD fest verankert

Topos »Bevölkerungsaustausch«

Abschaffung des Rechts auf Asyl und Schutz

Wer nicht »deutsch genug« ist, wird deportiert?

Die AfD und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus

Bagatellisierung der nationalsozialistischen Verbrechen

Offene Bekenntnisse zum Nationalsozialismus

Destabilisierung der Demokratie in Kooperation mit dem Putin-Regime

Mit Gewalt zur Macht

Topos »Bürgerkrieg«

3_Wie sich die AfD einen »Führer« schafft

Wie die AfD wurde, was sie ist

»Deutschland Stück für Stück zurückholen«

»Ich weise euch den Weg«

»Wohltemperierte Grausamkeit«

»Belastungsfaktoren«

Schulterschluss hinter Höcke

Auf dem Weg zu einem Höcke-Putin-Pakt?

Fazit

4_Wie die AfD vorgeht: Strategien, Taktiken, Schachzüge

Strategische Verschiebung des »Sagbaren«

Selbstinszenierung als Widerstandsbewegung

Nutzung des digitalen Raums als Propagandamaschine

Verflechtungen und Kooperationen mit anderen rechtsextremen Akteuren

Inszenierung als Opfer und Selbstverharmlosung

Antisemiten? »Wir doch nicht …«

Auftreten als Kümmerer

Wie die AfD versucht, Kritiker zu »neutralisieren«

5_Wie wir Öl ins Feuer der AfD gießen

Weil nicht ist, was nicht sein darf? Die Verharmlosung der AfD im öffentlichen Diskurs

Wie andere Parteien der AfD den roten Teppich ausrollen

Wie Medien der AfD Bühnen bauen

Wie die AfD Interviews zu ihren Gunsten nutzt

Alice im Hochglanzland

Mit Rechtsextremen »talken«?

Weitere Bühnen für die AfD

6_Klarheit schaffen: Empfehlungen für die Thematisierung und den Umgang mit der AfD

Offensiv aufklären statt defensiv schweigen

Keine Normalisierung als Gesprächspartner durch die Medien

Abgrenzung als politische Pflicht: Parteien und ihre Verantwortung gegenüber der Demokratie

Aufklärung und kritische Thematisierung der AfD im Bereich der Bildung

Lokale zivilgesellschaftliche Bündnisse bilden

Widerspruch und Auseinandersetzung im Alltag erforderlich

7_Die Lage ist ernst

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Nie wieder?

»Wie konnte das alles passieren?« »Warum habt ihr es nicht verhindert?« Diese Fragen stellten die Kinder und Enkel der Tätergeneration in Deutschland, als die Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus nach dem Kriegsende 1945 immer deutlicher zutage traten. Nicht wenige antworteten, sie hätten nicht ahnen können, dass die Nationalsozialisten so grausame und unvorstellbare Verbrechen beabsichtigten – vieles hätten sie auch nicht gewusst.

Seit 2014 ist in der Bundesrepublik Deutschland wieder eine Partei in die Parlamente eingezogen, die die freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie beseitigen will: die »Alternative für Deutschland«, kurz AfD. Diese Partei hat sich seit ihrer Gründung 2013 fortschreitend radikalisiert, und ein Ende dieses Radikalisierungsprozesses ist nicht abzusehen. Schon jetzt weist die AfD in ihrer Programmatik klar erkennbare Parallelen zur nationalsozialistischen Ideologie auf.

Im öffentlichen Diskurs über die AfD wird der fortgeschrittene Prozess ihrer Radikalisierung allerdings nicht abgebildet. Die Partei wird verharmlost, indem sie etwa als rechtspopulistisch bezeichnet wird. Dabei hat sie sich längst zu einer national-völkischen und damit rechtsextremen Partei entwickelt. Ihre tatsächlichen Ziele werden kaum thematisiert, ihr Streben nach Gewalt wird regelmäßig ausgespart. Zugleich erzielt die AfD hohe Zustimmungswerte, und Vertreter:innen demokratischer Parteien grenzen sich nicht oder nicht genügend von ihr ab.

Neben der AfD gibt es in der Bundesrepublik weitere Akteure, die rechtsextremes Gedankengut verbreiten, sei es im öffentlichen und politischen Raum, im Internet und in den sozialen Medien, ebenso auf Flugblättern, die öffentlich verteilt oder in Briefkästen eingeworfen werden, in Zeitschriften, die teilweise kostenlos verbreitet werden, oder in Büchern, die auch den Weg in öffentliche Bibliotheken finden. Mit zahlreichen dieser anderen rechtsextremen Akteure ist die AfD vernetzt.

Die Vehemenz des Angriffs auf die freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie ergibt sich insbesondere daraus, dass rechtsextreme Inhalte nicht nur von Akteuren verbreitet werden, die sich in einem klar umrissenen rechtsextremen Milieu bewegen. Es ist vielmehr unverkennbar, dass ein solches Gedankengut gerade dann eine erhebliche Wirkung in der Gesellschaft entfalten kann, wenn Protagonisten bei der Verbreitung rechtsextremer Ideologie publikumswirksame Bühnen eingeräumt werden – insbesondere durch etablierte Medien wie auflagenstarke Magazine, Tagespresse oder öffentlich-rechtliche Sender. Die Protagonisten erhalten damit den Anstrich von Seriosität und können die verharmlosende Normalisierung ihrer Positionen vorantreiben. Damit verschieben sie die Grenzen dessen, was öffentlich gesagt und getan werden kann: Zuerst werden die Menschenrechte diskreditiert – und dann … abgeschafft?

Dieses Buch möchte gegen diese Entwicklung Position beziehen. Es möchte klar aufzeigen, wie die geschriebenen und gesprochenen Positionen formuliert sind, die darauf abzielen, die im Grundgesetz verankerte freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie zu beseitigen. Dabei wird zunächst (Kapitel I) skizziert, wie rassistische und antisemitische Positionen als Kernelemente rechtsextremer Positionen in den vergangenen Jahrhunderten konstruiert und begründet wurden und welche Rolle das Konzept der »Rasse« zur Kategorisierung von Menschen dabei spielte. Auf dieser Grundlage wird dann erläutert, wodurch rechtsextreme Positionen in der Gegenwart gekennzeichnet sind: Sie greifen in der Regel nicht mehr auf die Terminologie der »Rasse« zurück, ebenso wenig auf biologistische Theorien von Abstammung und Vererbung. Stattdessen nehmen rechtsextreme Akteure heute in der Begründung ihrer Positionen regelmäßig auf »die Kultur« von Menschen Bezug.[1] Dahinter steht die Strategie, rechtsextreme Positionen zu kaschieren, damit sie in der Gesellschaft möglichst überall Anschluss finden – auch in bürgerlichen und akademischen Milieus. Dabei haben diejenigen, die die Verbreitung dieses Gedankenguts vorantreiben, oftmals selbst einen akademischen Hintergrund: Zu ihnen gehören Richterinnen und Anwälte, Ärztinnen und Lehrer oder Wissenschaftlerinnen, auch Professoren[2].

Angesichts solcher Entwicklungen wird es immer wichtiger, dass diese im Bereich der Bildung, in den Schulen und Universitäten, in den Medien und auch in Büchern wie diesem aufgegriffen und entsprechend eingeordnet und thematisiert werden. Um mit dem fortgeschrittenen Angriff auf die freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie umgehen zu können, braucht es als Grundlage Wissen über gängige Argumentationsmuster und Strategien, die bei der Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts eingesetzt werden. Dieses Buch möchte dazu beitragen, dass mehr Menschen rechtsextremes Gedankengut als solches erkennen und die Gefahren verstehen, die insbesondere von der AfD ausgehen.

Ein zentraler Ansatzpunkt ist die Analyse der offiziellen AfD-Programme (Kapitel 2). Sie zeigt, warum die Partei bereits nach ihrem Grundsatzprogramm und ihren bisherigen Wahlprogrammen als rechtsextrem einzuordnen ist. Bestätigt wird dies durch die Positionen von Funktions- und Mandatsträgern, die untermauern, wie gefährlich die AfD für das friedliche Zusammenleben der Menschen in Deutschland ist.

Die AfD ist zwar als demokratisch gewählte Partei in den Parlamenten vertreten. Daraus lässt sich allerdings nicht schließen, dass es sich bei ihr um eine demokratische Partei handelt. Diese immer wieder zu hörende Schlussfolgerung greift deutlich zu kurz und ist schlicht unzutreffend. Richtig ist vielmehr, dass die AfD darauf abzielt, die Garantien des Grundgesetzes zu beseitigen, die das Fundament der freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie bilden. Sie will die freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie als historische Errungenschaft zerstören.

In den Debatten über die AfD ist gleichwohl immer wieder der beschwichtigende Hinweis zu hören, dass die AfD doch nicht verboten sei. Das ist richtig, doch diese Tatsache sagt noch nichts darüber aus, wie gefährlich die AfD tatsächlich ist und ob sie nicht verboten werden könnte. Gemäß Artikel 21 des Grundgesetzes kann das Bundesverfassungsgericht politische Parteien verbieten. Ein solches Verbot setzt allerdings einen Antrag durch den Bundestag, den Bundesrat oder die Bundesregierung voraus.[3] Ob es zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über ein Verbot kommt, liegt also in der Hand dieser drei Antragsberechtigten.

Im politischen Raum ist hier insgesamt eine starke Zurückhaltung wahrnehmbar – es gibt aber auch einzelne Vorstöße: So hat der sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz, der schon seit einiger Zeit für ein Verbotsverfahren plädiert, Anfang Oktober 2023 eine entsprechende Initiative gestartet. Ziel der Initiative ist ein AfD-Verbotsverfahren durch den Bundestag. Dafür sucht er fraktionsübergreifend Unterstützung durch die Abgeordneten. »Wir haben es mit einer Partei zu tun, die ernsthaft unsere freiheitliche demokratische Grundordnung und den Staat als Ganzes gefährdet«, erläuterte Wanderwitz.[4] Für den Autor dieses Buches bestehen ebenfalls keinerlei Zweifel, dass die AfD so gefährlich ist, dass sie im Rahmen einer Prüfung vom Bundesverfassungsgericht verboten werden könnte.[5] Ob es zu einem Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht kommt, bleibt abzuwarten. Bis ein solcher Antrag entsprechend vorbereitet, begründet und gestellt würde und bis das Bundesverfassungsgericht über ihn entschieden hätte, würde in jedem Fall noch eine erhebliche Zeit vergehen.

Umso dringender wird die Aufklärung über die Partei und ihre sachgerechte Einordnung, an der es eklatant mangelt. Das Wissen darum, wie gefährlich diese Partei wirklich ist, ist die Grundvoraussetzung dafür, ihr im Wege gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzung angemessen begegnen zu können. Die Menschen dieses Landes müssen wissen, welche Partei sie möglicherweise wählen und wie gefährlich die AfD für die freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie tatsächlich ist.

Im öffentlichen Diskurs über die AfD wird dies regelmäßig nicht abgebildet, diese Aufklärung nicht ausreichend geleistet. Nicht ohne Grund machte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, in letzter Zeit immer wieder auf die Gefahr aufmerksam, die von der AfD ausgeht.[6] Schließlich ist zu bedenken, dass die AfD stärker und stärker werden könnte, bis sie nicht mehr aufzuhalten ist und ein Verbot der AfD dann nicht mehr möglich und durchsetzbar wäre.

Warum die AfD im öffentlichen Diskurs regelmäßig verharmlost wird, lässt sich unter anderem auch damit erklären, dass die AfD vom Bundesamt für Verfassungsschutz bisher nicht als »erwiesen rechtsextremistische Bestrebung« eingestuft worden ist – sondern als »Verdachtsfall«. Diese Einstufung vom März 2021 wurde vom Verwaltungsgericht Köln im März 2022[7] bestätigt.[8] Gegen dieses Urteil hat die AfD allerdings Berufung beim Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen eingelegt,[9] über die das Gericht nicht vor Ende Februar 2024 entscheiden wird.[10] Die bisher noch nicht vorgenommene, aber längst überfällige Einstufung der AfD als »erwiesen rechtsextremistische Bestrebung« ist ein Grund, warum in der öffentlichen Debatte bisher völlig unzureichend abgebildet wird, was diese Partei für uns alle ist: brandgefährlich.

Dass die AfD nicht bereits längst als »erwiesen rechtsextremistische Bestrebung« eingestuft worden ist, lässt sich auch darauf zurückführen, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz unter der Leitung von Hans-Georg Maaßen, die von August 2012 bis zu seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand im November 2018 andauerte, nicht angemessen darauf reagiert hat, wie schnell und stark sich die AfD nach ihrer Gründung radikalisierte.[11] Erst unter der Leitung des neuen Präsidenten Thomas Haldenwang wurde das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig. Unter seiner Leitung dauerte es nicht lange, bis der Schritt erfolgte, der schon viel früher hätte erfolgen müssen: die Einstufung der AfD als »Prüffall« (Januar 2019), dann als »Verdachtsfall« (März 2021).[12] Obwohl sich die Partei auch seitdem deutlich erkennbar weiter radikalisiert hat, erfolgte noch keine Einstufung als »erwiesen rechtsextremistisch«,[13] was dazu beiträgt, dass sie im öffentlichen Diskurs und in der Aufklärungsarbeit über die AfD regelmäßig nicht sachgerecht dargestellt wird.[14]

Käme die AfD, schleichend oder gewaltsam, an die Macht, so wäre, das wird die folgende Analyse verdeutlichen, niemand mehr in diesem Land sicher. Denn dies wäre die Konsequenz, wenn diese Partei – in Anlehnung an nationalsozialistische Ideologie – ihre Vorstellungen einer »homogenen Volksgemeinschaft« verwirklichen und damit die Prinzipien der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit abschaffen würde. Das ist tatsächlich ihr Ziel: Die AfD erhebt den totalitären Anspruch, Menschen zu Objekten zu degradieren, nach Gutdünken über sie zu entscheiden und zu verfügen. Sie strebt danach, allein und damit willkürlich bestimmen zu können, wer in Deutschland leben darf und wer nicht – was Deportationen deutscher Staatsangehöriger einschließt.

Und mehr noch: Nach den Vorstellungen von Björn Höcke, Vorsitzender des thüringischen Landesverbandes, würden all diejenigen, die an der konsequenten Durchsetzung der national-völkischen Ideologie der AfD in seinem Sinne nicht mitwirken, zur Zielscheibe tödlicher Gewalt. Die Ausführungen in diesem Buch (Kapitel 3) werden verdeutlichen, dass Höcke den Kurs der Gesamtpartei maßgeblich bestimmt – zwar ohne Posten auf Bundesebene, aber mit dem Selbstbild eines »Führers«.

Wenn die AfD im öffentlichen Diskurs regelmäßig verharmlost wird und politische Akteure des demokratischen Spektrums sich nicht ausreichend von ihr abgrenzen, könnte eine der wichtigsten Strategien der AfD aufgehen: eine Gewöhnung an ihre rechtsextremen Positionen und deren Normalisierung im öffentlichen Diskurs, sodass sie sich als eine »normale« Partei etablieren – und aus dieser Position heraus die Demokratie untergraben kann. Deshalb zeigt dieses Buch (Kapitel 4), wie die AfD das Sagbare verschiebt, wie sie sich selbst verharmlost und sogar als Opfer inszeniert, wie sie damit die Öffentlichkeit über ihre Ziele täuscht – und wie andere Parteien, Medien und weitere Akteure auch noch Öl ins Feuer der AfD gießen. (Kapitel 5).

Die Dimensionen der Gefahr aufzuzeigen, die von der AfD ausgeht, Klarheit über die Menschenverachtung, Demokratiefeindlichkeit und Gewaltbereitschaft der AfD zu schaffen sowie Handlungsempfehlungen zu geben – das ist das zentrale Anliegen dieses Buches (Kapitel 6 und 7). Es basiert auf der langjährigen Beschäftigung des Autors mit der AfD, auch im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit für das Deutsche Institut für Menschenrechte. Die Befunde dieser Analyse sind zutiefst besorgniserregend. Sie zeigen eine Entwicklung auf, die vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte lange Zeit nicht für möglich gehalten wurde. Dieses Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, diese Entwicklung in ihren Dimensionen zu erkennen, sie ernst zu nehmen und vor allem: die Dringlichkeit zu verstehen, mit der den Täuschungsmanövern der AfD durch fundierte Aufklärungsarbeit über die Partei entgegenzutreten ist. »Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen.«[15]

Es ist höchste Zeit: Wenn sich der öffentliche Diskurs über die Partei und der Umgang mit ihr nicht grundlegend wandeln, droht die demokratiezersetzende Strategie der AfD aufzugehen.

1_Was heißt »rechtsextrem«?

Rechtsextremes Gedankengut ist dadurch gekennzeichnet, dass es bestimmte Menschen als »Andere« kategorisiert und abwertet. Dabei bilden insbesondere rassistische und/oder antisemitische Positionen, die sich gegen die absoluten Garantien der Menschenrechte richten, die Kernelemente rechtsextremer Programmatik. Sie zielen nicht nur auf die fundamentalen Grundlagen des Grundgesetzes und damit auf die Beseitigung der freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie. Sie laufen erfahrungsgemäß auch auf die Anwendung und Legitimierung von Gewalt hinaus. Woher kommen die absoluten Garantien der Menschenrechte und wie legitimieren sie sich? Um das zu verstehen, müssen wir zunächst noch einen Schritt zurückgehen und fragen: Welches Recht meinen wir, wenn wir über Menschenrechte reden?

»Menschenrechte« – was heißt das eigentlich?

Beginnen wir mit einem Beispiel: In einem »Sommerinterview« 2023 sprach sich der Thüringer AfD-Chef und Meinungsführer der Gesamtpartei Björn Höcke dafür aus, behinderte Kinder vom Regelunterricht auszuschließen. Sie seien »Belastungsfaktoren« und Inklusion nur ein »Ideologieprojekt«. Daraufhin kommentierte die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele: »Inklusion ist ein Menschenrecht und kein ›Ideologieprojekt‹. (…) Heute sind es Migranten und geflüchtete Menschen, Menschen mit Behinderungen und Frauen, denen die AfD dreist und unverhohlen ihre Rechte abspricht, morgen sind es vielleicht schon Seniorinnen und Senioren, Pflegebedürftige und ärmere Menschen.«[16]

Beide Aussagen bringen die gegensätzlichen Haltungen zum Thema Menschenrechte perfekt auf den Punkt: Für Bentele gilt es, die Menschenrechte, so wie sie in unserer Verfassung verankert sind, zu verteidigen. Für Höcke sind Menschenrechte nichts anderes als »Ideologieprojekte« – die es abzuschaffen gelte –, das widerspricht unserer Verfassung und ist in autoritären Regimen verbreitet.

Menschenrechte sind Rechte, die sich aus der Würde des Menschen herleiten und begründen lassen: Rechte, die unveräußerlich, unteilbar und unverzichtbar sind. Sie stehen allen Menschen zu, unabhängig davon, wo sie leben, und unabhängig davon, wie sie leben.

Die Ursprünge der Menschenrechte reichen weit zurück bis in die Antike. Doch erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts begann ein umfassender Prozess ihrer Normierung auf nationaler und internationaler Ebene. Neben nationalen Schutzmechanismen gibt es eine Vielzahl internationaler Übereinkommen, die dem Schutz der Menschenrechte dienen.

Auch in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland spielen Menschenrechte eine zentrale Rolle. Die im deutschen Grundgesetz verankerten Menschenrechte nennt man Grundrechte. Der Katalog der Grundrechte, der sich am Anfang des Grundgesetzes findet, enthält eine ganze Reihe allgemeiner Menschenrechte – also Rechte, auf die sich jede und jeder berufen kann. Dazu gehört etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG)), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 GG), die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Artikel 4 GG) oder das Recht der freien Meinungsäußerung (Artikel 5 Abs. 1 GG).

Die Grundrechte binden alle staatliche Gewalt, in allen ihren Ausprägungen und Aktivitäten: Der Gesetzgeber muss sie etwa beim Erlass, die vollziehende Gewalt bei der Anwendung und die Gerichte bei der Auslegung von Gesetzen beachten (Artikel 1 Abs. 3 GG). Die Menschen in diesem Land haben zudem die Möglichkeit, von Gerichten überprüfen zu lassen, ob ihre Rechte hinreichend gewährleistet werden. Als wichtiges Instrument des Grundrechtsschutzes existiert auch die Verfassungsbeschwerde. Danach kann sich jede Person an das Bundesverfassungsgericht mit der Behauptung wenden, durch die öffentliche Gewalt in ihren durch das Grundgesetz gewährleisteten Grundrechten verletzt zu sein. Mit diesem außerordentlichen Rechtsbehelf können grundsätzlich alle Akte der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt angefochten werden. Die Verfassungsbeschwerde dient somit dem Schutz der Grundrechte.

Dem Bekenntnis des Grundgesetzes zu den Menschenrechten entspricht, dass die Bundesrepublik Deutschland die zentralen Internationalen Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet und anerkannt hat. Hierzu gehört auch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) von 2006, in dem, wie von Verena Bentele zutreffend hervorgehoben, Inklusion als menschenrechtliches Prinzip verankert ist. Die menschenrechtlichen Konventionen des Europarats und der Vereinten Nationen sind in Deutschland unmittelbar geltendes Recht und gelten für alle staatlichen Stellen. Sie geben außerdem wichtige Anregungen und Impulse für die nationale Gesetzgebung. Das heißt: Sie sind bei der Auslegung des Grundgesetzes, bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte sowie bei der Auslegung des einfachen Rechts zu berücksichtigen.[17]

Menschenrechte dienen der Begrenzung staatlicher Macht, sie sollen von Staaten anerkannt, in ihren Rechtssystemen verankert und geschützt werden.

Rechtsextreme folgen demgegenüber ihrer eigenen national-völkischen Ideologie. Sie lehnen universelle Menschenrechte ab – die aber in Demokratien wie der Bundesrepublik Deutschland in der Verfassung verankert sind. Damit stehen Rechtsextreme nicht auf dem Boden des Grundgesetzes.

Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz: Der absolute Kern der freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie

Den Ausgangspunkt für die Kodifizierung der Menschenrechte im Rahmen verbindlicher Menschenrechtsabkommen auf internationaler Ebene bildete die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Dabei ist die Erklärung insbesondere als Reaktion auf die Menschheitsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands zu verstehen. Die Erklärung weist in ihrer Präambel explizit darauf hin, dass »die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben«.[18] Vor diesem historischen Hintergrund ist auch die Entstehungsgeschichte der 1950 in Kraft getretenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu sehen.[19] Die Menschenrechte wurden ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand zahlreicher Menschenrechtsverträge und damit zum zentralen Bestandteil des Völkerrechts.

Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1949 ist als Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus zu begreifen.[20] Es bekennt sich ausdrücklich zu den Menschenrechten als Grundlage einer menschlichen Gemeinschaft und von Frieden und Gerechtigkeit (Artikel 1 Abs. 2 Grundgesetz).

Die Menschenrechte zeichnen sich durch ihren universellen Anspruch aus und enthalten einen absoluten Kern: Es handelt sich um Grundprinzipien, die die Menschenrechte ausmachen und daher für ihre Geltung unabdingbar sind. Diese unabdingbaren Grundlagen der Menschenrechte sind konstitutiv für den freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat. Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 fasst sie prägnant zusammen: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sind diese Grundprinzipien der Menschenrechte in Artikel 1 Abs. 1 verankert, der den Ausgangspunkt und zugleich dessen zentrale Bestimmung bildet.[21] Dort heißt es: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Die hier verankerte Garantie bedeutet, dass jeder Mensch allein aufgrund seines Menschseins die gleiche Menschenwürde und gleiche Rechte hat.[22] Das heißt: Menschen dürfen nicht zum Objekt und zum Gegenstand willkürlichen staatlichen Handelns werden. Jedem Menschen steht gleichermaßen ein Achtungsanspruch zu,[23] wobei der Staat die Menschenwürde umfassend zu achten und zu schützen hat.[24]

Da die Menschenwürde jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommt, ist sie nur als gleiche Würde aller Menschen denkbar und damit untrennbar mit dem Diskriminierungsverbot verbunden.[25] Das Diskriminierungsverbot ist Bestandteil sämtlicher Menschenrechtsverträge, so etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 14) oder der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 2 Abs. 1). Im Grundgesetz ist das Verbot von Diskriminierung in Artikel 3 Abs. 3 verankert.

Zum Zweck des Diskriminierungsverbotes gehört es, die in einer Gesellschaft erfahrungsgemäß von Diskriminierung besonders bedrohten Menschen vor Benachteiligung zu schützen.[26] Es umfasst das Verbot rassistischer beziehungsweise antisemitischer Diskriminierung,[27] was insbesondere bedeutet, dass Menschen nicht aufgrund physischer Merkmale wie ihrer Hautfarbe[28], ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Herkunft oder Religionszugehörigkeit benachteiligt werden dürfen.[29] Kurz: Antisemitische oder rassistische Konzepte sind mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar. Sie verstoßen gegen die Garantie der Menschenwürde.[30] Wo kommen derartige Konzepte her?

Rassismus und Antisemitismus: Eine Geschichte der Gewalt

So widersprüchlich es erscheinen mag: Die Zeit der Aufklärung war dadurch gekennzeichnet, dass mit wissenschaftlichem Anspruch vertretene Positionen weit verbreitet waren, denen zufolge es verschiedene hierarchisch geordnete menschliche »Rassen«[31] gebe. Sie wurden insbesondere auf der Grundlage von körperlichen Merkmalen wie Hautfarbe oder Gesichtszügen konstruiert und mit charakterlichen Eigenschaften verknüpft.[32] Dabei führte die mit dem Begriff »Rasse« einhergehende Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschen, an deren Spitze die »weiße Rasse« stehe,[33] schließlich zum Begriff und zum Phänomen »Rassismus«. Mit rassistischen Perspektiven wurden ebenso die Verbrechen der Sklaverei und Kolonialpolitik gerechtfertigt.[34]

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es zunehmend Veröffentlichungen, in denen das Judentum als »Rasse« bezeichnet und eingestuft wurde.[35] Die Bewertung des Judentums löste sich dabei von religiösen Begründungsansätzen und verlagerte sich zu einer säkularen Charakterologie, wobei Stereotype der alten christlichen Judenfeindschaft übernommen, aber modern zugeschnitten und ergänzt wurden.[36] »Dem Juden« (»Juda«) wurden niedrigste Charaktereigenschaften und gefährliche politische Ziele wie Revolution und Weltherrschaft zugeschrieben.

In dieser Zeit entstand auch der Begriff Antisemitismus. Er erschien erstmals 1879 als Eigenbezeichnung deutscher Judenfeinde um den Journalisten Wilhelm Marr, die die Vereinigung »Antisemitenliga« gründeten und das Schlagwort »Antisemitismus« zum politischen Programm erhoben. Sie griffen dabei auf die damals verbreitete Bezeichnung von Juden als »Semiten« zurück, mit der eine Abwertung von Juden einherging.[37] Die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichenden und in der Folgezeit weitergesponnenen »Rassentheorien« wurden schließlich von den Nationalsozialisten radikalisiert und ins Zentrum ihrer Ideologie gestellt, wobei der Schwerpunkt auf Antisemitismus lag.

Schlüsselbegriff »Volksgemeinschaft«

In diesem Kontext ist auch ein Schlüsselbegriff der Nationalsozialisten zu verstehen: die »Volksgemeinschaft«. Das zentrale Ziel der Nationalsozialisten bestand in der Herstellung eines »homogenen Volkes« nach ihren national-völkischen Vorstellungen, dessen Mitglieder insbesondere nicht jüdisch, keine Sinti und Roma, weiß, gesund und leistungsfähig sein sollten.[38] Ein Kernelement der nationalsozialistischen Propaganda bildeten Bedrohungsszenarien, denen zufolge das deutsche »Volk« gefährdet sei durch Juden und Jüdinnen. Bekanntermaßen gipfelte der von den Nationalsozialisten propagierte »Rassenkampf«, in dem die »Arier« die »Herrenrasse« bildeten, in der systematischen und monströsen Ermordung von Millionen von Menschen, die nach dem nationalsozialistischen Menschenbild nicht dem Bild der deutschen »Volksgemeinschaft« entsprachen. »Volksgemeinschaft« bedeutete auch Gesinnungsgemeinschaft und Gefolgschaftsprinzip, was zu der massiven und gewaltsamen Verfolgung von Oppositionellen führte.[39]

Warum der Begriff »Rasse« heute vermieden wird

Vor dem Hintergrund der Verbrechen, die – verbunden mit der Kategorisierung von Menschen nach »Rassen« – begangen wurden, gab es nach 1945 zahlreiche internationale Erklärungen, die sich vom Konzept der »Rasse« distanzierten. So wies etwa die UNESCO in ihrem »Statement on Race« 1950 darauf hin, dass die Terminologie »Rasse« für einen sozialen Mythos stehe, der ein enormes Ausmaß an Gewalt verursacht habe.[40] Die Generalkonferenz der UNESCO erklärte 1978: »Alle Menschen gehören einer einzigen Art an und stammen von gemeinsamen Vorfahren ab. Sie sind gleich an Würde und Rechten geboren und bilden gemeinsam die Menschheit.«[41] Im Juni 1995 gaben Anthropologen, Humangenetiker und Biologen während der UNESCO-Konferenz »Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung« eine Stellungnahme ab, nach der das Konzept der »Rasse »völlig obsolet« geworden sei.[42]

Es gebe »keinen wissenschaftlichen Grund«, am Begriff der »Rasse« festzuhalten, da kein wissenschaftlich seriöser Weg existiere, die menschliche Vielfalt mit den starren Begriffen »rassischer« Kategorien oder dem traditionellen »Rassen-Konzept« zu charakterisieren. Die Stellungnahme distanziert sich von Rassismus als dem Glauben, menschliche Populationen unterschieden sich in genetisch bedingten Merkmalen von sozialem Wert, sodass bestimmte Gruppen gegenüber anderen höherwertig oder minderwertig seien. In diese Erklärungen reiht sich ebenso die »Jenaer Erklärung« des Instituts für Zoologie und Evolutionsforschung der Friedrich-Schiller-Universität Jena aus dem Jahr 2019 ein. Sie zeigt auf, wie das Konzept der »Rasse« in der Geschichte zur Rechtfertigung von Gewalt diente und welchen Beitrag auch die Wissenschaft dabei geleistet hat, dass es zu Menschheitsverbrechen gegenüber »Abermillionen von Menschen« kam.[43] Kurz: »Rassen« wurden konstruiert, um Rassismus und Antisemitismus zu rechtfertigen.

Was rechtsextreme Akteure, die sich heute mit rassistischen beziehungsweise antisemitischen Positionen profilieren, aus alledem gelernt haben? Sie verwenden den Begriff »Rasse« in ihren Stellungnahmen in Deutschland in der Regel nicht mehr öffentlich.

Doch auch heute sind von rassistischem beziehungsweise antisemitischem Denken geprägte, national-völkische Positionen kennzeichnend für rechtsextremes Gedankengut. Diese Positionen gründen auf der Vorstellung einer »abstammungsbasierten« Nation, die mit Rassismus[44] beziehungsweise Antisemitismus einhergeht. Sie gehen also davon aus, dass es ein »angestammtes« und damit vorgegebenes homogenes »Volk« gebe, dessen Mitglieder als Teile dieses exklusiven Kollektivs unbedingten Vorrang gegenüber Menschen haben, die prinzipiell nicht dazugehören könnten, die als minderwertig und/oder gefährlich betrachtet und dementsprechend abgewertet werden. Demnach müsse – so die rechtsextreme Vorstellung – das »deutsche Volk« vor einer »Völkervermischung« bewahrt werden.[45] Es liegt auf der Hand, dass solche Positionen mit den in Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz verankerten Garantien nicht vereinbar sind.[46]

Und auch das ist ein typisches Merkmal heutiger rechtsextremer Positionen: Die Verbrechen, die unter nationalsozialistischer Herrschaft verübt worden sind, werden verschwiegen, verharmlost und geleugnet oder die angeblich positiven Leistungen der Nationalsozialisten sogar hervorgehoben.[47] Schon die Relativierung des Nationalsozialismus läuft auf eine rechtsextreme Positionierung hinaus.[48] Denn wer einzelne Elemente nationalsozialistischer Politik relativiert, relativiert damit die mit dem Nationalsozialismus untrennbar verbundenen Menschheitsverbrechen.[49] Und mehr noch: Er trägt dazu bei, das national-völkische Gedankengut der Nationalsozialisten (wieder) gesellschaftsfähig zu machen.

Was allerdings oft missverstanden wird: Rechtsextreme Positionen sind nicht nur dann anzunehmen, wenn sie der nationalsozialistischen Ideologie entsprechen, inhaltlich darauf Bezug nehmen oder sprachlich unmittelbar oder assoziativ auf nationalsozialistische Terminologie zurückgreifen.[50]

Rechtsextreme Positionen laufen auf willkürliches Handeln hinaus, wobei sich rechtsextreme Akteure gegen jegliche Minderheiten richten können. Die für rechtsextreme Akteure typische pauschale Abwertung von bestimmten Gruppen in einer Gesellschaft kann beispielsweise auch auf Menschen zielen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität eine Minderheit in der Gesellschaft bilden. Sie kann sich gegen alle Andersdenkenden wenden.

Rechtsextreme Parteien oder andere Bestrebungen können mit unterschiedlichen Intensitäten und Positionierungen auftreten: Sie können Drohungen aussprechen und Gewalt ankündigen – oder auch nicht.[51] Für die Einstufung als »rechtsextremistisch« nach den Verfassungsschutzgesetzen sind weder die Anwendung von Gewalt noch ein gewaltbereites oder kämpferisch aggressives Vorgehen Voraussetzungen.[52] Es ist nicht entscheidend, wodurch oder wie genau der freiheitlich demokratische Verfassungsstaat letztlich außer Kraft gesetzt werden soll,[53] sei es etwa durch Wahlen, durch Umsturz oder durch Infiltration der bestehenden Staatsgewalten.[54] Maßgeblich ist, dass rechtsextreme Akteure dezidiert auf die Beseitigung der freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie ausgerichtet sind.[55]

Angesichts dieser Zielsetzung rechtsextremer Akteure, die freiheitliche Demokratie zu untergraben, wird deutlich, dass national-völkischen Positionen ein politischer Autoritarismus immanent ist. Danach stehen Menschen nicht frei als Individuen und Inhaber individueller Rechte im Mittelpunkt – so wie es in einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie der Fall ist. Auch Demokratieverständnisse, die damit einhergehen, wonach es angeblich einen einheitlichen »Volkswillen« gebe, der durch eine einzige Partei oder einen Führer repräsentiert werden könne, richten sich fundamental gegen die in der freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie verankerten Menschenrechte.

National-völkische Positionen zielen insbesondere darauf ab, Menschen aufgrund rassistischer oder antisemitischer und damit willkürlicher Kriterien von dem in Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes verbrieften Prinzip der gleichen Rechte auszuschließen. Dies kann beispielsweise durch willkürliche Zuschreibungen nach physischen Merkmalen erfolgen – doch Rassismus und Antisemitismus setzen nicht unbedingt Zuschreibungen nach physischen Merkmalen voraus. Sie setzen nicht unbedingt ein Gedankengut voraus, das auf biologistischen Theorien von Abstammung und Vererbung basiert und auf biologistische Begründungsmuster zurückgreift.[56] Rassismus und Antisemitismus sind keine statischen Phänomene. Ihre Begründungsmuster verändern sich. Heute laufen rassistische Positionierungen oftmals unter dem Decknamen »kulturelle Identität«.

»Kulturelle Identität«: Ein neuer Deckname für Rechtsextremismus

Rechtsextreme Akteure stützen sich zur Begründung ihrer rassistischen Positionen in der Gegenwart häufig auf die Argumentationsfigur des sogenannten »Ethnopluralismus«,[57] der die Ungleichwertigkeit der Menschen nicht mit biologistischen Theorien, sondern mit unterschiedlichen kulturellen Identitäten begründet.[58] Menschen verschiedener »Ethnien« oder »Völker« hätten demnach spezifische, ihnen zugewiesene »Lebensräume«, und nur in diesen »angestammten Territorien« könnten sie ihre Kultur entfalten. Mit dieser Argumentation werden Menschen zwar nicht explizit abgewertet, aber unter Verweis auf ihre angebliche »Andersartigkeit« ausgegrenzt (»Die sind anders als wir.« »Die passen nicht zu uns.«) und auf eine unveränderliche Identität und einen spezifischen »Lebensraum« festgelegt.

Kennzeichnend für aktuelle national-völkische Positionen ist also die Argumentation mit dem Begriff »Kultur«,[59] der im Sinne eines unveränderlichen, identitätsstiftenden Wesensmerkmals von Menschen verwendet wird. In diesem Sinne unterstellen rechtsextreme Positionen dem »deutschen Volk« häufig eine nationale und unveränderliche »kulturelle Identität«, die es zu verteidigen gelte. Hinter diesem Argumentationsmuster verbirgt sich die Strategie, sich weniger angreifbar machen zu wollen.[60] Tatsächlich liegt aber auch diesen Positionen ein rassistisches Konzept zugrunde, das auf eine Konstruktion und Hierarchisierung von Menschengruppen hinausläuft, die dazu dienen, die Ausgrenzung von Menschen zu rechtfertigen – nur unter einem anderen Deckmantel.

Wegbereiter der AfD: Sarrazin als moderner »Rassenkundler«

Neben diesen verkappt rassistischen finden sich bis heute auch weiterhin offen biologistische Argumentationsmuster, auch in Kombination mit kulturalistischen Argumentationsmustern. Als prominentes Beispiel lassen sich Ausführungen des Volkswirts, Politikers und Autors Thilo Sarrazin nennen, in denen sich beide Muster finden.

Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen – so heißt der Titel seines Buches, das in Deutschland im August 2010 im renommierten DVA-Verlag erschienen ist. Die Präsentation des Buches erfolgte in einer live vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz, der zahlreiche Interviews und Auftritte des Autors in Talkshows folgten. Bereits vor dem Erscheinungstermin hatten das Nachrichtenmagazin Spiegel und die Bild-Zeitung exklusiv Auszüge aus dem Buch veröffentlicht und Sarrazin dabei als »Realo-Politiker« und Provokateur präsentiert, der bestehende Tabus breche. Sarrazin war damals seit über dreißig Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD; 2020 wurde er aus der Partei ausgeschlossen). Er war zu dieser Zeit außerdem Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank und damit Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes. Auch zuvor hatte er – etwa als Finanzsenator von Berlin – öffentliche Ämter in Deutschland inne. Der Veröffentlichung des Buches ging bereits 2009 ein Interview mit der Zeitschrift Lettre International voraus, in dem er sein rassistisches Gedankengut verbreitete.[61]