Kafka am Strand - Haruki Murakami - E-Book
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Kafka am Strand E-Book

Haruki Murakami

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Beschreibung

Der gefeierte Liebes- und Entwicklungsroman von Japans wichtigstem Autor: zeitlos und ortlos, voller Märchen und Mythen, zwischen Traum und Wirklichkeit – und dabei voller Weisheit. »Als mein fünfzehnter Geburtstag gekommen war, ging ich von zu Hause fort, um in einer fernen, fremden Stadt in einem Winkel einer kleinen Bibliothek zu leben.« – Es erzählt Kafka Tamura, und seine Reise führt in Wirklichkeit aus der realen Welt hinaus in sein eigenes Inneres. Eine schicksalhafte Prophezeiung, der Geschichte von Ödipus gleich, lenkt Kafkas labyrinthischen Weg. ›Kafka am Strand‹ heißt das Bild an der Wand von Saeki, der rätselhaften Leiterin jener kleinen Bibliothek. Und ›Kafka am Strand‹ heißt auch der Song aus der Zeit, als Saeki noch Pianistin war und einen jungen Mann leidenschaftlich liebte, sie waren ein Paar wie Romeo und Julia. Die Wege des Erzählers Kafka kreuzen sich auf geheimnisvolle Weise mit denen von Saeki und denen eines alten Mannes, der die Sprache der Katzen versteht und Spuren folgt, die in eine andere Welt weisen.

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»Als mein fünfzehnter Geburtstag gekommen war, ging ich von zu Hause fort, um in einer fernen, fremden Stadt in einem Winkel einer kleinen Bibliothek zu leben.«

Es erzählt Kafka Tamura, und seine Reise führt in Wirklichkeit aus der realen Welt hinaus in sein eigenes Inneres. Eine schicksalhafte Prophezeiung, der Geschichte von Ödipus gleich, lenkt Kafkas labyrinthischen Weg.

›Kafka am Strand‹  heißt das Bild an der Wand von Saeki, der rätselhaften Leiterin jener kleinen Bibliothek. Und ›Kafka am Strand‹  heißt auch der Song aus der Zeit, als Saeki noch Pianistin war und einen jungen Mann leidenschaftlich liebte. Sie waren ein Paar wie Romeo und Julia.

Die Wege des Erzählers Kafka kreuzen sich auf geheimnisvolle Weise mit denen von Saeki und denen eines alten Mannes, der die Sprache der Katzen versteht und Spuren folgt, die in eine andere Welt weisen.

© Markus Tedeskino/Ag. Focus

Haruki Murakami, 1949 in Kyoto geboren, lebte über längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont.

Ursula Gräfe, geboren 1956, hat in Frankfurt am Main Japanologie und Anglistik studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u.a. den Nobelpreisträger Kenzaburō Ōe, Yōko Ogawa und Hiromi Kawakami.

HARUKI MURAKAMI

KAFKA AM STRAND

ROMAN DUMONT

AUS DEM JAPANISCHEN VON

URSULA GRÄFE

Der Junge namens Krähe

»An Geld bist du jetzt auch irgendwie gekommen, ja?«, sagt der Junge namens Krähe in seiner üblichen, etwas schwerfälligen Sprechweise, als wäre er gerade aus dem Tiefschlaf erwacht und als funktionierten seine Sprechmuskeln noch nicht richtig. Aber das ist reine Attitüde, in Wirklichkeit ist er hellwach. Wie immer.

Ich nicke.

»Wie viel ungefähr?«

Ich überschlage die Summe noch einmal im Kopf.

»Ungefähr 400 000 Yen in bar. Außerdem kann ich noch ein bisschen mit der Karte vom Bankkonto ziehen. Natürlich wird das nicht ewig reichen, aber für den Anfang geht’s doch, oder?«

»Nicht schlecht«, sagt Krähe. »Für den Anfang …«

Ich nicke.

»Aber das ist doch nicht das Geld, das dir der Weihnachtsmann letztes Jahr gebracht hat, oder?«

»Nein«, sage ich.

Krähe verzieht ironisch die Lippen und sieht sich um. »Es stammt aus irgendjemandes Schublade hier – könnte das sein?«

Ich gebe keine Antwort. Natürlich weiß er ganz genau, woher das Geld kommt. Er braucht gar nicht so drumherum zu reden. Das tut er nur, um mich aufzuziehen.

»Schon gut«, sagt Krähe. »Du brauchst ja Geld. Dringend. Irgendwie musstest du es ja in die Finger bekommen. Leihen, erschwindeln, stehlen … egal wie. Es gehört doch sowieso deinem Vater. Für den Anfang wirst du schon zurechtkommen. Aber was gedenkst du zu tun, wenn die 400 000 aufgebraucht sind? Geld wächst nicht von alleine im Portemonnaie nach wie Pilze im Wald. Du musst essen und irgendwo schlafen. Irgendwann ist es dann alle.«

»Das überlege ich mir, wenn es so weit ist«, sage ich.

»Das überlege ich mir, wenn es so weit ist«, äfft Krähe mich nach und breitet die Handflächen aus, wie um das Gewicht meiner Worte zu ermessen.

Ich nicke.

»Zum Beispiel Arbeit suchen oder was?«

»Vielleicht.«

Krähe schüttelt den Kopf. »Dazu musst du das Leben erst mal besser kennen. Wie soll denn ein fünfzehnjähriger Junge in einer fremden Gegend einen Job finden? Du hast ja nicht mal die Schule abgeschlossen. Wer wird so jemanden schon einstellen?«

Ich erröte ein bisschen. Ich werde immer gleich rot.

»Ist ja schon gut«, sagt Krähe. »Außerdem bringt die ganze Schwarzseherei nichts, wenn man noch nicht mal angefangen hat. Du hast dich entschieden, jetzt musst du deinen Entschluss in die Tat umsetzen. Schließlich ist es dein Leben. Konkret bleibt dir nichts anderes übrig, als das zu tun, was du vorhast.«

Genau, immerhin ist das mein Leben.

»Aber vor allem musst du jetzt stark werden.«

»Ich gebe mir Mühe.«

»Stimmt«, sagt Krähe. »In den letzten Jahren bist du ganz schön kräftig geworden. Das kann ich nicht leugnen.«

Ich nicke.

»Allerdings bist du erst fünfzehn«, sagt Krähe. »Dein Leben hat, gelinde ausgedrückt, gerade erst begonnen. Die Welt ist voll von Dingen, denen du noch nie begegnet bist. Von denen du überhaupt noch keine Vorstellung hast.«

Wie üblich sitzen wir nebeneinander auf dem alten Ledersofa im Arbeitszimmer meines Vaters. Krähe schätzt diesen Raum sehr. Er liebt die kleinen Gegenstände, die es hier gibt. Gerade spielt er mit einem gläsernen Briefbeschwerer, der die Form einer Biene hat. Natürlich lässt er sich nicht blicken, wenn mein Vater zu Hause ist.

»Eins steht jedenfalls fest«, sage ich, »ich muss hier raus. Daran ist nicht zu rütteln.«

»Mag sein«, pflichtet Krähe mir bei. Er legt den Briefbeschwerer auf den Tisch und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Aber das ist keine Lösung für alles. Ich will deinen Entschluss nicht ins Wanken bringen, aber ich weiß nicht, ob du dem Ganzen wirklich entkommen kannst, auch wenn du noch so weit fährst. Du solltest dir nicht allzu viel von der Entfernung versprechen.«

Ich denke über die Entfernung nach. Krähe drückt sich seufzend die Fingerkuppen auf die Augenlider. Dann spricht er mich aus dem Dunkel seiner geschlossenen Augen an.

»Spielen wir unser Spiel?«

»Einverstanden.« Ich schließe ebenfalls die Augen und atme langsam und tief ein.

»Also gut, stell dir einen grausamen Sandsturm vor«, sagt er. »Und vergiss alles andere.«

Wie geheißen, stelle ich mir einen tobenden Sandsturm vor. Und vergesse alles andere. Sogar mich selbst. Ich werde völlig leer. Sofort taucht er vor mir auf. Wie schon so oft erleben Krähe und ich so etwas gemeinsam auf dem alten Ledersofa im Arbeitszimmer meines Vaters.

Hin und wieder hat das Schicksal Ähnlichkeit mit einem örtlichen Sandsturm, der unablässig die Richtung wechselt, erklärt mir Krähe.

HIN UND WIEDER HAT DAS SCHICKSAL ÄHNLICHKEIT MIT EINEM ÖRTLICHEN SANDSTURM, DER UNABLÄSSIG DIE RICHTUNG WECHSELT. SOBALD DU DEINE LAUFRICHTUNG ÄNDERST, UM IHM AUSZUWEICHEN, ÄNDERT AUCH DER STURM SEINE RICHTUNG, UM DIR ZU FOLGEN. WIEDER ÄNDERST DU DIE RICHTUNG. UND WIEDER SCHLÄGT DER STURM DEN GLEICHEN WEG EIN. DIES WIEDERHOLT SICH MAL FÜR MAL, UND ES IST, ALS TANZTEST DU IN DER DÄMMERUNG EINEN WILDEN TANZ MIT DEM TOTENGOTT. DIESER STURM IST JEDOCH KEIN BEZIEHUNGSLOSES ETWAS, DAS IRGENDWOHER AUS DER FERNE HERAUFZIEHT. EIGENTLICH BIST DER SANDSTURM DU SELBST. ETWAS IN DIR. ALSO BLEIBT DIR NICHTS ANDERES ÜBRIG, ALS DICH DAMIT ABZUFINDEN UND, SO GUT ES GEHT, EINEN FUSS VOR DEN ANDEREN ZU SETZEN, AUGEN UND OHREN FEST ZU VERSCHLIESSEN, DAMIT KEIN SAND EINDRINGT, UND DICH SCHRITT FÜR SCHRITT HERAUSZUARBEITEN. VIELLEICHT SCHEINT DIR AUF DIESEM WEG WEDER SONNE NOCH MOND, VIELLEICHT EXISTIERT KEINE RICHTUNG UND NICHT EINMAL DIE ZEIT. NUR WINZIGE, WEISSE SANDKÖRNER, WIE KNOCHENMEHL, WIRBELN BIS HOCH HINAUF IN DEN HIMMEL. SO SIEHT DER SANDSTURM AUS, DEN ICH MIR VORSTELLE.

Ich stelle mir diesen Sandsturm vor. Eine bleiche Windhose steigt in den Himmel wie ein dickes gerades Seil. Mit beiden Händen halte ich mir Augen und Ohren zu, damit die winzigen Sandkörner nicht in meinen Körper eindringen. Der Sandsturm rast auf mich zu, sodass ich den Luftdruck schon von weitem auf meiner Haut spüren kann. Schon droht er, mich zu verschlingen.

Nach einer Weile legt Krähe sacht seine Hand auf meine Schulter. Der Sandsturm verebbt, doch ich halte die Augen weiter geschlossen.

»Von nun an musst du der stärkste fünfzehnjährige Junge auf der Welt werden. Komme, was wolle. Eine andere Überlebenschance hast du nicht. Du musst begreifen, was Stärke wirklich bedeutet. Verstehst du?«

Ich antworte nicht. Am liebsten würde ich, seine Hand auf meiner Schulter, behaglich einschlafen. Ich spüre einen sanften Flügelschlag an meinem Ohr.

»Von nun an wirst du zum stärksten Fünfzehnjährigen der Welt«, sagt Krähe mir noch einmal leise ins Ohr, während ich schon in den Schlaf hinübergleite. Doch seine Worte sind mir wie mit dunkelblauen Zeichen ins Herz tätowiert.

NATÜRLICH KOMMST DU DURCH. DURCH DIESEN TOBENDEN SANDSTURM. DIESEN METAPHYSISCHEN, SYMBOLISCHEN SANDSTURM. DOCH AUCH WENN ER METAPHYSISCH UND SYMBOLISCH IST, WIRD ER DIR WIE MIT TAUSEND RASIERKLINGEN DAS FLEISCH AUFSCHLITZEN. DAS BLUT VIELER MENSCHEN WIRD FLIESSEN, AUCH DEIN EIGENES. WARMES, ROTES BLUT. DU WIRST DIESES BLUT MIT BEIDEN HÄNDEN AUFFANGEN. ES IST DEIN BLUT UND DAS DER VIELEN.

UND WENN DER SANDSTURM VORÜBER IST, WIRST DU KAUM BEGREIFEN KÖNNEN, WIE DU IHN DURCHQUERT UND ÜBERLEBT HAST. DU WIRST AUCH NICHT SICHER SEIN, OB ER WIRKLICH VORÜBER IST. NUR EINS IST SICHER. DERJENIGE, DER AUS DEM SANDSTURM KOMMT, IST NICHT MEHR DERJENIGE, DER DURCH IHN HINDURCHGEGANGEN IST. DARIN LIEGT DER SINN EINES SANDSTURMS.

Als mein fünfzehnter Geburtstag gekommen war, ging ich von zu Hause fort, um in einer fernen, fremden Stadt in einem Winkel einer kleinen Bibliothek zu leben.

Um alles der Reihe nach zu erzählen, brauche ich wahrscheinlich eine Woche. Auch nur die wichtigsten Punkte aufzuführen, würde ungefähr genauso lange dauern. ALS MEIN FÜNFZEHNTER GEBURTSTAG GEKOMMEN WAR, GING ICH VON ZU HAUSE FORT, UM IN EINER FERNEN, FREMDEN STADT IN EINEM WINKEL EINER KLEINEN BIBLIOTHEK ZU LEBEN. Das klingt vielleicht wie der Beginn eines Märchens. Aber es ist kein Märchen. In keinem Sinne.

1

Als ich fortgehe, nehme ich nicht nur ohne zu fragen Geld aus dem Arbeitszimmer meines Vaters, sondern auch ein kleines goldenes Feuerzeug (dessen Design und Gewicht mir gefallen) und ein Klappmesser mit einer scharfen Schneide. Es dient zum Häuten von Wild und liegt gut und schwer in der Hand. Die Klinge ist zwölf Zentimeter lang. Vielleicht ein Souvenir von einer Auslandsreise. Außerdem nehme ich noch eine starke Taschenlampe aus der Schreibtischschublade. Und seine Sonnenbrille brauche ich, um mein Alter zu kaschieren. Eine dunkelblaue Rebo-Sonnenbrille.

Ich überlege, ob ich auch die geliebte Sea-Oyster-Rolex meines Vaters mitnehmen soll, entscheide mich aber am Ende dagegen. Die Schönheit der Uhr als Maschine verlockt mich, aber ein so kostspieliges Ding kann unnötige Aufmerksamkeit erregen. Vom praktischen Standpunkt genügt die Plastik-Casio mit Stoppuhr und Wecker, die ich ständig am Arm trage. Sie ist auch leichter zu bedienen. Ich lege die Rolex wieder in die Schublade zurück.

Des weiteren stecke ich ein Kinderfoto von mir und meiner älteren Schwester ein, das sich ebenfalls in der Schreibtischschublade befindet. Wir beide stehen an einem Strand und lachen vergnügt. Meine Schwester schaut zur Seite, und die eine Hälfte ihres Gesichts liegt im Schatten. Deshalb erscheint es wie in der Mitte geteilt. Wie eine griechische Theatermaske, von der ich ein Bild in einem Schulbuch gesehen habe, trägt ihr Gesicht zwei Bedeutungen. Licht und Schatten. Hoffnung und Verzweiflung. Lachen und Trauer. Vertrauen und Einsamkeit. Ich hingegen blicke unbefangen direkt in die Kamera. Außer uns beiden ist an dem Strand niemand zu sehen. Wir haben Schwimmkleidung an, meine Schwester einen rot geblümten Badeanzug und ich eine schäbige, blaue, ausgeleierte Badehose. Ich halte etwas in der Hand, das aussieht wie ein Plastikstock. Der weiße Schaum der Wellen umspült unsere Füße.

Wer wohl dieses Foto wo und wann aufgenommen hat? Warum mache ich ein so vergnügtes Gesicht? Warum hat mein Vater gerade dieses Foto aufbewahrt? Rätsel über Rätsel. Ich bin wahrscheinlich drei und meine Schwester ungefähr neun. Offensichtlich haben wir uns sehr gut verstanden. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an einen Familienausflug ans Meer. Überhaupt erinnere ich mich nicht daran, jemals irgendwohin gefahren zu sein. Keinesfalls will ich meinem Vater die alte Fotografie lassen, also stecke ich sie in meine Brieftasche. Von meiner Mutter gibt es keine Aufnahmen. Wahrscheinlich hat mein Vater sie alle weggeworfen.

Nach kurzem Zögern beschließe ich, auch das Mobiltelefon mitzunehmen. Wahrscheinlich wird mein Vater, wenn er sein Fehlen bemerkt, den Vertrag mit der Telefongesellschaft sowieso gleich kündigen. Es wäre dann zu nichts mehr nütze. Dennoch packe ich es in meinen Rucksack. Das Ladegerät nehme ich auch mit. Immerhin ist das Zeug leicht. Wenn ich merke, dass das Handy tot ist, kann ich es immer noch wegwerfen.

Ich will nur das Allernotwendigste mitnehmen. Am schwierigsten ist die Kleiderfrage. Wie viel Unterwäsche werde ich brauchen? Wie viele Pullover? Hemden, Hosen, Handschuhe, Schal, Shorts, einen Mantel? Nachdem ich einmal angefangen habe, darüber nachzudenken, wird die Liste immer länger. Eins ist jedoch klar: Schleppe ich zu viel mit mir herum, wird man mir den Ausreißer gleich ansehen. So kann ich nicht in einer fremden Gegend herumlaufen, ohne sofort Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Dann werde ich von der Polizei aufgegriffen und postwendend nach Hause zurückgeschickt. Oder ich falle irgendwelchen Finsterlingen in die Hände.

Lieber nicht in eine kalte Gegend fahren, ist meine nächste Schlussfolgerung. Ganz einfach. Also begebe ich mich eben in wärmere Gefilde.

Dann brauche ich auch keinen Mantel. Handschuhe auch nicht. Wenn ich mich nicht vor Kälte schützen muss, reduziert sich die Menge der notwendigen Kleidungsstücke um die Hälfte. Ich wähle möglichst leichte, dünne Sachen, die sich problemlos waschen lassen und schnell trocknen, und stopfe sie klein gefaltet in den Rucksack. Außer den Sachen zum Anziehen nehme ich meinen Drei-Jahreszeiten-Schlafsack mit, den ich so fest zusammenrolle, dass keine Luft mehr darin ist, einen einfachen Waschbeutel, ein Regencape, Heft und Kugelschreiber, einen Mini-Discman von Sony, mit dem man aufnehmen kann, zehn CDs (Musik brauche ich unbedingt) und einen Extrasatz aufladbare Batterien. Auf einen Campingkocher verzichte ich. Zu schwer und zu sperrig. Lebensmittel kann ich im Supermarkt kaufen. Es dauert eine Weile, bis die Liste der Dinge, die ich mitnehmen werde, auf eine annehmbare Länge geschrumpft ist. Ein ums andere Mal schreibe ich Dinge dazu, bloß um sie wieder zu streichen.

Mein fünfzehnter Geburtstag erscheint mir als ein passender Zeitpunkt für meine Flucht. Davor ist es zu früh, danach vielleicht zu spät.

In den zwei Jahren, die ich bis jetzt auf der Mittelschule bin, habe ich intensiv für diesen Tag trainiert. Seit der Grundschule bin ich in einem Judo-Verein, den ich auch als Mittelschüler weiter besuche. An den sportlichen Aktivitäten in meiner Schule nehme ich allerdings nicht teil. Wenn ich Zeit habe, drehe ich einsame Runden auf dem Sportplatz, schwimme oder treibe Kraftsport an den Geräten im kommunalen Turnverein. Die jungen Trainer dort zeigen mir, wie man richtig dehnt und an den Geräten arbeitet. Wie kann ich die Leistung aller meiner Muskeln gleichmäßig steigern? Welche Muskeln benutze ich im täglichen Leben und welche kann ich nur durch Kraftsport aufbauen? Was ist die korrekte Haltung auf den Bänken? Glücklicherweise bin ich von Natur aus groß, und dank meines täglichen Trainings habe ich breite Schultern und einen muskulösen Brustkorb entwickelt. Fremde würden mich mittlerweile wahrscheinlich auf mindestens siebzehn schätzen. Mit der äußeren Erscheinung eines Fünfzehnjährigen bekäme ich garantiert überall Probleme.

Außer mit den Trainern im Sportverein und der Haushaltshilfe, die jeden zweiten Tag zu uns kommt und ein paar beiläufige Worte mit mir wechselt, sowie bei ein paar unvermeidlichen Gesprächen in der Schule rede ich mit fast niemandem. Meinen Vater bekomme ich seit eh und je nur selten zu Gesicht. Obwohl wir in einem Haus leben, haben wir einen sehr unterschiedlichen Lebensrhythmus. Mein Vater ist fast den ganzen Tag in seinem Atelier. Unnötig zu erwähnen, dass ich stets darauf bedacht bin, ihm so wenig wie möglich zu begegnen.

Die Schule, auf die ich gehe, ist eine Privatschule, die zum Großteil von Kindern aus besseren oder zumindest wohlhabenden Familien besucht wird. Solange man keinen allzu großen Unsinn fabriziert, kann man sie bis zum Abitur besuchen. Alle dort haben gerade Zähne, sind adrett gekleidet und reden langweiliges Zeug. Natürlich bin ich in meiner Klasse bei keinem beliebt. Um mich herum habe ich eine hohe Mauer gezogen, hinter der ich mich verschanze. Anderen verweigere ich jeden Zutritt. So einen mag natürlich niemand. Meine Mitschüler meiden mich und betrachten mich mit Argwohn. Oder sie finden mich unangenehm oder fürchten sich vielleicht sogar ab und zu vor mir. Aber eigentlich bin ich fast dankbar, wenn niemand mich beachtet. Denn das, was ich allein tun muss, türmt sich vor mir auf wie ein Berg. Meine Freizeit verbringe ich in der Schulbibliothek, wo ich ein Buch nach dem anderen verschlinge.

Dem Unterricht hingegen folge ich mit großem Eifer, denn das hat mir Krähe besonders ans Herz gelegt.

WAHRSCHEINLICH BIST DU DER ANSICHT, DASS DAS WISSEN UND DIE FÄHIGKEITEN, DIE AN DER MITTELSCHULE GELEHRT WERDEN, DIR FÜR DEIN GEGENWÄRTIGES LEBEN NICHTS NÜTZEN. UND DASS DIE MEISTEN DEINER LEHRER VOLLTROTTEL SIND. KANN ICH VERSTEHEN. DU HAST SOGAR RECHT, ABER: DU WIRST VON ZU HAUSE FORTGEHEN. DESHALB SOLLTEST DU, SOLANGE SICH DIR NOCH DIE GELEGENHEIT BIETET, SICHERHEITSHALBER SO VIEL STOFF ABSPEICHERN, WIE DU KANNST, OB ES DIR NUN GEFÄLLT ODER NICHT. WIE LÖSCHPAPIER AUFSAUGEN. WAS DU DAVON BEHÄLTST UND WAS DU VERWIRFST, KANNST DU SPÄTER IMMER NOCH ENTSCHEIDEN.

Ich folge seinem Rat. (In der Regel pflege ich Krähes Ratschlägen zu gehorchen.) Ich konzentriere mich, spitze die Ohren, und mein Gehirn saugt wie ein Schwamm alles auf, was im Unterricht gesagt wird. Dadurch gelingt es mir, in der kurzen Zeit der Schulstunden alles zu begreifen, sodass meine Leistungen in den Klassenarbeiten stets zu den besten gehören, obwohl ich außerhalb der Schule so gut wie nie lerne.

Meine Muskeln werden hart wie Stahl, und ich werde immer wortkarger. Ich versuche, mein Mienenspiel beherrschen zu lernen, damit meine Lehrer und Mitschüler mir keine meiner Gefühlsregungen und Gedanken vom Gesicht ablesen können. Bald werde ich die unbarmherzige, grausame Welt der Erwachsenen betreten und dort ganz auf mich gestellt überleben müssen. Deshalb muss ich zäher und stärker werden als alle anderen.

Im Spiegel sehe ich, dass meine Augen kalt glänzen wie die einer Eidechse und dass mein Gesichtsausdruck immer versteinerter und unnahbarer wird. Auch wenn ich darüber nachdenke, kann ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gelacht habe. Oder gelächelt. Nicht einmal für mich selbst.

Doch nicht immer gelingt es mir, meine stumme Isolation zu verteidigen. Der hohe Schutzwall, der mich umgibt, kommt leicht zum Einsturz. Das geschieht nicht oft, aber doch hin und wieder. Unerwartet fällt die Mauer, sodass ich der Welt nackt gegenüberstehe. In solchen Fällen überkommt mich Verwirrung. Grauenhafte Verwirrung. Und dazu kommt noch die Prophezeiung. Ständig lauert sie in mir wie ein dunkles, trübes Gewässer.

STÄNDIG LAUERT DIE PROPHEZEIUNG WIE EIN DUNKLES, TRÜBES GEWÄSSER.

NOCH LAUERT SIE HEIMLICH AN IRGENDEINER UNBEKANNTEN STELLE. ABER WENN DIE ZEIT KOMMT, WIRD SIE LAUTLOS ÜBERFLIESSEN, DEINE ZELLEN EINE NACH DER ANDEREN KALT DURCHDRINGEN, UND DU WIRST IN DEM GEFÜHL, GLEICH IN DIESER GRAUSAMEN FLUT ZU ERTRINKEN, NACH LUFT RINGEN. AN EINEM LUFTSCHACHT AN DER DECKE WIRST DU KLEBEN UND IN PANIK NACH DER FRISCHEN LUFT IM FREIEN SCHNAPPEN. ABER DIE LUFT, DIE DU EINSAUGST, IST HEISS UND TROCKEN UND VERBRENNT DIR DIE KEHLE MIT IHRER HITZE. MIT VEREINTEN KRÄFTEN FALLEN DIE EXTREME WASSER UND TROCKENHEIT, KÄLTE UND HITZE GLEICHZEITIG ÜBER DICH HER.

AUF DER GANZEN WEITEN WELT FINDET SICH NIRGENDS EIN ORT, DER DIR ZUFLUCHT BIETEN KANN – OBWOHL SCHON DAS KLEINSTE ECKCHEN GENÜGEN WÜRDE. SUCHST DU DIE STIMME DER PROPHEZEIUNG, HERRSCHT NUR TIEFES SCHWEIGEN. DOCH KAUM SUCHST DU DAS SCHWEIGEN, DRÖHNT SIE UNABLÄSSIG. ALS HÄTTE JEMAND AUF EINEN GEHEIMEN, IN DEINEM KOPF VERSTECKTEN KNOPF GEDRÜCKT.

DEIN HERZ GLEICHT EINEM GROSSEN, VON LANGEM REGEN ANGESCHWOLLENEN FLUSS. ALLE ORIENTIERUNGSPUNKTE SIND RESTLOS IN SEINEN FLUTEN VERSCHWUNDEN, VIELLEICHT SCHON AN IRGENDEINEN DUNKLEN ORT DAVONGESCHWEMMT. IMMERFORT PRASSELT DER REGEN AUF DEN FLUSS. UND SOOFT DU IN DEN NACHRICHTEN EINE ÜBERFLUTETE LANDSCHAFT SIEHST, DENKST DU: JA, GENAUSO SIEHT ES IN MEINEM HERZEN AUS.

Bevor ich von zu Hause fortlaufe, wasche ich mir Gesicht und Hände mit Seife. Ich schneide mir die Nägel, säubere mir die Ohren und putze mir die Zähne. Ich nehme mir Zeit für eine möglichst gründliche Reinigung. Sauberkeit ist manchmal wichtiger als alles andere. Anschließend betrachte ich mein Gesicht aufmerksam im Badezimmerspiegel. Das Gesicht, das mein Vater und meine Mutter – wenngleich ich nicht die geringste Erinnerung an meine Mutter habe – mir vererbt haben. Ich kann jeden Ausdruck daraus verbannen, das Leuchten in meinen Augen abtöten, Muskeln aufbauen, soviel ich will, das Gesicht selbst kann ich nicht verändern. Sosehr ich es mir auch wünsche, die dunklen, langen Brauen mit der tiefen Kerbe dazwischen, die ich von meinem Vater habe, kann ich nicht loswerden. Wenn ich wollte, könnte ich meinen Vater töten (mit der Kraft, die ich inzwischen besitze, wäre das keine Schwierigkeit) und die Mutter aus meinem Gedächtnis streichen, aber ihre Gene in mir kann ich nicht löschen. So wenig wie ich mich selbst aus mir vertreiben kann.

Und dann ist da noch die Prophezeiung. Wie ein innerer Mechanismus ist sie mir einprogrammiert.

MIR EINPROGRAMMIERT WIE EIN MECHANISMUS. Ich mache das Licht aus und verlasse das Badezimmer.

Im Haus herrscht eine schwere, drückende Stille. Sie besteht aus dem Flüstern von Menschen, die nicht existieren, dem Atem von Menschen, die nicht leben. Ich sehe mich um, bleibe stehen und hole tief Luft. Die Zeiger der Uhr stehen auf kurz nach drei Uhr nachmittags. Sie wirken schrecklich kalt und distanziert. Unparteiisch zwar, aber eben doch nicht auf meiner Seite. Allmählich wird es Zeit, diesen Ort hinter mir zu lassen. Ich schultere meinen kleinen Rucksack. Obwohl ich ihn immer wieder probeweise aufgesetzt habe, fühlt er sich auf einmal viel schwerer an als vorher.

Als Reiseziel habe ich Shikoku gewählt. Nicht, dass es einen bestimmten Grund für mich gibt, nach Shikoku zu fahren. Aber als ich den Atlas aufschlage, habe ich irgendwie das Gefühl, dass ich mich dorthin wenden sollte. Je öfter ich darauf schaue, umso mehr zieht die Gegend mich an. Shikoku liegt viel südlicher als Tokio, ist von Honshu durch das Meer getrennt und hat ein mildes Klima. Ich war noch nie auf Shikoku und habe dort weder Bekannte noch Verwandte. Schon deshalb wird es unmöglich sein, mich dort aufzuspüren, selbst wenn jemand sich tatsächlich auf die Suche nach mir begeben sollte (womit ich jedoch nicht rechne).

Am Schalter kaufe ich mir eine Fahrkarte für einen reservierten Platz und steige in den Nachtbus – die billigste Möglichkeit, nach Takamatsu zu kommen. Das Ticket kostet etwas über 10 000 Yen. Niemand nimmt von mir Notiz. Keiner fragt nach meinem Alter oder schaut sich mein Gesicht an. Mit dienstlicher Miene kontrolliert der Fahrer mein Ticket, mehr nicht.

Der Bus ist nur zu etwa einem Drittel besetzt. Da die Mehrzahl der Passagiere wie ich allein unterwegs ist, herrscht im Bus eine etwas unnatürliche Stille. Die Reise nach Takamatsu ist ziemlich weit. Dem Fahrplan zufolge dauert sie ungefähr zehn Stunden. Ankunft ist in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Aber Zeit spielt sowieso keine Rolle für mich. Zeit habe ich jetzt, soviel ich will. Als der Bus kurz nach acht Uhr abfährt, lehne ich mich in meinen Sitz zurück und schlafe auf der Stelle ein, als habe man mir die Batterie herausgenommen.

Vor Mitternacht beginnt es plötzlich stark zu regnen. Von Zeit zu Zeit wache ich auf und schaue zwischen den billigen Vorhängen hindurch auf die nächtliche Schnellstraße. Der heftig gegen die Scheiben prasselnde Regen lässt das Licht der Straßenlaternen verschwimmen, die sich in regelmäßiger Abfolge am Rand entlangziehen, soweit das Auge reicht. Ein neues Licht wird eingeholt, wird schon im nächsten Augenblick zum alten Licht, um dann unwiderruflich auf der Strecke zu bleiben. Ehe ich mich versehe, ist es zwölf Uhr vorbei. Automatisch, wie von hinten angeschoben, ist mein fünfzehnter Geburtstag da.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagt Krähe.

»Danke.«

Wie ein Schatten verfolgt mich die Prophezeiung. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass meine Mauer nicht eingestürzt ist, ziehe ich den Vorhang zu und schlafe weiter.

2

Bei folgendem Dokument handelt es sich um eine vom amerikanischen Verteidigungsministerium als »streng geheim« eingestufte Verschlusssache, die 1986 gemäß dem Informationsgesetz der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Die Akte ist im amerikanischen Staatsarchiv (NARA) in Washington einsehbar.

Die hier dokumentierten Untersuchungen wurden zwischen März und April 1946 vom Heeresnachrichtendienst unter der Leitung von Mayor James P. Warren durchgeführt. Leutnant Robert O’Connell und Feldwebel Harold Katayama nahmen in der Präfektur Yamanashi Nachforschungen vor Ort vor. Sämtliche Befragungen oblagen Robert O’Connell; die Übersetzungen fertigte Feldwebel Katayama an. Zuständig für die Niederschrift der Dokumente war der Gemeine William Cohn.

Die Interviews wurden über einen Zeitraum von zwölf Tagen im Konferenzsaal des Rathauses von ** in der Präfektur Yamanashi durchgeführt. Eine Lehrerin der Volksschule von **, ein ortsansässiger Arzt, zwei dort stationierte Polizeibeamte und sechs Schüler antworteten getrennt auf O’Connells Fragen.

Die beigefügten Karten im Maßstab 1:10 000 und 1:2 000 wurden vom Amt für Kartographie des Innenministeriums erstellt.

Bericht des amerikanischen Informationsministeriums (MIS)

Datum: 12. Mai 1946

Titel: RICE BOWL HILL INCIDENT, 1944: Report

Archivnummer: PTYX-722-8936745-42213-WWN

Befragung von Frau Setsuko Okamochi (26), zum Zeitpunkt des Vorfalls Lehrerin der vierten Klasse an der Volksschule von **. Es wurde eine Tonbandaufnahme gemacht. Das zu diesem Protokoll gehörige Zusatzmaterial verfügt über die Nummern PTYX-722-SQ-118 bis 122.

Bemerkungen von Leutnant Robert O’Connell: »Setsuko Okamochi ist eine zierliche Frau mit angenehmen Gesichtszügen. Ihre Antworten zeichnen sich durch Intelligenz und Verantwortungsbewusstsein aus und sind präzise und wahrheitsgetreu. Offenbar hat sie durch das Erlebnis einen erheblichen Schock davongetragen, dessen Nachwirkungen noch andauern. Beim Rekapitulieren des Vorfalls wurde eine nervöse Anspannung erkennbar, durch die ihre Sprechweise sich verlangsamte.«

Ich glaube, es geschah kurz nach zehn Uhr am Vormittag. Hoch am Himmel blitzte etwas Silbriges auf, etwas hellglänzendes Silbriges. Ja, es handelte sich zweifellos um eine Lichtreflexion auf Metall. Das Glänzen hielt verhältnismäßig lange an und bewegte sich langsam von Ost nach West über den Himmel. Ich tippte auf eine B-29. Es war genau über uns, und wir mußten gerade nach oben schauen. Der Himmel war sehr hell, und das Licht blendete, so daß ich nur diesen Duralumin-ähnlichen, silbernen Glanz erkennen konnte. Jedenfalls war es so hoch, daß keine Form erkennbar war. Und daß wir von dort oben auch nicht gesehen werden konnten. Deshalb hatten wir auch keine Angst, und ich machte mir keine Sorgen, daß plötzlich eine Bombe vom Himmel fallen würde. Was hätte ein Bombenangriff mitten in den Bergen denn auch bewirken sollen? Ich überlegte, ob das Flugzeug vielleicht zur Bombardierung einer größeren Stadt unterwegs war oder sich bereits auf dem Rückflug von einem Angriff befand. Nicht besonders beunruhigt setzten wir daher unseren Weg fort. Eigentlich hatte uns die seltsame Schönheit dieses Lichts sogar gefallen.

Armeedokumenten zufolge überflog zu diesem Zeitpunkt, nämlich am 7. November 1944 gegen zehn Uhr vormittags, kein amerikanischer Bomber oder überhaupt ein Flugzeug die Region.

Aber alle sechzehn Kinder, die bei mir waren, und ich haben es deutlich gesehen und hielten es für eine B-29. Wir hatten schon viele B-29-Formationen zu Gesicht bekommen, und ein Flugzeug, das so hoch flog, kann nur eine B-29 gewesen sein. In der Präfektur gab es zwar eine kleine Fliegerbasis, und wir hatten auch manchmal japanische Flugzeuge gesehen, aber sie waren alle klein und hätten nie eine solche Höhe erreichen können. Dieser Aluminium-Glanz, der sich von dem anderer Metalle unterscheidet, war außerdem typisch für die B-29. Was mich ein bißchen wunderte, war, daß es sich nicht um ein Geschwader, sondern nur um eine einzelne Maschine handelte.

Sie stammen aus dieser Gegend?

Nein. Ich bin in der Präfektur Hiroshima geboren. Nach meiner Hochzeit Showa 16 [1931] kam ich hierher, weil mein Mann an der hiesigen Mittelschule als Musiklehrer beschäftigt war. Aber Showa 18 wurde er eingezogen und ist im Juni Showa 20 im Kampf um Luzon gefallen. Er bewachte ein Munitionsdepot in einem Vorort von Manila, das von den Amerikanern bombardiert wurde und in Brand geriet. Dabei ist er umgekommen, habe ich gehört. Kinder hatten wir keine.

Wie viele Schüler nahmen damals an dem Ausflug teil?

Insgesamt sechzehn. Außer zweien, die krank waren, die ganze Klasse. Acht Jungen und acht Mädchen. Fünf von ihnen waren aus Tokio evakuiert.

Morgens gegen neun waren wir mit Thermosflaschen und Proviant von der Schule zu unserem »Freiluftunterricht« aufgebrochen. Zumindest nannte man es damals Freiluftunterricht, aber eigentlich war damit kein besonderer Unterricht verbunden. Hauptziel war es, in den Wäldern Pilze oder eßbare Kräuter zu suchen. Dank der vielen Landwirtschaft in unserer Gegend waren Nahrungsmittel nicht ganz so knapp, aber doch keinesfalls reichlich vorhanden. Die Zwangsabgaben waren ziemlich hoch, und der größere Teil der Einwohner war chronisch unterernährt.

So wurden auch die Kinder dazu angehalten, nach Eßbarem zu suchen. In den damaligen Notzeiten kam der normale Unterricht zugunsten solcher Ausflüge öfter zu kurz, denn in der Umgebung der Schule gab es Natur und für den »Freiluftunterricht« geeignete Plätze in Hülle und Fülle. So gesehen hatten wir noch Glück. In den Städten mußten alle hungern. Zu der Zeit war der Nachschub aus Taiwan und vom Festland völlig zusammengebrochen, und in den städtischen Regionen herrschte kritischer Nahrungs- und Brennstoffmangel.

In der Klasse waren also fünf Kinder, die man aus Tokio evakuiert hatte. Vertrugen sie sich mit den einheimischen Kindern?

In meiner Klasse lief es im großen und ganzen gut. Natürlich ist es ein großer Unterschied, ob man auf dem Land oder mitten in Tokio aufwächst. Die Kinder unterschieden sich der Sprache und auch der Kleidung nach. Während die Mehrzahl der einheimischen Kinder aus armen Bauernfamilien stammten, waren die Eltern der meisten Kinder aus Tokio Angestellte oder Beamte. Daher kann man eigentlich nicht sagen, daß sie sich richtig verstanden.

Besonders zu Anfang herrschte eine angespannte Atmosphäre zwischen den beiden Gruppen. Nicht mal, daß sie sich stritten oder gegenseitig ärgerten, sie konnten nur so gar nichts miteinander anfangen. Also blieben die einheimischen Kinder unter sich und die Kinder aus Tokio auch. Aber nach etwa zwei Monaten hatten sie sich aneinander gewöhnt. Wenn Kinder einmal ins Spiel vertieft sind, verschwinden die Barrieren von Kultur und Herkunft ganz automatisch.

Bitte beschreiben Sie möglichst ausführlich den Ort, an den Sie die Kinder an jenem Tag führten.

Es ist ein kleiner Berg, auf den wir häufiger Ausflüge unternahmen. Er hat eine runde Form, wie eine umgedrehte Reisschale, und wir nennen ihn deshalb im allgemeinen den Reisschalenberg. Er ist nicht besonders steil, so daß jeder ihn leicht besteigen kann. Von der Schule muß man ein Stück nach Westen gehen. Mit Kindern braucht man etwa zwei Stunden bis zur Kuppe. Unterwegs sammelten wir im Wald Pilze und hielten ein einfaches Picknick ab. Den Kindern machte dieser »Freiluftunterricht« ohnehin mehr Spaß als der reguläre Unterricht im Klassenzimmer.

Das glänzende flugzeugähnliche Ding hoch am Himmel rief uns zwar den Krieg wieder ins Gedächtnis, aber nur kurz, denn insgesamt waren wir sehr guter Stimmung und vergnügt. Kein Wölkchen stand am Himmel, kein Lüftchen wehte, es war ruhig. Außer Vogelgezwitscher war nichts zu hören. Inmitten dieser Ruhe erschien mir der Krieg unendlich fern, als hätte er gar nichts mit uns zu tun. Singend wanderten wir den Bergpfad hinauf. Ab und zu ahmten wir die Vogelstimmen nach. Abgesehen davon, daß noch Krieg herrschte, war es ein herrlicher, man könnte sagen, vollkommener Morgen.

Bald nachdem Sie das flugzeugähnliche Gebilde gesehen hatten, betraten Sie alle den Wald, nicht wahr?

Ja. Als wir in den Wald kamen, waren etwa fünf Minuten vergangen, glaube ich, seit wir das Flugzeug gesehen hatten. Wir verließen den Bergpfad und schlugen einen Weg ein, der sich am Hang hinauf durch den Wald zieht. Ein Stück geht es ziemlich steil bergauf. Nach zehn Minuten Anstieg öffnet sich der Wald zu einer großen Lichtung. Sie ist hübsch plan, wie ein Tisch. Wenn man in den Wald kommt, wird es plötzlich sehr still, das Licht der Sonne wird abgehalten, und die Luft ist kühl. Doch auf der Lichtung wird es wieder hell, und sie liegt wie ein kleiner Marktplatz da. Wenn ich mit meiner Klasse auf den Reisschalenberg stieg, suchten wir häufig diese Lichtung auf. Aus irgendeinem Grund vermittelt sie ein beruhigendes und anheimelndes Gefühl.

Auf dem »Platz« angekommen, machten wir Rast, legten unser Gepäck ab und machten uns in Dreier- oder Vierergrüppchen ans Pilzesammeln. Ich hatte es zur Regel gemacht, daß niemand sich außer Sichtweite entfernen durfte. Ich sammelte die Kinder um mich und schärfte ihnen die Regel nochmals ein. Auch wenn sie sich im Wald gut auskannten, konnten sie sich doch verlaufen. Immerhin waren es kleine Kinder. Ins Pilzesammeln vertieft, konnten sie eine Regel leicht vergessen. Deshalb zählte ich, während ich selber Pilze suchte, immer wieder nach, ob noch alle da waren.

Wir waren etwa seit zehn Minuten dabei, auf der Lichtung nach Pilzen zu suchen, als die Kinder nacheinander ohnmächtig wurden.

Als ich die ersten drei am Boden liegen sah, vermutete ich zunächst, sie hätten giftige Pilze gegessen. In dieser Gegend wachsen viele lebensgefährliche Giftpilze. Die einheimischen Kinder können sie zwar unterscheiden, aber Verwechslungsmöglichkeiten bestehen dennoch. Aus diesem Grund hatte ich ihnen strengstens eingeschärft, nichts in den Mund zu nehmen, bis wir wieder in der Schule waren und ein Fachmann die Pilze sortiert hatte. Aber vielleicht hatten das nicht alle Kinder mitbekommen.

Ich eilte an die Seite der Kinder und hob sie der Reihe nach auf. Ihre Körper waren schlaff wie Gummi, der in der Sonne weich geworden ist. Alle Kraft schien aus ihnen gewichen, es war, als hielte ich leere Hülsen im Arm. Ihr Atem ging jedoch regelmäßig. Ich fühlte ihren Puls, und auch der war normal. Fieber hatten sie ebenfalls keins. Ihre Mienen waren friedlich, sie sahen nicht aus, als ob sie litten. Anscheinend waren sie weder von Bienen gestochen noch von Schlangen gebissen worden. Sie waren nur bewußtlos.

Das Seltsamste allerdings waren ihre Augen. Zwar lagen die Kinder reglos da, wie in einem Koma vielleicht, aber ihre Augen waren nicht geschlossen. Sie waren ganz normal geöffnet und schienen irgend etwas zu beobachten. Hin und wieder blinzelten sie sogar. Damit war auch ausgeschlossen, daß sie schliefen. Ihre Augäpfel bewegten sich langsam und ruhig von rechts nach links, als ob sie irgendeine ferne Szenerie von einem Ende zum anderen betrachteten. In ihrem Blick lag Erkennen. Doch in Wirklichkeit schienen sie nichts wahrzunehmen, zumindest nichts, was sich direkt vor ihren Augen abspielte, denn als ich mit meiner Hand davor herumwedelte, zeigten sie keine Reaktion.

Alle drei Kinder, die ich hoch hob, zeigten die gleichen Symptome. Sie waren ohne Bewußtsein und bewegten ihre offenen Augen langsam hin und her. Ein unheimlicher Anblick.

Welche Kinder wurden als erste bewußtlos?

Alle drei waren Mädchen. Drei Freundinnen. Ich rief sie laut beim Namen und schlug ihnen der Reihe nach auf die Wangen. Ziemlich fest. Doch sie reagierten nicht. Offenbar spürten sie nichts. Meine Handfläche fühlte sich sehr sonderbar an, als hätte ich auf etwas Hartes, Lebloses und Leeres geschlagen.

Ich beschloß, ein Kind zur Schule rennen zu lassen, denn allein hätte ich es niemals geschafft, drei Kinder den Berg hinunterzutragen. Also stand ich auf, um mich nach dem schnellsten Jungen in der Klasse umzuschauen. Dabei entdeckte ich, daß alle anderen Kinder ebenfalls ohnmächtig geworden waren. Ausnahmslos alle sechzehn lagen bewußtlos am Boden. Ich war die einzige, die noch stand und bei Bewußtsein war. Es war wie … auf einem Schlachtfeld.

Haben Sie zu diesem Zeitpunkt etwas Außergewöhnliches am Ort des Geschehens bemerkt? Beispielsweise einen Geruch, ein Geräusch oder ein Licht?

(Überlegt eine Weile.) Nein, wie ich schon sagte, die Umgebung war sehr ruhig, geradezu der Inbegriff von Ruhe und Frieden. Ich habe weder ein Geräusch, ein Licht oder einen Geruch oder sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt. Abgesehen davon, daß meine gesamte Schulklasse das Bewußtsein verloren hatte. Mir war, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt, der noch auf beiden Beinen stand. Ich verspürte schreckliche Einsamkeit, eine Einsamkeit, die ich mit nichts vergleichen kann. Ich fühlte mich, als wollte ich mich, ohne an etwas zu denken, in Luft auflösen.

Aber als Lehrerin hatte ich natürlich die Verantwortung. Also riß ich mich sogleich wieder zusammen und rannte, mich fast überschlagend, den Hang hinunter, um Hilfe zu holen.

3

Als ich aufwache, dämmert es bereits. Ich ziehe den Vorhang beiseite und betrachte die Landschaft. Der Regen hat vollständig aufgehört, aber wohl erst vor kurzem, denn alles, was vor dem Fenster zu sehen ist, ist dunkel vor Nässe und trieft. Am östlichen Himmel schweben deutlich umrissene Wolken, jede mit einem Rand aus Licht gesäumt. Die Farbe des Lichts wirkt bedrohlich, zugleich aber auch heiter, ein Eindruck, der je nach Blickwinkel ständig wechselt.

Mit gleichmäßiger Geschwindigkeit fährt der Bus die Autobahn entlang. Das Sirren der Reifen, das an meine Ohren dringt, wird weder lauter noch leiser. Auch die Drehzahl des Motors ändert sich nicht. Wie ein Mühlstein schleift das monotone Geräusch Zeit und Bewusstsein auf eine glatte Ebene herunter. Die anderen Fahrgäste haben ihre Vorhänge geschlossen und schlafen zusammengekauert auf ihren Sitzen. Der Fahrer und ich scheinen als Einzige wach zu sein. Gleichmütig bewegen wir uns auf unser Ziel zu.

Als ich Durst bekomme, nehme ich aus der Seitentasche des Rucksacks meine Flasche und trinke von dem lauwarmen Mineralwasser. Aus derselben Tasche hole ich eine Packung Kräcker und esse ein paar. In meinem Mund breitet sich der vertraute trockene Geschmack der Kräcker aus. Meine Armbanduhr zeigt 4:32. Zur Sicherheit überprüfe ich auch Datum und Wochentag. Die Zahlen sagen mir, dass seit meinem Aufbruch von zu Hause ungefähr dreizehn Stunden vergangen sind, aber die Zeit scheint sich weder vor noch zurück zu bewegen. Ich habe immer noch Geburtstag. Ich befinde mich mitten am ersten Tag meines neuen Lebens. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder und vergewissere mich noch einmal, ob Zeit und Datum auf meiner Uhr stimmen. Dann schalte ich die Leselampe ein und beginne in meinem Taschenbuch zu lesen.

Gegen fünf verlässt der Bus unvermittelt die Autobahn und hält auf dem großen Parkplatz einer Raststätte an. Das Zischen der pneumatischen Tür ist zu hören, und sie öffnet sich. Im Bus geht das Licht an, und der Fahrer macht eine kurze Durchsage. »Guten Morgen, verehrte Fahrgäste. In einer Stunde erreichen wir planmäßig den Bahnhof Takamatsu. Zuvor machen wir an dieser Raststätte eine Pause von etwa zwanzig Minuten. Abfahrt ist um fünf Uhr dreißig. Bitte finden Sie sich bis dahin wieder im Bus ein.«

Bei der Durchsage sind fast alle Passagiere aufgewacht, stehen wortlos auf, gähnen und klettern mit erschöpften Gesichtern aus dem Bus. Vor unserer Ankunft in Takamatsu wollen sich die meisten wohl noch etwas zurechtmachen. Ich steige ebenfalls aus, atme ein paar Mal tief durch, strecke mich und mache an der frischen Morgenluft ein paar einfache Dehnübungen. In der Toilette wasche ich mir das Gesicht. Wo sind wir hier überhaupt? Ich gehe ins Freie, um einen Blick auf die Umgebung zu werfen. Es ist die merkmallose, typische Landschaft am Rande einer Autobahn. Dennoch – aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein – kommen die Form der Hügel und die Farbschattierungen der Bäume mir irgendwie anders vor als in Tokio.

Als ich in der Cafeteria von dem heißen grünen Tee trinke, der dort kostenlos ausgeschenkt wird, setzt sich eine junge Frau auf den Plastikstuhl neben mir. In ihrer rechten Hand hält sie einen Pappbecher mit Kaffee, den sie gerade an einem Automaten gezogen hat. Weißer Dampf steigt davon auf. In ihrer linken Hand hat sie eine kleine Schachtel mit einem Sandwich, das sie anscheinend ebenfalls am Automaten gekauft hat.

Ihr Gesicht ist, offen gesagt, ziemlich originell. Auch bei wohlwollendster Betrachtung kann man es nicht als hübsch bezeichnen. Die Stirn ist breit, die Nase klein und knubbelig, die Wangen sind voller Sommersprossen. Ihre Ohren laufen spitz nach oben zu. Zumindest ist es ein auffälliges Gesicht. Kühn gestaltet, könnte man sagen. Der Gesamteindruck ist jedoch keineswegs negativ. Auch wenn die Person selbst mit ihrer Erscheinung vielleicht nicht völlig zufrieden ist, wirkt sie entspannt und mit sich im Reinen. Das ist doch wohl das Wichtigste. Das Kindliche ihres Aussehens wirkt beruhigend auf das Gegenüber. Zumindest auf mich. Sie ist nicht groß, aber schlank und geschmeidig. Ihr Busen ist verhältnismäßig groß. Außerdem hat sie hübsche Beine.

An beiden Ohrläppchen hängen Ohrringe aus dünnem Metall, die hin und wieder aufblitzen wie Aluminium. Ihr schulterlanges Haar ist braun (fast rot) gefärbt, und sie trägt ein breit gestreiftes, langärmliges T-Shirt mit U-Boot-Ausschnitt. Über ihrer Schulter hängt ein kleiner Lederrucksack, und um den Hals hat sie sich einen leichten Sommerpullover geschlungen. Cremefarbener Minirock und keine Strümpfe. Sie scheint sich gerade im Waschraum das Gesicht gewaschen zu haben, denn auf ihrer breiten Stirn kleben wie dünne Wurzeln noch ein paar Haarsträhnen. Das macht sie mir irgendwie sympathisch.

»Du bist auch aus dem Bus, oder?«, fragt sie mich. Ihre Stimme klingt leicht heiser.

»Ja.«

Sie runzelt die Stirn und nimmt einen Schluck Kaffee. »Wie alt bist du?«

»Siebzehn«, lüge ich.

»Oberstufe, oder?«

Ich nicke.

»Wohin fährst du?«

»Nach Takamatsu.«

»Wie ich«, sagt sie. »Hin und zurück?«

»Nur hin«, antworte ich.

»Ich auch. Ich habe dort eine Freundin, aber eine sehr gute. Und du?«

»Verwandte.«

Sie nickt, als sei damit alles geklärt, und stellt keine Fragen mehr.

»Ich habe einen jüngeren Bruder in deinem Alter«, sagt sie, als sei ihr das eben erst eingefallen. »Aber aus bestimmten Gründen habe ich ihn schon länger nicht gesehen … Weißt du, wem du ähnlich siehst? Diesem Typ, wie heißt er noch? Total ähnlich.«

»Diesem Typ?«

»Ja, diesem Sänger in dieser Band. Seit ich dich vorhin das erste Mal im Bus gesehen habe, zerbreche ich mir darüber den Kopf, aber der Name fällt mir echt nicht ein. Sense. Das gibt’s ja manchmal. Man versucht sich zu erinnern, aber es geht nicht. Hat dir noch niemand gesagt, dass du irgendwem ähnlich siehst?«

Ich schüttele den Kopf. So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt. Sie nimmt mich noch einmal mit zusammengekniffenen Augen ins Visier.

»Wem denn nur?«, frage ich.

»Einem aus dem Fernsehen.«

»Aus dem Fernsehen?«

»Ja, aus dem Fernsehen.« Sie beißt in ihr Schinken-Sandwich und kaut ausdruckslos darauf herum. Dann trinkt sie wieder von ihrem Kaffee. »Ein Junge, der in irgend so einer Band singt. Nichts zu machen. Nicht mal der Name von der Band fällt mir ein. Er ist groß und dünn und spricht Kansai-Dialekt. Kommst du nicht drauf?«

»Keine Ahnung. Außerdem sehe ich nicht fern.«

Sie sieht mich mit ungläubig gerunzelter Stirn an. »Du siehst nicht fern? Überhaupt nie?«

Wortlos schüttele ich den Kopf. Oder sollte ich lieber nicken? Ich nicke.

»Reden tust du auch nicht gerade viel. Und wenn du was sagst, dann höchstens einmal eine Zeile. Ist das bei dir immer so?«

Ich erröte. Natürlich bin ich von Natur aus wortkarg, aber ein weiterer Grund für meine Schweigsamkeit ist mein Stimmbruch. Normalerweise spreche ich mit einigermaßen tiefer Stimme, aber manchmal kippt sie plötzlich um. Darum achte ich darauf, möglichst nicht zu lange am Stück zu reden.

»Ist ja auch egal«, fährt sie fort. »Jedenfalls siehst du diesem Jungen, der Kansai-Dialekt spricht und in dieser Band singt, echt ähnlich. Auch wenn du natürlich keinen Kansai-Dialekt sprichst. Nur, irgendwie … ist die Ausstrahlung sehr ähnlich. Ein ziemlich sympathischer Typ. Das ist alles.«

Ihr Lächeln verschiebt sich ein bisschen. Es verschwindet kurz, um sogleich wieder zurückzukehren. Ich bin immer noch ziemlich rot.

»Wenn du eine andere Frisur hättest, würdest du ihm noch ähnlicher sehen. Mit Gel könntest du deine Haare aufstellen. Wenn es ginge, würde ich es gleich hier machen. Das würde dir bestimmt gut stehen. Ich bin nämlich Friseuse.«

Ich nicke. Und trinke von meinem Tee. In der Cafeteria ist es sehr still. Nicht einmal Musik gibt es. Man hört auch niemanden sprechen.

»Redest du nicht gern?«, fragt sie mich, die Wange mit ernster Miene in die Hand gestützt.

Ich schüttele den Kopf. »Nein, das kann man nicht sagen.«

»Falle ich dir auf die Nerven?«

Wieder schüttele ich den Kopf.

Sie packt das zweite Sandwich aus. Es ist mit Erdbeermarmelade bestrichen. Sie macht ein fassungsloses Gesicht und zieht die Brauen zusammen.

»Kannst du das für mich essen? Erdbeermarmelade hasse ich wie nichts auf der Welt. Schon als Kind.«

Ich nehme es an, obwohl ich Erdbeermarmelade selber nicht mag. Wortlos esse ich. Sie behält mich über den Tisch hinweg bis zum Schluss im Auge, wie um sicherzugehen, dass ich es auch ordentlich aufesse.

»Ich habe eine Bitte«, sagt sie.

»Was denn?«

»Darf ich bis Takamatsu neben dir sitzen? Wenn ich allein sitze, kann ich mich nicht entspannen. Die ganze Zeit habe ich Angst, irgendein komischer Typ setzt sich neben mich. Deshalb konnte ich nicht richtig schlafen. Als ich die Fahrkarte gekauft habe, habe ich um einen Einzelsitz gebeten, aber als ich dann eingestiegen bin, war es doch ein Doppelsitz. Ich würde gern noch ein bisschen schlafen, bevor wir in Takamatsu sind, und du siehst wirklich nicht wie ein komischer Typ aus. Macht’s dir was aus?«

»Nein«, sage ich.

»Danke«, sagt sie. »›Auf Reisen ein Gefährte …‹, so heißt es doch, oder?«

Ich nicke. Es war mir peinlich, wieder nur zu nicken, aber was hätte ich sagen sollen?

»Was kommt noch mal danach?«

»Danach?«

»Nach ›auf Reisen ein Gefährte‹. Da kommt doch noch was, oder? Ich weiß aber nicht mehr was. Ich war schon immer schwach in Japanisch.«

»Im Leben Mitgefühl«, sage ich.

»›Auf Reisen ein Gefährte, im Leben Mitgefühl‹«, wiederholt sie, wie um sicherzugehen. Als hätte sie es sich am liebsten aufgeschrieben, wenn sie Papier und Bleistift gehabt hätte. »Was heißt das eigentlich? Mit schlichten Worten gesagt.«

Ich überlege. Es dauert eine ganze Weile. Doch sie wartet geduldig ab.

»Ich glaube, es heißt, dass auch zufällige Begegnungen wichtig für die Gefühle eines Menschen sind. Mit schlichten Worten gesagt«, sage ich.

Sie denkt einen Moment nach. Kurz darauf legt sie beide Hände langsam und sacht über dem Tisch aneinander. »Das stimmt auf jeden Fall. Zufällige Begegnungen sind wichtig für die Gefühle der Menschen. Finde ich auch.«

Ich sehe auf meine Uhr. Es ist schon halb sechs. »Sollten wir nicht lieber allmählich zurückgehen?«

»Ja, stimmt. Gehen wir«, sagt sie, macht aber keine Anstalten aufzustehen.

»Wo sind wir hier überhaupt?«, frage ich.

»Ja, wo eigentlich?«, sagt sie. Sie reckt den Hals und sieht sich um. Ihre Ohrringe schaukeln wie reife Früchte.

»Ich weiß es auch nicht. Von der Zeit her könnten wir in der Gegend von Kurashiki sein, aber eigentlich ist es doch egal, wo wir sind. An irgendeiner Autobahnraststätte eben, schließlich sind wir nur auf der Durchreise. Von hier nach da.« Sie hält ihre beiden Zeigefinger in die Luft. Der Abstand dazwischen beträgt etwa dreißig Zentimeter.

»Was bedeutet schon ein Ortsname? Toiletten und Essen. Neonlicht und Plastikstühle. Schlechter Kaffee. Sandwichs mit Erdbeermarmelade. Mehr nicht. Was zählt, ist doch, woher wir kommen und wohin wir gehen. Stimmt’s nicht?«

Ich nicke. Ich nicke. ICH NICKE.

Als wir zum Bus kommen, sitzen alle schon auf ihren Plätzen, und der Bus wartet abfahrbereit. Der Fahrer ist ein junger Mann mit einem strengen Gesicht. Statt wie ein Busfahrer sieht er eher aus wie ein Schleusenwärter. Er wirft uns einen missbilligenden Blick zu, weil wir uns verspätet haben, sagt aber nichts. »Tschuldigung«, sagt sie und lächelt ihm unschuldig zu. Der Fahrer streckt die Hände aus, greift ans Lenkrad und schließt mit erneutem Pressluftzischen die Tür. Das Mädchen holt einen kleinen Koffer und zieht auf den Sitz neben mir um. Es ist ein billiger Koffer aus einem Discountladen, ziemlich schwer für seine Größe. Ich nehme ihn ihr ab und verstaue ihn im Gepäcknetz über uns. Sie bedankt sich, lässt sich auf den Sitz fallen und schläft auf der Stelle ein. Der Bus fährt ab. Ich nehme mein Buch aus der Tasche und fange an zu lesen.

Sie schläft ganz fest, und gleich nach einer Kurve landet ihr Kopf auf meiner Schulter. Und bleibt dort. Er ist nicht besonders schwer. Sie atmet bei geschlossenem Mund ruhig durch die Nase. Ihr Atem trifft direkt auf meinen Schulterknochen. Wenn ich nach unten schaue, kann ich am Rand ihres U-Boot-Ausschnitts den Träger ihres BHs sehen. Ein schmaler cremefarbener Träger. Ich stelle mir die daran anschließende Unterwäsche aus zartem Stoff und die weiche Brust darunter vor. Ich stelle mir eine harte rosa Brustwarze zwischen meinen Fingern vor. Nicht, dass ich mir das vorstellen will. Aber ich kann nicht anders. Und natürlich bekomme ich eine Erektion. Wie nur ein Teil meines Körpers so hart werden kann?

Gleichzeitig keimen Zweifel in mir auf, ob sie nicht zufällig meine ältere Schwester sein könnte. Sie muss ungefähr im gleichen Alter sein. Ihre eigentümlichen Gesichtszüge sind allerdings ganz anders als die meiner Schwester auf dem Foto. Doch ein Foto kann auch täuschen. Je nachdem kann ein Gesicht völlig anders aussehen als in Wirklichkeit. Immerhin besitzt sie einen Bruder in meinem Alter, den sie lange nicht gesehen hat. Es wäre gar nicht so seltsam, wenn ich dieser Bruder wäre.

Ich schaue auf ihre Brust. Langsam heben und senken sich die runden Hügel beim Atmen wie wogende Wellen und erwecken in mir das Bild eines weiten Ozeans, auf den gleichmäßig sanfter Regen fällt. Ich bin ein einsamer Seemann auf Deck, und sie sind das Meer. Der Himmel ist einheitlich grau und verschmilzt in der Ferne vor mir mit dem Meer, das ebenfalls grau ist. Es ist schwer, Meer und Himmel zu unterscheiden. Auch der Seemann ist schwer vom Meer zu unterscheiden. Und schwer ist es auch, die äußere Wirklichkeit von den Regungen des Herzens zu unterscheiden.

Sie trägt zwei Ringe an den Fingern. Keinen Ehe- oder Verlobungsring, billigen Schmuck, wie er in Geschäften für junge Leute verkauft wird. Ihre Finger sind schmal, aber gerade und lang, sie wirken stark. Die kurzen Nägel sind gepflegt und hellrosa lackiert. Ihre Hände ruhen leicht auf den Knien, die unter ihrem Minirock hervorsehen. Gern würde ich ihre Finger berühren. Natürlich tue ich es nicht. Im Schlaf sieht sie aus wie ein kleines Mädchen. Wie Pilze schauen ihre spitzen Ohren zwischen den Haaren hervor. Sie wirken seltsam verletzlich.

Ich klappe mein Buch zu und betrachte eine Weile die Landschaft vor dem Fenster. Unversehens schlafe ich wieder ein.

4

Bericht des amerikanischen Informationsministeriums (MIS)

Datum: 12. Mai 1946

Titel: RICE BOWL INCIDENT, 1944: Report

Archivnummer: PTYX-722-8936745-422-16-WWN

Befragung des zur Zeit des Vorfalls in ** praktizierenden Arztes Shigekazu Nakazawa (51). Tonbandaufnahme. Das dieses Protokoll betreffende Zusatzmaterial hat die Nummern PTYX-722-SQ-162 bis 183.

Bemerkungen von Leutnant Robert O’Connell:

»Mit seiner kräftigen Statur und seinem gebräunten Gesicht wirkt Dr. Nakazawa eher wie ein Gutsverwalter als wie ein Arzt. Seine Haltung ist gelassen, aber er spricht energisch und knapp. Offenbar ein Mann, der sagt, was er denkt. Hinter seiner Brille blitzen scharfe Augen. Sein Erinnerungsvermögen scheint präzise.«

Ja, am 7. November 1944 gegen elf Uhr vormittags rief mich der Rektor der hiesigen Volksschule an und bat mich zu kommen. Da ich schon sehr lange als Schularzt fungierte, setzte er sich mit mir als erstem in Verbindung. Er wirkte schrecklich aufgeregt.

Eine ganze Schulklasse sei beim Pilzesammeln ohnmächtig geworden, berichtete er mir. Anscheinend richtiggehend bewußtlos. Nur die begleitende Lehrerin sei noch bei Bewußtsein, sie sei, um Hilfe zu holen, allein den Hügel hinuntergerannt und eben erst in der Schule angekommen. Da sie aber völlig außer sich sei, werde er aus ihren Erklärungen nicht ganz klug. Eins stehe jedoch anscheinend fest: Auf dem Berg lägen sechzehn Kinder.

Zuerst vermutete ich, daß die Kinder giftige Pilze gegessen hatten und unter einer Nervenlähmung litten. Das wäre sehr schlimm gewesen. Pilzgift kann je nach Spezies eine sehr unterschiedliche Wirkung hervorrufen, und dementsprechend sind auch die Gegenmittel verschieden. Mehr als den Kindern den Magen auszupumpen und zu spülen, hätten wir zu dem Zeitpunkt nicht tun können. Doch bei einem starken Gift und einem fortgeschrittenen Verdauungsprozeß wäre nichts mehr zu machen gewesen. In dieser Gegend kommen jedes Jahr mehrere Menschen durch Pilzvergiftungen ums Leben.

Also packte ich erst einmal Medikamente für den Notfall in meine Tasche, stieg sofort auf mein Rad und raste zur Schule. Zwei Polizeibeamte, die von der Schule verständigt worden waren, trafen ebenfalls ein. Falls die Kinder nicht wieder zu sich kämen, müßten wir sie in den Ort transportieren, und dazu würden wir Hilfe brauchen. Da jedoch die meisten jungen Männer eingezogen waren, fuhren die beiden Polizisten, ein älterer Lehrer, der Konrektor, der Rektor, der Hausmeister, die verantwortliche junge Lehrerin und ich zum Berg hinauf. Dazu trieben wir so viele Fahrräder wie möglich auf und machten uns jeweils zu zweit auf einem auf den Weg.

Gegen wieviel Uhr kamen Sie an der betreffenden Stelle im Wald an?

Da ich damals auf die Uhr geschaut habe, erinnere ich mich genau. Es war elf Uhr fünfundfünfzig. Wir waren so weit wie möglich mit den Rädern gefahren und dann den Pfad am Hang hinaufgerannt.

Als wir ankamen, hatten ein paar Kinder das Bewußtsein schon halbwegs zurückerlangt und sich aufgerichtet. Wie viele ungefähr? Etwa drei oder vier. Sie waren zwar wach, aber noch nicht so richtig bei sich. Sie richteten sich nur mühsam auf und krochen auf allen vieren herum. Die übrigen lagen noch da. Doch auch einige von ihnen kamen allmählich wieder zu sich. Dabei wanden sie sich langsam wie große Würmer auf dem Boden. Die ganze Szene bot einen gespenstischen Anblick. In der hellen Herbstsonne, die den seltsam ebenen Platz beschien, wirkte er wie mit einer Schablone ausgeschnitten. In der Mitte und am Rand lagen sechzehn Kinder in verschiedenen Stellungen. Einige bewegten sich, andere lagen ganz still. Das Ganze erinnerte an ein avantgardistisches Theaterstück. Ich vergaß sogar meine ärztliche Pflicht und stand mit angehaltenem Atem wie angewurzelt da. Aber nicht nur ich. Alle, die dabei waren, schienen für einen Augenblick mehr oder weniger gelähmt zu sein. Es hört sich vielleicht eigenartig an, aber ich hatte fast das Gefühl, aus Versehen Zeuge eines Geschehens zu werden, das nicht für die Augen gewöhnlicher Menschen bestimmt war. Da Krieg herrschte, mussten auch wir Landärzte jederzeit für Notfälle gerüstet sein. Was auch geschah, als guter Japaner hatte ich mich zusammenzureißen und meine Pflicht zu erfüllen. Aber diese Szene ließ mir buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren.

Binnen Sekunden faßte ich mich jedoch wieder und hob eins der ohnmächtigen Kinder hoch. Es war ein Mädchen. Ihr Körper war völlig kraftlos, ihre Gliedmaßen schlenkerten wie die einer Stoffpuppe. Ihr Atem ging regelmäßig, aber sie war nicht bei Bewußtsein, obwohl ihre Augen ganz normal geöffnet waren und sich ihr Blick hin- und herbewegte, als beobachte sie etwas. Ich nahm eine kleine Lampe aus der Tasche und leuchtete in ihre Pupillen. Nichts geschah. Ohne auf das Licht zu reagieren, bewegten sich die Augen unvermindert weiter, als verfolgten sie etwas. Seltsam. Ich hob mehrere Kinder auf, und alle zeigten die gleichen Reaktionen.

Dann fühlte ich ihren Puls und maß ihre Temperatur. Ich weiß noch, daß der Pulsschlag bei 50 bis 55 und die Körpertemperatur bei allen unter 36 lag. Vielleicht bei 35,5. Ja, bei Kindern in diesem Alter geht der Puls ziemlich langsam, und die Temperatur ist ungefähr ein Grad niedriger als bei Erwachsenen. Ich roch an ihrem Atem, aber es war kein ungewöhnlicher Geruch festzustellen. Hals und Zunge wiesen ebenfalls keine anomalen Veränderungen auf.

Für mich war auf den ersten Blick ersichtlich, daß keine Vergiftungssymptome vorlagen. Keines der Kinder übergab sich, keins hatte Durchfall oder Schmerzen. Hätten sie etwas Unbekömmliches zu sich genommen, wäre bei der Zeit, die bereits verstrichen war, auf jeden Fall mindestens eines dieser drei Symptome aufgetreten. Als klar war, daß es sich nicht um eine Vergiftung handelte, fiel mir zunächst ein Stein vom Herzen. Allerdings hatten wir noch immer nicht die geringste Ahnung, was passiert sein konnte.

Die Symptome hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit denen bei einem Sonnenstich. Im Sommer kommt es öfter vor, daß Kinder infolge eines Sonnenstichs ohnmächtig werden. Es passiert auch, daß eins umfällt und die anderen darum herum plötzlich ebenfalls umfallen wie die Fliegen, als hätten sie sich angesteckt. Allerdings hatten wir November. Außerdem waren sie mitten in der Kühle des Waldes. Wären es ein oder zwei Kinder gewesen, hätte ich diese Möglichkeit eventuell noch in Betracht gezogen, aber daß alle sechzehn Kinder einen Sonnenstich erlitten hatten, konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

Als nächste Möglichkeit fiel mir Gas ein. Giftgas, vielleicht ein Nervengas. Ein natürliches Phänomen oder etwas von Menschen Gemachtes …? Wo allerdings in diesem abgelegenen Wald Gas herkommen sollte, war mir ein Rätsel. Angenommen jedoch, es war wirklich Giftgas, mußte es für ein solches Phänomen eine rationale Erklärung geben. Alle hatten die gleiche Luft geatmet und waren ohnmächtig geworden. Daß die verantwortliche Lehrerin als einzige nicht betroffen war, ließ darauf schließen, daß die Konzentration zumindest für den Körper eines Erwachsenen zu schwach gewesen war.

Allerdings war ich völlig ratlos, wie ich sie behandeln sollte, denn als Landarzt besaß ich keinerlei Fachkenntnisse, was Giftgase anging. Ich war mit meiner Weisheit am Ende.

Telefonisch den Rat eines Experten einzuholen, war mitten im Gebirge unmöglich, und in der Tat zeigten ja bereits einige der Kinder Anzeichen dafür, dass sie nach einer gewissen Zeit von selbst wieder zu sich kommen würden. Das war zwar eine optimistische Einschätzung, aber tatsächlich blieb uns ja auch nichts anderes übrig, als sie einfach eine Weile in Ruhe dort liegen zu lassen und ihren Zustand zu beobachten.

Haben Sie an der Luft dort irgend etwas Seltsames bemerkt?

Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Daher inhalierte ich mehrmals konzentriert, um vielleicht doch einen ungewöhnlichen Geruch auszumachen. Aber es war nur ganz normale Waldluft. Es roch nach Bäumen. Richtig erfrischend. Auch an den Gräsern und Blumen war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Keine Veränderungen in Form oder Farbe.

Ich habe jeden einzelnen Pilz untersucht, den die Kinder, bevor sie bewußtlos geworden waren, gesammelt hatten. Es waren nicht besonders viele, wahrscheinlich hatten sie gerade erst begonnen. Alles ganz gewöhnliche, eßbare Pilze. Ich bin schon lange Arzt in der Gegend und kenne die Pilzarten dort ziemlich genau. Natürlich nahm ich sie sicherheitshalber mit, um sie später noch von einem Experten untersuchen zu lassen. Doch soweit ich sehen konnte, waren es alles gewöhnliche, ungiftige Pilze.

Wiesen die bewußtlosen Kinder außer den sich hin- und herbewegenden Augen noch andere ungewöhnliche Symptome oder Reaktionen auf, zum Beispiel, was die Größe der Pupillen, Farbe der Augäpfel oder Frequenz der Lidschläge usw. betraf?

Nein. Außer, daß die Pupillen wie Suchscheinwerfer von rechts nach links schweiften, war nichts Ungewöhnliches festzustellen. Alles funktionierte normal. Die Kinder sahen irgend etwas. Genauer gesagt, sie sahen nicht das, was wir sahen. Es schien, als sähen sie etwas, das für uns unsichtbar war. Oder nein, der Eindruck war weniger der, daß sie etwas sahen, als der, daß sie etwas »beobachteten«. Ihre Gesichter waren ausdruckslos und wirkten insgesamt extrem ruhig. Von Schmerzen oder Angst war nicht das geringste zu bemerken, was natürlich zu meiner Entscheidung beitrug, sie einfach dort liegen zu lassen und zu beobachten. Wenn sie vorläufig keine Schmerzen hatten, konnte es wohl nichts schaden, eine Zeitlang abzuwarten.

Haben Sie dort mit jemandem über die Gas-Theorie gesprochen?

Ja. Aber keiner hatte davon mehr Ahnung als ich. Hat man je gehört, daß jemand im Gebirge Giftgas einatmet? Der Konrektor war es, glaube ich, der die Frage aufwarf, ob es nicht die Amerikaner gewesen sein könnten. Ob sie vielleicht eine Giftgasbombe abgeworfen hätten? Daraufhin berichtete die Lehrerin, sie hätten, bevor sie in den Wald gegangen seien, einen Flugkörper am Himmel gesehen, einer B-29 ähnlich, der direkt über den Berg hinweggeflogen sei. Alle waren einhellig der Meinung, daß es das möglicherweise gewesen sein könnte. Vielleicht eine neue Giftgas-Bombe. Gerüchte über eine neuartige Bombe, die die Amerikaner entwickelt hätten, kursierten bereits in unserer Gegend. Natürlich verstand niemand, warum man so eine Bombe ausgerechnet in einer derart abgelegenen Gegend abwerfen sollte. Aber schließlich kommen auf der Welt ja auch Irrtümer vor. Was geschehen war, lag außerhalb unseres Ermessens.

Später kamen die Kinder also allmählich von allein wieder zu sich, nicht wahr?

Genau. Zu unserer unendlichen Erleichterung. Anfangs wälzten sie sich etwas herum und richteten sich dann unsicher auf. Keines von ihnen klagte dabei über Schmerzen. Das Aufwachen ging völlig problemlos vor sich, wie nach einem natürlichen tiefen Schlaf. Zugleich normalisierten sich nach und nach die Bewegungen ihrer Augen. Wenn ich in ihre Pupillen leuchtete, zeigten sie wieder völlig unauffällige Reaktionen. Bis sie jedoch wieder sprachen, dauerte es noch eine Weile. Sie wirkten einfach sehr verschlafen.