Kalte Herzen - Gunnar Staalesen - E-Book

Kalte Herzen E-Book

Gunnar Staalesen

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

An einem frostigen Januartag in Bergen, Norwegen, bekommt der Privatdetektiv Varg Veum Besuch von der Prostituierten Hege Jensen. Hege ist eine ehemalige Schulkameradin und Freundin von Veums Sohn Thomas. Hege bittet Veum, nach ihrer Freundin und Kollegin Margrethe, Maggie Monsen, zu sehen. Diese ist verschwunden und seit Tagen nicht mehr gesehen worden. Vor ihrem Verschwinden war sie etwas verängstigt: Sie hatte einen Kunden abgewiesen und war voller Entsetzen zu ihrem Standplatz zurückgekehrt. Varg Veum übernimmt den Fall und wird bald darauf mit der brutalen, beklommenen Realität konfrontiert. Veum entdeckt, dass Maggie von räuberischen Zuhältern und potenziell mörderischen Freiern gepeinigt wurde. Aber Maggies Geschichte erweist sich als noch trauriger, nachdem Veum mehr in Maggies Leben recherchiert. Gleichzeitigt verschwindet in Bergen eine Drogenlieferung aus Dänemark spurlos. Bald findet Veum die erste Leiche. Seine Untersuchung führt ihn in eine dunkle Subkultur, in der korrupter Idealismus tödliche Konsequenzen hat.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 391

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DARK PLACES

Gunnar Staalesen

Kalte Herzen

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Nils Hinnerk SchultzHerausgegeben von Jürgen Ruckh

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung gültig sind.

Originaltitel: Kalde Hjerter

Copyright: © Gyldendal Norsk Forlag AS 2008 (All rights reserved.)

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2022

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Nils Hinnerk Schultz

Mit einem Nachwort von Carsten Germis

© 2022 Polar Verlag e.K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Susanne Wallbaum

Korrektorat: Andreas März

Umschlaggestaltung: Britta Kuhlmann

Coverfoto: © Microgen/Adobe Stock

Autorenfoto: © Helge Skodvin

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: Nørhaven, Agerlandsvej 3, 8800 Viborg, DK

Printed in Denmark 2022

ISBN: 978-3-948392-60-4

eISBN: 978-3-948392-61-1

Diese Übersetzung wurde mit finanzieller Unterstützung von NORLA veröffentlicht.

Wir danken für die Unterstützung.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Ein schnüffelnder Sozialdemokrat

1

Ich tanzte den Brautwalzer mit Beate, aber ich war nicht im Himmel, sondern auf der Hochzeit von Mari und Thomas in Løten, an einem glühend heißen Junitag des Jahres 1997.

Ich hatte sie auf dem Osloer Hauptbahnhof getroffen. Sie kam aus Stavanger, ich aus Bergen. Seit unserer letzten Begegnung hatte sie sich die Haare kurz schneiden und rot strähnen lassen, aber ihre Augen waren genau so wie in meiner Erinnerung: kornblumenblau und mit einem Ausdruck von erbostem Kummer. Sie war jugendlich gekleidet, in Jeans, hellgrünes T-Shirt und eine leichte rotbraune Sommerjacke. Sie umarmte mich kurz, grinste und sagte: »Das Ereignis des Jahres? Unser einziger Sohn heiratet!«

Die Bahnfahrt nach Norden ging auf freundschaftliche Weise vor sich. Unsere Wege hatten sich vor mehr als zwanzig Jahren getrennt, sie war seit vier Jahren Witwe, und vor knapp zwei Jahren wäre ich um ein Haar ihrem zweiten Mann, Lasse Wiig, in die ewigen Wartezimmer gefolgt, falls denn Studienräte und Privatermittler in jenen Gefilden im selben Stockwerk landen.

Auf der Hochzeit war alles plangemäß verlaufen, auch wenn mehrere der Oldtimer, die die Hochzeitsgesellschaft von der Kirche zum Lokal transportieren sollten, angefangen hatten zu kochen. Im Lokal war es um einiges über dreißig Grad. Als der Brautvater, Odd Sverre Midthun, sich erhob und vor aller Augen sein Jackett ablegte, war die Erleichterung mit Händen zu greifen. In Sekundenschnelle war jedes männliche Wesen im Lokal seinem Beispiel gefolgt. Die Frauen an den langen Tischen musterten uns voller Neid, aber es hätte ja doch größeres Aufsehen erregt, wenn Cocktailkleider und Trachten denselben Weg gegangen wären.

Wir befanden uns im Restaurant der ehemaligen Løiten-Brennerei, wo die Dünste von kunstfertig gewürztem Kartoffelschnaps noch immer in den Wänden hingen. NON AGUNT NISI FLUIDA, stand an der einen Wand, was Maris Vater für mich mit »Nichts wirkt außer dem Flüssigen« übersetzt hatte, und da konnte er ja durchaus recht haben – dieses Motto galt für Wasser und Blut wie für Benzin und Aquavit.

Mit Beate zu tanzen war wie ein Sprung dreißig Jahre zurück, in die Zeit, als wir jung und frisch verliebt gewesen waren, als Stavanger unsere Stadt war und die Zukunft noch vor uns lag wie ein endloser roter Teppich, sodass wir nur loszustürmen brauchten. Wir waren sehr schnell gegen eine Mauer geknallt, aber etwas war doch geblieben, und sei es nur, dass wir auf einer zeitlosen Tanzfläche miteinander tanzen konnten, in einem Rhythmus, den wir niemals ganz vergessen hatten, und wenn das letzte Mal noch so weit zurücklag.

Vielleicht passierte es deshalb. Spätnachts, als wir im Myklegård unsere Zimmerschlüssel hervorzogen, blieben wir stehen und schauten einander verlegen an.

»Es wäre so armselig, allein zu sein«, sagte ich.

Sie grinste. »Wenn ich mich nicht irre, haben wir uns auch bei einer anderen Gelegenheit in Versuchung führen lassen.«

»Wie wäre es mit einer Wiederholung wie beim Wunschkonzert?«

»Es wäre jedenfalls eine Wiederholung«, sagte sie, steckte ihren Schlüssel in die Tasche, kam herüber und stellte sich neben mich.

Eine Stunde später lag sie in meinem Arm, schweißnass und erhitzt. Behutsam streichelte sie meine beiden Narben, eine vorn und eine hinten, wo die Chirurgen in Ullevål mich in jener Septembernacht fast zwei Jahre zuvor zusammengeflickt hatten.

»Was ist es für ein Gefühl, fast zu sterben?«, fragte Beate leise.

»Wie ein Kopfsprung«, antwortete ich. »Der erste perfekte Kopfsprung meines Lebens.«

Als ich damals die Augen geöffnet hatte, lag ich in einem Krankenhausbett, mit Kanülen in den Armen, vier dicken Schläuchen, die aus meinem Brustkasten ragten, dick verbundenem Oberkörper mitsamt linker Schulter und einem Gefühl der Taubheit im ganzen Leib. Der Arzt erklärte mir, was ich für ein Glück gehabt hatte. Hätte das Geschoss mich nur wenige Zentimeter tiefer getroffen, hätte es glatt mein Herz durchschlagen. Vermutlich war es irgendwo abgeprallt, denn die Schussbahn bog sich nach oben. Ich hatte viel Blut verloren, und das hätte rasch tödlich enden können, aber es war ihnen gelungen, die Blutung zu stoppen. Mein linker Lungenflügel war punktiert, und ich hatte munter in die Brusthöhle geblutet. Sie hatten mein Brustbein längs geteilt, um die Blutung aufhalten zu können. Die Spitze des linken Lungenflügels war entfernt worden, ich hatte eine Rippe gebrochen, und auf dem Weg nach draußen hatte die Kugel etwas mitgenommen, das der Arzt »scapula« nannte. Er hatte mir bereitwillig erklärt, was unter Scapula zu verstehen ist: der Knochen auf der Rückseite der Schulter. »Danken Sie Ihrem Schicksal«, hatte er abschließend gesagt, »dass es in Groruddalen passiert ist und nicht auf einer Felseninsel draußen im offenen Meer. Und dass jemand einen Rettungswagen gerufen hat, sodass wir Sie schnell auf den Operationstisch legen konnten.« – »Aber«, hatte ich gefragt, »da war doch noch einer. Wie ist es dem ergangen?« Der Arzt senkte den Blick und antwortete: »Nicht so gut wie Ihnen, leider.«

Am Tag nach der Hochzeit ging ich mit Beate zu seinem Grab. Der Friedhof von Gamlebyen lag im Schatten von Ekebergåsen. Dort, wo wir standen, waren wir auf allen Seiten von Bäumen umgeben. Gleich nebenan fuhr ein Güterzug auf Rädern, die gequält auf den Schienen schrien. Bei meinem ersten Besuch hier hatte auf dem Grab ein schlichtes Holzkreuz gestanden. Nun war das Kreuz durch einen Stein ersetzt worden. In den Stein waren sein Name sowie sein Geburts- und Todesjahr eingemeißelt, dazu drei kurze Wörter: Tot für immer.

Sie las seinen Namen vor und sah mich an. »Wer war er?«

»Eine Art Klient. Ich habe ihn kennengelernt, als du und ich noch verheiratet waren. Später bin ich ihm mehrmals über den Weg gelaufen, leider. Eine gescheiterte Existenz. Einer von denen, bei denen wir versagt haben.«

Sie nahm meine Hand und drückte sie sanft. »Es war sicher nicht deine Schuld, Varg.«

»Hoffentlich nicht. Aber aus irgendeinem Grund fühlen wir uns immer schuldig, auch wenn wir streng genommen in ihrem Leben nur zufällige Passanten sind.«

»Ich weiß, was du meinst. Mir geht es auch oft so.«

Ich nickte und hob den Blick. Ein Flugzeug glitt lautlos in Richtung Fornebu. Bald würde auch das Geschichte sein. In ein oder zwei Jahren würde der Osloer Flughafen verlegt werden.

Wir fuhren mit einem Taxi nach Fornebu und warteten auf unsere Flüge, ihren nach Stavanger und meinen nach Bergen.

»Du siehst so nachdenklich aus, Varg … bereust du etwas?«

»Nein, nein. Wir sollten das zu einer Tradition machen, einmal alle fünf Jahre oder so.«

»Ha, ha. Darüber zerbrichst du dir also den Kopf? Und nicht mehr über dieses Grab?«

»Nein. Ich musste nur an etwas denken … einen Fall, mit dem ich zu tun hatte. Vor einem halben Jahr. Im Januar – und noch etwas länger. Aus irgendeinem Grund will der mir nicht aus dem Kopf.«

»Weshalb nicht?«

»Erinnerst du dich an Hege?«

»Hege … du meinst doch nicht Hege Jensen, die, die mit Thomas …«

»Doch. Die.«

Weiter kamen wir nicht. Ihr Flug wurde aufgerufen, und ich brachte sie zum Gate. Es gab keinen Abschiedskuss. Dazu waren wir nicht jung genug. Aber ich gab ihr eine Umarmung mit auf die Reise, und meine Wange wurde von einer sanften Hand gestreichelt.

Eine Dreiviertelstunde darauf saß ich in meinem Flugzeug, nicht nur auf dem Weg nach Bergen, sondern auch auf dem Weg ein halbes Jahr zurück in der Zeit, zu dem Tag mitten im Monat, als der Januar jählings umgekippt war, von weißem, schönem Winter zu Schneematsch und Regen und Chaos.

2

Es war ein blasser, bleicher Januartag. Ich stand an meinem Fenster und schaute hinaus.

Vor dem Wochenende war frostklares Winterwetter gewesen, in den Bergen der Umgebung erstklassige Skiverhältnisse. Ich war spät am Freitagmorgen einige Runden in der Lichtloipe gegangen, unter einem mit Sternen gespickten Winterhimmel, in einer von schneeschweren Bäumen umkränzten Spur, ein so weihnachtskartenschönes Erlebnis, dass ich gern jemanden gehabt hätte, dem ich es schicken könnte. Aber das hatte ich nicht, und schon in der Nacht auf den Samstag kam der Wetterumschwung mit kräftigem Wind von Südwesten. Der Regen spülte den Schnee davon, verwandelte ihn in Kaskaden aus Wasser, füllte Keller, sorgte auf den Straßen für Chaos und stellte innerhalb eines halben Tages das gesamte Dasein auf den Kopf.

Am Montagmorgen war alles wieder normal. Unten auf dem Fischmarkt hatten sich nur wenige Händler die Mühe gemacht, ihre Verkaufsbuden zu öffnen, aber sie sahen allesamt nicht so aus, als ob sie mit großem Andrang rechneten. Das Angebot war eher mager, und die Marktleute schlangen sich immer wieder die Arme um den Leib, um nicht zu sehr zu frieren.

Für Privatermittler, die keine Scheidungsangelegenheiten übernehmen, ist der Januar ein elender Monat. Als ich morgens ins Büro gekommen war, hatte auf meinem Anrufbeantworter eine einzige Mitteilung gewartet, und im Briefkasten war nicht einmal ein Fensterbriefumschlag zu finden gewesen. Wer Rechnungen verschickte, wusste genau, dass so kurz nach Weihnachten bei den meisten die Kasse leer war, und die Werbesendungen, die im Dezember ihre Wirkung nicht getan hatten, würden im Januar auch nichts ausrichten können.

Ich hielt eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffees in der Hand. Vom Fenster her zog es kalt, und ich hatte die Finger fest um die Tasse geschlossen, um warm zu bleiben.

Ich hatte die Tageszeitungen gründlich gelesen, aber auch dort war wenig Erfreuliches zu finden gewesen. Alle schrieben über das Unwetter am Wochenende. Ein Haus in Mathopen war angezündet worden, und die Polizei vermutete rassistische Motive. In Italien waren bei einem Zugunglück acht Menschen ums Leben gekommen. Børge Ousland näherte sich dem Ende seiner Wanderung durch die Antarktis. Ole Gunnar Solskjær hatte bei dem 2 : 1-Sieg von Manchester United im White Hart Lane über Tottenham ein Tor geschossen. Ein Mann war übel zusammengeschlagen draußen in Skuteviken gefunden und von einem vorbeikommenden Taxi in die Notaufnahme gebracht worden. Das Krankenhaus hatte die Polizei informiert, aber der Mann hatte sich geweigert, Anzeige zu erstatten. Die Polizei kommentierte, der Verletzte sei ein alter Bekannter. Sie gingen davon aus, dass es sich um eine Abrechnung unter Kriminellen gehandelt habe. Zugleich teilte der Polizeichef mit, es seien gegen die Drogenszene der Stadt gerichtete Störaktionen geplant. Mehrere Schulleiter hatten ein großes, zum Teil verstecktes Drogenproblem an ihren Schulen gemeldet.

Ich setzte mich an den Schreibtisch und schaute den Bildschirm an, auf dem einige Vierecke in unterschiedlichen Farben ziellos vor schwarzem Hintergrund umherschwebten. Bildschirmschoner hieß das, das hatte ich inzwischen gelernt.

Der fast zwei Jahre zurückliegende Aufenthalt in Oslo hatte länger gedauert, als mir lieb gewesen war. An den Tagen nach der Operation hatte mich eine kräftige Infektion in einen vierzehn Tage anhaltenden Rausch aus Fieberphantasien und intensiver Behandlung geschickt. Erst gegen Ende Oktober war ich entlassen worden und hatte noch eine Woche bei Thomas und Mari auf dem Sofa gehaust, ehe die Ärzte das Risiko eingehen mochten, mich über die Berge zu schicken. Im Winter war ich dann mehrmals zur Kontrolle im Haukeland gewesen, zum Glück immer mit negativen Ergebnissen.

Nach vier Monaten Krankschreibung war ich Ende Februar ins Büro zurückgekehrt, noch immer mit Schmerzen in der Schulter, aber es ging jeden Tag besser, solange ich die vorgeschriebenen Übungen machte. Ich hatte aus der Rekonvaleszenz einen technologischen Fortschritt mitgebracht, einen Computer, der nun leise dröhnend unter dem Schreibtisch auf dem Boden stand, eine Tastatur, die um einiges leichter zu handhaben war als meine alte Schreibmaschine, und einen Bildschirm, der im wahrsten Sinne des Wortes ein Fenster zur Welt darstellte. Die kleine Maus kauerte wie eine gespaltene Schildkröte neben der Tastatur, und ich war nur ein oder zwei Tastendrucke von Wissen und Information aller Welt entfernt. Ich hatte mir eine E-Mail-Adresse zugelegt und gelernt, die Autobahnen des Internets zu befahren. Dabei landete ich nicht ganz selten auf einer Seitenstraße in dem dunkelsten elektronischen Wald, aus dem es keinen anderen Ausweg gab, als auf Ctrl. Alt.Del. zu drücken und wieder von vorn anzufangen.

Nach dem einen Jahr hatten noch nicht viele meine E-Mail-Adresse, und ich hatte im Postfach kaum Mitteilungen vorgefunden. Kein Wunder also, dass ich beide Augenbrauen hob, als ich die Tür zum Treppenhaus aufgehen hörte. Vorsichtige Schritte durchquerten das Wartezimmer, und dann wurde an meine Bürotür geklopft. Ich ging hin, öffnete und bedachte meine potentielle Mandantin mit meinem wärmsten Lächeln, so warm, wie ich es an einem Montag im Januar eben zustande brachte.

Sie sah mich mit einer Art von routinierter Distanz an, sagte aber nichts.

Ich erwiderte ihren Blick und sagte: »Kommen Sie herein. Ich habe gerade Kaffee gekocht.«

»Danke.«

Sie trat ein und sah sich misstrauisch um.

Sie kam mir sofort bekannt vor. Sie war Ende zwanzig, nicht direkt hübsch, und das markante Make-up, das die schönen Augen betonte, konnte deren bitteren Zug nicht verbergen. Ihre Haare waren schwarz, kaum von Natur aus, und auch ihre vollen Lippen hatten etwas Strenges und Bitteres. Sie hatte nicht viele Lächeln zu verschenken, und für mich war keins dabei. Sie trug eine praktische weite Daunenjacke von dunkelroter Farbe und nicht ganz so praktische hautenge graue Jeans. Die hohen schwarzen Stiefel hatten Absätze, auf denen zu balancieren langes Training erheischte.

Ich streckte die Hand aus. »Varg.«

Sie erwiderte mit einem schlaffen Händedruck: »Hege.«

»Wir kennen uns doch irgendwoher, oder?«

Für einen Moment schaute sie in eine andere Richtung. »Ja, vielleicht.«

Ich musterte ihr Gesicht. Irgendwo dahinter sah ich ein jüngeres Gesicht, ein Mädchen von vierzehn, fünfzehn, schon damals mit einem traurigen Zug um den Mund. »Von …«

»Kann ich rauchen?«

»Wenn es sein muss.«

Sie zog eine Packung aus der patinagrünen Schultertasche, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit einem kleinen Feuerzeug an. Danach sah sie mich durch den Rauch an. »Ich war mit Thomas in einer Klasse. Auf der Grundschule.«

»Ja, jetzt weiß ich es wieder. Hege …«

»Jensen.«

»Und ihr wohntet damals …«

»Im Nye Sandviksvei.«

»Aber … setz dich.« Ich wies auf den Mandantensessel und nahm eine saubere Tasse aus dem Regal über dem Spülbecken. »Du wolltest doch einen Kaffee?«

»Ja, danke.«

Ich schenkte ihr ein, und sie lächelte dankbar. Kaffee und Zigaretten. Einige brauchten nicht mehr als das.

Ich nahm hinter dem Schreibtisch Platz, mit dem Rücken zum Fenster, hob die Hände und sagte: »Also, was führt dich her?«

Sie musterte mich skeptisch. »Ich weiß nicht so ganz, wie ich anfangen soll.«

Ich lächelte freundlich, streckte die Hand nach einem Kugelschreiber aus und öffnete mein Notizbuch. »Sag doch einmal, was du so machst.«

»Was ich … wo ich arbeite, meinst du?«

»Ja, gern.«

Sie sah an mir vorbei. Ihre Kleidung und der Zug um ihren Mund hatten mich zu raschen Schlussfolgerungen veranlasst, und ich hatte mich nicht geirrt. »Ich – verkaufe mich selbst.«

»Aha.« Ich versuchte, ihr zu verstehen zu geben, dass das hier in meinem Büro keine Rolle spielte. »Das tun wohl die meisten, wenn man genauer hinschaut.«

»Bild dir ja nicht ein, dass es so einfach ist«, rief sie wütend, so als hätte sie eine kräftigere Reaktion von mir erwartet.

»Hör mal, Hege …« Ich beugte mich vor. »Ich bin ausgebildeter Sozialarbeiter, und mir sind bei meiner Arbeit eine Menge Schicksale begegnet. Ich verurteile niemanden.« Nach einer winzigen Pause fügte ich hinzu: »Aber jetzt möchte ich doch wissen, was du von mir willst.«

»Es geht um … eine Kollegin. Eine Freundin. Sie ist verschwunden.«

»Seit wann ist sie das?«

»Seit … vor dem Wochenende. Ich habe sie seit Freitag nicht mehr gesehen.«

»Und sie nimmt sich sonst nicht für ein langes Wochenende frei?«

Hege verdrehte die Augen. »Langes Wochenende? Bei unserem Job? Da geht doch das große Geschäft vor sich.« Als ich dazu nichts sagte, fuhr sie fort: »Maggi und ich haben uns immer gegenseitig informiert, wenn was passiert war. Wir wissen schließlich, was wir riskieren.«

»Ja, ja. Natürlich. Sie heißt Maggi?«

»Ja. Also, Margrethe. Aber wir haben sie nur Maggi genannt. Sie kann doch hier nicht heißen wie die Königin von Dänemark.«

»Nicht?«

»Hä?«

»Einige hätten vielleicht gerade das spannend gefunden.«

»Du etwa?«

»Nein, ich gehe weder in diesen noch in jenen Kreisen ein und aus, um es mal so zu sagen. Wie heißt sie mit Nachnamen?«

»Monsen.«

Ich notierte. »Und sie wohnt …«

»Sie hat eine kleine Wohnung in der Strandgate.«

»Heißt das, sie nimmt Kundschaft mit nach Hause?«

»Das kann durchaus vorkommen.«

»Da draußen ist also eure Basis?«

Sie nickte stumm und starrte mich an.

Hege Jensen … ich versuchte, mich an sie zu erinnern. Wenn sie so alt war wie Thomas, dann war sie jetzt fünf- oder sechsundzwanzig. Dann hatte ich sie vor zehn, zwölf Jahren zuletzt gesehen, damals sicher im Vorübergehen oder auf einer Schulvorführung. An ihre Eltern konnte ich mich jedenfalls nicht erinnern. Vage erinnerte ich mich, dass sie eins von vier Mädchen gewesen war, die bei einer Schulabschlussfeier ein Poplied vorgeführt hatten, aber sicher war ich mir nicht.

»Ist in letzter Zeit etwas Besonderes passiert, etwas, das dir Grund zur Besorgnis gibt?«

»Ja, das ist es ja gerade. Es war am Freitagabend. Da hat sie eine Tour abgelehnt. – Einen Kunden abgewiesen«, fügte sie hinzu, als ob ich den Jargon nicht verstanden hätte.

»Ach was. Das passiert sicher ab und zu, nehme ich an?«

»Das schon. Aber sie hat so heftig reagiert. Und dann hat Tanya gesagt, sie könnte den Typen übernehmen.«

»Tanya?«

»Ja, eine von den anderen – draußen.«

»Was ist dann passiert?«

»Na ja, sie ist mit ihm gefahren und kam Stunden später zurück, sie hat schrecklich geweint und war übel zugerichtet. Sie hatte überall blaue Flecken und sah einfach entsetzlich aus. Sie sagte, sie würde die Typen melden, nicht bei der Polizei, sondern … ja, du verstehst schon, wenn einer von denen noch einmal bei uns auftauchte, würde sie ihn selbst umbringen, wenn das nur möglich wäre.«

»Die Typen? Du hast von mehreren gesprochen?«

Sie nickte.

»Wie hat Maggi darauf reagiert?«

»Gar nicht, die war nicht dabei. Da nicht. Sie hatte wohl gerade eine Tour. Ich weiß nicht. Ich habe sie seither nicht mehr gesehen.«

»Du hast sie nicht mehr gesehen, seit diese Tanya von ihrer Tour zurückgekommen ist, habe ich das richtig verstanden?«

»Ja. Das hast du richtig verstanden«, rief sie ungeduldig, als ob sie mit einem Begriffsstutzigen redete.

»Ja, du hast sicher daran gedacht, damit zur Polizei zu gehen?«

»Zur Bullerei?« Sie sah mich verächtlich an. »Du weißt doch, wie ernst die so was nehmen, wenn es um solche geht wie Maggi und mich. Was glaubst du denn, weshalb ich zu dir komme?«

»Hast du gewusst, wer ich bin? Der Vater von Thomas?«

Sie nickte, und für einen Moment schien etwas von der Unschuld der Jugend in ihrem Gesicht aufzuscheinen. »Er … wir sind einmal den Strandkai entlanggegangen, und da hat er auf die Fenster hier gezeigt und gesagt: ›Dort oben hat mein Vater sein Büro. Er ist Privatdetektiv‹.«

Ich verspürte einen Stoß der Wehmut im Bauch, eine plötzliche Sehnsucht nach dem Sohn, der mit einer Schulkameradin unten vorbeigegangen war und auf mein Fenster gezeigt hatte, aber viel zu selten selbst zu mir hochgekommen war.

»Aber … sind wir uns damals richtig begegnet?«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich war nie bei euch zu Hause. Und an Thomas’ Mutter kann ich mich besser erinnern als an … dich.«

»Na ja … ist ja vielleicht auch kein Wunder. Aber … zurück zu dem Fall. Wenn sie wirklich verschwunden ist, dann hat die Polizei einen ganz anderen Apparat zur Verfügung als ich.«

»Wirklich? Glaubst du mir nicht?«

»Doch, doch, das schon. Aber … Es ist doch erst ein paar Tage her, oder? Es kann eine natürliche Erklärung für alles geben. Sie hatte nicht zufällig irgendwelche Pläne für das Wochenende zum Beispiel?«

»Nein, stell dir vor, die hatte sie nicht. Denn dann hätte sie mir davon erzählt.« Sie schob den Sessel ein Stück zurück, wie um aufzustehen. »Sag mal, nimmst du den Job oder nicht?«

»Doch, doch. Versuchen kann ich es jedenfalls. Aber dazu brauche ich noch ein paar Auskünfte.«

»Dann frag!«

»Ich brauche die genaue Adresse in der Strandgate. Du hast nicht zufällig einen Schlüssel zu ihrer Wohnung?«

Sie nickte kurz. »Deshalb weiß ich ja, dass sie nicht dort ist. Wir haben Schlüssel voneinander, eben für den Fall, dass etwas passiert. Dass eine von uns plötzlich verschwindet.«

»Dann sollten wir gleich mal dort vorbeischauen.«

»Wir?« Sie sah mich skeptisch an.

»Ja, oder eben ich. Allein.«

»Das war nicht, weil ich … ich hatte mehr an dich gedacht, und an … deinen guten Ruf.«

»Der ist ohnehin schon reichlich ausgefranst. Eine Bordsteinschwalbe mehr oder weniger spielt da auch keine Rolle. Was ist mit ihrer Familie, kennst du die?«

Sie seufzte resigniert. »Du weißt doch. Mädchen wie wir, wir kriegen am Arbeitsplatz eher keinen Familienbesuch, und wenn doch, dann gibt es nur Ärger.«

»Du meinst …«

»Nein, aber es kommt schon vor, dass ein Bruder oder Vater oder Onkel auftaucht, um sich eine Nummer zu kaufen, und der trifft dann auf Schwesterchen oder Tochter oder Nichte. Ganz zu schweigen davon, wenn einer das Goldkind an den heimischen Herd zurückholen will. Dann gibt es auf jeden Fall Krach.«

»Aber … Maggis Familie …«

»Wir reden ja manchmal darüber, aus was für einer Hölle wir kommen. Bei ihr war das auch kein Grund zum Prahlen. Der Vater hat gesoffen, die Mutter gejammert. Der eine Bruder sitzt, offenbar hat es nur die große Schwester einigermaßen geschafft.«

»Aus welchem Stadtteil kommt sie denn?«

Hege zögerte kurz.

»Ich glaube, irgendwo oben aus Minde. Ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Hat sie Drogen genommen?«

»Was glaubst du denn? Was meinst du, verdammt noch mal, weshalb wir auf den Strich gehen? Weil es so verdammt toll ist, in den Arsch gefickt zu werden?«

Ich hob die Hände. »Entschuldige. Aber ich muss doch fragen. Du hast mir einen Auftrag erteilt, oder was?«

»Doch. Du machst es also? Sicher?«

»Ich werde jedenfalls einen Versuch unternehmen.« Ich machte mir noch ein paar Notizen. »Dann habe ich: Adresse, Drogenkonsum, Familie … wie sieht das aus? Um ganz offen zu fragen: Ihr habt wohl einen Zuhälter?«

Sie musterte mich mit derselben Distanz wie zu Beginn unseres Gesprächs. »Wir haben Leute, die sich um uns kümmern, ja.«

»Und daran hast du gedacht, als Tanya gedroht hat, das, was passiert war, zu melden – und zwar nicht bei der Polizei?«

»Sie beschützen uns, wenn das nötig ist, ja. Es kann sich um andere Gruppen handeln, die versuchen, sich in unser Gebiet zu drängen. Oder um Verrückte. Die stehen da draußen so ungefähr Schlange, das kann ich dir sagen. Von LKW-Fahrern in Wagen, die größer sind als ein Berg, bis zu verlegenen Bürotypen in ihren winzigen Volvo Starlet, so eng, dass du dem da drinnen kaum einen blasen kannst, alles. Und du weißt nie, wen du vor dir hast, weißt nie, wer zum Vorschein kommt, wenn sie die Maske abnehmen.«

»Die, die euch beschützen, haben die Namen?«

Ihre Augen weiteten sich ein klein wenig. »Die kann ich dir nicht sagen.«

»Nicht?«

»Nein. Das musst du verstehen.«

»Sind das Norweger?«

»Ja.«

Ich überlegte. »Die, die Maggi abgelehnt hat und mit denen Tanya gefahren ist … weißt du mehr über sie? Hat sie etwas gesagt? Tanya, meine ich.«

»Nichts Besonderes.«

»Tanya, das klingt … ist sie Russin?«

»Ja.«

»Kannst du mich mit ihr in Kontakt bringen?«

Plötzlich grinste sie. »Sie macht sicher eine Tour mit dir, wenn du das meinst …«

»Nein, das habe ich nicht gemeint. Woran erkenne ich sie?«

»Sie hat ungeheuer rote Haare, um das mal so zu sagen.«

»Künstlich?«

Als Antwort hob sie nur die Augenbrauen.

»Ich werde sie natürlich für ihre Zeit bezahlen. Und übrigens …« Ich lauschte dem Summen der kostbaren Festplatte unter dem Schreibtisch. »Wie sieht es mit deiner eigenen Zahlungsfähigkeit aus?«

Ein neuer Versuch zu lächeln, diesmal etwas steifer. »In Naturalien?«

Ihr Zynismus traf mich härter, als ich erwartet hatte. Ich hätte ihr Vater sein können. Sie war mit meinem Sohn zur Schule gegangen. Dennoch war sie bereit, ihre Bonbontüte, so abgegriffen die auch sein mochte, für mich zu öffnen.

»Vielen Dank, aber mir ist Barzahlung lieber. Ich kann aber auch eine Überweisung für dich ausfüllen.« Mein Sachbearbeiter bei der Bank würde sicher einen leichteren Schock erleiden, wenn sich auf meinem Konto plötzlich etwas bewegte, denn in den letzten beiden Monaten hatte ich es mehr oder weniger leergepumpt, aber dieses Risiko ging ich ein.

Sie nickte. »Füll aus, das Geld kriegst du dann.«

»Ich muss dich auch um einen kleinen Vorschuss bitten.«

»Du, das tun wir auch immer. Nachher weiß man ja nie.«

»Dann ist meine Branche, wie es aussieht, ja doch nicht so viel anders als deine.«

»Nicht?«

»Nein.«

Sie öffnete ihre Handtasche und nahm einige Tausender heraus. Ich nahm das Geld entgegen und reichte ihr eine Quittung. Danach bekam ich die Schlüssel zu Margrethe Monsens Wohnung in der Strandgate. »An der Tür steht M. Monsen.«

»Danke. Dann fange ich da an. Und wo finde ich dich?«

Sie schaute an mir vorbei, in Richtung Bryggen. »Überall.« Dann zog sie ein Mobiltelefon hervor. »Du kannst meine Nummer haben.«

Ich gab die Nummer in mein eigenes Telefon ein.

»Und hier ist meine.« Ich reichte ihr eine Visitenkarte.

Sie las, was dort stand, und steckte die Karte in die Tasche. Nach einer kleinen Pause fragte sie mit leichtem Zögern: »Wie geht es Thomas?«

»Der wohnt in Oslo. Studiert. Sie wollen im Sommer heiraten. Er und seine Freundin.«

Sie verzog für einen Moment den Mund, es war halbwegs ein Lächeln und halbwegs eine Grimasse. »Hast du gewusst, dass wir mal zusammen waren?«

»Nein, das …« Ich schob meinen Sessel einen halben Meter zurück und grinste. »Mit anderen Worten, ich hätte dein Schwiegervater sein können?«

»Wenn vieles anders gekommen wäre, ja.«

»Warum habt ihr Schluss gemacht?«

»Na ja …« Sie zuckte mit den Schultern. »So was passiert eben.«

Einen Moment lang blieben wir schweigend sitzen. Wir leerten unsere Kaffeetassen. Dann seufzte sie und stand auf. »Aber dann ist das abgemacht?«

»Das ist abgemacht.«

Ich brachte sie zur Tür. Hege Jensen aus dem Nye Sandviksvei. Ein Zugvogel, der vom Kurs abgekommen war, zu früh im Leben und zu weitab vom Kurs.

Ein letztes Mal erwiderte ich ihren Blick. Dann ging sie zum Fahrstuhl, während ich ins Büro zurückkehrte, einen Blick auf meine wenigen Notizen warf, den Rechner in den Ruhemodus versetzte und in den düsteren Januartag hinausging, ohne große Hoffnungen auf Erfolg.

3

Die Strandgate ist eine der ältesten Straßen in der Stadt. Sie schlängelt sich von einem Jahrhundert zum anderen, von Torgallmenningen bis Nordnes, folgt der Bebauung auf der Halbinsel und ist von Stadtbränden und anderen Katastrophen geformt worden.

Der Block, in dem Margrethe Monsen wohnte, lag in einer der Straßen, die nach der großen Explosion am 20. April 1944 in Trümmern gelegen hatten. Ich war selbst sozusagen um die Ecke von da aufgewachsen, und wenn meine Erinnerung nicht trog, dann waren diese Häuser schon gegen Ende der 1950er Jahre errichtet worden. Das Treppenhaus jedenfalls hatte das unverkennbare Flair der Fünfzigerjahre: schwarze Schieferplatten auf dem Boden, in jeder Etage ein abgeschlossener Müllschacht und blau gestrichene Türen mit einem schmalen vertikalen Fenster aus mattem Drahtglas. Die Haustür unten war abgesperrt, aber der Wohnungsschlüssel passte auch hier.

Das Schild mit dem Namen M. Monsen fand ich im dritten Stock. Ich hätte den Fahrstuhl nehmen können, zog aber die Treppe vor. Ich klingelte mehrmals und wartete auf eine Reaktion aus der Wohnung. Es kam keine.

Unten betrat jemand das Haus, und gleich darauf rumpelte der Fahrstuhl. Er kam im dritten Stock zum Halten, die Tür ging auf, und eine junge Frau mit halblangen blonden Haaren bugsierte eine Karre mit einem anderthalb Jahre alten Kind heraus.

Sie blickte mich fragend an.

»Ich habe gerade geklingelt, bei … meiner Schwägerin.« Ich nickte zur Tür hinüber. »Aber sie scheint nicht zu Hause zu sein.«

»Nein, ich habe sie auch schon länger nicht mehr gesehen.« Die Frau öffnete ihre Handtasche und zog den Schlüssel zur gegenüberliegenden Wohnung heraus.

»Ja, haben Sie denn Kontakt zu ihr?«

»Nein, nein«, sagte sie rasch. »Außerdem wohnen wir erst seit einigen Monaten hier. Und Sie sehen ja, wir müssen uns auf unseren Kleinen konzentrieren.«

Der Kleine reagierte sofort mit ungeduldigem Grunzen und Bewegungen, die annehmen ließen, dass er so schnell wie möglich die Karre verlassen und sich an sein tägliches Wohnungsverwüstungswerk machen wollte.

»Alles klar.« Ich zog den Schlüssel hervor. »Dann schaue ich mal rein, damit wir wissen, dass alles in Ordnung ist.«

Sie musterte mich mit einer Mischung aus Misstrauen und Angst.

»Meine Frau hatte immer schon einen Zweitschlüssel, für alle Fälle.«

»Ja, das ist sicher gescheit.« Sie schloss ihre eigene Tür auf, schob die Karre hinein, nickte kurz und machte die Tür hinter sich zu. Gleich darauf hörte ich aus der Wohnung wildes Freudengeheul: Bahn frei!

Ich schob den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und betrat die Wohnung. Für einen Moment blieb ich stehen und witterte, nahm aber keinen verdächtigen Geruch wahr, dann zog ich die Tür leise hinter mir zu.

Ich stand in einer ziemlich kleinen Diele, die mit einer abgenutzten Kommode möbliert war. Darüber hing ein ovaler Spiegel, und als ich auf den Lichtschalter drückte, fiel ein rötlicher, schmeichelhafter Schimmer in den Raum.

Die Tür zu meiner Rechten führte in ein längliches Bad mit Duschkabinett, Toilette, Waschbecken, einem Medizinschränkchen mit Spiegel in der Tür und einem Plastikkorb für schmutzige Wäsche. Darin lagen einige Kleidungsstücke: Unterhosen, BHs und zwei benutzte Blusen. In der einen Ecke des Raumes stand eine Waschmaschine, daneben eine Trockentrommel. Die Tür war offen, drinnen lag nichts.

Ich öffnete das Medizinschränkchen. Shampoo, Haarspülung, Haarspray, allerlei Schachteln mit schmerzstillenden Mitteln, keins davon rezeptpflichtig, Nagellack und Nagellackentferner, Wimperntusche und Lippenstift. Ich fand eine Dose mit Propolis-Granulat und öffnete sie. Der Inhalt erinnerte an kleine, konzentrierte Haschklumpen, aber als ich vorsichtig einen probierte, erkannte ich den scharfen Geschmack der echten Ware. Ansonsten fand ich nichts Aufsehenerregendes, eher war das Gegenteil der Fall.

Ich ging zurück in den Flur. Als Nächstes betrat ich die Küche. Die war klein und schmal und bot kaum Platz für mehr als Spülbecken mit Ablagefläche, Kühlschrank und Spülmaschine. An der Wand beim Fenster gab es eine Tischplatte, die hochgeklappt und mit einem Haken befestigt werden konnte. Ein Klappstuhl stand vor der Wand, aber weder Stuhl noch Tisch schienen kürzlich benutzt worden zu sein.

Der Kühlschrank war nicht besonders inhaltsreich. Einige Marmeladengläser, eine ungeöffnete Packung Hammelwurst, ein vertrocknetes Stück Ziegenkäse. Ich schlug die Tür rasch wieder zu. Nicht hier hatte sie ihre Seele hinterlegt.

Durch die Diele erreichte ich das Wohnzimmer. Das sah aus, wie Wohnzimmer eben aussehen. Die Stereoanlage war nicht so dominierend, wie sie es bei einem Mann gewesen wäre, und der Fernseher war nicht das neueste Modell. Sie hatte einige Regalfächer mit CDs und Kassetten, aber keine Bücher. Auf dem Boden vor dem abgenutzten Couchtisch lagen einige Illustrierte und zwei Zeitungen, und die Stühle sahen aus wie vor fünfzehn Jahren bei Regenwetter auf dem Sperrmüll gefunden. Aber die Feuchtigkeitsflecken waren wohl eher Bier und Schnaps zu verdanken als Regenwasser, fürchtete ich.

Ich registrierte, dass kein einziges Bild an der Wand hing. Auf der Fensterbank standen einige Pflanzen, aber als ich hinging, sah ich, dass sie aus Plastik und mit einer dünnen Staubschicht bedeckt waren.

Aus alter Gewohnheit warf ich einen Blick hinter das durchgesessene Sofa. Dort hatte jemand eine blaue Tasche mit dem Aufdruck Fjord Line untergebracht. Ich bückte mich, zog die Tasche hervor und schaute hinein. Sie enthielt nichts als einige zusammengeknüllte Plastiktüten aus dem Supermarkt. Auf den Tüten stand SuperBrugsen, was mir aber nur sagte, dass sie irgendwann mit der Dänemarkfähre auf Einkaufsfahrt gewesen war, hin und zurück. Vielleicht hatte sie sich die Tour sogar erarbeitet, ein Geschäft, das, soviel ich gehört hatte, durchaus nicht ungewöhnlich war. In der Bar der Dänemarkfähre saßen die Moral locker und das Geld in der Brieftasche noch lockerer. Eine fleißige Person konnte problemlos eine Handvoll Besuche in der Kabine schaffen.

Die Tür zum Nachbarzimmer war angelehnt. Ich stieß sie ganz auf und blieb in der Türöffnung stehen.

In dieses Zimmer hatte jemand einiges investiert. Das Bett war groß und breit. Auf dem Boden lag ein weicher Teppich, und die Wände waren mit samtroter Tapete mit Königslilien in Seidenglanz bedeckt. In der Ecke stand ein großer dunkelbrauner Schrank. Ich ging hinüber und drehte den Schlüssel um. Zwei Türen öffneten sich. Auf beiden Innenseiten waren große Spiegel angebracht, und an den Garderobenstangen hingen allerlei Kostüme, die meisten schwarz, phantasievoll gestaltet und mit unterschiedlich angebrachten Öffnungen, je nach Geschmack.

Ich ging zum Bett und schlug die Decke beiseite. Die Bettwäsche war ordentlich und frisch gewaschen. Auch hier hingen keine Bilder an der Wand. Auf mich wirkte das eher wie ein Arbeitsplatz, nicht wie ein Wohnraum. Als Erstes würde ich herausfinden müssen, ob sie noch eine andere Adresse hatte.

Es schien in der ganzen Wohnung keine persönlichen Habseligkeiten zu geben, es sei denn …

Ich ging zurück in die Diele und öffnete eine Kommodenschublade nach der anderen. In der obersten lagen nur zwei Mützen und einige Handschuhe. In der untersten fand ich das Gesuchte: mehrere große Umschläge, ein kleines Fotoalbum, einen Stapel Rezepte, Atteste und andere Papiere.

Rasch blätterte ich die Papiere durch. Ich fand weder Führerschein, falls sie einen hatte, noch Pass oder andere Ausweispapiere. Es waren zumeist alte Quittungen und Rezepte für unterschiedliche Medikamente, einige kannte ich, andere nicht. Vor allem sah es nach Schlaftabletten unterschiedlicher Stärke und Beruhigungsmitteln aus.

Das kleine Album hatte einen dunkelroten Plastikeinband und ein altes Touristenfoto von Bryggen auf der Vorderseite. Daneben stand der passende Text: Greetings from Bergen.

Die meisten Fotos waren schwarz-weiß, einige neuere farbig. Auf den meisten war dieselbe Frau zu sehen. Als junges Mädchen war sie auf einer Straße fotografiert worden, die ich nicht sofort erkannte, die aber irgendwo in Bergen zu liegen schien. Weiter hinten gab es einige Bilder aus einem Fotoautomaten und eine Handvoll Fotos, die mit überaus zittriger Hand gemacht worden waren und auf denen sie in lustiger Runde in einem Lokal saß, das mich stark an das Børs erinnerte. Zwei Ferienbilder stammten von einem Strand irgendwo am Mittelmeer, sie saß mit einem Glas mit Schirmchen da und grinste in die Kamera.

Auf einigen der frühen Bilder waren noch andere Kinder zu sehen, aber ob es sich um Geschwister oder Spielkameraden handelte, war schwer zu sagen. Mehrere Fotos waren an einem Hang mit einem weißen Gebäude im Hintergrund aufgenommen worden. Wenn ich mich nicht irrte, handelte es sich hier um den Leapark mit Lea Hall oder der Solhaugschule, wie sie einst geheißen hatte, im Hintergrund. Dann hatte Hege mit der Vermutung, dass Margrethe aus Minde kam, recht gehabt.

Das einzige Bild, auf dem Erwachsene vorkamen, war ein Sommerbild, irgendwo auf dem Land aufgenommen, vor einer Hütte mit hohen Bergen im Hintergrund. Das konnte überall in Westnorwegen sein, von Ryfylke bis zum Nordfjord. Das kleine Mädchen, das ich für Margrethe hielt, saß mit zwei anderen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, an einem Holztisch, zusammen mit fünf Erwachsenen, drei Männern und zwei Frauen, allesamt Ende dreißig. Ich ging davon aus, dass zwei von ihnen die Eltern waren, die anderen vielleicht Onkel und eine Tante, und die beiden Kinder waren ihre Geschwister. Alle lächelten in die Kamera, und es herrschte eine entspannte Stimmung von Sonne und Sommer auf diesem kleinen Foto, das jemand gemacht hatte, als alles viel besser war und niemand fünfzehn oder zwanzig Jahre in die Zukunft schauen konnte.

Das kleine Album passte problemlos in die Tasche meiner Winterjacke, und ich beschloss sofort, es mitzunehmen.

Ich schaute mich gerade ein letztes Mal um, als ich Schatten über das Fensterchen in der Wohnungstür fallen sah. Gleich darauf wurde lange und wütend geklingelt.

Ich hielt den Atem an. Was sollte ich tun? Wer konnte das sein? Und was wollten diese Leute? Ich hoffte, wenn niemand aufmachte, würden sie weggehen. Aber das taten sie nicht. Sie taten dasselbe wie ich auch. Sie schlossen die Tür auf.

4

Für einen Moment standen wir da und starrten einander an. Dann knallte der eine die Tür hinter sich zu. »Und wen zum Teufel haben wir hier? Den Weihnachtsmann?«

Der andere grinste. Ich kannte die Nummer. Laurel und Hardy. Abbott & Costello. Und sie kamen immer in zwei Formaten.

Der Größere führte das Wort. Er war um die vierzig, eins neunzig, breitschultrig und gewandet in einen dunklen, halblangen Wintermantel, als ob er geradewegs von der letzten Vorstandssitzung der Bank käme. Der Grinsende sah eher aus wie sein Laufbursche. Er trug eine Lederjacke und blaue Jeans und hatte sich einen dicken grau gesprenkelten Schal um den Hals gewickelt. Keiner der beiden wirkte besonders sympathisch, jedenfalls nicht nach meinen Maßstäben.

Ich kam zu dem Schluss, dass ich ihnen zuvorkommen musste. Also trat ich einen Schritt vor, streckte die Hand aus und stellte mich als Henriksen vom Finanzamt vor.

Der Große blickte voller Verachtung auf meine Hand, so als ob er sie am liebsten in zwei Teile gebrochen hätte. »Finanzamt. Und was zum Teufel …«

»Kennen Sie Frau Monsen vielleicht? Wo Sie doch ihren Wohnungsschlüssel haben, meine ich.«

Er kam einen Schritt näher, und ich nahm den starken, ein wenig zu süßen Geruch seines Rasierwassers wahr. »Dann zeig uns doch mal deinen Ausweis, Herr Henriksen vom Finanzamt.«

Ich erwiderte seinen Blick. »Wie war noch gleich der Name?«

Der magere Laufbursche schaute nervös zu dem Großen auf.

»Das kann dir doch scheißegal sein.«

»Dann kann dir auch mein Ausweis scheißegal sein. Aber wir können mal kurz bei der Polizei anrufen, wenn du nicht so genau weißt, wer von uns da mehr zu verlieren hat.«

»Kjell«, sagte der Kleine.

»Fresse halten!«

Kjell starrte mich unfreundlich an. Dann legte er mir die Hände flach auf die Brust und stieß mich rückwärts. »Und was hat das Finanzamt hier zu suchen?«

Ich fand das Gleichgewicht wieder und zog mich ins Wohnzimmer zurück, um größere Bewegungsfreiheit zu haben. Die beiden kamen hinterher. Der Kleine blieb in der Türöffnung stehen. Kjell folgte mir auf dem Fuße.

»Es liegen triftige Verdachtsgründe vor«, sagte ich. »Zum Beispiel auf illegale Einkünfte.«

Er schaute mich gereizt an. »Illegale Einkünfte?«

»Kennt ihr Frau Monsen? Wisst ihr, wovon sie lebt?«

»Du, Henriksen … ich glaube, die Behörden haben absolut keinen Grund, hier rumzuschnüf…«, er verstummte. »Wie bist du hier überhaupt reingekommen?«

Mir war klar, dass ich mich jetzt auf dünnes Eis begab. »Ich habe den Schlüssel geliehen, von jemandem in der … Familie.«

»Rolf …«

Dieses Signal war deutlich genug gewesen, aber Rolf war schneller, als ich erwartet hatte. Er umrundete seinen Kumpel. Plötzlich hielt er ein Springmesser in der Hand. Er kam auf mich zu, presste mich mit dem einen Arm an die Wand und drückte mir die Klinge gegen den Kehlkopf, so fest, dass mir das Atemholen schwerfiel. »Bloß nicht bewegen!«, fauchte er mir ins Ohr.

»Denn sonst …«

Kjell trat neben ihn. »Wenn er auch nur eine unerwartete Bewegung macht, schlitz ihn auf!«, befahl er. »Jetzt wollen wir erst mal nachsehen, wer er ist, ob ihm das nun passt oder nicht.«

Er schob die Hand in meine Jacke und suchte mit geübtem Griff nach Innentaschen, öffnete den Reißverschluss der einen und zog meine Brieftasche heraus. Dann trat er einige Schritte zurück und sah die Brieftasche durch.

Es dauerte nicht lange, da stieß er einen langen Pfiff aus. »Henriksen, was? Vom Finanzamt!«

Er hielt meinen Führerschein und meine Bankkarte in die Luft. »Und wem gehört dann das hier? Hast du das gestohlen?«

Rolf schaute zur Seite. »Was steht da, Kjell? Wie heißt er?«

»Veum, steht hier. Varg Veum. Und hier hat er sogar Visitenkarten. Varg Veum, Privatermittler. Strandkai zwei. Leck mich doch mit deinem Finanzamt!«

»Ein privater Schnüffler? Was zum Teufel will der denn hier?«

»Na, das können wir ihn ja fragen.«

»Ja, du hast meine Stimmbänder ja nicht ganz zerschnitten«, murmelte ich mit gepresster Stimme, doch dann merkte ich, dass der Druck der Klinge ein ganz klein wenig nachließ.

»Was zum Teufel machst du hier, Veum?«

»Dasselbe wie ihr, vermute ich mal. Suche nach Maggi.«

»Und wer hat dich damit beauftragt?«

»Die … Familie.«

»Die Familie? Bring mich hier nicht zum Lachen. Die haben sich doch verdammt noch mal nie gekümmert.«

»Die Schwester«, sagte ich.

»Die Schwester?« Kjell sah Rolf an, und der zuckte mit den Schultern. Dann wandte Kjell sich wieder an mich. »Und wieso hat die plötzlich solche Sehnsucht nach der kleinen Maggi?«

»Wenn unser Freund Rolfi das Messer ein bisschen wegnehmen könnte, wäre es vielleicht möglich, ein eher zivilisiertes Gespräch zu führen.«

»Du, die Gespräche, die wir führen, Veum, sind nur selten besonders zivilisiert. Schon gar nicht, wenn uns jemand bei der Arbeit stört.«

»Ich könnte euch ja die Gegenfrage stellen. Was zum Teufel macht ihr hier? Mit welchem Recht brecht ihr in andrerleuts Wohnungen ein?«

Kejll grinste höhnisch. »Andrerleuts Wohnungen? Und wem zum Teufel gehört die Wohnung hier, was glaubst du? Möchtest du vielleicht den Mietvertrag sehen?«

»Dann hast du also die Verantwortung für die gemütliche Einrichtung?«

»Was soll das heißen? Gefällt dir was nicht? Dieses strahlende …« Er hielt inne, denn sein Blick fiel auf die blaue Tasche von Fjord Line, die ich auf dem Sofa hatte liegen lassen, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass sie leer war. Er lief hinüber, öffnete die Tasche und kam zu derselben Erkenntnis. Als er sich wieder zu mir umdrehte, hatte er die Augen drohend zusammengekniffen. »Sag mal, du hast die doch wohl nicht leer gemacht, oder?«

»Was denn leer gemacht? Die war leer.«

»Sicher?«

Ich schaute Rolf an. Sein Blick war hellwach und listig. »Wärst du unter Umständen bereit, das Messer wegzunehmen?«

Sein Blick veränderte sich. Es tauchte ein Funken Humor darin auf, und dann deklamierte Rolf: »Früh aufstehen soll, wer den andern sinnt um Haupt und Habe zu bringen: Dem schlummernden Wolf glückt selten ein Fang, noch schlafendem Mann ein Sieg.«

»Hä?«

»War das etwa zu hoch für dich, Veum?«, fragte Kjell. »Rolf ist ein belesener Mann, muss du wissen.«

»Ich wollte eigentlich niemanden um Haupt und Habe bringen.«

»Nein? Was wolltest du dann?« Er hob die blaue Tasche hoch. »Was weißt du hierüber, Veum?«

»Was soll es darüber zu wissen geben?« Als er diese Frage nicht beantwortete, fügte ich hinzu: »Nichts.«

»Was weißt du über Maggi?«

»Hör mal … sie ist seit Freitag verschwunden. Ihre Familie macht sich Sorgen.«

»Der Familie ist sie scheißegal!«

»Eine Freundin eben.«

»Ach was. Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Eins von den anderen Mädels?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe jedenfalls den Auftrag, mich nach ihr umzusehen.«

Er starrte mich an. »Aber wir machen uns auch Sorgen, Veum. Sie hat ihre Miete nicht bezahlt, um es mal so zu sagen.«

»Und wie oft muss sie das tun? Jeden Tag oder einmal pro Woche?«

»Wir haben eine feste Abmachung, und die hat sie nicht eingehalten, seit …«

»Freitag?«

»So ungefähr.«

»Ist in diesem Haus Untermiete überhaupt erlaubt?«

Er schnaubte. »Jetzt geb ich dir einen guten Rat, Veum.«

»So einen guten Rat brauche ich nicht.«

»Weil?«

»Ich weiß schon, was du sagen willst.«

»Nämlich?«

»Dem übeln Mann eröffne nicht, was dir Widriges widerfährt«, schaltete Rolf sich ein.

»Das reicht«, sagte Kjell. »Der kapiert das ja doch nicht. Drück mal ein bisschen fester auf seinen Hals, damit er begreift, dass ich das ernst meine, was ich jetzt sage.«

Rolf befolgte den Befehl. Er presste die Messerklinge nach innen und nach oben, so dass ich mich auf die Zehenspitzen stellen musste, um nicht verletzt zu werden. »Hör auf!«, stöhnte ich.

»Folgendes, Veum: Du kannst zurückgehen zu denen, die dir den Auftrag erteilt haben, und sagen, dass du den ganzen Scheiß fallen lässt. Dass Maggi nirgendwo aufzutreiben war, dass ihre Wohnung leer war, dass sie sich sicher melden wird, wenn sie zurück ist von … von da, wo sie sich eben gerade aufhält.«

»Und wo sollte das sein? Im Urlaub? Dir ist doch klar, dass ein Kunde ihr vor einigen Tagen furchtbare Angst gemacht hat?«

Wieder kniff er die Augen zusammen. »Ein Kunde? Woher weißt du das?«

Ich gab keine Antwort.

»Woher weißt du das, hab ich gefragt! Rolf!« Er gab Rolf ein Zeichen, das Messer noch ein Stück höher zu drücken. Ich spürte, dass meine Haut gleich reißen würde.

»Du hast meine Karte gesehen. Ich bin Privatermittler. So arbeite ich eben.«

»Du hast dich in der Szene umgehört?«

»Ich habe gehört, dass ein Kunde Maggi Angst eingejagt hat, solche Angst, dass sie keine Tour mit ihm machen wollte. Eine andere ist eingesprungen und gewaltig misshandelt worden.«

»Eine andere? Welche denn?«

»Mir ist kein Name genannt worden.« Ich sah keinen Grund, ihm den zu verraten.

»Und wann soll das passiert sein?«

»Freitag.«

»Freitag.« Er sah Rolf an, und der reduzierte den Druck auf das Messer ein klein wenig. »Hast du was darüber gehört?«

»Nein. Ein unkluger Mann, der zu andern kommt …«

»Mit anderen Worten … Wenn wir rausfinden könnten, wer diese Kerle waren …«

»Du, Veum, du sollst überhaupt nichts rausfinden. Wenn sich rumspricht, dass ein Privatermittler in der Szene rumschnüffelt, wird es hier draußen so einsam werden wie auf der Rückseite des Mondes.«

»Wenn es sich wo rumspricht?«

»Du weißt, was Sache ist. Wenn du dich hier noch einmal blicken lässt …«

»Ich gehe ja eigentlich mindestens einmal pro Woche um Nordnes herum.«

»Wenn du versuchst, Kontakt zu einem der anderen Mädchen aufzunehmen …«

»Ach, mit anderen Worten, du hast noch weitere Untermieterinnen?«

»Kurz gesagt, wenn unsere Wege sich ein weiteres Mal kreuzen, dann hast du verdammt schlechte Karten. Ist das klar?«

»Klar wie der Mondstrahl, aber nicht ganz so schön.«

»Rolf. Ritz ihn ein bisschen.«

Wieder demonstrierte Rolf seine Fingerfertigkeit. Der Druck auf meinen Kehlkopf verschwand für ein, zwei Sekunden, während das Messer herumgewirbelt wurde und ich einen brennenden Schmerz spürte, wo Rolf rasch und effektiv einen Schnitt vom Ohr zum Schlüsselbein vollführte. Nicht tief. Nicht gefährlich. Aber tief genug, dass ich zum Taschentuch greifen musste, um die Blutung zu stoppen.