Kalifornische Sinfonie - Gwen Bristow - E-Book
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Kalifornische Sinfonie E-Book

Gwen Bristow

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Beschreibung

1845 heiratet die wohlbehütete Garnet Cameron den jungen Präriehändler Oliver Hale und folgt ihm in das noch unbekannte Kalifornien.
Auf der beschwerlichen Reise muss sich das Paar gegen Tod und Teufel behaupten und Oliver ist den Gefahren nicht gewachsen. Als er plötzlich stirbt, steht Garnet allein und mittellos mit ihrem kleinen Sohn da und ist der Willkür ihres Schwagers hoffnungslos ausgeliefert.
Wird sie sich gegen ihn durchsetzen und ihr Schicksal selbst bestimmen können?

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Seitenzahl: 1275

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelAchtundzwanzigstes KapitelNeunundzwanzigstes KapitelDreißigstes KapitelEinunddreißigstes KapitelZweiunddreißigstes KapitelDreiunddreißigstes KapitelVierunddreißigstes KapitelFünfunddreißigstes KapitelSechsunddreißigstes KapitelSiebenunddreißigstes KapitelAchtunddreißigstes KapitelNeununddreißigstes KapitelVierzigstes KapitelEinundvierzigstes KapitelZweiundvierzigstes KapitelDreiundvierzigstes KapitelVierundvierzigstes KapitelFünfundvierzigstes KapitelSechsundvierzigstes KapitelSiebenundvierzigstes KapitelAchtundvierzigstes KapitelNeunundvierzigstes KapitelFünfzigstes Kapitel

Über dieses Buch

1845 heiratet die wohlbehütete Garnet Cameron den jungen Präriehändler Oliver Hale und folgt ihm in das noch unbekannte Kalifornien.

Auf der beschwerlichen Reise muss sich das Paar gegen Tod und Teufel behaupten und Oliver ist den Gefahren nicht gewachsen. Als er plötzlich stirbt, steht Garnet allein und mittellos mit ihrem kleinen Sohn da und ist der Willkür ihres Schwagers hoffnungslos ausgeliefert.

Wird sie sich gegen ihn durchsetzen und ihr Schicksal selbst bestimmen können?

Über die Autorin

Gwen Bristow wurde am 16. September 1903 als Tochter eines Pastors in Marion, South Carolina/USA geboren. Sie besuchte die Pulitzer School für Journalismus und arbeitete als Reporterin. 1929 veröffentlichte sie ihren ersten Roman und wurde durch ihre Südstaaten-Romane weltbekannt. Sie starb 1980.

Gwen Bristow

Kalifornische Sinfonie

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Fritz Helke

beHEARTBEAT

 

Digitale Originalausgabe

 

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Mohrbooks AG Literary Agency, Zürich

Titel der Originalausgabe »Jubilee Trail«

Copyright © 1950 by Gwen Bristow

Copyright der deutschen Erstausgabe © 1958 by Franz-Schneekluth-Verlag, Darmstadt

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Esther Madaler

Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven © shutterstock: allegro | Marzolino | Davor Ratkovic | sniegirova mariia | Tarzhanova | Peter Jilek | Anne Power

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-2778-6

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Erstes Kapitel

Garnet Cameron verließ im Sommer 1844 Miss Waynes Institut für junge Damen mit dem Abschlusszeugnis. Miss Wayne unterhielt ihr exquisites Internat auf einem ausgedehnten Landgut im oberen Manhattan. Garnet hatte ihm vier Jahre lang angehört und wurde am Entlassungstage mit drei Medaillen ausgezeichnet, eine dekorative Anerkennung für ihre Leistungen in der Musik, im Reiten und in gesittetem Benehmen.

Garnet befand sich eben in der Mitte ihres neunzehnten Lebensjahres. Sie war eine interessante Erscheinung. Ihr glattes schwarzes Haar hatte einen wundervollen Glanz, dem das Sonnenlicht einen bläulichen Schimmer verlieh. Ihre grauen Augen wurden von langen, sehr dichten und ebenfalls blauschwarzen Wimpern umrahmt, ihre Wangen glühten ständig in einem intensiven Rot, sodass sie nicht selten in Verdacht geriet, der Natur mit Rouge nachgeholfen zu haben. Trotz der starken Farbkontraste, deren sie sich erfreute, konnte man die junge Dame keine ausgesprochene Schönheit nennen. Ihr Gesicht war im Ganzen zu rau gebildet, ihre Stirn war zu glatt, ihr Kinn zu stark und ihre Lippen zu voll. Das alles aber wurde ausgeglichen durch ihren festen, schlanken und biegsamen Körper und ihre außergewöhnlich schmale Taille. Die Kleidung, die sie gegenwärtig trug, war ganz dazu angetan, die Vorzüge ihrer vollendeten Figur auf das Wirkungsvollste zur Geltung zu bringen. Ein schlichtes Tageskleid umhüllte das junge Mädchen vom Hals bis zu den zierlichen Füßen, aber das Schnürleibchen saß so fest am Körper, als sei es dort angewachsen; der schimmernde Rock betonte nachdrücklich die winzige Taille und war doch weit genug, um ein freies Ausschreiten zu ermöglichen. Garnet verstand sich vollendet zu bewegen, in Miss Waynes Institut hatte sie genügend Gelegenheit gehabt, sich darin zu üben. Beispielsweise hatte es zu ihren täglichen Exerzitien gehört, mehrmals eine schmale Wendeltreppe hinauf- und hinabzuschreiten und dabei ein Buch auf dem Kopf zu balancieren.

Garnet erfreute sich einer ausgezeichneten Gesundheit, sie sprühte vor Frische und Lebenskraft und nahm großes Interesse an allen Dingen des Lebens. Ihre Wissbegierde war außerordentlich, sie hätte am liebsten alles gewusst. Der größte Vorwurf, den sie der Welt zu machen hatte, war der, dass sie ihr zu wenig Chancen bot, ihre Geheimnisse kennenzulernen. Freilich hütete sie sich, Wünsche dieser Art laut werden zu lassen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ihrer Erziehungsjahre war, dass niemand Wert darauf legte, die Meinung einer jungen Dame zu irgendeiner Sache kennenzulernen.

Die Wohnung von Garnets Eltern befand sich am Union Square in der City von New York. Die Häuser gruppierten sich hier rund um einen Park, in welchem zur Sommerszeit ein Springbrunnen sein Wasser versprühte, in dem Kinder mit Reifen spielten und Damen und Herren auf sauber gepflegten Kieswegen promenierten. Den Union Square umgab jederzeit eine Aura vornehmer Geborgenheit, sowohl im Sommer, wenn das Grün der Bäume und Büsche in der Sonne leuchtete, als im Winter, wenn die kahlen Zweige vor dem grauen Himmel standen und der Feuerschein der Kamine die Fenster erglühen ließ. Eine ruhige, angenehme Gegend, von ruhigen, angenehmen Leuten bewohnt.

Garnets Vater, Mr. Horace Cameron, war Vizepräsident einer Bank in der Wall Street; ihre Mutter war eine charmante Frau, die das Leben im Allgemeinen ganz annehmbar fand und ohne Weiteres voraussetzte, dass es so bleiben würde. Garnets jüngere Brüder, Horace jun. und Malcolm, besuchten die Elementarschule, deren Aufgabe es war, die Jungen für das Columbia College vorzubereiten. Die Camerons waren eine ruhige, angenehme Familie wie alle Familien in dieser Gegend; alle ihre Mitglieder waren gut erzogen und wussten sich gut zu benehmen. Als Garnet ihre drei Institutsmedaillen vorzeigte und einen vorschriftsmäßigen Knicks machte, versicherten die Freundinnen ihrer Mutter, dass sie das Idealbild einer gut erzogenen jungen Dame verkörpere, vielmehr, dass sie nahe daran sei, es zu verkörpern; leider werde der Eindruck der Vollendung durch die intensive Kontrastierung von Rot und Schwarz in ihrem Gesicht empfindlich beeinträchtigt. Wirklich, es sei ein Jammer, dass ihr Teint nicht zarter und vornehmer sei. Nichtsdestoweniger sei sie ein nettes und reizvolles Mädchen und werde zweifellos eine gute Partie machen.

Als Garnet am Abend ihrer Heimkehr aus Miss Waynes Institut ihre drei Medaillen in eine Schublade ihrer Kommode legte, stieß sie unwillkürlich einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Schulzeit lag hinter, das Leben lag vor ihr. In einigen Wochen, sobald die notwendigsten Einkäufe getätigt waren, würde sie mit der Mutter nach Rockaway Beach fahren, um dort ihre Ferien zu verbringen. Sie würden in einem eleganten Hotel wohnen, würden zahllose interessante Bekanntschaften machen und sie würde nicht mehr an Miss Wayne und ihre Ermahnungen denken müssen. Sie war eine erwachsene junge Dame und hatte ein Recht darauf, aufregende Dinge zu erleben.

Aber zunächst geschah gar nichts, weder in Rockaway Beach noch, nach ihrer Rückkehr, in New York.

Allerdings erhielt sie zwei Heiratsanträge, die sie ohne lange Überlegung zurückwies. Der Erste kam von einem jungen Herrn, den sie in Rockaway Beach kennengelernt hatte. Er entstammte einer guten Familie, aber Garnet fand ihn so dumm, dass sie meinte, man würde gut daran tun, ihn einzusperren. Natürlich sagte sie das nicht; ihre Mutter hatte sie gelehrt, wie man einen unerwünschten Antrag ablehnte. Der junge Herr nahm den Eindruck mit, Garnet werde sich zeit ihres Lebens seiner mit Sehnsucht erinnern.

Den zweiten Antrag erhielt sie im September von Henry Trellen, einem reichen jungen Mann, der als einziger Sohn seiner Eltern ein bedeutendes Vermögen zu erwarten hatte. Sein Vater lebte nicht mehr, er selbst bewohnte mit seiner Mutter ein großes dunkles Haus in der Bleecker Street. Das Haus erinnerte Garnet an ein Mausoleum, und Henrys Mutter gemahnte sie an den Marmorengel eines Grabmonuments. Der junge Herr selbst langweilte sie bis zum Gähnen. Sie war sicher, dass sie sich nach einer Heirat mit ihm für den Rest ihres Lebens wie auf einem Friedhof eingesperrt vorkommen würde. Auch das sagte sie nicht. Sie sagte, dass sie ihr Herz sorgfältig geprüft habe und zu der Überzeugung gekommen sei, Henry Trellen nicht zu lieben.

Die Camerons hätten die Verbindung gern gesehen; da Garnet indessen mit einer solchen Entschiedenheit ablehnte, bestanden sie nicht darauf. Sie hatten sich selbst aus Liebe geheiratet und hegten den Wunsch, dass ihrer Tochter ein gleiches Glück widerfahren möchte. Garnet hatte viel Zeit, und ihre Mutter sorgte dafür, dass sie Gelegenheit erhielt, junge Herren ihrer Kreise kennenzulernen.

Garnet liebte ihre Eltern. Es waren liebenswerte Menschen, und sie war ihnen herzlich zugetan und durchaus geneigt, ihnen Freude zu machen. Aber sie verabscheute die jungen Herren, die sie ihr zur Auswahl präsentierten. Es waren dies nicht selten hübsche und nette Jungen, immer vermögend und zuweilen reich, aber ausnahmslos zum Sterben langweilig. Sie glänzten mit ihren guten Manieren und benahmen sich so, als seien junge Damen keine ernst zu nehmenden Menschen. Sobald man sie reden hörte, erhob sich ganz von selbst eine Nebelwand, die Männer und Frauen in zwei Welten schied; jeder natürliche Zugang von der einen zur anderen Welt erschien von vornherein hoffnungslos versperrt. Garnet ließ sich die Schmeicheleien ihrer Anbeter gefallen, tanzte mit diesem und flirtete mit jenem und verstand beides recht gut, aber es war nicht die Spur Aufregung dabei. Es gefiel ihr gar nicht und widersprach durchaus ihrem Charakter, etwas zu sagen und das Gegenteil zu meinen; ihr Wesen war so natürlich wie ein Regenschauer im Frühling. Sie beobachtete die anderen jungen Damen der Gesellschaft, sah sie flüstern und raunen, tuscheln und geheimnisvoll mit den Lidern zucken, und fand sie albern und dumm. Das alles konnte sie auch, wenn sie wollte, aber sie tat es nicht gern, ihr Herz blieb dabei völlig unbeteiligt; dieser ganze Betrieb ermüdete sie.

Ein Mädchen musste wohl Verehrer und Liebhaber haben, die Welt war nun einmal so eingerichtet, aber Garnet fand, es müsse doch eigentlich irgendwo auf der Welt einen jungen Mann geben, der in ihr einen vernünftigen Menschen sehen und auch so mit ihr reden würde. Eigentlich müsste es, fand sie, sogar in New York so einen Menschen geben.

Garnet hatte ihr ganzes Leben bis auf die Institutsjahre in New York zugebracht, aber sie wusste nicht viel von dieser Stadt. Das wurde ihr oft bewusst in diesem Herbst, wenn sie am Fenster stand und die Bäume auf dem Union Square betrachtete, deren Zweige im Oktoberwind knarrten. New York – eine so große und fröhliche, eine so heitere und aufregende Stadt – und sie hatte so wenig davon. Da gab es so viele Straßen und Plätze, die zu betreten ihr nicht erlaubt war, von denen sie gehört, die sie aber nie betreten hatte.

New York wuchs wie ein Weinstock in der Morgensonne. Die Stadt zählte jetzt, im Herbst 1844, nahezu vierhunderttausend Einwohner, noch vor zehn Jahren waren es nur dreihunderttausend gewesen. Eine direkte Eisenbahnlinie führte nach Philadelphia, eine andere nach White Plains; es gab Fährboote, die alle fünf Minuten nach Brooklyn fuhren, und Dampfwagen nach Harlem, die alle fünfzehn Minuten das City Hall Depot verließen. Prächtig ausgestattete Volksbäder gab es, in denen man für fünfundzwanzig Cents unter einer Brause stehen oder in einer marmornen Badewanne liegen konnte. Bei Castle Garden, gegenüber der Brücke von Battery, waren zwei Schwimmbassins, eins für Damen und eins für Herren. In den Parks sprudelten Springbrunnen, und auf den Straßen gab es Feuerhydranten, denn New York besaß die modernsten Wasserwerke der Welt.

Der Broadway begann an der Battery und endete an der Vierzehnten Straße. Schritt man diese zwei Meilen lange Prachtstraße entlang, berührte man die berühmtesten Plätze von New York. Der heiterste und liebenswürdigste Platz der ganzen Stadt war der City Hall Park. Ging man den Broadway hinauf auf den Park zu, passierte man auf der linken Seite an der Ecke der Vesey Street das berühmte Astorhaus, das erste und eleganteste Hotel ganz Amerikas. Es war fünf Stockwerke hoch, weiße Stufen führten zwischen imposanten Säulen zum Eingang empor. Dem Astorhotel gegenüber befand sich Barnum’s Museum. Ein großes Plakat, auf dem Seejungfrauen und Seeschlangen abgebildet waren, kündete an, was man drinnen zu sehen bekam. Gleich hinter dem Museum begann der Park.

Rund um den Park standen Restaurants und Theater, Spielhäuser und Bars. Hatte man Geld genug, dann konnte man bei John Florence zu Mittag essen, am Broadway oder am Parkplatz. Oder man konnte im Park-Theater die bedeutendsten Stars der Welt bewundern. Huldigte man anderen Neigungen, konnte man sein Geld in einem der Spielhäuser riskieren oder sich an leichter Musik und hübschen Mädchen erfreuen. War man selbst ein hübsches Mädchen, fand man vielleicht Gefallen daran, die Ateliers berühmter Künstler zu besuchen und sein Gesicht auf Elfenbein malen und zierlich in Gold fassen zu lassen. Das Vergnügen würde hundert Dollar kosten, aber wenn man hübsch genug war, lohnte der Einsatz wohl. Schließlich gab es da noch Plumbe’s Galerie. Da konnte man seinen Kopf in einen eisernen Kasten stecken und erhielt wie durch Zauberei ein Bild seines Gesichts. Allerdings zeigten die auf diese Weise aufgenommenen Bilder fast alle einen sonderbar starren, erschrockenen Blick. Vielleicht kam das daher, dass man sich jedes Mal, wenn man den Kopf in den eisernen Rahmen steckte, mit leichtem Schaudern fragte, was wohl geschehen würde, wenn der Kasten plötzlich Feuer finge.

Freilich, die Feuergefahr war nicht groß. In der großen Kuppel oben auf der City Hall stand ständig ein Mann, dessen Aufgabe es war, nach Feuer Ausschau zu halten. Die City Hall war ein fünfzig Fuß hoher Bau, von seiner Kuppel aus vermochte man über die ganze Stadt zu sehen. Erblickte der Wächter irgendwo in der Stadt Brandwolken, begann er eine Glocke zu läuten, die Anzahl der Glockenschläge ließ dann erkennen, wo das Feuer wütete; im gleichen Augenblick setzten sich auch schon die Fahrzeuge der Feuerwehr in Bewegung, um den Brand zu löschen.

Rund um den Park brauste der Broadway. Sobald man die Chambers Street überquert hatte, begann der Lärm nachzulassen. Hier befanden sich die großen Modehäuser der Stadt. Das größte und eleganteste von allen war das von Mr. Alexander Stewart. Ging man an Stewart’s Modehaus vorüber, vernahm man das leichte Trapp-Trapp edler Zuchtpferde und das Gewisper von Damenstimmen. In den von Kristall und Silber blitzenden großen Fenstern sah man kostbare Pelze, Samt- und Seidenstoffe und hauchdünne Tüllgewebe, die im Sonnenlicht wie Wasserfälle glitzerten. Je weiter man nun den Broadway hinaufging, umso ruhiger und vornehmer wurde er, er wandelte gleichsam mit jedem Schritt sein Wesen. Am Union Square vernahm man kaum noch einen Hauch des brausenden Lärms der unteren Stadt.

Garnet hatte ihre Mutter bei Einkäufen auf dem Broadway begleitet, sie hatte Konzerte und Theatervorstellungen besucht, die für eine junge Dame schicklich erschienen, aber sie war sich klar darüber, nur einen winzigen Bruchteil der Wunderwelt New York kennengelernt zu haben. Sie hätte brennend gern einen Blick in die aufregenden Etablissements rund um die City Hall getan und die Geheimnisse der dunklen Straßen ergründet, die von hier aus abgingen. Natürlich äußerte sie keinen dieser Wünsche. Ihre Eltern hätten bei einer Andeutung dieser Art zweifellos höchst erstaunte und indignierte Gesichter gemacht. Garnet war sicher, auch wenn sie einem der für sie ausgewählten Bewerber ihr Ja-Wort gegeben und geheiratet hätte, würde sie keine Chance haben, jemals das Innere eines Spielsaales oder eines fragwürdigen Theateretablissements zu erblicken. New York wimmelte von erregenden Geheimnissen, von denen angenommen wurde, dass sie eine junge Dame nicht interessierten. Augenscheinlich waren auch alle gut erzogenen jungen Männer dieser Meinung. Sie setzten als selbstverständlich voraus, dass eine junge Dame an nichts anderem interessiert sei, als einem von ihnen vermählt zu werden. Nur ihre gute Erziehung hinderte Garnet daran, diesen vornehmen Nichtstuern zu erzählen, dass sie selbst einem so schwerreichen Manne wie Henry Trellen einen Korb gegeben habe.

Von Juni bis zum Oktober hatte Garnet auf etwas gewartet, das sich ereignen und ihr Leben verändern möchte. Eines Tages im Oktober geschah es. Oliver Hale, ein unbekannter junger Mann, kam in die Stadt. Weder ihr Vater noch ihre Mutter wussten etwas von ihm. Und dennoch begann dieser junge Mann die glatte und unbewegte Oberfläche von Garnets Leben in heftige Schwingung zu versetzen.

Sonderbar genug ging es zu. Merkwürdige Fügung: Ohne die skandalöse Mordaffäre, die im letzten Sommer von sich reden gemacht hatte, wären Garnet Cameron und Oliver Hale einander vermutlich nie begegnet.

Die Mordgeschichte hatte sich im August ereignet, während Garnet mit ihrer Mutter in Rockaway Beach weilte. Gelegentlich einer Spielhausstreiterei waren zwei Männer erschossen worden. Der eine der beiden Toten war ein Außenseiter unbekannter Herkunft, sein Schicksal hatte niemanden interessiert. Wäre das zweite Opfer ebenso namenlos unbekannt gewesen, Garnet hätte wohl nie ein Wort über die Affäre vernommen.

Aber das zweite Opfer war Mr. Francis Selkirk, ein wohlhabender Mann von sechsundvierzig Jahren, der am Washington Square gewohnt hatte. Mr. Selkirk war als Gentleman mit abseitigen Gewohnheiten bekannt gewesen. Man wusste von ihm, dass er nicht selten an allerlei Stätten des Lasters zu verkehren pflegte. Aber man wusste auch, dass er über einen beträchtlichen Reichtum gebot und gute Verbindungen nach den verschiedensten Richtungen unterhielt. Er hatte erst in jüngster Zeit eine junge Dame aus den ersten Kreisen der Stadt geheiratet, die kaum halb so alt war wie er. Sein jäher Tod anlässlich eines Spielhausstreites hatte damals im Sommer Anlass zu allerlei Flüstereien gegeben; manches davon war auch zu dem Hotel in Rockaway Beach gedrungen, in dem Mrs. Cameron mit ihrer Tochter wohnte. Garnet hatte sich für den Fall brennend interessiert, aber es hatte sich niemand gefunden, der ihr Näheres darüber sagte. Sobald sie erschien, verstummte das Geflüster der älteren Damen, und auch ihre Mutter wies es weit von sich, vor ihren Ohren darüber zu sprechen. Sie sagte ihr sehr nachdrücklich, dass es höchst unschicklich sei, durch indiskrete Fragen eine unanständige Neugier zu verraten. Und so wusste Garnet denn fast nichts über den Selkirk-Mord, außer der Tatsache selbst und dem Umstand, dass es der Polizei bisher nicht gelungen sei, den Mörder zu ermitteln und festzunehmen.

Die Angehörigen Selkirks zeigten sich über dieses offenkundige Versagen der staatlichen Sicherheitsorgane höchst verärgert und verlangten immer wieder, dass Mittel und Wege gefunden würden, den Mordschützen vor Gericht zu bringen und seiner Strafe zuzuführen. Aber offenbar lagen die Dinge sehr schwierig und verwickelt. Es gab an sich zahllose Zeugen, denn der Spielsalon, in dem die Affäre sich ereignet hatte, war an jenem Abend sehr besucht gewesen. Doch widersprachen sich die verschiedenen Aussagen sehr erheblich; die meisten Gäste waren stark daran interessiert, das Prestige des Salons zu schützen, und erwiesen sich als unglaubwürdig. So ging Woche um Woche dahin, niemand wurde des Selkirk-Mordes wegen ins Verhör gebracht, und es währte nicht lange, da legte sich die Aufregung und die Leute begannen von anderen Dingen zu reden.

Das war alles, was Garnet von dieser Sache wusste. Dinge, von denen man sagte, dass sie junge Damen nichts angingen, reizten immer ihre Neugier, aber nie hätte sie sich träumen lassen, dass der Selkirk-Skandal eines Tages für sie selbst von einschneidender Bedeutung werden sollte.

Mr. Selkirk hatte offenbar nicht mit seinem baldigen Ableben gerechnet, denn er hatte kein Testament hinterlassen. Sein Vermögen wurde von der Bank verwaltet, deren Vizepräsident Garnets Vater war. Mr. Horace Cameron oblag es unter anderem, eben diesen Fall zu bearbeiten. Zu dem hinterlassenen Selkirk-Vermögen gehörte ein mit Stoffen und Haushaltsbedarf aller Art angefülltes Warenhaus. Mr. Cameron verkaufte das Gebäude und stellte die darin befindlichen Waren im Einverständnis mit der Witwe, die eine schnelle Abwicklung des Geschäfts wünschte, zu niedrigen Preisen zum Verkauf.

Dies nun war der Anlass, der Oliver Hale eines Tages im Oktober zur Bank führte, wo er Mr. Cameron zu sprechen verlangte. Oliver war eben erst in New York angekommen. Er hatte niemals etwas von Mr. Selkirk gehört, und die Affäre, in der dieser zu Tode gekommen war, interessierte ihn nicht im Geringsten. Ihn interessierten lediglich die zum Verkauf ausgebotenen Stoffe und Haushaltswaren. Er sagte Mr. Cameron, Artikel der angebotenen Art seien eben der Gegenstand seines Handels, und er würde es sehr begrüßen, das Lager in Ruhe besichtigen zu dürfen.

Oliver übte den Beruf eines Präriehändlers aus. Er war eigens nach New York gekommen, um Waren einzukaufen, die er dann in Planwagen laden und in den mexikanischen Provinzen westlich der Staatengrenze verkaufen wollte. Er war sechsundzwanzig Jahre alt. Mr. Cameron meinte, das sei ein sehr jugendliches Alter für einen so schwierigen Beruf. Oliver antwortete lachend, er sei bereits seit seinem achtzehnten Lebensjahr im Präriehandel tätig, die meisten Männer in diesem Geschäft seien unter dreißig; nach Überschreitung dieser Altersgrenze zögen sie sich in der Regel daraus zurück und wendeten sich weniger anstrengenden Betätigungen zu.

Mr. Cameron gewann den Eindruck, es bei Oliver mit einem tüchtigen Burschen zu tun zu haben; was er vom Grenzhandel zu erzählen wusste, war höchst interessant. Und so nahm er ihn eines Tages zum Essen mit nach Hause. Mrs. Cameron, die erwartet hatte, einen ungehobelten Patron kennenzulernen, dem der Umgang mit Messer und Gabel Schwierigkeiten bereiten würde, sah sich angenehm enttäuscht, denn Oliver zeigte bei Tisch ausgezeichnete Manieren. Ihre Fragen wusste er gewandt und sicher zu beantworten. Er sagte, dass er in Boston aufgewachsen sei, und erzählte lachend, dass er Harvard mitten im Semester verlassen habe, da die Abenteuer der Grenze ihm verlockender als Latein und Griechisch erschienen seien.

Garnet lauschte interessiert seinen Plaudereien, ohne sich zunächst Rechenschaft darüber abzulegen, ob der junge Mann ihr gefiele. Immerhin fand sie, Mr. Hale sei der ungewöhnlichste und seltsamste junge Mann, dem sie jemals begegnet sei. Sein Wesen und seine Art zu erzählen vermittelten ihr einen solchen Eindruck von Kraft und Größe, dass sie verblüfft und überrascht war, als sie feststellen musste, dass er körperlich nur mittelgroß war. Allerdings vermochte selbst die Kleidung seinen kräftigen Wuchs und die Muskelpakete an Armen und Beinen nicht zu verbergen. Seine korrekte, ja gediegene Kleidung – schwarzer Anzug, Brokatweste und Leinenhemd mit hoher Halsbinde – trug er, als komme er sich dumm darin vor. Garnet fühlte sich an einen Schauspieler erinnert, den man in ein Fantasiekostüm steckte und der sich nun mühte so zu tun, als sei er es durchaus gewöhnt, dergleichen zu tragen.

Olivers Hände sahen aus, als habe er sie stundenlang gescheuert und mit der Bürste bearbeitet; sie glänzten vor Sauberkeit, schienen aber nichtsdestoweniger die Hände eines Schwerarbeiters. Seine sandfarbenen Locken, sauber geschnitten, widerstanden jedem Versuch, sie durch Kamm und Bürste zu bändigen. Das Merkwürdigste aber schien Garnet sein Gesicht. Es zeigte liebenswürdige und gefällige Züge, die braunen Augen sahen lustig und ein wenig verschmitzt in die Welt, auch der Mund ließ auf Sinn für Heiterkeit schließen. Indessen sah es so aus, als seien da zwei Gesichter zu einem zusammengefügt worden und die beiden Hälften passten nicht zueinander. Die obere bis zu den Augen herunter war tief gebräunt und vom Wetter wie Leder gegerbt. Die Lachfalten in den Augenwinkeln standen weiß in dem tiefen Braun; es sah aus, als habe er monatelang im brennenden Sonnenschein unentwegt lachend gelebt. Wangen und Kinn erschienen dagegen zart und weiß wie die einer behüteten Dame, die nie ins Freie ging, ohne ihre Gesichtshaut durch einen Schleier zu schützen. Während sie sich bei Tisch gegenübersaßen, fing Oliver einmal einen Blick Garnets auf; er quittierte ihn mit einem verschmitzten Lächeln, und sie errötete.

Nach dem Essen waren sie beide ein paar Minuten allein. Die Jungen waren hinaufgeschickt worden, um ihre Schularbeiten zu machen, Mrs. Cameron war hinausgegangen, um der Dienerschaft einige Anweisungen zu geben, und Mr. Cameron hatte sich in sein Zimmer begeben, um Kognak für seinen Gast zu holen. Garnet führte Oliver ins Wohnzimmer. Er zog einen Stuhl für sie an das Kaminfeuer und lächelte ihr wieder zu, als bestände zwischen ihnen ein geheimes Übereinkommen. Die Lachfältchen in seinen Augenwinkeln zuckten, er sagte: »Ich habe ihn vor zehn Tagen abrasieren lassen.«

»Oh!«, rief Garnet und legte vor Verlegenheit die Hand auf den Mund. »So ist das also: Sie trugen einen Bart.«

Er nickte. »Ich sah aus wie Robinson Crusoe. Auf dem Wege gab’s keine Gelegenheit zum Rasieren.« Er zeigte ihr seine Hände. »Wie ein Lastträger, was?«, sagte er. »Es war keine Kleinigkeit, die Maulesel über die Berge zu führen. Dies ist das Ergebnis.«

»Oh, erzählen Sie mir«, bat Garnet. »Sie wissen so gut zu erzählen.«

Er lachte. »Ich wüsste mir nichts Lieberes. Wie ist es: Würden Sie wohl mit mir ausreiten, wenn ich Sie darum bäte?«

»Ich fürchte, Mutter würde es nicht erlauben«, versetzte Garnet, schon wieder verlegen, weil ihre eigene Stimme ihr gar so bewundernd geklungen hatte. »Sie kennt Sie noch nicht gut genug«, setzte sie hinzu.

»Ich werde es bedenken«, lächelte Oliver. Er war eben im Begriff, noch mehr zu sagen, als die Tür sich öffnete und Mrs. Cameron das Wohnzimmer betrat.

Augenblicklich änderte sich Olivers Benehmen. Er verhielt sich korrekt und höflich und zurückhaltend, ganz so, wie es von einem Gentleman in Gegenwart von Damen erwartet wird. Mrs. Cameron fand, dies sei ein ungewöhnlicher und zweifellos sehr interessanter Mann. Sie bedachte, dass ein Mann dieser Art, der jahrelang in fremden Ländern gereist war, imstande sein müsse, eine Dinnerparty durch seine Unterhaltung zu bereichern. Sie beabsichtigte, in der kommenden Woche ein Festessen zu geben, und erwog den Gedanken, Mr. Oliver Hale zu dieser Veranstaltung einzuladen. Während sie noch diesem Gedanken nachhing, fragte Oliver sie, ob ihr vielleicht seine Tante, Mrs. William Fortescue aus der Bleecker Street, bekannt sei. Selbstverständlich kannte Mrs. Cameron die Fortescues, ihre Familie lebte seit der Kolonialzeit in New York, und sie kannte jedermann von Bedeutung. Bevor Oliver ging, war er zu der Dinnerparty eingeladen.

Bei dem Festessen in der nächsten Woche bekam Oliver keine Gelegenheit, mit Garnet allein zu sprechen, aber es sah aus, als suche er auch gar nicht nach einer solchen. Er verstand es aber, sich bei jedermann, vor allem bei den älteren Damen, beliebt zu machen. Am folgenden Morgen sandte er seiner Gastgeberin Blumen.

Dann sah Garnet ihn bei einer sehr langweiligen Gesellschaft wieder, die von seiner Tante gegeben wurde, und in der Folge noch bei ähnlichen Zusammenkünften, die von anderen Gastgeberinnen veranstaltet wurden. Die Damen der New Yorker Gesellschaft schienen glücklich, einen so höflichen und bescheidenen Junggesellen gefunden zu haben, den sie herumreichen konnten. Garnet Cameron schien der junge Mann keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die fragte sich schon, ob er sein früheres augenscheinliches Interesse nur vorgetäuscht habe, da erhielt sie eines Tages ein Kärtchen von ihm. Oliver fragte in gesetzten Worten an, ob sie ihm die Ehre geben wolle, am kommenden Tage mit ihm auszureiten.

Garnet zeigte die Karte ihrer Mutter, und Mrs. Cameron hatte keine Einwände zu erheben. Sie wünschte, jeder junge Mann sei so gut erzogen wie Oliver Hale, sagte sie.

Sie stiegen vor dem Hause auf die Pferde und ritten den Reitweg zur Stadt hinauf. Der scharfe Wind vertiefte das intensive Rot auf Garnets Wangen und trieb ihr das schwarze Haar in welligen Locken über die Stirn. Oliver streifte sie mit einem bewundernden Blick.

»Endlich können wir miteinander reden«, sagte er. »Sie gefallen mir, Miss Cameron. Es ist gar nicht zu sagen, wie sehr Sie mir gefallen.«

Nie zuvor hatte ein Mann so zu Garnet gesprochen; sie wusste vor Verlegenheit nicht, was sie sagen sollte. Oliver lachte mutwillig und blitzte sie mit seinen braunen Augen an.

»Lassen Sie uns ehrlich sein«, sagte er. »Ich bin sicher, Sie hassen diese verdammten Gesellschaften geradeso wie ich.«

Nie bisher hatte ein Mensch in Garnets Gegenwart das Wort ›verdammt‹ ausgesprochen. Sie suchte eben nach einem passenden Wort, ihm seine Kühnheit zu verweisen, als sie sich zu ihrer Verwunderung selbst lachen hörte. Sie fragte: »Warum sind Sie denn zu den Gesellschaften gegangen, wenn Sie sie nicht mögen?«

»Das wissen Sie ebenso gut wie ich«, antwortete Oliver. »Ich musste doch unter allen Umständen einen guten Eindruck auf Ihre Mutter machen, damit sie Ihnen gestattete, mit mir auszugehen. Haben Sie denn nicht bemerkt, wie schwer es mir gefallen ist, mich so zu benehmen, wie man es von mir erwartete?«

Garnet war solche Offenheit nicht gewöhnt; sie stammelte: »Oh – ich danke Ihnen!«

Oliver lachte. »Sie sind – wundervoll! Ich war acht Jahre nicht in den Staaten, und ich hatte völlig vergessen, dass man in Amerika junge Mädchen zu Närrinnen dressiert. Sie aber sind mir nie als eine Närrin erschienen, nicht einmal beim ersten Mal, da ich Sie sah.«

Ach, seine Offenherzigkeit gefiel ihr so gut, aber sie war auf solche Gespräche so wenig vorbereitet, dass sie nicht wusste, was sie ihm antworten sollte. Da sie die rechten Worte nicht fand, fragte sie nur:»Wo waren Sie in der langen Zeit?«

»Meistens in Kalifornien«, entgegnete Oliver.

Garnet zog die Stirn in Falten. »Wo?«

»In Kalifornien.« Er sah sie an und in seinem Lächeln war ein Gran Bosheit.

Garnet mühte sich, ihre geografischen Kenntnisse zusammenzusuchen; schließlich schüttelte sie leicht den Kopf. »Sie werden mich für sehr unwissend halten, Mr. Hale«, sagte sie, »aber ich habe wahrhaftig nie von einem Land dieses Namens gehört.«

Oliver stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Danke!«, sagte er.

»Wieso?«, fragte Garnet. »Wofür danken Sie?«

»Für Ihre Ehrlichkeit. Sie ahnen nicht, wie selten sie ist. Die meisten Leute denken gar nicht daran, zuzugeben, dass sie den Namen Kalifornien nie gehört haben. In der Regel schwätzen sie irgendetwas zusammen und suchen das Land schlechtzumachen; eben damit beweisen sie mir, dass sie es nicht kennen. Entschuldigen Sie sich nicht. Kalifornien ist einer der einsamsten und unbekanntesten Flecke der Erde. Nur wenige Leute in den Staaten haben jemals davon gehört.«

»Und wo liegt das Land?«, fragte Garnet mit schnell erwachtem Interesse.

»Am Pazifischen Ozean.«

Sie schürzte die Lippen und dachte angestrengt nach. »Sie meinen in Asien?«, fragte sie schließlich. »In der Nähe von China?«

Er lachte. »Nein. Ich meine die pazifische Küste Amerikas. Eines Tages werde ich Ihnen davon erzählen. Jetzt nicht. Jetzt möchte ich etwas über Sie erfahren.«

Was war da schon zu berichten! Sie begann ihm von ihrem Leben in Miss Waynes Institut zu erzählen. Wie sie gehen und stehen, schreiten und knicksen gelernt habe und tausendmal die steile Wendeltreppe mit einem Buch auf dem Kopf hinauf- und hinabgeschritten sei. Oliver lachte schallend.

»Wie ist es nur möglich, dass Sie derartige Torturen überstanden und dabei so blühend gesund blieben, wie Sie aussehen«, sagte er.

»Oh«, lächelte sie, »meine roten Backen haben mir Kummer genug gemacht. Einmal bekamen wir einen neuen Lehrer. Der schickte mich gleich am ersten Tag auf mein Zimmer, mit dem Befehl, mir die Schminke aus dem Gesicht zu waschen. Er meinte, es sei ein Skandal, dass eine junge Dame der Gesellschaft sich wie eine Schauspielerin anmale.« Sie lächelte ein bisschen hilflos. »Ich habe mich in die Backen gekniffen, um weiße Flecken zu bekommen, aber sie verschwanden immer gleich wieder«, sagte sie. »Es war ganz unmöglich, meinem Gesicht ein damenhaftes Kolorit zu verschaffen.« Sie erzählte, wie ihre Kameradinnen sie fortgesetzt geneckt hätten und wie sie schließlich Essig getrunken habe, um blass zu werden. Aber auch der Essig habe nichts geholfen, er habe sie nur krank gemacht. »Ich kam langsam dahinter, dass ich gar nichts konnte«, seufzte sie. »Immer hieß es: ›Miss Cameron, gehen Sie nicht so schnell! Es sieht nicht gut aus. Miss Cameron, lachen Sie nicht fortgesetzt, das ist unschicklich!‹«

Oliver zeigte sich erheitert und verspürte zugleich ein heimliches Mitgefühl. »In Harvard war es uns zwar nicht verboten, zu lachen oder zu schnell zu gehen«, sagte er, »dafür wurden wir bis obenhin mit lauter Nichtigkeiten vollgestopft, wie ein Weihnachtstruthahn mit Kastanien. Ich konnte das schließlich nicht mehr aushalten, deshalb brach ich aus und ging nach dem Westen.«

Garnet dachte: Wie natürlich er ist! Da war endlich ein Mann, wie sie immer gewünscht hatte, dass er ihr begegnen möchte. Sie ritten nebeneinander her und fanden kein Ende mit dem Erzählen. Die Zeit verging wie im Fluge, und sie mussten sich schließlich beeilen, nach Hause zu kommen; ein längeres Ausbleiben hätte Mrs. Cameron beunruhigt. Als sich Garnet von ihrem Begleiter verabschiedete, stieg ein warmes Gefühl in ihr auf, wie sie es nie zuvor, weder bei Henry Trellen noch bei irgendeinem anderen ihrer Kavaliere, empfunden hatte.

Bei der Premiere eines neuen Stückes im Parktheater sahen sie sich wieder. Danach ritten sie noch mehrmals miteinander aus. Garnet sagte ihrer Mutter nichts davon, wie offen Oliver und sie miteinander sprachen. Mrs. Cameron hatte den jungen Hale als gut erzogenen Kavalier kennengelernt; sie sollte nicht auf den Gedanken kommen, er möchte möglicherweise keine passende Begleitung für ihre Tochter sein.

Abgesehen von ihren öffentlichen Begegnungen kam Oliver häufig in das Haus am Union Square. Es war kein einfaches Geschäft, eine Wagenkolonne für die Prärie zusammenzustellen und auszurüsten. Mr. Cameron hatte viel für Oliver Hale zu erledigen. Kam Mr. Hale zufällig, wenn Garnets Eltern nicht zu Hause waren, wurde er selbstverständlich der Tochter des Hauses gemeldet. Die empfing ihn ebenso selbstverständlich und sagte mit vollendeter Höflichkeit: »Möchten Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen, um sich am Kamin etwas aufzuwärmen?«

Mehrere Wochen lang war Oliver bereits auf solche Weise ins Haus gekommen, bis Garnet auffiel, dass er eine erstaunliche Geschicklichkeit darin entwickelte, die Stunden abzupassen, wo sie allein zu Haus war. Obgleich sie so etwas wie eine geheime Beunruhigung empfand, erfreute sie sich doch viel zu sehr an seinen Besuchen, als dass sie ihren Eltern gegenüber eine Bemerkung in dieser Richtung gemacht hätte. Sie sagte mit betonter Gleichgültigkeit: »Nebenbei, Vater, Mr. Hale kam heute vorbei und brachte Papiere für dich. Ich legte sie auf deinen Schreibtisch.« Wenn sie sich so oder ähnlich äußerte, empfand sie ein leichtes Schuldgefühl, aber es fiel ihr nicht ein zu erzählen, dass Oliver nicht fünf Minuten, sondern eine Stunde bei ihr geweilt habe.

Eines Morgens im Januar 1845 saß Garnet, mit einer Musikübung beschäftigt, am Klavier. Es war ein kalter, aber strahlend heller Tag; wenn sie von ihren Noten aufsah, sah sie das Eis auf den Baumzweigen vor dem Fenster glitzern. Wenn das Sonnenlicht die Zweige streifte, funkelten die Eiskristalle in den Farben des Regenbogens. Garnet erfreute sich an dem Anblick. Sie liebte außergewöhnliches Wetter, sie liebte Sonne und Regen und Sturm und Schnee, das heimliche Knistern in den Zweigen der Bäume und alle keimenden und wachsenden Dinge der belebten Natur.

Garnets Klavier stand in dem kleinen Wohnzimmer, das täglich benützt wurde. Der steife und feierliche Salon am anderen Ende der Halle war festlichen Gelegenheiten Vorbehalten. Hier im Wohnzimmer standen Buchregale an den Wänden, gute Bilder und bequeme Polstersessel schufen eine behagliche Atmosphäre. Auf dem Tisch lagen heute der NEW YORK HERALD, die Januarausgaben von GRAHAM’S MAGAZINE und GODY’S DAMENHANDBUCH. Mr. Cameron hatte am Vortage von einem Spaziergang Büschel von Tannenzweigen mit Zapfen mitgebracht und auf dem Kaminsims arrangiert. Er hatte gern lebendiges Grün im Zimmer, wenn es draußen fror.

Die durch das Fenster hereindringenden Sonnenstrahlen spielten auf Garnets schwarzem Haar und zauberten bläuliche Schatten darauf. Das Licht tanzte auf den Falten ihres Kleides. Es war dies ein bezauberndes Kleid aus reiner weißer Wolle mit roten Blumen bestickt. Kleine rote Knöpfe schlossen das Mieder, der weite Rock wallte von der schmalen Taille aus bis zum Fußboden nieder. Ihre Finger glitten hingegeben über die Tasten. Niemand, der sie so sah, konnte auf den Gedanken kommen, sie hätte die Einladung ihrer Mutter, sie zu einem Einkauf zu begleiten, abgelehnt, weil sie eine geheime Hoffnung im Herzen trug.

Garnet hatte sich bei ihrer Mutter damit entschuldigt, dass sie sehr viel üben müsse. Das war immerhin wahr. Sie hatte in diesem Januar ihren neunzehnten Geburtstag gefeiert und bei dieser Gelegenheit viele neue Noten geschenkt bekommen. Schließlich musste sie den Freunden, die ihr die Noten geschenkt hatten, etwas vorspielen können, wenn sie zu Besuch kamen. Dennoch war ihr empfindliches Gewissen ein wenig bedrückt. Denn obgleich ihre Mutter ein Engel und viel vernünftiger war als andere Leute, würde sie es doch keineswegs gutgeheißen haben, dass ihre Tochter so oft und so lange mit einem jungen Mann allein blieb, wie sie es in diesem Winter mit Oliver Hale gewesen war. Für junge Damen, die sich nicht damenhaft betrugen, hatte Mrs. Cameron weniger Verständnis als für einen Dieb oder Fälscher, und Garnet wünschte ihre Mutter nicht zu betrüben.

Sie hatte soeben einen Walzer beendet und legte die Noten für eine Quadrille zurecht, als die Tür sich öffnete und Mrs. Cameron eintrat. Mrs. Cameron war keine Schönheit, wohl auch niemals eine gewesen. Aber sie war eine schlanke, gut gewachsene dunkle Frau von achtunddreißig Jahren, ihre Figur stand der ihrer Tochter nur wenig nach. Sie war fertig zum Ausgang gekleidet. Das gut geschnittene Straßenkostüm kleidete sie vorzüglich; sie trug dazu einen Kamelhaarschal und einen Hut mit Bändern und einer wippenden Feder. Sie lächelte, da sie Garnet im Sonnenlicht sitzen und so eifrig beschäftigt sah. »Ich gehe jetzt, meine Liebe«, sagte sie. »Soll ich dir irgendetwas mitbringen?«

»Ich hätte gern rotes Seidenband für das weiße Kaschmirkleid«, versetzte Garnet, die sich beim Eintritt ihrer Mutter erhoben hatte. »Das Alte ist beim Bügeln zerschlissen, vielleicht war das Eisen zu heiß.«

Mrs. Cameron nickte. »Ich werde daran denken.« Sie tat einen Schritt ins Zimmer hinein; ihr Blick fiel auf einen der bequemen Lehnsessel am Kamin. »Du lieber Himmel!«, rief sie. »Was haben die Jungen da wieder angestellt?« Sie beugte sich über den Sessel, dessen Mahagonilehne einige empfindliche Kratzer aufwies. »Es ist unglaublich, wie diese kleinen Wilden sich aufführen«, seufzte sie. »Wenn man sieht, was sie alles anrichten, sollte man meinen, wir unterhielten hier ein Gymnasium.« Sie schlug spielerisch nach dem Stuhl und ging zur Tür zurück. »Ich werde bei Osgoods vorbeigehen und ihn abholen lassen.«

Im Türrahmen wandte sie sich noch einmal um. »Oh«, rief sie, »beinahe hätte ich es vergessen, ich wollte dir etwas sagen.« Und ohne zu ahnen, welch wichtige Neuigkeit sie da brachte, sagte sie: »Hier ist eine Warenliste für Mr. Hale. Vater ließ sie für ihn zurück. Mr. Hale wird im Laufe des Vormittags vorbeikommen, um sie zu holen.«

Garnet fühlte ein heimliches Beben in ihrem Rücken; sie nahm die Papiere und mühte sich, ein höflich interessiertes Gesicht zu machen. »Danke, Mutter«, sagte sie, »ich werde sie Mr. Hale aushändigen, wenn er kommen sollte.«

»Sieh zuweilen nach dem Feuer, Kind, es ist empfindlich kalt.« Mrs. Cameron nickte lächelnd und warf ihrer Tochter eine Kusshand zu.

Als Garnet allein war, legte sie die zusammengefalteten Papiere auf den Tisch. Dann ging sie zurück zum Klavier und spielte einige Musiktakte durch; aber als sie die Haustür zuschlagen hörte, ließ sie die Hände in den Schoß fallen. Sie ging zum Tisch, entfaltete die Papiere und vertiefte sich in die Handschrift ihres Vaters.

Es handelte sich um ein Verzeichnis der Waren, die Oliver aus dem Nachlass des erschossenen Mr. Selkirk erworben hatte. Zweitausend Ballen Kaliko, las sie, sechshundert Ballen weißer Musselin, vierhundert Bratpfannen, tausend Päckchen Nähnadeln. Sie ging Posten um Posten durch und legte die Liste wieder auf den Tisch. Stoffe und Nadeln und Bratpfannen – das konnte sie verstehen. Aber da hingen auch mancherlei Dinge mit Olivers Handel zusammen, die sie nicht verstand.

Sie hatte schon viele Fragen dieserhalb an ihn gerichtet, und er hatte sich redliche Mühe gegeben, sie zu beantworten. Aber sie wusste so wenig von der Prärie und von den Ländern, die er gesehen und in denen er gelebt hatte, dass sie ihm nur schwer zu folgen vermochte. Natürlich hatte sie in der Schule auch Geografieunterricht gehabt. Sie wusste alles Wissenswerte über die Staaten entlang der atlantischen Küste, auch über die wichtigsten Städte am Mississippi, wie New Orleans und St. Louis, hatte sie einiges gehört. Aber von dem Land jenseits des Mississippi hatten ihre Lehrer nicht das Geringste zu sagen gewusst.

Sie machte sich klar, dass ihr jetzt die Gelegenheit geboten war, diese unbekannten Bereiche kennenzulernen. Ihr Vater hatte unlängst einen Globus für ihre Brüder gekauft, er war gestern angekommen und stand oben im Jungenzimmer. Die Jungen waren in der Schule; Garnet entschloss sich, den Globus herunterzuholen. Kurz entschlossen ging sie nach oben. Der Globus war schwerer, als sie gedacht hatte, sie musste sich anstrengen, ihn ins Wohnzimmer zu schaffen. Schließlich stand er vor ihr auf dem Tisch und drehte sich unter ihren Händen.

Garnets rechte Hand bedeckte den Atlantischen, ihre linke den Pazifischen Ozean. Zwischen ihren Händen breitete sich der nordamerikanische Kontinent aus. Eine Falte des Nachdenkens erschien auf ihrer Stirn zwischen den Augenbrauen, während sie aufmerksam die Karte studierte.

Auf der Ostseite des Kontinents lagen die fünfundzwanzig Staaten der Union und einige freie Territorien. Dahinter zog sich die dicke schwarze Linie, die den Mississippistrom darstellte, von Norden nach Süden. Westlich des Mississippi sah sie die Flusslinien des Missouri und des Arkansas verzeichnet, die beide in den Vater der Ströme mündeten.

Garnet wusste, dass der bewohnte Teil der Vereinigten Staaten am Missouri endete. Oliver hatte gesagt, dass die kleinen Städte am Missouri die amerikanische Grenze bildeten. Zwar gab es auch jenseits des Flusses noch Gebiete, die zur Union gehörten, aber sie wurden nicht mehr von Weißen bewohnt. Auf der Landkarte waren sie mit den Namen der dort jagenden Indianerstämme verzeichnet.

Südlich des Missouri floss der Arkansas nach Osten. Das Territorium der Union endete bei einer Linie, die vom Arkansas gezogen wurde. Jenseits dieser Linie war alles fremd. Nach Süden zu lag da die Republik Texas. Unterhalb Texas’ lag Mexiko. Mexiko war ein großes Land. Auf dem Globus begann der Name südlich von Texas und erstreckte sich entlang der pazifischen Küste bis zu einer großen freien Fläche im Nordwesten, die als Oregongebiet bezeichnet war.

Der Globus informierte ausgezeichnet über die östliche Hälfte des Kontinents. Aber er sagte Garnet wenig über den Westen. Da war nichts als eine große elfenbeinfarbene Fläche, auf der im Bereich der pazifischen Küste in großen Buchstaben ›Mexiko‹ und ›Oregongebiet‹ standen. Quer über die Fläche zog sich, gleichfalls in großen Buchstaben, eine weitere Beschriftung. Garnet las: GROSSE AMERIKANISCHE WÜSTE.

Garnet hatte in der Schule nichts über die westliche Hälfte Amerikas gehört. Bevor Oliver in ihrem Leben auftauchte, hatte sie auch niemals darüber nachgedacht. Jedermann wusste oder glaubte zu wissen, dass es dort außer Wäldern und Ebenen und Büffeln und streifenden Indianerhorden nichts Wissens- oder Bemerkenswertes gäbe.

Nun sagte Oliver Hale, dass es dort außer Büffeln und Indianern allerlei Bemerkenswertes gäbe. Er behauptete, dass die weite elfenbeinfarbene Fläche, die auf dem Globus keinerlei Spuren aufwies, keineswegs ohne Spuren menschlichen Lebens und menschlicher Tätigkeit sei. Nach seiner Erzählung zog sich eine lange, dünne Linie quer durch das Land, hervorgerufen durch die fortgesetzten Umdrehungen zahlloser Wagenräder. In jedem Frühling, bald nach der Schneeschmelze, zögen, so hatte er gesagt, zahllose Handelskarawanen über das Gebirge nach Westen.

Bis zu ihrer Bekanntschaft mit Oliver hatte Garnet nie etwas von Männern gehört, die in langen und mühevollen Märschen ihre Waren weit über die amerikanische Staatengrenze nach Westen führten. Oliver wusste, dass es so war, denn er war selbst ein Präriehändler. Er war in dem geheimnisvoll fremden und unbekannten Land mit dem schönen, klingenden Namen Kalifornien gewesen.

Mit finsteren Blicken sah Garnet auf den Globus. Es war der beste Globus, den es gegenwärtig gab. Die neusten Forschungsergebnisse waren darauf verzeichnet, er war für den Geografieunterricht des Jahres 1845 bestimmt. Aber es gab auf diesem modernsten Abbild der Weltkugel nirgendwo ein Land, das Kalifornien hieß. Sie folgte mit den Augen dem Lauf des Missouri und Arkansas, sie prüfte aufmerksam die Gebiete von Mexiko und der Republik Texas. Sie untersuchte die ganze Küstenstrecke bis zum westlichen Kanada. Sie fand es nicht.

Oliver hatte gesagt, dass er acht Jahre in Kalifornien gelebt habe und dass er im Sommer dorthin zurückkehren würde. Sie konnte nicht glauben, dass er alles Erzählte nur erfunden habe, um vor ihr zu prahlen oder um sie zu necken.

Dennoch war sie einer Sache sicher: Ein Land Kalifornien gab es nicht auf dem Globus.

Zweites Kapitel

Oliver stand am Kamin und stützte seine Ellbogen auf den Sims. Er war vor zwanzig Minuten gekommen. Garnet beugte sich wieder über den Globus.

Sie hatten eine Zeit lang geschwiegen. Oliver war ganz zufrieden, nicht reden zu müssen. Er sah das Sonnenlicht auf Garnets blauschwarzem Haar und auf ihren rosigen Wangen spielen und freute sich an dem Anblick.

Garnet sah vom Globus auf und sah ihn an. »Darf ich etwas fragen, Mr. Hale?«, sagte sie.

Er lachte; seine wilden, sandfarbenen Locken hingen ihm in die Stirn. Er war nun schon drei Monate in New York, aber die Präriesonne hatte seine Haut so tief gegerbt, dass seine Stirn immer noch erheblich dunkler war als sein Kinn. Er betrachtete sie so fröhlich und unbekümmert, wie er es in Gegenwart ihrer Eltern nie gewagt hätte. »Fragen Sie immerzu«, sagte er.

Zwischen Garnets Brauen stand eine Falte. »Haben Sie mich zum Besten gehabt?«, fragte sie. »Gibt es das Land Kalifornien, von dem Sie mir erzählten, wirklich?«

Jetzt runzelte auch er die Stirn. »Zum Besten gehabt?«, sagte er. »Was soll das heißen? Wie kommen Sie nur darauf? Ich wohne in Kalifornien.«

»Ja, das sagten Sie. Aber wenn es ein Land dieses Namens gibt, warum ist es dann nicht auf der Karte oder auf dem Globus verzeichnet?«

Die Falten verschwanden von seiner Stirn; er lachte sie an. »Ich sagte Ihnen, dass Kalifornien einer der am wenigsten bekannten Flecke der Erdoberfläche sei.«

»Aber wo liegt es?«

Er kam heran und legte einen seiner rauen, verarbeiteten Finger auf den Globus. »Hier«, sagte er, einen Streifen an der pazifischen Küste bezeichnend. »Kalifornien ist keine selbstständige Nation«, fuhr er fort, »es ist die nördlichste Provinz Mexikos.« Er folgte mit den Augen den Einzeichnungen und schüttelte den Kopf. »Die Küstenlinie ist falsch gezeichnet«, sagte er, »sie verläuft anders. Den Hafen von San Diego haben sie zu weit nach Norden verlegt und die San Francisco Bai haben sie nur durch einen Einschnitt bezeichnet. In der Tat, es ist ALLES falsch.«

Sie machte eine ungeduldige Bewegung. »Das verstehe ich nicht. Warum wird es nicht richtig gemacht?«

Er zuckte die Achseln. »Vermutlich, weil sie es nicht besser wissen. Nur sehr wenige Amerikaner haben Kalifornien mit eigenen Augen gesehen.«

»Das scheint so«, sagte sie seufzend. »Wie ist es: Sie wollten mir etwas über den Präriehandel erzählen. Ich fürchte, der Globus wird mir nicht viel dabei helfen, aber ich will trotzdem versuchen, mit Ihnen Schritt zu halten. Bitte, erzählen Sie.«

»Was möchten Sie wissen?«

Garnet zog sich einen Stuhl heran und setzte sich vor den Globus. »Alles!«, sagte sie. »Wie lange ziehen die Händler schon durch die Prärie?«

»Ich bin nicht ganz sicher. Seit zwanzig oder dreißig Jahren vermutlich.«

»Immer auf derselben Straße?«

Oliver setzte sich auf die Armlehne eines großen Sessels in ihrer Nähe und sah sie lächelnd an. Seine Gedanken waren nicht bei seinen Handelszügen, doch er antwortete bereitwillig.

»Da ist keine Straße, Miss Cameron«, sagte er. »Da sind nur Räderspuren. Zahllose Ochsenwagen haben sie Jahr um Jahr in die Erde gegraben und die Sonne hat sie gehärtet; jetzt ist es, als wären sie in Stein geschnitten. Sie können der Spur meilenweit mit den Blicken folgen, aus der Ferne sieht sie aus wie eine endlose blaue Linie.«

Garnet atmete tief. Sie blickte auf den Globus hinab und wünschte sich sehr, die blaue Linie sehen zu können. Aber sie sah sie nicht. Oliver beobachtete sie lächelnd. Er sagte: »Ihr Haar glänzt wie die Flügel der Amseln. Wissen Sie das eigentlich?«

Garnet sah unverwandt auf den Globus. »Seien Sie nicht ebenso närrisch wie alle anderen«, sagte sie. »Reden Sie keine törichten Dinge über mein Aussehen. Ich weiß sehr gut, dass ich nicht schön bin.«

»Sind Sie das nicht?«

Sie beschäftigte sich weiter mit der Geografie Amerikas. Er glitt von der Armlehne des Sessels herunter und setzte sich auf den Fußboden, seine aufgestellten Knie mit den Händen umfassend. So konnte er ihr gerade in das herabgeneigte Gesicht sehen. Es zuckte um seine Mundwinkel.

»Sie haben wahrscheinlich recht«, sagte er. »Jetzt, wo Sie mich darauf aufmerksam machten, möchte ich auch sagen: Sie sind nicht schön!« Er hob leicht die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Mein liebes Mädchen«, lächelte er, »wie gut, dass Sie es nicht nötig haben, schön zu sein!«

Garnet fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, ihre roten Wangen färbten sich noch intensiver. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte sie abweisend.

»Vermutlich wollen Sie nicht verstehen«, sagte Oliver. »Ich versichere Ihnen, es ist dies das größte Kompliment, das ich jemals einem Mädchen gemacht habe.«

Garnet wusste nicht, was sie sagen sollte. Es ging ihr wie so oft bei ihm: Seine Art zu reden verschlug ihr die Sprache. Sie fühlte, dass sein Blick auf ihr ruhte. Schließlich sagte sie, ohne aufzusehen: »Sie wollten mir doch etwas über die Handelskarawanen erzählen.«

»Ja«, sagte Oliver, »das wollte ich. Wo war ich denn stecken geblieben?«

Garnet musste lachen. »Sie hatten ja noch gar nicht angefangen. Wo starten die Wagen?«

»In Independence. Das ist eine Stadt in Missouri, die letzte vor der Grenze.«

Sie war froh, die Unterhaltung wieder auf neutrales Gebiet gelenkt zu haben; außerdem interessierte es sie wirklich, etwas aus diesen fremden, unbekannten Welten zu hören. Sie fragte: »Gehen die Händler alljährlich den ganzen Weg nach Kalifornien?«

»O nein, das können sie nicht. Es ist viel zu weit.«

»Aber Sie waren da?«

»Gewiss war ich da. Aber man kann die Reise hin und zurück nicht in einem Jahr machen. Es gibt da zwei Gruppen von Händlern. Die brechen in jedem Frühling auf beiden Seiten des Kontinents auf. In der Mitte treffen sie zusammen und tauschen ihre Waren aus. Dann geht jede Gruppe den Weg zurück, den sie kam.« Er biss sich leicht auf die Lippen. »Miss Cameron«, sagte er, »interessieren Sie diese Dinge denn wirklich?«

»Gewiss interessieren sie mich.« Zum ersten Mal, seit er auf dem Fußboden saß, sah sie ihn an. Oliver schien amüsiert und ein wenig ungläubig. Garnet sagte: »Ich bin an allem interessiert, was ich nicht kenne.«

»Auch an Dreck und Sand und fluchenden Ochsenkerlen?«

»Was sind Ochsenkerle?«

»Das sind die Männer, die Ochsengespanne über die Santa-Fé-Spur treiben.«

Garnet seufzte. »Solange ich denken kann, hat man mir vorgehalten, dass ich anders als andere sei«, sagte sie. »Vielleicht stimmt es. Jedenfalls legte ich immer Wert darauf, die Dinge kennenzulernen, wie sie sind. Ich war immer an allem Wirklichen interessiert. – Und Sie?« Sie sah ihn an.

»Ja – ich!«, sagte er und zuckte die Achseln.

»Sie sind der erste Mann, der mit mir wie ein Mensch spricht«, brach es aus ihr heraus. Sie lief tiefrot an und senkte den Kopf.

»Wahrhaftig«, lachte Oliver, »es geht mir nicht anders. Es gibt in New York so wenig vernünftige Wesen, dass auch ich glücklich bin, mit Ihnen wie mit einem Menschen reden zu können.«

Nun lachten sie beide. Oliver fand, dass es ganz besonders reizvoll sei, diese grauen, schwarz bewimperten Augen zornig aufleuchten zu sehen; er dachte, dass es eine große Freude für einen Mann sein müsse, dieses wunderbare Wesen aus dem Treibhaus New York herauszuführen, bevor es in dem hier herrschenden Dunst noch völlig ersticke und seine herrliche Unbefangenheit verlöre.

»Bitte, fahren Sie fort«, sagte Garnet. Oliver sah sie an, als wisse er gar nicht mehr, wovon er gesprochen habe. Aber das half ihm nichts; sie wiederholte: »Die Händler brechen gleichzeitig auf beiden Seiten des Kontinents auf und treffen sich in der Mitte.«

»Ja.« Er nahm den Faden auf. »Jedes Jahr im April bringen die Händler aus den Staaten ihre Waren nach Independence. Hier verladen sie die Güter in große Planwagen. Jeder Händler hat seine eigenen Wagen, seine eigene Mannschaft, seine Packer, Maultiere, Ochsentreiber und Köche. Er führt seine Kolonne nun zu einem Sammelplatz in der Prärie, dieser Sammelpunkt wird Council Grove genannt. Hier werden nun die großen Karawanen gebildet.«

»Und bis zum Council Grove reisen alle Gruppen zusammen?«

»Nein. Es bilden sich einzelne Reisegesellschaften. Diejenigen, die zuerst im Council Grove ankamen, müssen es auch zuerst wieder verlassen. Natürlich kommt es vor, dass eine Gesellschaft die andere einholt, dass verschiedene Gruppen draußen in der Prärie zusammentreffen und dann die weitere Reise gemeinsam fortsetzen.«

»Wohin geht die Fahrt dann zunächst?«

»Nach Santa Fé. Das ist eine Stadt in einer mexikanischen Provinz, Neu-Mexiko genannt. Sie liegt an die achthundert Meilen westlich von Independence.«

Garnet nickte. »Soweit verstehe ich. Bitte, fahren Sie fort.«

»Ja, sehen Sie: Während diese Händler nun auf dem Weg von Independence nach Santa Fé sind, trifft eine andere Kolonne in Santa Fé ein, um hier mit ihnen zusammenzutreffen.«

»Woher kommt diese Kolonne?«

»Aus Kalifornien. Und das ist nun die Gruppe, mit der ich gearbeitet habe. Jedes Jahr im April, während die Missourihändler ihre Waren in Planwagen packen, trifft unsere Gesellschaft in Kalifornien zusammen. Wir starten in einem kleinen Dorf, Los Angeles geheißen. Und zwar reisen wir nicht mit Planwagen, sondern verwenden Packmaulesel. Das ist nötig, weil wir sehr steile Gebirgspässe überqueren müssen. Während nun die Planwagen aus Missouri westwärts ziehen, marschieren wir nach Osten. Im Hochsommer, um den 1. Juli herum, treffen wir in Santa Fé zusammen.«

»Ich habe gesehen, was Sie von New York nach Santa Fé bringen«, sagte Garnet. »Stoffe und Haushaltsartikel. Wenn Sie nun aber in entgegengesetzter Richtung reisen, von Kalifornien nach Santa Fé – was für Waren führen Sie da mit?«

»Maulesel. Tausende von Mauleseln. Die kalifornischen Maulesel sind die besten der Welt. Die Missourihändler kaufen sie und treiben sie ostwärts. Außerdem bringen wir Seiden und Jade aus China und Gewürze von den Inseln der Südsee.« Garnet starrte auf den Globus; sie sah die weite elfenbeinfarbige Fläche, auf der in Großbuchstaben GROSSE AMERIKANISCHE WÜSTE stand. Seide und Jade und Gewürze, dachte sie. Sie hob ihre Augen und fragte: »Wie weit ist es von Kalifornien bis Santa Fé?«

»Ungefähr neunhundert Meilen.«

»Wie?«, sagte sie. »Wollen Sie behaupten, dass Sie alljährlich zweimal neunhundert Meilen auf Mauleseln reiten?« Oliver lachte. »Wir reiten tatsächlich über zwölfhundert Meilen auf jedem Weg. Im Vogelflug sind Los Angeles und Santa Fé neunhundert Meilen voneinander entfernt, auf dem Landwege muss man erhebliche Umwege machen. Unter anderem muss man einen Canyon umgehen.«

»Was ist ein Canyon?«

»Eine Erdspalte. Oder eine Bergschlucht, wenn Sie so wollen. Der Canyon des Colorado-River, von dem ich hier spreche, ist einer der größten. Er muss umgangen werden.« »Gibt es eine Straße von Los Angeles nach Santa Fé?«

»Nicht die Andeutung einer Straße. Nur die Spur, die wir im Kopf haben.«

»Eine namenlose Spur also?«

»Je nun, jedes Ding hat seinen Namen. Man sprach früher vom Großen spanischen Pfad. Spanische Forschungsreisende haben die Reise nämlich zum ersten Male gemacht. Wir nennen unsere Treckspur den Jubelpfad.«

»Wie sonderbar!«, sagte Garnet. »Aber es klingt gut. Warum Jubelpfad?«

Ein schmales Lächeln überzog sein Gesicht. »Solche Reise ist ein hartes Stück Arbeit«, sagte er. »Jedes Mal, wenn wir das Ende vor uns sehen, möchten wir jubeln.«

Garnet sah auf den Globus und suchte im Geist die langen, harten Meilen des Karawanenzuges. Sie sagte: »Welch ein sonderbares Leben Sie sich erwählten! Wie war das: Beabsichtigten Sie von vornherein, da draußen in unbekannter Wildnis zu leben, als Sie Boston verließen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir hatten das durchaus nicht im Sinn. Wir wollten gar nicht nach Kalifornien. Wir hatten vor, bis Santa Fé zu gehen und dann mit den Männern aus Missouri zurückzukehren.«

»Wir? Von wem sprechen Sie noch?«

»Von meinem Bruder Charles. Seine Idee war es, nach Westen zu gehen.«

»Charles?«, wiederholte sie. »Ich glaube, Sie erwähnten bisher nicht, dass Sie einen Bruder hätten.«

»Tat ich das nicht?« Olivers Augen wandten sich von ihr ab – zum ersten Mal, seit er mit ihr sprach. Sie wanderten quer durch das Zimmer zum Kamin hinüber. »Je nun«, sagte er langsam, »ich habe allerdings einen Bruder. Merkwürdig, dass ich bisher nicht von ihm sprach. Charles ist zehn Jahre älter als ich.«

Garnet lächelte. »Warum nennen Sie ihn nicht Charlie?«

»Wen? Charles? Wahrhaftig, das wäre mir nie in den Sinn gekommen.« Er sah noch immer ins Feuer. »Charles gehört kaum zu der Sorte Männer, die man geneigt ist, mit Kosenamen zu rufen.«

»Oh«, sagte sie, »ist er zu würdevoll dazu?«

»Vielleicht«, sagte er, »vielleicht ist das der richtige Ausdruck: Würdevoll!«

»Wie kam es, dass Ihr Bruder etwas von Kalifornien wusste?«

Oliver wandte ihr wieder sein Gesicht zu. »Oh«, sagte er, »von Kalifornien hatten wir schon früher gehört. Unsere Eltern starben, als ich noch ein Kind war; wir wuchsen dann bei meinem Onkel auf. Der leitete eine Schifffahrtsgesellschaft. In Boston werden viele Schiffe für den Westhandel beladen, die fahren nach Kalifornien, rund ums Kap Horn herum. Auch Überlandwagen nach Santa Fé werden dort ausgerüstet. Charles arbeitete bei der Schifffahrtsgesellschaft meines Onkels. Er ist ehrgeizig, das war er schon immer. Eines Tages kam er zu mir, während ich noch in Harvard studierte, und schlug mir vor, das College zu verlassen und zusammen mit ihm in den Santa-Fé-Handel einzutreten.«

»Und Sie verließen sofort das College?«

»Sogleich«, sagte Oliver. »Ich glaube, ich habe einen Freudenschrei ausgestoßen. Die Gelehrsamkeit liegt mir nicht. Wir nahmen Charles’ Ersparnisse und rüsteten ein paar Wagen aus. Charles gehört zu den Leuten, die immer Ersparnisse haben. In Santa Fé trafen wir mit den Händlern zusammen, die aus Kalifornien kamen. Sie erzählten uns, dass der Handel jenseits des Missouri-River profitabler sei. Deshalb beschlossen wir, nach Kalifornien zu gehen.«

»Und«, sagte Garnet, »als Sie dort ankamen – in Kalifornien – da gefiel Ihnen das Land und Sie blieben?«

Er nickte bestätigend. »Ja, wir blieben. Ich bin noch immer im Handelsgeschäft, ich bin eine ziemlich ruhelose Seele und habe nicht viel Neigung, mich irgendwo niederzulassen. Charles ist anders. Er hat sich sesshaft gemacht. Wir haben eine Ranch in der Nähe von Los Angeles, die er verwaltet.«

»Was ist eine Ranch?«

»So etwas wie eine Farm. Nur, es wird da weniger angepflanzt. Hauptsache ist die Viehzucht. Das ist sehr wichtig wegen des Handels mit Häuten. Jedes Jahr werden Tausende und Aberausende von Häuten und Fellen in Kalifornien verschifft.«

»Zu welchem Zweck? Was tut man damit?«

»Man verarbeitet sie zu Leder.« Oliver wies auf seine Schuhe. »Das Leder fast sämtlicher Schuhe, die in den Staaten angefertigt werden, stammt aus Kalifornien«, sagte er.

Garnet zog ihren Rock ein wenig von den Füßen zurück. Sie trug schwarze Pumps aus Ziegenleder, die mit Bändern um die Knöchel befestigt waren. »Wie?«, sagte sie erstaunt, »wollen Sie sagen, dass die Schuhe, die ich trage, aus Kalifornien stammen?«

Er lachte sie an; er freute sich der Gelegenheit, ihre zierlichen Fußgelenke bewundern zu dürfen. Garnet gewahrte seinen Blick und ließ ihren Rock fallen, aber die Sache interessierte sie zu sehr; sie überwand schnell die leichte Verlegenheit. »Bringen Sie die Häute auf dem Überlandpfad?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete er, »Häute lassen sich schlecht auf Mauleseln transportieren. Die Yankeeschiffe aus Boston nehmen sie am Pazifik an Bord. Hier bekommen wir auch unsere Chinawaren, die wir nach Santa Fé mitnehmen.«

Garnet hatte das Gefühl einer Verzauberung. Zwischen ihnen glimmte ein heimlicher Funke. Oliver erschien dem Mädchen in einer Art märchenhaften Lichtes. Es war ihr, als habe er selbst allerlei Wunderwaren an fernen, wunderbaren Orten gesammelt und zusammengetragen. Im Kamin war ein kleines, feines Geräusch. Die zerglühenden Kohlenreste fielen durch den Rost. Es hörte sich an wie ein Seufzer. Garnet erinnerte sich, dass die Mutter ihr aufgetragen hatte, auf das Feuer zu achten. Aber sie konnte sich jetzt nicht entschließen, das Gespräch zu unterbrechen. Sie sagte: »Was für eine Art Leute wohnen in Kalifornien?«

Oliver sah die blauen Lichter in ihrem Haar; er starrte verzückt darauf, während er antwortete: »Mexikaner. Nur, sie haben es nicht gern, wenn man sie so nennt. Sie wollen Kalifornier genannt werden. Dann gibt es da ein paar Hundert Fremde wie Charles und mich, meist Amerikaner.«

»Und Indianer? Sicher gibt es auch Indianer dort?«

Er zuckte die Achseln. »Es gibt da so eine Art zweibeiniger Tiere. Sie Indianer zu nennen, hieße Navajos und Sioux und alle übrigen roten Völkerschaften beleidigen. Wir nennen sie in der Regel Digger.«

»Und die Mexikaner – oder Kalifornier –, wie sind sie dorthin gekommen?«

»Vermutlich sind sie Nachkommen einiger spanischer Kolonisten, die die spanische Regierung vor rund achtzig Jahren von Mexiko heraufgeschickt hatte. Aber das spanische Empire stirbt. Die Kolonisten wurden zusammen mit einigen Priestern hinaufgeschickt, um die Digger zu bekehren; dann wurden sie wahrscheinlich vergessen. Später, als Mexiko seine Unabhängigkeit von Spanien erlangt hatte, schickten die Mexikaner Gouverneure nach Kalifornien. Aber Kalifornien ist so weit aus der Welt und so schwer zu erreichen, dass Mexiko ihm kaum Aufmerksamkeit schenkte. Die Leute, die einmal da waren, lebten weiter, wie sie begonnen hatten. Kalifornien ist ein nahezu unbevölkertes Land. Es umfasst ein ungeheures Gebiet; es ist größer als New York und New England und Ohio zusammen, und doch ist es von einem Ende bis zum anderen nur von etwa sechstausend weißen oder wenigstens teilweise weißen Menschen bewohnt. Die Digger – ich weiß nicht, wie viel ihrer sind – sterben aus. Oh, Miss Cameron, Sie können dort reiten von der Morgen- bis zur Abenddämmerung, ohne einer Menschenseele zu begegnen.«