Jenseits aller Vernunft - Sandra Brown - E-Book

Jenseits aller Vernunft E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Ein Wirbelsturm aus Gefahr und Begierde

Auf dem Weg nach Texas quält sich ein Wagentreck durch die staubige Prärie. Auf einem der Wagen reist Lydia mit, eine geheimnisvolle Rothaarige, die vor Kurzem ihr Neugeborenes verloren hat. Auch Ross Coleman betrauert einen schrecklichen Verlust. Seine Frau ist im Kindbett gestorben. Doch der neugeborene Sohn braucht eine Mutter, und so geht er mit Lydia eine Vernunftehe ein. Eine Ehe – aus der Notwendigkeit geboren, zum Scheitern verurteilt? In der glühenden Präriesonne geraten Lydia und Ross in einen Sturm der Gefühle, der die bösen Schatten ihrer Vergangenheit ebenso ans Licht bringt wie ihre bedingungslose Leidenschaft.

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Seitenzahl: 605

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Buch

Auf demWeg nach Texas quält sich ein Wagentreck durch die staubige Prärie. Mit von der Partie ist eine geheimnisvolle Rothaarige: Lydia, unverheiratet und mit einem Kind unter ihrem Herzen.Aber die hartenWochen in dem Planwagen fordern ihrenTribut, und mit demVerlust des Kindes reift ein Entschluss in Lydia: Nie wieder wird sie sich einem Mann so ausliefern, wie sie es bei Clancey getan hat, demVater ihres toten Babys.

Ross Coleman legt seinem Herzen ähnlich strenge Zügel an, denn so hat er es seiner Frau versprochen, die bei der Geburt ihres Kindes starb. Doch der neugeborene Sohn braucht eine Mutter, und so heiratet er, um demAnstand Genüge zu tun, die schöne und unendlich traurige Lydia. Eine Ehe – aus der Notwendigkeit geboren, zum Scheitern verurteilt?Aber in der glühenden Präriesonne geraten Lydia und Ross in einenWirbelsturm aus Gefahren und Begierden, der die bösen Schatten ihrerVergangenheit ebenso ans Licht bringt wie ihre bedingungslose Leidenschaft.

Autorin

Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin undTV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman Trügerischer Spiegel auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher weltweit Spitzenplätze der Bestsellerlisten erreicht. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd inTexas und South Carolina.

Von Sandra Brown bei Blanvalet erschienen (Auswahl)

Verliebt in einen Fremden, Glut unter der Haut, Wie ein Ruf in der Stille, Schöne Lügen, Ein skandalöses Angebot, Eine unmoralische Affäre, Gefährliche Sünden, Ein Kuss für die Ewigkeit, Zum Glück verführt, Heißer als Feuer, Lockruf des Glücks, Unschuldiges Begehren, Eine sündige Nacht, Zur Sünde verführt, Wie ein reißender Strom, Verruchte Begierde, Jenseits aller Vernunft, Schwelende Feuer, Celinas Tochter, Trügerischer Spiegel, Ein Hauch von Skandal, Tanz im Feuer, Sündige Seide, Feuer in Eden, Scharade, Nacht ohne Ende, In einer heißen Sommernacht

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Sandra Brown

Jenseits aller Vernunft

Roman

Deutsch von Sabine Ivanovas

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Ausgabe September 2015 by Blanvalet,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Copyright der Originalausgabe © 1985 by Sandra BrownTranslated from the English »Sunset Embrace«.First published in the United States by Bantam Books, New York; wiederveröffentlicht von Warner Books, Inc., New York, 1990 und 1992Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com Redaktion: Barbary Genetwr · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-15078-5V002
www.blanvalet.de

1

Warum muss man beim Sterben so viel leiden?, fragte sich die schwangere junge Frau.

Sie hielt sich den aufgeblähten Bauch, als der Schmerz wieder ihren Unterleib sprengen wollte und hinabzog bis in die Schenkel.Als es vorüber war, atmete sie schwer wie ein verletztesTier bei demVersuch, Kraft für die nächsteAttacke zu gewinnen, die sie sicher in ein paar Minuten schütteln würde. Zweifellos musste der Schmerz wiederkommen, denn sie glaubte nicht, dass es ihr gestattet sein würde zu sterben, bevor das Kind geboren war.

Sie schauderte krampfhaft. Der Regen war kalt, jederTropfen eine winzige Nadel, die ihr in die Haut stach. Er hatte ihr schäbiges Kleid und die wenigen Stücke Unterwäsche durchweicht, die sie mit ein paar ungeschickten Knoten befestigt hatte. Die Lumpen hingen an ihr wie ein feuchtes Leichentuch, ein Gewicht, das sie zu Boden zog und sie genauso in den Schlamm zwang wie das gnadenlose Reißen in ihr. Durchgefroren bis auf die Knochen, lag trotzdem nach den endlosen Stunden quälenderWehen eine klamme Schweißschicht auf ihrer Haut.

Wann hatte es angefangen? GesternAbend kurz nach Sonnenuntergang. Im Laufe der Nacht war das Ziehen in ihrem Kreuz immer schlimmer geworden und hatte sich schließlich ausgedehnt nach vorn in ihren Bauch, den jetzt immer wieder der Schmerz mit bösen Fäusten packte.Angesichts des wolkigen Himmels fiel es ihr schwer zu sagen, um welcheTageszeit es sich handelte, doch sie nahm an, dass es schonVormittag war. Gebannt schaute sie auf das Blättermuster der Zweige über sich vor dem grauenWolkenmeer, als die nächsteWehe ihr Inneres durchschnitt. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet; er kümmerte sich nicht um die kaum zwanzigjährige Frau, die ganz allein in derWildnis vonTennessee einWesen gebar, das sie sich nicht als Baby und noch viel weniger als Mensch vorstellen wollte.

Sie drehte den Kopf zur Seite auf ihrem Lager aus nassen verrotteten Blättern, die noch vom letzten Herbst dort lagen, und ihreTränen vermischten sich mit dem Regen. Das Kind war unter Scham und Demütigungen gezeugt worden und verdiente zweifellos keine besseren Umstände als diese für seine Geburt.

»Lieber Gott, lass mich jetzt sterben«, betete sie, als sie spürte, wie die nächste quälendeWehe begann. Sie rollte durch ihr Inneres wie ein Sommergewitter, wurde immer heftiger und krachte gegen ihre Bauchwände wie Donnerschläge in den Bergen.

Am vergangenenAbend war sie mit zusammengebissenen Zähnen einfach weitergewandert.Als das Fruchtwasser im Schwall zwischen ihren Schenkeln hervorquoll, musste sie sich gezwungenermaßen hinlegen. Sie hatte nicht anhalten wollen. JederTag bedeutete ein paar MeilenAbstand mehr zwischen ihr und jenemToten, der inzwischen sicher schon entdeckt worden war.Vage hoffte sie, er würde verwesen und niemals gefunden, aber eigentlich erwartete sie kaum so viel Glück.

Diese schreckliche Pein, die sie jetzt erleiden musste, war bestimmt eine Strafe des Himmels dafür, dass sie mit Erleichterung ein Geschöpf Gottes hatte zugrunde gehen sehen.Außerdem dafür, dass sie das Lebewesen nicht wollte, das neun Monate lang in ihrem Schoß gewachsen war. Denn trotz aller Schuldgefühle betete sie, das Leben nie sehen zu müssen, das sich gerade so qualvoll denWeg aus ihrem Körper bahnte. Hoffentlich durfte sie vorher sterben.

Als der Schmerz sie das nächste Mal erfasste, war es noch schlimmer als bisher und zwang sie, sich halb aufzusetzen. GesternAbend, als ihr Schlüpfer durch den Strom von Flüssigkeit durchnässt worden war, hatte sie ihn ausgezogen und beiseitegeworfen. Jetzt hob sie ihn wieder auf und wischte sich damit das von Regen und Schweiß tropfende Gesicht ab.VorAngst und Leid zitterte sie heftig, dieses letzteAufbäumen ihres Körpers zerriss ihr empfindliches Gewebe. Sie hob den zerfetzten Saum ihres Kleides und die Reste ihres Unterrocks über ihre aufgestellten Knie und legte eine Hand vorsichtig zwischen ihre Beine, wo sie das Reißen gespürt hatte.

»Ohhh …«, wimmerte sie stoßweise. Sie war geöffnet, weit geöffnet. Ihre Fingerspitzen hatten den Kopf des Babys berührt.Als sie die Hand wegnahm, war sie voller Blut und Schleim.Voller Schreck öffnete sie den Mund – ihr entrang sich ein durchdringenderAufschrei, als ihr Körper sich zusammenzog, um dasWesen auszustoßen, das nun zum Fremdkörper geworden war, nachdem es neun Monate so geschützt in ihrem Innern verbracht hatte.

Sie hob sich auf die Ellenbogen, breitete die Schenkel auseinander und presste instinktiv mit. Das Blut pochte in ihren Ohren und den fest geschlossenenAugen. Ihr Unterkiefer tat weh, weil sie die Zähne so fest zusammenbiss; ihr Gesicht war mit zurückgezogenen Lippen zu einer schrecklichen Maske verzerrt.Während einer kurzen Pause schnaufte sie verzweifelt. Dann kam der Schmerz wieder. Und wieder.

Schreiend gab sie ihre letzte Energie für das endgültige Pressen, konzentrierte all ihre Kraft auf die Stelle, die auseinanderriss.

Und dann war sie frei.

Erschöpft fiel sie nach hinten, schnappte nach Luft und war jetzt dankbar für die Regentropfen, die ihr Gesicht kühlten. In dem Schweigen ringsum erklangen nur ihr schweresAtmen und dasTropfen des Regens. Die Stille war grausig, erschreckend, seltsam. Das Kind, das sie gerade geboren hatte, hatte nicht den geringsten Laut von sich gegeben, bewegte sich nicht.

Ohne noch an ihr Gebet von vorher zu denken, setzte sie sich mühsam wieder auf und zog ihren langen Rock zur Seite.Tierische Laute des Schmerzes und Kummers kamen über ihre geschwollenen Lippen, als sie das kleineWesen tot zwischen ihren Beinen liegen sah, kaum mehr als ein Häufchen bläulichen Fleisches, das das Leben nie erfahren hatte. Die Nabelschnur, die es ernährt hatte, war auch das Instrument seinesTodes gewesen, denn sie lag fest um den Hals des Kindes geschlungen. Sein Gesicht war eingedrückt. Es hatte sich in dieWelt und denTod zugleich gestürzt. Die junge Frau fragte sich, ob es sich entschlossen hatte zu sterben, weil es wusste, dass sogar seine Mutter es hassen würde – weil es denTod einem Leben des Ungewolltseins vorzog.

»Wenigstens musstest du nicht das Leben erleiden, Kleines«, flüsterte sie.

Sie fiel zurück auf den modrigenWaldboden und starrte mit leerem Blick in den Himmel, wusste, dass sie Fieber hatte, wahrscheinlich auch fantasierte, und dass es verrückt war zu denken, ein Kind im Mutterleib würde selbst seinenTod wünschen.Aber es ging ihr besser, wenn sie sich vorstellte, dass das Kind genauso wenig hatte leben wollen, wie sie gewollt hatte, dass es lebte; es war genauso bereit gewesen zu sterben wie sie jetzt.

Auf der Stelle müsste sie Gott umVergebung bitten, weil sie froh war, dass ihr Kind nicht lebte, aber sie war zu müde. Gott würde das sicher verstehen. Schließlich hatte Er ihr ja auch diesen Schmerz auferlegt.Verdiente sie jetzt nicht endlich Ruhe?

Sie schloss dieAugen im Regen, der ihr Gesicht überströmte wie heilender Balsam. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen solchen Frieden empfunden zu haben, den sie aufrichtig willkommen hieß.

Jetzt konnte sie sterben.

»Meinste, dass sie tot is’?«, krächzte die junge Stimme heiser.

»Ich weiß nich’«, flüsterte eine kaum ältere Stimme. »Stoß’ sie an, dann wirst du’s ja sehen.«

»Ich stoß’ sie bestimmt nich’ an.Tu du’s doch.«

Der große, magere Junge kniete auf knochigen Knien neben der ausgestreckten, unbeweglichen Gestalt.Vorsichtig, wie seinVater es ihm beigebracht hatte, stellte er sein Gewehr mit dem Lauf nach oben an den Baumstamm neben sich. Seine Hände zuckten nervös, als er sie zu der jungen Frau ausstreckte.

»Du hast dochAngst, gib’s zu«, sagte der Kleine herausfordernd.

»Nein, ich hab’ keineAngst«, zischte der Ältere zurück. Um das zu beweisen, streckte er den Zeigefinger aus und hielt ihn dicht neben die Oberlippe der Frau, ohne sie zu berühren. »Sie atmet«, sagte er erleichtert. »Sie is’ nich’ tot.«

»Was meinste … Herrgott, Bubba, unter ihrem Kleid kommt Blut raus.«

Erschreckt zog Bubba sich mit einem Satz zurück. Sein Bruder Luke hatte recht. Eine dünne Blutspur sickerte unter dem Saum ihres Kleides hervor. Sie hatte keine Strümpfe an, und das rissige Leder ihrer Schuhe wies Löcher auf. Die Schnürsenkel waren an mehreren Stellen zusammengeknotet.

»Meinste, sie is’ erschossen worden oder so?Vielleicht sollten wir gucken …«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Bubba ungeduldig. »Halt deinen verdammten Mund.«

»Wenn du fluchst, sag’ ich’s Mama.«

»Sei still!« Bubba starrte seinen jüngeren Bruder an. »Sonst sag’ ich ihr, dass du in dasWaschwasser von der altenWatkins gepinkelt hast, weil sie mit dir geschimpft hat wegen deinem Lärm im Lager.« Luke war eingeschüchtert wie beabsichtigt, und Bubba wandte sich wieder der Daliegenden zu. Zögernd und ohne sich noch vorstellen zu können, dass er heute Morgen hatte wirklich jagen gehen wollen, hob er den rattenbraunen Saum ihres Kleides weiter. »Teufel auch!«, kreischte er, ließ den Rock los und sprang auf. Unglücklicherweise fiel der schmutzige Stoff nicht mehr so weit zurück, dass er das toteWesen bedeckt hätte, das zwischen den schlanken Beinen der Frau lag. Die beiden Jungen starrten voller Entsetzen das tote Baby an.Aus Lukes Kehle kam ein seltsames Geräusch.

»Musst du kotzen?«, fragte Bubba.

»Nein.« Luke schluckte schwer. »Ich glaub’ nich’«, fügte er dann unsicher hinzu.

»Geh und hol Ma. Und Pa auch. Er muss sie in denWagen tragen. Findest du denWeg?«

»Klar«, erwiderte Luke erhaben.

»Dann los. Sonst stirbt sie womöglich doch noch.«

Luke legte den Kopf zur Seite und betrachtete das bleiche Gesicht der jungen Frau. »Sie sieht eigentlich ganz nett aus. Fasst du sie an, wenn ich weg bin?«

»Hau ab!«, schrie Bubba und machte einen drohenden Schritt auf seinen Bruder zu.

Luke machte sich lärmend auf denWeg durch denWald, bis er weit genug weg war, um zurückzurufen: »Ich werd’s schon merken, wenn du nach was guckst, was du nich’ darfst. Und dann sag’ ich’s Ma.«

Bubba Langston hob einen Kiefernzapfen auf und warf ihn nach seinem zwei Jahre jüngeren Bruder, der eilig dasWeite suchte.Als er außer Sicht war, kniete Bubba sich wieder neben die junge Frau. Er biss sich auf die Unterlippe und schaute noch einmal nach dem toten Baby. Dann griff er mit spitzen Fingern nach dem Saum ihres Kleides und zog es über die winzige Leiche.

Schweißperlen standen auf seiner Stirn, aber er fühlte sich besser, als er nichts mehr sehen konnte.

»Lady«, flüsterte er leise. »He, Lady, könnt Ihr mich hören?«Ängstlich stupste er sie an die Schulter. Sie stöhnte und warf den Kopf zur einen, dann wieder zur anderen Seite.

Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Haarpracht an einem Menschen gesehen. Selbst gespickt mit Zweigen und nass vom Regen war ihr Haar wirklich hübsch, lockig und irgendwie wild.Auch eine solche Farbe war ihm noch nie begegnet.Weder richtig rot noch richtig braun, sondern irgendwie dazwischen.

Er nahm die Feldflasche ab, die er an einem Lederband um den Hals trug und öffnete sie. »Lady, möchtet Ihr was trinken?«Tapfer drückte er die Metallöffnung an ihre bewegungslosen Lippen und goss ein wenig darüber. Ihre Zunge kam hervor und leckte etwas von demWasser auf.

Bubba sah fasziniert zu, wie sich ihreAugen zögernd öffneten und vage umherschweiften. Die junge Frau sah einen etwa sechzehnjährigen Jungen besorgt über sich gebeugt. Er war so flachsblond, dass er fast weiß wirkte.War er ein Engel?War sie im Himmel?Wenn ja, hatte er enttäuschend viel Ähnlichkeit mit der Erde. DieselbenWolken, dieselben Bäume, dieselbe regenschwere Düsternis. Derselbe Schmerz zwischen den Schenkeln. Sie war noch nicht tot! Nein, nein, Junge, geh weg. Ich will sterben. Sie schloss dieAugen wieder, und es wurde dunkel um sie.

VollerAngst um das aushauchende Leben dort und verzweifelt in seiner Hilflosigkeit sank Bubba unter einem Baum auf den feuchten Boden. Sein Blick blieb fest auf ihrem Gesicht, bis er Ma und Pa durch das dichte Unterholz stapfen hörte, das angesichts des üppigen Blätterwerks des Frühsommers kaum zu durchdringen war.

»Was hat Luke da über ein Mädchen gefaselt, Sohn?«, fragte Zeke Langston seinen Ältesten.

»Ich hab’s euch doch gesagt, Ma, Pa«, ertönte eifrig Lukes Stimme, und er streckte einen Zeigefinger vor. »Da ist sie.«

»Geht mir aus demWeg, ihr alle drei, damit ich mich um dieArme kümmern kann.« Ma schob die Männer ungeduldig beiseite und hockte sich schwer neben das junge Ding. Zuerst wischte sie ihr das triefende Haar von den blutleerenWangen. »Die ist ja richtig hübsch, was? Ich frag’ mich wirklich, was die hier macht, zum Kuckuck.«

»Da is’ noch ein Baby, Ma.«

Ma Langston sah zu Bubba auf, dann zu ihrem Mann und machte ihm ein Zeichen, er solle die Jungen außer Sicht schaffen.Als sie sich umgedreht hatten, hob Ma das Kleid und legte dem Mädchen den Saum in den Schoß. Sie hatte schon Schlimmeres gesehen, aber derAnblick hier war auch ziemlich übel. »Mein Gott noch mal«, murmelte sie. »Zeke, du musst mir helfen. Ihr Jungens könnt schon mal vorausrennen zumWagen undAnabeth sagen, sie soll ein gutes Lager richten. Und dann macht Feuer, und setzt einen Kessel mitWasser zum Kochen auf.«

Enttäuscht, dass sie den interessantenTeil desAbenteuers versäumen würden, protestierten sie einstimmig. »Aber Ma …«

»Marsch, sage ich!« Da sie beide nicht den Zorn ihrer Mutter erregen wollten, den sie gelegentlich im Zischen eines Gürtels zu spüren bekamen, trollten sie sich in Richtung auf denWagenzug, der heute auf seiner Reise zur Feier des Sonntags eine Pause einlegte.

»Der geht’s ziemlich schlecht, wie?«, fragte Zeke, als er sich neben seine Frau hockte.

»Jawoll.Als Erstes muss ich mal die Nachgeburt rausholen.Vielleicht stirbt sie sowieso am Kindbettfieber.«

Schweigend machten sie sich mit der Bewusstlosen an dieArbeit. »Wo soll das hin, Ma?«, fragte Zeke schließlich und hielt das Bündel hoch, in das er das tote Kind zusammen mit der Nachgeburt verschnürt hatte.

»Begrab es.Wahrscheinlich wird sie ein paarTage lang nicht aufstehen können.Also mach ein Zeichen an die Stelle, damit sie sie wiederfinden kann, wenn sie will.«

»Ich leg’ einen Felsbrocken darauf, damit dieTiere sich nicht dran vergreifen«, sagte Zeke ernst und begann mit dem kleinen Spaten, den er mitgebracht hatte, eine Grube auszuheben. »Wie geht’s dem Mädchen?«, fragte er, als er fertig war, und wischte sich die Hände an einem großenTaschentuch ab.

»Sie blutet noch, aber ich hab’ sie gut eingepackt. Hier können wir jetzt nichts mehr machen. Schaffst du es, sie zu tragen?«

»Wenn du mir hilfst beim Hochheben.«

Das junge Mädchen kam zu sich und wehrte sich matt, als Zeke sie unter den Kniekehlen und am Rücken hochhob bis zu seiner mageren Brust. Dann fielen ihre schlankenArme herunter, und sie war wieder leblos. Ihre Kehle wölbte sich nach oben, als ihr Kopf über seinenArm nach hinten fiel.

»Die hat ja wirklich lustige Haare«, sagte Zeke nicht unfreundlich.

»So ’ne Farbe hab’ ich noch nie gesehn«, erwiderte Ma abwesend und hob die Sachen auf, die sie mitgebracht hatten. »Wir sollten uns jetzt beeilen. Es fängt wieder an zu regnen.«

DieWunde zwischen ihren Beinen brannte. Ihre Kehle war wund und kratzte. Sämtliche Knochen taten ihr weh, und sie glühte.Trotzdem fühlte sie sich geborgen in derTrockenheit undWärme hier. Hatte sie es schließlich doch noch in den Himmel geschafft? Hatte der blondschopfige Junge sie in Ruhe sterben lassen?War ihr deswegen so sicher und friedlich zumute?Aber im Himmel sollte es doch keinen Schmerz geben, und sie hatte Schmerzen.

Mühselig öffnete sie dieAugen. Eine Decke aus weißem Segeltuch wölbte sich über ihr.Auf einer Kiste neben dem Lager, auf dem sie lag, brannte schwach eine Laterne. Sie streckte die Beine aus, soweit es der Schmerz dazwischen erlaubte, und machte sich mit dem weichen Bett vertraut. Ihre Füße und Beine waren nackt, aber man hatte ihr ein weißes Nachthemd angezogen. Unruhig bewegten sich ihre Hände über ihren Körper, und irgendetwas kam ihr seltsam vor. Dann wurde ihr plötzlich klar, dass ihr Bauch wieder flach war.

Und dann schlug eineWelle schrecklicher Erinnerungen über ihr zusammen. DieAngst, der Schmerz, das Grauen, als sie das tote Kind blau und kalt zwischen ihren Beinen liegen sah.Tränen stiegen ihr in dieAugen.

»Na, na, Ihr werdet doch nicht gleich wieder anfangen zu weinen, oder? Das habt Ihr in den letzten Stunden schon im Schlaf reichlich erledigt.«

Die Finger, die ihr dieTränen von derWange wischten, waren kräftig, rau von harterArbeit und rot im weichen Licht der Lampe, aber sie fühlten sich gut an auf dem Gesicht.Auch die Stimme fühlte sich gut an, die voller sanfter Besorgnis war. »Hier, wollt Ihr nicht etwas von der Brühe? Hab’ ich aus einem von den Kaninchen gemacht, die die Jungens heute Morgen geschossen haben, bevor sie Euch fanden.« Die Frau steckte der jungen Frau einen Löffel in den Mund, und sie schluckte notgedrungen. Die Brühe schmeckte gut. Sie war hungrig.

»Wo bin ich?«, fragte sie zwischen zwei Löffeln Suppe.

»In unserem Planwagen. Ich bin Ma Langston. Meine Jungen haben Euch gefunden. Erinnert Ihr Euch noch daran? Ihr habt ihnen mächtigAngst eingejagt.« Sie kicherte. »Luke hat die Geschichte mittlerweile dem ganzenWagenzug erzählt. Hab’ ich schon gesagt, dass wir in einemTreck auf demWeg nachTexas sind?«

Das war zu viel Information, um sie auf einmal zu verarbeiten, also konzentrierte sich die junge Frau darauf, die Suppe zu schlucken. Sie wärmte angenehm ihren Magen und steigerte das Empfinden von Behagen und Sicherheit. Sie war schon seitWochen auf der Flucht gewesen und hatte so vielAngst davor gehabt, verfolgt zu werden, dass sie sich nie um Unterkunft bemüht, sondern immer unter freiem Himmel geschlafen und sich von dem ernährt hatte, was sie draußen auflas.

Das derbe Gesicht, das auf sie herabsah, war ernst, aber auch mütterlich. Es machte den Eindruck, als könne man in einem Streit gegen diese Frau nur unterliegen und gleichzeitig kein unfreundlichesWort von ihr zu hören bekommen. Dünnes mausgraues, ehemals braunes Haar bildete in ihrem Nacken einen struppigen Knoten. Sie war eine massige Frau, und ihr enormer Busen hing schwer bis zu ihrer fülligenTaille, was alles in einem überaus schlichten Baumwollkleid verschwand. Ihr Gesicht war von feinen Fältchen durchzogen, doch ihre rundenWangen schmückte ein Rosa wie bei einem Mädchen. Offensichtlich hatte ein wohlwollender Gott seine Schöpfung hier für zu herb befunden und ihr zumAusgleich diese rosigen Bäckchen aufgemalt.

»Genug?« Das junge Mädchen nickte. Die Frau stellte die Schüssel mit der Brühe weg. »Ich wüsste gern Euren Namen«, sagte sie mit weicher Stimme, als spüre sie, dass dasThema aufAblehnung stoßen konnte.

»Lydia.«

DieAugenbrauen der Älteren hoben sich fragend. »Das ist ein hübscher Name, aber ein bisschen wenig. Habt Ihr sonst keinen? Gehört Ihr zu niemandem?«

Lydia wandte den Kopf ab. Sie stellte sich das Gesicht ihrer Mutter vor, an welches sie sich aus ihrer frühen Kindheit erinnerte: schön und jung, nicht das bleiche, leere Gesicht einer Frau, die ausVerzweiflung starb. »Nur Lydia«, sagte sie ruhig. »Ich habe keine Familie.«

Ma ließ das auf sich wirken. Sie nahm die Hand des jungen Mädchens und schüttelte sie sanft.Als die hellbraunenAugen sie wieder ansahen, meinte sie leise: »Ihr habt ein Kind geboren, Lydia.Wo ist Euer Mann?«

»Tot.«

»O weh! Das ist ja furchtbar.«

»Nein. Ich bin froh, dass er tot ist.«

Ma erschrak, war aber zu höflich und besorgt um den Zustand der jungen Frau, um sie weiter auszufragen. »Was habt Ihr denn da draußen imWald so allein gemacht?Wo wolltet Ihr hin?«

Lydias schmale Schultern hoben sich zu einem nachlässigen Schulterzucken. »Nirgendwohin. Egal wohin. Ich wollte nicht mehr leben.«

»Unsinn! Das lasse ich nicht zu. Ihr seid zu hübsch zum Sterben.« Ma strich rau die Decke über dem zerbrechlichen Körper glatt, um das plötzliche Gefühl zu verbergen, das sie für das fremde Mädchen empfand.

Ma hatte Mitleid mit ihr. In ihrem bleichen, verscheuchten Gesicht stand eineTragödie geschrieben. »Wir, also Pa und ich, haben Euren kleinen Jungen imWald begraben.« LydiasAugen schlossen sich. Ein Junge. Das war ihr bei dem kurzen Blick auf ihr Kind nicht einmal aufgefallen. »Wenn Ihr wollt, bleiben wir noch ein paarTage hier, wenn derTreck weiterzieht; dann könnt Ihr zum Grab gehen, sobald Ihr Euch besser fühlt.«

Wild schüttelte Lydia den Kopf. »Nein. Ich will es nicht sehen.«Tränen drangen unter ihren Lidern hervor.

Ma tätschelte ihre Hand. »Ich weiß, wie Ihr Euch fühlt, Lydia. Ich hab’ sieben Kinder und zwei wieder hergeben müssen. Das ist das Härteste im Leben einer Frau.«

Nein, ist es nicht, dachte Lydia bei sich. Es gibt noch viel schlimmere Sachen, die eine Frau manchmal tun muss.

»Ihr schlaft jetzt noch etwas. Leider habt Ihr Euch da draußen imWald erkältet. Ich bleibe bei Euch.«

Lydia sah in das mitfühlende Gesicht der Frau. Noch konnte sie nicht lächeln, aber ihreAugen leuchteten auf. »Danke.«

»Wenn es Euch erst wieder gut geht, habt Ihr noch genug Gelegenheit, mir zu danken.«

»Ich kann nicht bei Euch bleiben. Ich muss … fort.«

»Es wird schon noch eineWeile dauern, bis Ihr wieder weiterkönnt. Bleibt einfach, solange Ihr es bei uns aushaltet – wenn Ihr wollt, bisTexas.«

Lydia machteAnstalten zu widersprechen. Sie war keine Frau, die mit so anständigen Menschen leben sollte.Wenn sie mehr über sie wüssten, über … IhreAugen fielen zu, und sie schlief ein.

Seine Hände waren wieder überall, auf ihrem ganzen Körper. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, und seine Pranke drückte sich salzig und schmierig darauf. Die andere zerrte an ihrem Hemd, bis es aufriss. Diese verhasste, klamme Hand drückte ihre Brüste. Sie biss in seine fleischige Handfläche und bekam zur Strafe eine schallende Ohrfeige, die einen pochenden Schmerz in ihrem Unterkiefer zurückließ.

»Wehr dich bloß nicht, sonst sag’ ich deiner zimperlichen Mama, was wir so machen. Du willst doch nicht, dass sie das erfährt, oder? Das würde ihr bestimmt den Rest geben. Ich schätze, wenn sie wüsste, dass ich dich bumse, würde sie das glatt umbringen.«

Nein, Lydia wollte nicht, dass ihre Mutter davon erfuhr.Aber wie konnte sie ertragen, sich noch einmal so von ihm behandeln zu lassen? Er rieb schon wieder sein Becken heftig an ihrem Oberschenkel, zwang sie, die Beine zu öffnen. Seine Finger stocherten schmerzhaft in ihr herum, und wieder bohrte sich dieses verhasste Ding in ihr Inneres.Als sie ihm das Gesicht mit den Nägeln zerkratzte, lachte er und versuchte, sie zu küssen. »Ich mag’s gern rau, du kannst es dir aussuchen«, höhnte er.

Sie wehrte sich. »Nein, nein«, schluchzte sie. »Zieh es raus! Nein, nein, nein …«

»Was ist, Lydia?Wacht schnell auf, es ist nur ein böserTraum.«

Die tröstende Stimme zog sie aus der Höllentiefe ihresAlbtraums wieder ans Licht in die weiche Bequemlichkeit von Langstons Planwagen. Der Schmerz kam nicht von ClanceysVergewaltigung, sondern war eine Folge der Geburt eines Kindes. O Gott, wie sollte sie mit den Erinnerungen an seine Misshandlungen leben? Sie hatte ein Kind bekommen aus seinem abscheulichen Samen und konnte einfach dieseWelt nicht mehr ertragen.

Ma Langston dachte da anders.Als sich die junge Frau in derAngst desAlbtraums an ihren Ärmel klammerte, drückte die Ältere Lydias Kopf an ihren umfangreichen Busen und murmelte leiseTrostworte. »Es war nur einTraum. Ihr habt etwas Fieber, und da kommen die Gespenster, aber solange Ihr hier bei mir seid, wird Euch bestimmt nichts zustoßen.«

Lydias Entsetzen verebbte. Clancey war tot. Sie hatte ihn tot daliegen sehen, hatte gesehen, wie das Blut in Strömen aus seinem Kopf floss und sein hässliches Gesicht bedeckte. Er konnte ihr nichts mehr tun.

Dankbar ließ sie ihren Kopf schwer an Mas Brust sinken.Als sie beinah wieder einschlief, legte Ma sie zurück auf das klumpige Kissen, das Lydia so herrlich wie mit Daunen gefüllt erschien. In den letzten Monaten hatte sie nur auf Tannennadeln oder Heu geschlafen. Manche Nächte war ihr das Glück weniger hold gewesen, da musste sie zumVerweilen mit einem Baumstamm vorliebnehmen.

Süßes, schwarzesVergessen senkte sich wieder über sie, während Ma bei ihr sitzen blieb und ihre Hand hielt.

Lydia erwachte am nächsten Morgen durch das Schwanken des fahrendenWagens. Kochtöpfe rasselten ständig durch das Rumpeln der Räder. Das Ledergeschirr der Pferde knarrte, und die metallenen Ringe daran klingelten fröhlich. Ma rief den beiden ZugpferdenAnweisungen zu und ergänzte den Befehl mit einem Peitschenknallen. In fast demselbenTon führte sie auch ein lebhaftes Gespräch mit einem ihrer Sprösslinge. Ihre Stimme klang gleichzeitig ermahnend und empfehlend. Lydia rückte auf ihrem Lager schlaftrunken zur Seite und wandte etwas den Kopf. Ein weißblondes Mädchen mit neugierigen blauenAugen saß neben ihr und sah auf sie hinab.

»Ma, sie ist wach«, rief sie, und Lydia fuhr zusammen angesichts des plötzlichen Lärms.

»Tu, was ich dir gesagt hab«, rief Ma von vorn in denWagen hinein. »Wir können jetzt nicht anhalten.«

Das Mädchen sah die erschreckte Lydia wieder an. »Ich binAnabeth.«

»Ich bin Lydia«, gab sie heiser zurück. Ihre Kehle fühlte sich an wie Bimsstein.

»Weiß schon. Ma hat es uns beim Frühstück erzählt und gesagt, wir dürfen nicht mehr ›die Frau‹ zu Euch sagen, sonst würde sie uns eine Backpfeife geben. Habt Ihr Hunger?«

Lydia überlegte sich dieAntwort gut. »Nein, Durst.«

»Ma hat gesagt, Ihr würdet bestimmt wegen des Fiebers Durst haben. Ich hab’ eine Kanne mitWasser und eine mitTee.«

»ErstWasser.« Lydia trank in tiefen Zügen. Sie war erstaunt, wie viel Energie sie dazu brauchte, und legte sich schwach wieder hin. »Vielleicht später etwasTee.«

Das Leben und die dazugehörigen Funktionen ihres Körpers waren für die Langstons selbstverständlich. Lydia genierte sich sehr, alsAnabeth ihr eine Schüssel unter die Hüften schob, damit sie sich erleichtern konnte; aber das Mädchen blieb freundlich und sachlich und schüttete mit der größten Selbstverständlichkeit die Schüssel am hinteren Ende desWagens aus.

Während der Mittagspause, als derWagenzug anhielt, damit Menschen undTiere ausruhen konnten, kletterte Ma herein, um dieVorlage zu wechseln, die sie zwischen Lydias Schenkel gelegt hatte.

»Die Blutung ist nicht schlimm. Eure weiblichenTeile sehen aus, als wenn sie prima heilen würden, auch wenn Ihr Euch noch ein paarTage wund fühlen werdet.«

Mas Offenheit wirkte überhaupt nicht grob, auch wenn es Lydia immer noch peinlich war, sich an dieser Stelle betrachten zu lassen. Sie wunderte sich, dass sie überhaupt noch Schamgefühle besaß, wenn sie bedachte, wo sie die letzten zehn Jahre verbracht hatte. Ihre Mutter musste ihr wohlAnstand beigebracht haben, bevor sie auf die Farm der Russells zogen. Die waren da nämlich anders.Aber wer hätte schon ein schmutziges, abgerissenes, barfüßiges Mädchen ernst genommen? Sie hatte genauso ausgesehen wie die Russells, also wurde sie auch mit denen in einenTopf geworfen.

Aber offensichtlich gab es Menschen, die mit ihrem Urteil über andere nicht so schnell bei der Hand waren. Zum Beispiel die Langstons. Ihnen hatten ihre schmutzigen, abgerissenen Kleider nichts ausgemacht. Sie verachteten sie nicht, weil sie ein Baby bekommen hatte ohne einen Ehemann. Sie behandelten sie wie eine anständige Frau.

Aber sie fühlte sich nicht anständig, auch wenn sie das mehr als alles auf derWelt gern sein wollte.Wahrscheinlich würde es Jahre dauern, den Makel loszuwerden, den die Russells ihr aufgeprägt hatten – doch selbst wenn sie dafür ihr Leben opfern musste, wollte sie sich von ihm befreien.

Im Laufe desTages begegnete sie der Reihe nach auch den restlichen Mitgliedern des Langston-Clans. Die beiden Jungen, die sie gefunden hatten, steckten scheu die Köpfe in denWagen, als ihre Mutter sie ihr vorstellte. »Das da ist mein Ältester, Jakob; aber alle nennen ihn Bubba. Der andere heißt Luke.«

»Danke, dass ihr mir geholfen habt«, flüsterte Lydia. Sie nahm es ihnen nicht mehr übel, dass sie ihr das Leben gerettet hatten. Jetzt, wo Clancey allmählich aus ihrem Bewusstsein verschwand, schien alles nicht mehr ganz so schrecklich.

Die beiden hellblonden Jungen erröteten bis zum Haaransatz und murmelten »gern geschehen«.

Anabeth war eine gesellige, lebhafte Zwölfjährige. Dann gab es noch Marynell, Samuel undAtlanta mit jeweils einem JahrAltersunterschied. Der Kleinste, Micha, war ein pummeliger Dreijähriger.

Zeke riss sich den Hut von seinem bereits kahl werdenden Kopf, als er spät amAbend von hinten in denWagen sah. »Freut mich, Euch hier zu haben, Miss … äh … Lydia.« Er lächelte, und Lydia bemerkte, dass er nur zwei Zähne vorn im Mund hatte.

»Es tut mir leid, dass ich Euch so viel Mühe mache.«

»Ist nicht der Rede wert«, winkte er ab.

»Ich werde mich so bald wie möglich wieder auf denWeg machen.« Sie hatte keineAhnung, wohin sie gehen oder was sie tun sollte, doch durfte sie sich dieser freundlichen Familie nicht unnötig aufdrängen, in der es sowieso schon so viele Mäuler zu stopfen gab.

»Na, also darüber macht Euch mal keine Gedanken.Werdet zuerst wieder gesund, dann finden wir schon ’ne Lösung.«

Alle Langstons stimmten in dieserAngelegenheit überein. Doch Lydia dachte voller Sorgen an die anderen Leute desTrecks. Sicherlich hatte esTratsch gegeben wegen des Mädchens, das hier in derWildnis und ohne Mann ein totes Kind geboren hatte und jetzt mitfuhr. Ma hatte sich geweigert, auch die allerfreundlichsten Besucher hereinzulassen, die kamen, um nach dem »armen unglücklichen jungen Mädchen« zu sehen; standhaft blieb sie bei ihrerAuskunft, dass sie wohl durchkommen würde und es später noch genug Gelegenheit gäbe zum Kennenlernen.

Lydias erste Begegnung mit einemAußenstehenden ereignete sich, als mitten in der Nacht jemand hinten an denWagen klopfte. Sie setzte sich mit einem Ruck auf und drückte ihre Decke an die Brust in der festen Überzeugung, dass Clancey von denToten auferstanden war, um sie zu holen.

»Immer mit der Ruhe, Lydia«, sagte Ma und schob sie zurück auf die Kissen.

»Ma Langston!«, rief die ungeduldige Stimme eines Mannes. Eine schwere Faust pochte an die hintere Klappe. »Ma, bitte, seid Ihr da drin?«

»Höllenfeuer undVerdammnis, weshalb das Geschrei?«, hörte Lydia Zeke von außen vor demWagen sagen. Er und die Jungen schliefen auf den Lagern unter demWagen.

»Zeke,Victoria hatWehen bekommen. Ob Ma wohl zu ihr kommen könnte?« Die Stimme klang tief, belegt und vollerAngst. »Sie fühlt sich schon seit demAbendessen nicht gut. Und ich bin sicher, dass esWehen sind und nicht nurVerdauungsprobleme.«

Inzwischen war Ma ans Ende desWagens gekrochen und hatte die Plane beiseitegeschoben. »Mr. Coleman? Seid Ihr das? Eure Frau hatWehen, sagt Ihr? Ich dachte, sie wäre noch gar nicht so weit …«

»Ich auch. Sie …« Lydia hörte die Erschütterung in der Stimme des Mannes. »Sie leidet Qualen.Werdet Ihr kommen?«

»Bin schon unterwegs.« Ma drehte sich um und fuhr hastig in ihre Stiefel. »Schlaft Ihr ruhig weiter«, beschwichtigte sie Lydia trotz ihrer Eile. »Anabeth bleibt hier und kommt mich schnell holen, wenn Ihr mich braucht.« Sie legte sich ein gehäkeltes Umschlagtuch um die Schultern. »Sieht ganz so aus, als wenn das nächste Baby auf demWeg in dieWelt wäre.«

2

Als dieWagen am nächsten Morgen losfuhren, war Ma noch nicht zurück. Im Lager sprach sich herum, dass Mrs. Coleman immer noch in denWehen lag und dass sie darauf bestanden hatte, dass derTreck nicht ihretwegen einen Reisetag verlieren durfte. Bubba bot an, für Mr. Coleman zu fahren, und Zeke kutschierte denWagen der Langstons.

In MasAbwesenheit übernahmAnabeth als ältesteTochter das Kochen und die Betreuung der kleineren Geschwister. Sie versorgte Lydia mit derselben ruhigen Sachkenntnis, die auch ihre Mutter besaß. Lydia war erstaunt, dass das Mädchen wusste, wie eine Geburt vor sich ging.

»Es tut mir leid, dass du das für mich tun musst«, entschuldigte sie sich, alsAnabeth eine durchweichteVorlage wegräumte.

»Psst, ich hab’s schon für Ma gemacht, als sie die letzten beiden Babys bekommen hat, und hab’ selber schon die Periode, seit ich zehn war. Das macht mir nix aus.«

Als derWagenzug mittags anhielt, kam Ma zurück und erklärte ihnen tief bekümmert, dass Mrs. Coleman gerade vor einer halben Stunde gestorben war, nachdem sie einen Sohn geboren hatte.

»Sie war so ’ne zarte kleine Frau. Natürlich tobt Mr. Coleman wie einWilder, gibt sich selbst die Schuld und sagt, er hätt’ sie nicht mit auf diese Fahrt nehmen dürfen. Sie hatte ihm gesagt, dass sie das Kind erst im September kriegen würde, das hieß, wenn wir schon längst in Jefferson wären. Er kann nichts dafür, trotzdem macht ihm die Sache ganz schön zu schaffen.«

»Und das Baby?«, fragte Zeke mit einem trockenen, harten Brötchen zwischen den Zähnen, das vom Frühstück übrig geblieben war.

»Das winzigste Kind, das ich je gesehen hab’. Es hat kaum genug Kraft zum Schreien.Würde mich nicht überraschen, wenn seine kleine Seele die Erde auch noch verließe.« Sie zog sich in denWagen hinauf, um mit Lydia zu reden, die das Gespräch der Familie mitgehört hatte. »Wie geht’s, Lydia?«

»Gut, Mrs. Langston.«

»Bitte, sagt doch einfach Ma zu mir. Kümmert sichAnabeth richtig um Euch?Tut mir leid, dass ich nicht hier sein kann, aber dem kleinen Jungen geht’s nicht besonders gut.«

»Natürlich«, murmelte Lydia. »Bei mir ist alles in Ordnung. Sobald ich aufstehen kann, werde ich Euch nicht weiter belästigen.«

»Nicht, solange ich dabei noch einWörtchen mitzureden habe. Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht? Ihr seht ’n bisschen gerötet aus.« Sie legte eine schwielige Hand auf Lydias Stirn. »Immer noch Fieber. Ich werd’Anabeth sagen, sie soll Euch heute Nachmittag möglichst oft ein kaltesTuch auf die Stirn legen.«

Lydia hatte ein neues Problem, wollte aber Ma nicht damit auch noch belasten; also erwähnte sie ihre geschwollenen Brüste nicht. Sie nickte denTag über häufig ein, denn es war ruhig imWagenzug, der aus Respekt für Mr. Coleman angehalten hatte.Anabeth versorgte sie, wenn auch etwas unter Druck, mit einem herzhaftenAbendessen. Nach der Mahlzeit sollten sich alle versammeln, um Mrs. Coleman zu beerdigen.

Es wurde ruhig im Lager. Lydia lag in ihrem Bett und starrte hinauf an die Decke aus Segeltuch.Außer dem fernen Klang eines Begräbnisliedes hörte Lydia nichts von derTrauerfeier. Sie staunte über sich selbst, dass sie das Lied mitsingen konnte.Wie lange war sie wohl nicht mehr in einer Kirche gewesen? Zehn, zwölf Jahre? Und doch erinnerte sie sich genau an denText und war richtig glücklich darüber. Mit einem Lächeln schlief sie ein und wachte nicht auf, als die Langstons bedrückt wieder zu ihremWagen zurückkehrten.

Der nächsteTag verging ähnlich wie der vorige, nur stand es um Lydia nicht so besonders. Ihre Brüste waren unter dem Nachthemd stark angeschwollen, und sie versuchte, das zu verstecken, wennAnabeth sie versorgte oder ihr zu essen brachte. Sie fühlten sich an, als wollten sie platzen, ein pochender Schmerz erfüllte sie. Lydia schaute sie sich an und sah erschreckt, dass ihre Brustwarzen rot und wund wirkten. Sie waren so empfindlich, dass sogar das Nachthemd auf ihnen weh tat.

Ma versorgte immer noch das Coleman-Baby und kam erst zurück, als die Kinder und Zeke längst ihr Lager unter demWagen aufgeschlagen hatten.Anabeth, Marynell undAtlanta schliefen fest auf der anderen Seite desWagens. Lydia war wach, ruhelos und hatte Schmerzen. Sie ächzte leise, als Ma erschöpft in denWagen kletterte.

»Herr im Himmel, Lydia, was ist los? Geht es Euch schlecht?« Ma beugte sich über die junge Frau.

»Entschuldigung. Ich … meine Brüste.«

Ma verschwendete keine Zeit damit, Lydias milchschwere Brüste zu untersuchen. »Heiliger Himmel, wo ist bloß mein Hirn geblieben? Natürlich habt Ihr Milch, und es tut weh, weil Ihr kein Kind mehr habt …« Sie verstummte plötzlich und legte mit der kurzen Bewegung eines Spatzen, der im Moment einenWurm entdeckt hat, den Kopf zur Seite.

»Kommt, Lydia. Ich möchte, dass Ihr mit mir geht.«

»Wohin?« Lydia schnappte nach Luft, als Ma ihr die Decke wegzog und sie zumAufstehen nötigte. Sie ging nicht grob mit ihr um, nur entschieden. »Ich habe keine Kleider.«

»Das ist egal«, sagte Ma und atmete schwer, während sie Lydia unter dieArme griff und zum Sitzen hochzog. »Ihr habt Milch und kein Kind, und da ist ein Kind, das sich schwertut mit dem Leben. Der Kleine braucht eine Mutter.«

Ma wollte sie mit zu dem Baby nehmen, das jetzt schon seit fast zweiTagen ununterbrochen schrie. Die mitleiderregenden Klagelaute waren auch jetzt über das schlafende Lager hinweg zu hören. Ma wollte sie zu dem Mann mit der aufgeregten Stimme bringen. Sie wollte nicht dorthin gehen. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sie neugierig anstarrte und sich fragte, warum sie wohl ganz allein imWald ihr Kind bekommen hatte. Jetzt, wo sie die behagliche Sicherheit von LangstonsWagen kannte, hatte sieAngst, ihn zu verlassen.

Doch sie schien wirklich keineWahl zu haben. Ma legte ihr einTuch um die Schultern und schob sie sanft die Stufen hinten amWagen hinunter. »Eure Schuhe sind sowieso nicht besser, als wenn Ihr barfuß wäret, also könnt Ihr genauso gut ohne gehen. Gebt nur mit den Steinen acht!«

Der Ruck, mit dem ihre Füße zum ersten Mal seitTagen wieder den Erdboden berührten, brachte sie zum Schwanken. Die kalte Luft schmerzte heftig an ihren Brüsten, die ohne Stütze unter dem Nachthemd, außer dem Umschlagtuch ihr einziges Kleidungsstück, hingen. Ihre Haare waren ungebürstet, also ein einziges wirres, wildes Durcheinander. Ma hatte Blut und die Spuren der Geburt von der Innenseite ihrer Schenkel gewaschen, doch im Übrigen war Seife seitTagen Mangelware, und sie fühlte sich wirklich schmutzig.

Widerstrebend grub sie die Fersen in den weichen, feuchten Boden. »Bitte, Ma, ich möchte nicht, dass mich irgendjemand sieht.«

»Unsinn«, beschied ihr Ma und zerrte sie förmlich amArm zu dem einzigenWagen im Lager hinüber, in dem ein Licht brannte. »Womöglich könnt Ihr dem Baby noch das Leben retten. Da ist es doch völlig egal, wie Ihr ausseht.«

Aber Lydia wusste, dass es den Leuten nicht egal sein würde. Man hatte sie schon bei anderen Gelegenheiten alsAbschaum bezeichnet, Menschen konnten sich erschreckend bösartig verhalten.

»Mr. Grayson«, rief Ma leise, als sie den erhelltenWagen erreichten. Sie schlug das Segeltuch vor der Öffnung zurück. »Bitte helft mir ein wenig.« Sie schob Lydias Hinterteil etwas an, und der jungen Frau blieb nichts anderes übrig, als in denWagen zu klettern. Die wunde Stelle zwischen ihren Schenkeln wurde schmerzhaft straff gespannt, und sie zuckte zusammen. Ein Paar kräftigeArme in blauen Hemdsärmeln kamen ihr entgegen und zogen sie hinein. Ma folgte ihr auf den Fersen.

EinenAugenblick lang herrschteVerwirrung, als sich drei Fremde plötzlich so dicht gegenüberstanden. Der grauhaarige Mann starrte verwundert auf den Neuankömmling. Die dünne Frau neben ihm schnappte überrascht nach Luft. Lydia senkte den Blick, um ihrer erstaunten Musterung auszuweichen.

»Das hier ist Mr. Grayson, derAnführer unseresTrecks«, stellte Ma vor.

Lydia hielt den Kopf gesenkt, betrachtete ihre schmutzigen, nackten Füße auf dem Bretterboden desWagens und nickte nur zum Zeichen, dass sie gehört hatte. »Und das ist Mrs. LeonaWatkins.« Ma sprach hinter vorgehaltener Hand aus Rücksicht auf den Mann, der auf einem kleinen Hocker saß, den dunklen Kopf in den Händen vergraben.

Die Frau öffnete als Erste den Mund. »Wer, um Himmels willen … und warum schwänzelt sie sozusagen nackt hier herum?Ach, das ist das Mädchen, das Eure Jungen gefunden und mitgebracht haben. Ich muss schon sagen, ich bin überrascht, dass Ihr hier mit einer solchen, einer … solchen Person … auftaucht, besonders zu diesem beklagenswerten Zeitpunkt. Hier wird es bald einenTodesfall geben und …«

»Vielleicht auch nicht«, zischte Ma, und ihre offensichtlicheAbneigung gegen die Frau war ihrer Stimme deutlich zu entnehmen. »Mr. Grayson, diese junge Frau hat vorgestern ein Kind geboren. Sie hat Milch. Ich dachte, falls Mr. Colemans Baby vielleicht saug…«

»Gütiger Himmel«, rief Mrs.Watkins entrüstet aus. Unter ihren gesenktenWimpern hervor sah Lydia, wie die Frau eine magere Hand zu ihrem flachen Busen hob und nach dem Stoff ihres Kleides griff, als wehre sie einen bösen Geist ab.

Ma ließ sich durch LeonaWatkins’ Missbilligung nicht einschüchtern und sprach weiter zu demWagenzugführer gerichtet: »Vielleicht schafft es der arme Kleine doch, wenn Lydia ihn stillt.«

DieWatkins unterbrach, bevor Mr. Grayson auch nur den Mund aufmachen konnte.Während der folgenden hitzigen Streiterei sah sich Lydia, so gut sie konnte, mit gesenktem Blick imWagen um. Die in einer Ecke gestapelten Steppdecken waren aus besserem Stoff als die, die den Langstons zurVerfügung standen. Neben einer Kiste mit Porzellangeschirr stand ein Paar feiner, hochgeknöpfter, weißerWildlederschuhe.

IhreAugen wanderten weiter und trafen auf zwei schwarze Stiefel.Weit auseinandergestellt, bedeckten sie zwei langeWaden bis zum Knie. Die Stiefel trugen deutliche Gebrauchsspuren, waren aber offensichtlich aus feinstem Leder gefertigt. Sie umhüllten zwei längliche, wohlgeformte Füße. DieAbsätze bestanden aus ungefähr zwei Zentimeter hohem, schwarz poliertem Holz. Falls die Länge seiner Schienbeine ein Maßstab war, musste der Mann sehr hochgewachsen sein.

»Ich sage Euch, das ist nicht anständig.« Mrs.Watkins’ Einwände hatten an Lautstärke und Nachdruck zugenommen. Eine klauenförmige Hand griff nach Lydias Kinn und hob mit einem Ruck ihren Kopf. Sie blickte in ein Gesicht, das völlig bar jedes lebendigen Fleisches zu sein schien. Es war schmal und gefurcht. Der Rücken ihrer dünnen Nase glich einer scharfen Messerschneide.Von ihren Lippen, die sie ununterbrochen schürzte, ging ein feines Netz von Linien in alle Richtungen. DieAugen passten mit ihrem stechendenAusdruck zur Stimme.

»Seht sie Euch doch nur an. Sie istAbschaum. Das kann man ja förmlich riechen.Wahrscheinlich ist sie eine … eine Prostituierte – der Herr möge mir vergeben, dass ich dasWort in den Mund nehme –, die ein Kind bekommen hat.Am Ende hat sie es selbst getötet, um es loszuwerden. Ich bezweifle, dass sie je wusste, wer derVater war.«

Völlig fassungslos durch dieWorte der Frau starrte Lydia sie sprachlos an und flüsterte dann ein entsetztes »Nein!«.

»Mrs.Watkins, bitte«, schritt Mr. Grayson diplomatisch ein. Er war ein wohlwollender Mann, auch wenn er diesmal dazu neigte, derWatkins recht zu geben. Die junge Frau hatte wirklich einen wildenAusdruck an sich. Es war absolut nichts Feines an ihr, weder in derArt ihrer Kleidung noch darin, wie sie sie jetzt schamlos aus ihren ungewöhnlichen bernsteinfarbenenAugen anfunkelte.

»Das stimmt nicht!«, widersprach Ma. »Und selbst wenn, LeonaWatkins, wer sonst in diesemWagenzug könnte das Kind stillen, Ihr etwa?«

»Nun, ich würde niemals …«

»Das stimmt«, zischte Ma. »Ihr habt es bestimmt nie geschafft, auch nur einenTropfen Milch aus diesen verschrumpeltenTit…«

»Ma, bitte«, gebot Mr. Grayson ihr Einhalt.

LeonaWatkins’Augen blitzten zornig, aber sie schwieg, richtete sich trotzig auf und zog ihre Nüstern verächtlich zusammen.

Ma kümmerte sich nicht weiter um sie. »Mr. Grayson, es ist Eure Pflicht, das Leben eines jeden in diesemTreck zu erhalten, also auch das des Babys da drüben. Hört Euch den armen Kleinen bloß an!Von den anderen Familien hat nur eine einzige Frau noch Milch, und die stillt schon ihre Zwillinge. Lydia ist die letzte Hoffnung für dieses Kind.Also, wollt Ihr sein Leben retten, oder wollt Ihr es verhungern lassen?«

LeonaWatkins faltete starrköpfig dieArme über der Brust. Sie lehnte jedeVerantwortung für die Folgen ab, falls sich Mr. Grayson entschließen sollte zu tun, was diese Betriebsnudel Ma Langston forderte. Sie hatte Mrs. Langston immer schon unglaublich ordinär gefunden, und die Sache bewies es endgültig.

»Die einzige Meinung dazu, die zählt, ist die von Mr. Coleman«, sagte Hal Grayson. »Ross, was sagt Ihr dazu?Wollt Ihr, dass diese junge Frau Euren Sohn stillt, was ihm vielleicht das Leben retten könnte?«

Lydia hatte allenAnwesenden den Rücken zugedreht. Es war ihr egal, was sie von ihr dachten. Sobald es ihr gut genug ging, würde sie irgendwohin gehen, wo sie niemand kannte und wo sie ohneVergangenheit wieder neu anfangen konnte. Ohne es recht zu bemerken, war sie zur Seite desWagens hinübergegangen, wo das Neugeborene in einer mit Flanell ausgepolstertenApfelkiste lag. Sie starrte auf das winzige, um sein Leben kämpfende Geschöpf hinab, als sie hörte, wie seinVater langsam aufstand.

Lydia hatte Ross Coleman den Rücken zugewandt, als er den Kopf hob und zu der Person hinüberschaute, die einen solchenAufstand in seinemWagen hervorgerufen und seineTrauer überVictoriasTod gestört hatte.Als Erstes fiel ihm ihr Haar auf, ein wahres Gewölk von unordentlichen Locken, in dessen wilder Fülle trockene Blätter und wer weiß was sonst noch alles hing.Was für eine Sorte lief denn schon mit offenem Haar herum? Ross Coleman kannte nur eineArt Frauen, die das tat.

Von hinten wirkte sie unheimlich mager in ihrem Nachthemd. Ihre Fesseln, die darunter hervorsahen, waren schmal, die Füße klein. Und schmutzig. Himmel. Es stand ihm wirklich nicht der Sinn nach einer rührenden Szene angesichts des kummervollenTages, den er hinter sich hatte.

»Ich will nicht, dass diese Frau mein Baby berührt«, murmelte er vollerAbscheu. »Bitte lasst mich und meinen Sohn jetzt allein.Wenn er sterben muss, dann soll es in Frieden geschehen.«

»Dem Himmel sei Dank, dass wenigstens einer hier noch weiß, was sich schickt.«

»Seid still«, fuhr Ma LeonaWatkins an, schob sie zur Seite und ging zu Ross hinüber. »Ihr scheint ein vernünftiger Mann zu sein, Mr. Coleman.Warum wollt Ihr nicht Lydia den Jungen stillen lassen und wenigstens versuchen, sein Leben zu retten? Sonst wird er verhungern.«

»Wir haben alles Menschenmögliche getan«, sagte Ross ungeduldig. Er fuhr sich verdrossen mit den Fingern durch sein dichtes Haar. »Er wollte keine Kuhmilch aus der Flasche trinken. Und das Zuckerwasser, das wir ihm gesternAbend mit dem Löffel einflößten, hat er ausgespuckt.«

»Er braucht Muttermilch. Und diesem jungen Mädchen läuft sie aus den Brüsten.«

»Oh, Herr im Himmel«, klagte LeonaWatkins.

Ross warf einen zweiten Blick auf Lydia. Sie stand zwischen ihm und dem Licht der Lampe, sodass der Umriss ihres Körpers durch das dünne Nachthemd sichtbar wurde. Ihre Brüste sahen wirklich schwer aus. Deren sinnliche Fülle stieß ihn ab.Warum lief sie hier nur im Nachthemd herum? Selbst wenn es ihr nach der Geburt nicht so gut ging, würde sich keine anständige Frau anderen Leuten und besonders Männern so zeigen. Seine Lippen verzogen sich vorAbscheu, und er überlegte, aus was für einer Spelunke diesesWeib wohl stammen mochte.Victoria wäre bei ihremAnblick schockiert gewesen.

»Ich lasse nicht zu, dass ein FreudenmädchenVictorias Baby stillt«, zischte er.

»Ihr wisst genauso wenig wie ich, aus was fürVerhältnissen sie stammt.«

»Sie istAbschaum!«, rief er. Der Zorn, der ihn seitVictorias ungerecht frühemTod erfüllte, brach sich nun Bahn. Und die junge Frau war genau der richtige Sündenbock. »Ihr wisst nicht, woher sie kommt und wer sie ist.Aber nur eineArt Frau bekommt ein Baby ohne einen Mann, der sich um sie kümmert.«

»Das war früher vielleicht so, aber jetzt ist das anders. Besonders seit das ganze Land hier vonAbtrünnigen undYankees wimmelt, die glauben, dass ihnen jetzt alles und jeder im Süden persönlich gehört.Wir wissen nicht, was sie durchgemacht hat.Vergesst nicht, dass sie erst vor zweiTagen ihr eigenes Kind verloren hat.«

Lydia hörte derAuseinandersetzung nicht zu. IhreAufmerksamkeit wurde ganz von dem neugeborenen Jungen erfüllt. Seine Haut wies eine ungesunde Farbe auf. Lydia hatte außer ihrem eigenen Kind noch nie ein Neugeborenes gesehen. Und dieses Kind war sogar noch kleiner, und seine zarte Gestalt erschreckte sie. Konnte überhaupt noch etwas dieses bisschen Leben retten?

Seine kleinen, zu Fäusten geballten Finger waren beinahe durchsichtig. SeineAugen waren geschlossen, und er atmete flach und stoßweise. Seine Brust hob und senkte sich ruckartig. SeinWimmern klang rau, als müsse er oft Ruhepausen einlegen und sparsam mit seinem Rest an Kraft umgehen. Dennoch hörte das jämmerliche Greinen nicht auf. Für Lydia klang es wie der Gesang einer Lorelei. Unausweichlich wurde sie zu dem Kind hingezogen.

Sie spürte ein Ziehen im Unterleib, was denWehen ein wenig ähnelte, aber nicht weh tat. Ihr Herz schien sich auszudehnen und ihre geschwollenen Brüste noch weiter zu bedrängen. Sie kribbelten, nicht vom Milchfluss, sondern von ihremVerlangen nachzugeben und dem Drang, mütterlichenTrost zu spenden.

Ohne sich dessen bewusst zu werden, sah sie zu, wie ihr Finger die glatteWange des Babys berührte. Dann schob sich ihre Hand unter seinen Kopf, der ohneWeiteres in ihre Handfläche passte. Mit langsamen Bewegungen und ängstlich besorgt, ihm nicht weh zu tun, legte sie ihre andere Hand unter sein Hinterteil und hob ihn aus der Kiste.Während sie weiter unverwandt sein faltiges, gerötetes Gesicht betrachtete, setzte sie sich langsam auf einen niedrigen, dreibeinigen Hocker.

Die dünnen Beine des Kindes strampelten, und seine Füße traten gegen ihren Bauch. Sie drehte ihn seitwärts, sodass sein Kopf in ihrerArmbeuge lag. Er schwankte auf und ab, und sein Gesichtchen rieb sich an ihrer vollen Brust. Lydia sah fasziniert und voller Ehrfurcht, wie sich der kleine vogelgleiche Mund zu ihr wandte. Er war geöffnet und suchte.

Ruhig hob sie ihre Hand zum ersten Knopf amAusschnitt des Nachthemds und öffnete ihn. Dann den zweiten.Weitere folgten, bis sie den Stoff über ihre Brust schieben konnte. Mit der freien Hand hob sie sie dem Mund des Kindes entgegen. Das Baby stürzte sich sofort darauf und begann, gierig daran zu saugen.

Das plötzlicheVerstummen des Geschreis brachte die hitzige Unterhaltung auf der anderen Seite desWagens sofort zum Schweigen. Ross hatte das Gefühl, als zerrisse sein Herz. Sein erster Gedanke war, dass alles ein Ende hatte. Er drehte sich eilig herum und erwartete, das Kind bewegungslos und tot daliegen zu sehen; doch derAnblick, auf den sein besorgter Blick traf, erschreckte ihn fast noch mehr.

Das Mädchen hielt seinen Sohn auf dem Schoß. Das Baby saugte eifrig an ihrer fülligen Brust. Milchige Bläschen umgaben seinen winzigen Mund und den dunklenWarzenhof ringsherum. Sie säuselte dem Kleinen leise etwas vor und schob ihm ihre Brust tiefer in den Mund. Ross konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil ihr wildes Haar darüber fiel.

»Tja«, knurrte Ma zufrieden, »ich schätze, mehr braucht hier wohl nicht gesagt zu werden. Mr. Grayson, warum bringt Ihr nicht Leona zu ihremWagen zurück? Ich kümmere mich um dieseAngelegenheit und sorge dafür, dass Lydia richtig untergebracht wird.«

»Untergebracht wird!«, kreischte Leona. »Sie wird doch nicht etwa in Mr. ColemansWagen bleiben? Das ist unanständig.«

»Kommt, Mrs.Watkins«, sagte Hal Grayson. Er wollte möglichst bald in sein Bett zurück. Zurzeit wurde es immer früh hell, und Mrs. ColemansTod hatte dieAufbruchstimmung dieser Fahrt nachTexas empfindlich getroffen. Eigentlich lag ihm nichts an einerAnführerrolle, aber er war gewählt worden und würde sich jetzt vor einerVerantwortung nicht drücken. »Wir regeln allesWeitere morgen früh. Ich bin sicher, dass inzwischen keinAnlass zu Befürchtungen besteht.« Er zog die widerstrebende Frau energisch aus demWagen.

Als sie fort waren, sah Ma Ross Coleman an, dessen Blick mit einemAusdruck von Härte unverwandt auf das junge Mädchen gerichtet war. Ma hielt denAtem an und fragte sich, was er wohl tun würde. Bis dahin hatte sie ihn für sympathisch, ja sehr freundlich gehalten, und mit seiner Frau war er immer wie mit der Königin von Saba umgegangen.

Nur in seinenAugen lag stets einAusdruck von Unruhe, der Ma argwöhnen ließ, dass dieser Mann nicht nur das war, was er an der Oberfläche zu sein schien. Er bewegte sich ein wenig zu schnell, seineAugen schauten ein wenig zu scharf und hastig, als gehörten sie zu einem Mann, den das Leben äußerst misstrauisch gemacht hatte. ImAugenblick sah er aus wie einer, der einen inneren Kampf kämpfte, denn jeder seiner ausgeprägt starken Muskeln schien sich unter seiner Haut zu spannen.

Ross zwang seine Füße, durch denWagen auf die andere Seite zu gehen. Sein Sohn trank hungrig. Er weinte nicht mehr. Diese verkommene junge Frau, eine Fremde, hielt sein Fleisch und Blut in denArmen und stillte ihn, und er, Ross, stand einfach da und ließ es zu.Was würdeVictoria denken, wenn sie das sähe?

Ross zuckte zusammen, als er an ihren sich windenden, schwitzenden, geschwollenen Körper dachte, als er daran dachte, wie ergeben ihr letzterAtemzug geklungen hatte, als sich sein Sohn denWeg in die Freiheit bahnte. Nein, keine andere Frau, und besonders keine Frau mit lockerer Moral, würdeVictoria Gentry Colemans Sohn ernähren. Das wäre wie ein Sakrileg.Wie würde er weiterleben können, wenn er so etwas zuließ?Aber wie würde er andererseits weiterleben können, wenn sein Sohn starb, nur weil derVater auf irgendwelchen Prinzipien beharrte?

Hin- und hergerissen durch den Zwang, sich entscheiden zu müssen, ging er vor der sitzenden Lydia in die Hocke und sah zu, wie sein Sohn gierig an der vollen Brust saugte. Das Einzige, was ihre weißeVollendung unterbrach, waren die schwach bläulichenAdern, die wie Linien auf einer Landkarte von allen Seiten auf die Mitte zuliefen. DerAnblick faszinierte Ross, und er musste sich zwingen, in das Gesicht der Frau aufzusehen.

Er beobachtete, wie sich ihre Lider langsam bewegten, quälend langsam. Der dichte Schleier ihrerWimpern hob sich schließlich ganz, und er sah in ihreAugen. Sie reagierten aufeinander beide mit Überraschung und Heftigkeit, auch wenn sie sich die größte Mühe gaben, das nicht erkennen zu lassen.

Ross hatte das Gefühl, als wäre er in einem tiefen Brunnen derWeiblichkeit versunken. Sie umgab ihn, füllte seine Nüstern, seine Kehle. Lydia schien die personifizierte Sinnlichkeit, und er bemerkte, wie er sich darin suhlte und sich im Hinblick auf dieTatsache, dass seine Frau gerade erst gestorben war, dafür hasste. Er kämpfte sich zurück an die Luft.Als er wieder gleichmäßig atmen konnte, betrachtete er sie zweifelnd.

IhreAugen waren dicht von braunenWimpern mit goldenen Spitzen umgeben. Die Iris hatte den Farbton von altemWhiskey, jener teuren Sorte, die einem Mann durch die Kehle rinnt und sein Inneres wärmt wie eine Umarmung. Es war fast dieselbe ungewöhnliche Farbe wie die ihres schamlosen Haars, von dem er Schlüsse auf ihren wilden Charakter zog.

Ihre Haut war hell, wies aber deutliche Spuren von Sonneneinwirkung auf.Auf der hübsch geformten, wenn auch etwas frechen Nase tummelten sich zarte Sommersprossen. Ihr Mund machte ihm am meisten zu schaffen. Die volle Unterlippe zog seineAufmerksamkeit magisch an, und er hätte schon aus Eisen sein müssen, um dem nicht nachzugeben. Er bemühte sich auch gar nicht erst darum, sondern fixierte sie eindringlich in der Hoffnung, sie würde sich schämen angesichts der Sinnlichkeit ihres Mundes. Stattdessen schlüpfte ihre Zungenspitze hervor, um jene verführerische Lippe anzufeuchten. Ross spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte, und er zwang seinen Blick, zu ihrenAugen zurückzukehren.

Sie schien sich nicht im Geringsten dessen zu schämen, was sie war und dass sie dasaß mit einer nackten Brust, die er gemächlich betrachten könnte, was er natürlich weit von sich wies. In Erwiderung schaute auch sie ihm unverblümt ins Gesicht.Weder klapperte sie bescheiden mit denWimpern, noch senkte sie scheu den Kopf und deutete mit keiner Bewegung etwaigeVerlegenheit an.

Also war sie doch eine Hure. Eine geborene Hure. Er hatte zu viele leichte Damen gekannt, um dieAnzeichen nicht wahrzunehmen und nicht die unausgesprochen lauernde Herausforderung in ihrem Blick und das heiße Blut in ihrenAdern zu bemerken. Sie war das absolute Gegenteil seiner sanften, vollendeten LadyVictoria. Und das reichte vollkommen, dieses Mädchen zu verabscheuen.

Wenn er sie nicht so finster ansähe, hielte hingegen Lydia sein Gesicht sicher für eines der attraktivsten, das ihr je begegnet war. Fesselnd fand sie es auf jeden Fall.Als ihre Blicke sich das erste Mal trafen, hatte sie deutlich gespürt, dass ihr derAtem stockte, und sie wusste nicht, woher diese eigenartige Nervosität kam.

Er hatte eine Rasur dringend nötig, sein Kinn war mit dunklen Stoppeln bedeckt. Ein dichter schwarzer Schnurrbart bog sich über den Rändern seiner Oberlippe. Die Unterlippe war gerade und streng, während er sie jetzt mit diesem durchbohrenden grünen Blick ansah.

SeineAugen. Sie betrachtete sie eingehend. Ein solches Grün hatte sie überhaupt noch nie gesehen. Kurze schwarzeWimpern umgaben sie. Sie klebten an ein paar Stellen dunkel zusammen, und sie spürte eine heftigeVersuchung, darüberzustreichen und zu fühlen, ob sie wirklich nass waren, so wie es denAnschein hatte. Seine Brauen verliefen in einem buschigen und einschüchternden Schwung.

Mitternachtsschwarzes Haar, das auch nicht die leichtesteTönung in irgendeine andere Richtung aufhellte, fiel in welligen Strähnen und Locken über den Rand seiner Ohren und seines Kragens.

Er wirkte ungeheuer mächtig, wie er so vor ihr hockte, aber sie schaute nicht auf seinen Körper. Der Körper von Männern machte ihrAngst und stieß sie ab. Und angesichts des harten Blicks, mit dem er sie betrachtete, nahm dieseAngst auch nicht ab. Noch während sie ihn ansah, wurden seineAugen plötzlich bedrohlich schmal, als habe er vor, sie ernsthaft zur Rechenschaft zu ziehen.Wofür, kam ihr allerdings nicht in den Sinn. Ihr Blick schwankte einenAugenblick, dann senkte sie ihn wieder zu dem Säugling an ihrer Brust.

»Lydia, es ist Zeit, ihn an die andere Seite zu legen«, sagte Ma sanft und drängte sich mit ihrer ganzen Masse irgendwie zwischen Lydia und denVater des Kindes.

»Was?«, fragte die junge Frau mit belegter Stimme. Dieser Mann beunruhigte sie. Nicht so, wie es bei Clancey gewesen war, sondern auf eine andereWeise.Als er aufstand und zur Seite trat, ließ seine ungeheure Länge den freien Raum imWagen winzig erscheinen, und plötzlich empfand Lydia dieAtmosphäre als bedrohlich, und sie atmete schnell und flach wie vorher das Baby.