Kapitalismus inklusive - Uwe Jean Heuser - E-Book

Kapitalismus inklusive E-Book

Uwe Jean Heuser

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Beschreibung

Die Auswüchse des Kapitalismus spielen den Populisten in die Hände. Viele Bürger haben das Gefühl, das Wirtschaftssystem nicht mehr zu verstehen und die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal zu verlieren. Der Reichtum konzentriert sich bei wenigen, während viele vor einer unsicheren Zukunft stehen. Der Wirtschaftsjournalist Uwe Jean Heuser wagt die These: Wenn wir den Kampf um die Demokratie gewinnen wollen, müssen wir den Kapitalismus grundsätzlich verändern. Er darf nicht länger Menschen ausschließen, sondern muss zur Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaft werden, in der sich möglichst viele aufgehoben fühlen. Heuser bietet außergewöhnliche Lösungen an, um die Bürger zusammenzubringen – gegen nationalistisch-populistische Willkür und für die demokratische Gesellschaft. Er macht uns Hoffnung: Der Kampf um Freiheit und Anstand lässt sich gewinnen!

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I Kapitalismus unter Druck
Kapitel 1 Es wird eng für die Freiheit
Kapitel 2 Falsche Feinde, echte Feinde
Kapitel 3 Das globale Umdenken
Teil II Die großen Spaltlinien und was sie bedeuten
Kapitel 1 Die Wahrheit über Arm und Reich
Kapitel 2 Achtung, Konzentration!
Kapitel 3 Kapitalismus unter der Lupe
Teil III Revolutionen, die sich lohnen
Kapitel 1 Die mitfühlende Gesellschaft
Kapitel 2 The New Data Deal
Kapitel 3 Begrenzt den Finanzkapitalismus!
Kapitel 4 Das Jahrhundertexperiment
Danksagung
Anhang
Literatur nach Kapiteln
Über den Autor
Impressum

Für Sigrid Heuser, meine Mutter

Einleitung

Im November 1997, fast am Ende des 20. Jahrhunderts, blickte Ralf Dahrendorf nach vorne. Der liberale Soziologe, der einst die London School of Economics leitete, zeigte sich acht Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer merkwürdig skeptisch. Die Globalisierung stärke die Konkurrenz und schwäche das Gemeinschaftsgefühl, erklärte Dahrendorf. Er spürte, dass die Demokratie unter Druck gerät, wenn »der Weltmarkt die Teilhabe-Suchenden frisst und die, die Anteile haben, ungeschoren lässt«. Mit anderen Worten: Arbeiter und Angestellte leiden, Aktionäre nicht.

Keine Gesellschaft könne es sich ungestraft leisten, so viele ihrer Mitglieder einfach auszuschließen, fuhr der gebürtige Hamburger mit britischem Adelstitel fort. Nicht nur dass die Autoritären die Unzufriedenheit nutzen könnten, um an die Macht zu gelangen: Nein, sie könnten sich auch viel länger an der Macht halten als Diktatoren. Und dann rief Ralf Dahrendorf eine Warnung in die Jahrtausendwende hinein: »Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert.«

Kaum jemand nahm sich damals, als es euphorisch auf das Jahr 2000 zuging, diese Worte zu Herzen. Doch Dahrendorfs Warnung hallt heute nach. Fast zwei Jahrzehnte überschlug sich der Kapitalismus danach noch, gesellschaftliche Spaltungen wurden zugedeckt mit frischem Geld und guten Worten. Nun nutzen die Populisten den Zorn darüber und stellen die liberale Demokratie und damit unsere Freiheit infrage.

Musste es wirklich so weit kommen? Hätte nicht wenigstens der Selbsterhaltungstrieb die Mächtigen dazu bringen können, den Kapitalismus zurechtzurücken? Mussten sie wirklich warten, bis die Populisten auf der Bildfläche erschienen?

Es sind gefährliche Gestalten, die sich da zur Wahl stellen. Sie wollen mit einer Welle der Wut Europa und den internationalen Konsens insgesamt zerstören. Die Menschen daheim, denen sie angeblich helfen wollen, würden von ihnen zum Mob reduziert, erklärt der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy. Angst ist ihr Spiel, immer wird ein anderer gefunden, der angeblich schuld ist. Das höhlt die Demokratie aus, deren Repräsentanten ja nicht einfach dem aktuellen Volkswillen oder dem Trend in sozialen Netzwerken folgen sollen, sondern überlegen und diskutieren, bevor sie entscheiden.

Im ersten Halbjahr 2017 verloren die Le Pens und Wilders dieser Welt einige Wahlen, und die Demokraten Europas fühlten sich wieder obenauf. Aber die große Herausforderung hat die liberale Gesellschaft damit noch keineswegs bestanden. Das historische Ringen, das erst möglich wurde durch die Krise des Kapitalismus, geht weiter. Die Menschen, die sich als Opfer von Weltmärkten und Migration sehen, gewinnen den Eindruck, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Sie wollen sie, so oder so, zurück.

Die Finanzkrise und die große Bankenrettungsarie danach, die Eurokrise und die von der Notenbank ausgelöste Geldflut, die Ungleichheit und die Risse in der Gesellschaft, die Flüchtlingswelle und die Unfähigkeit Europas, mit ihr umzugehen – all das nährte die Zweifel am System und seiner Fairness. Die Menschen wollen wieder darauf vertrauen können, dass der Kapitalismus nicht bloß einem Teil der Bürger in die Hände spielt.

Dieses Buch fragt, wie wir die Kurve kriegen. Und es sagt: Wir müssen den Kapitalismus neu fassen, ihn wieder zur Basis für die freie Gesellschaft machen. Anzubieten hat es dazu nichts Fertiges, sondern eine Entdeckungsreise ins Grenzland von Wirtschaft und Gesellschaft, Mensch und System.

Der erste Teil erklärt, wie der Kapitalismus unter Druck gerät – und sich selbst unter Druck setzt.

Kapitel eins beschreibt die große Herausforderung und die entscheidende Rolle der Wirtschaft dabei. Ohne eine Wirtschaft, die Spaltung überwindet, statt sie zu verstärken, fehlt der liberalen Demokratie die Grundlage.

Kapitel zwei verteidigt die ökonomische Vernunft. Globalisierung und Technisierung sind die falschen Feinde, weil sie Wohlstand erzeugen und nicht zerstören. Die Aufgabe ist vielmehr, eine Ordnung zu errichten, die allen eine Chance auf diesen Wohlstand gibt.

Kapitel drei befasst sich mit der immer lauter werdenden Forderung, die Verlierer der Globalisierung doch bitte zu entschädigen, und zeigt: Diese Reaktion greift zu kurz. Wir brauchen einen moderneren Kapitalismus für alle.

Im zweiten Teil geht es um Reich und Arm, Stadt und Land und neue Spaltlinien in der Gesellschaft.

Kapitel eins handelt vom großen Verteilungsstreit. Die Wahrheit für Deutschland ist: Die Einkommensungleichheit ist im Aufschwung nicht gewachsen, wohl aber die gesellschaftliche Spaltung. Alle Industrieländer lügen sich heute in die Tasche, wenn sie das für leistungsgerecht halten. Linke und rechte Demokraten hängen Zerrbildern der Realität an.

Kapitel zwei fragt, wo die Spaltung wirklich herkommt – und gibt eine beunruhigende Antwort: Konzentration! Die größten und teuersten Unternehmen vereinen Tag für Tag mehr Macht auf sich. Doch innovative Staaten lassen sich das nicht gefallen und beweisen Erfindungsreich-tum.

Kapitel drei zeigt weitere Risse in der Gesellschaft auf, zwischen Stadtteilen, Regionen, Schichten. Bisher werden sie weithin ignoriert. Es wird Zeit, das zu ändern.

Wo verändern wir den Kapitalismus? Im Kopf. Im Internet. Auf den Finanzmärkten. An neuen Schaltstellen der Gesellschaft. Der dritte Teil entwirft Lösungen.

Kapitel eins beschreibt nicht weniger als den Versuch einer Revolution. Während die globale Wirtschaft die Menschen vor allem zu Konkurrenz und Konsum drängt, wollen Forscher und Aktivisten unsere altruistische Seite stärken. Mehr Mitgefühl im Kapitalismus – das geht.

Kapitel zwei beschreibt keine Revolution, sondern fordert eine. Und zwar im Internet, das heute der ursprünglichen Verheißung nicht gerecht wird, uns alle zu mehr freiem Handeln zu ermächtigen. Wir geben unsere Daten ab – und damit auch die Selbstbestimmtheit. Es wird Zeit für einen großen »New Data Deal«.

Kapitel drei ruft: Schluss mit dem Rumpelkapitalismus! Schluss mit einer immer hektischeren Abfolge von Booms und Finanzkrisen, Geldüberflutungen und Kreditverknappungen! Wir dürfen dem Finanzkapitalismus nicht die Definitionshoheit über die Wirtschaft überlassen. Das schadet dem Normalbürger und zieht die Gesellschaft auseinander.

Kapitel vier schließlich feiert die progressiven Reformer von heute, weil sie beweisen: Inklusiver Kapitalismus ist möglich, im Kleinen wie im Großen. Dafür dürfen wir die Macht der Daten und die Kraft der Globalisierung nicht bekämpfen, sondern sollten sie nutzen. Je mehr wir erfahren über die Menschen und die Märkte, über alte und neue Risse in der Gesellschaft, über das, was den Wohlstand für alle mehrt und was nicht – desto effizienter kann gehandelt werden.

Vor zwanzig Jahren hob Ralf Dahrendorf den Blick und sah ein Jahrhundert in Gefahr. Heute sind wir mit dieser Bedrohung konfrontiert, doch wir können uns ihrer erwehren. Die Selbstzweifel der liberalen Gesellschaft sind mittlerweile groß genug. Es ist Zeit, ans Werk zu gehen.

Teil I Kapitalismus unter Druck

Kapitel 1 Es wird eng für die Freiheit

Die Herausforderung an uns und den Kapitalismus

Frühjahr 2016. Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, ebbt ab. EU-Staaten auf der sogenannten Balkanroute haben ihnen den Weg versperrt. Und Angela Merkel hat einen umstrittenen Deal mit Recep Tayyip Erdoğan geschlossen, damit die Türkei gegen Bezahlung die fliehenden Menschen aus Nahost im eigenen Land behält. Der Putschversuch gegen Erdoğan liegt in der Zukunft, der türkische Präsident ist noch kein unumschränkter Autokrat. Die Briten haben noch nicht über den Brexit abgestimmt, der Optimismus ist groß, dass die Mehrheit in der EU bleiben will. Noch weiter weg ist die Wahl in Amerika, Donald Trump gilt vielen eher als Witz denn als ernsthafter Kandidat. Und in Italien regiert der linksliberale Reformer Matteo Renzi, der irrtümlich glaubt, er werde die Volksabstimmung über eine wichtige Verfassungsänderung am Ende des Jahres gewinnen.

Natürlich ist damals nicht alles golden. Die Populisten von der Alternative für Deutschland (AfD) haben zweistellige Umfragewerte, in Polen und Ungarn regieren Feinde der liberalen Demokratie. Doch im Rückblick wirkt diese Phase nach allen Seiten offen. Und mittendrin veranstaltet Google, die unternehmerische Verkörperung des Optimismus schlechthin, eine glanzvolle Konferenz nördlich von London. Der führende Internetkonzern nennt sie »Zeitgeist«. Eineinhalb Tage lang wechseln sie sich auf der Bühne des luxuriösen Landhotels The Grove ab, die Intellektuellen und Berühmten, die Entscheidungsträger und Erfinder. Eric Schmidt, der Chairman von Googles Mutterkonzern Alphabet, unterhält sich mit Amal Clooney über ihre Arbeit als Menschenrechtsanwältin und die Folgen extremer Popularität, Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett erläutert, was sie als UNO-Botschafterin in den Flüchtlingsdörfern des Nahen Ostens gelernt hat, die junge Nordkoreanerin Yeonmi Park berichtet von ihrer abenteuerlichen und beinahe tödlichen Flucht aus ihrem Heimatland über China bis nach Amerika. Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso streitet mit dem britischen Hardliner Michael Gove über den Brexit.

Prominenter geht es kaum. Doch der eigentliche Höhepunkt ist eine Rede, die sich später im Jahr als hellsichtig erweisen wird, gehalten von einem akademischen Weltstar, der besonders gut in dieses Ambiente passt. Niall Ferguson ist der vielleicht einflussreichste und gewiss wortgewaltigste Historiker unserer Tage. Nach Oxford war Harvard das Zentrum seiner erdumspannenden Aktivitäten, heute ist es die Universität Stanford im Silicon Valley.

Der geschickte Rhetoriker mit einem Hang zur Zuspitzung zündet diesmal kein Feuerwerk. Weil er glaubt, dass wir höchst riskante Zeiten erleben, verzichtet er bei Google auf jede Art von Brimborium und beschreibt schlicht die Gefahr, die in der Geschichte der Moderne schon mehrfach aufgezogen ist: Der Kapitalismus enttäuscht die Masse der Menschen derart, dass Populisten die Macht übernehmen könnten. Der konservativ-liberale Geschichtsdeuter zeigt das am Beispiel der Vereinigten Staaten und lässt keinen Zweifel daran, dass es Europa ebenso treffen kann.

Ferguson sagt, es gebe »ein Rezept für Populismus«. Fünf Bestandteile müssten dafür in der politischen Garküche zusammenkommen.

Erstens ist da eine große Zahl von Einwanderern. Mit einer Langzeitkurve, die aussieht wie ein V, zeigt er, wie die Einwanderung seit der Großen Depression in den dreißiger Jahren stetig abnahm und dann seit den siebziger Jahren wieder anstieg. Und dies bis zur Finanzkrise Ende des vergangenen Jahrzehnts.

Zweitens müsse große Ungleichheit hinzukommen. Auch da zeigt er eine Kurve, die sagt: Jahrzehntelang ist die Ungleichheit steil angestiegen, das oberste Prozent der Einkommensbezieher konnte seinen Anteil am Ganzen von einem Zehntel auf ein Fünftel verdoppeln und damit auf ein Niveau wie vor hundert Jahren.

Drittens käme die Überzeugung vieler Menschen hinzu, dass es irgendwie korrupt zugeht im Land und die da oben das Spiel in ihrem Sinne verfälschen, erklärt Ferguson. Er präsentiert Umfragen, laut denen nur noch acht Prozent der Amerikaner ihrem Parlament in Washington vertrauen und nicht viel mehr dem Obersten Gerichtshof in Washington.

Die vierte Zutat ist nach Niall Ferguson eine »große Finanzkrise« oder allgemeiner ein schwerer »wirtschaftlicher Schock«. So wie nach dem Gründercrash im Jahr 1873, dem schwarzen Börsenfreitag im Jahr 1929 und eben dem Subprime-Desaster von 2008, als amerikanische Hypothekenkredite das Weltfinanzsystem vergifteten.

Damit der daraus erwachsende Zorn in politische Gefahr mündet, bedarf es fünftens eines demagogischen Politikers, der die Unzufriedenheit der Masse nutzt – so wie Donald Trump, meint Ferguson. Kein Faschist, eher ein skrupelloser Populist eben. Der Historiker blickt an der Stelle zurück. In den 1870er Jahren hätte es in den Vereinigten Staaten auch einen Trump gegeben, und zwar in Kalifornien: den rassistischen Arbeiterführer Denis Kearney, der die chinesischen Migranten aus Amerika vertreiben wollte, weil sie angeblich den Amerikanern die Jobs streitig machten. Wie heutige Populisten war auch er gegen alles, was den internationalen Kapitalismus ausmacht: Freihandel und Globalisierung, Finanzsystem und politisches Establishment – und natürlich gegen Einwanderer.

Nun herrsche im Westen wieder ein riesiges Unbehagen an der Globalisierung, »doch Leute wie wir kapieren das nicht«, sagt Ferguson den exklusiven Google-Gästen ins Gesicht. Es sei Zeit für die Menschen auf der Gewinnerseite, »sich in die Stimmung von Leuten zu versetzen, die nicht so sind wie sie«.

Am Ende des Jahres 2016 wären die Sorgen um die liberale Demokratie riesig gewesen im Saal. Doch damals, ein gutes halbes Jahr zuvor, beherrschten sie die Debatte noch keineswegs – was nur zeigt, wie schnell die populistische Bedrohung über die Welt gekommen ist. Ferguson sagte damals, dass es knapp werden würde bei der amerikanischen Wahl, egal was Demoskopen oder andere sogenannte Experten erzählen. Der Historiker fürchtete Trump und sah die Chance bei fünfzig zu fünfzig, noch bevor russische Hacker ihren Einfluss geltend machten und die Gegenkandidatin Hillary Clinton vom FBI-Chef vorgeführt wurde.

Heute würde man sagen, dass sich Fergusons Furcht und Realitätssinn als visionär erwiesen haben. Und gleichzeitig geht Mitte 2017 schon wieder ein leises Aufatmen durch die liberalen Gesellschaften Westeuropas. Le Pen wurde in Frankreich besiegt, Holland geriet nicht in Not, und die Deutschen orientierten sich zur Mitte. Doch die Achterbahnfahrt der demokratischen Gefühle kann auch schnell wieder in die andere Richtung gehen. Etwa wenn die populistischen Fünf Sterne in Italien siegen und das durch die Trump-Bedrohung und die Freude auf Emmanuel Macron wieder stärker geeinte Europa spalten sollten. Dieses ist kein Konflikt, der nach ein paar Wahlen und einem konjunkturellen Aufschwung vorbei wäre. Er könnte das Jahrhundert prägen – wenn die Welt es zulässt.

Jenseits des täglichen Erschauderns über Donald Trump ist die liberale Demokratie in Gefahr, weil viele Menschen in den Industrieländern unzufrieden und sehr schnell bereit sind, Leute zu wählen, die diese Demokratie abschaffen oder nachhaltig in Richtung einer autokratisch-populistischen Regierungsweise verändern wollen. Auf dem Weg der fairen Wahl gelangen dann Feinde ebenjener Demokratie an die Macht.

Ökonomische Verhältnisse haben die liberale Demokratie und die soziale Marktwirtschaft in Verruf gebracht. Und Niall Ferguson, der Historiker, verstand das schon früh. Er erinnert uns an etwas, das wir eigentlich alle wissen: Die größte Gefahr für den internationalen Kapitalismus und damit indirekt auch für die weltoffene Demokratie ist dieser Kapitalismus selbst, weil er zur Übertreibung neigt und sich auf diese Weise die eigene Grundlage entzieht. Und diese Grundlage ist das Vertrauen der Menschen ins System und auch zueinander, wenn sie Handel treiben oder verhandeln, Deals schließen oder einander Kredite gewähren.

Gefahr bestünde auch, hätten die Briten 2016 den Brexit abgelehnt, hätte die Mehrheit der Wähler in Amerika sich gegen das Mehrheitswahlrecht durchgesetzt und Clinton zur Präsidentin gemacht, hätten die Italiener ihren Renzi gewähren lassen, hätte Erdoğan sich nicht radikalisiert, würde Polen heute nicht ernsthaft Gefahr laufen, die Demokratie abzuschaffen.

Dass der Zorn nicht verschwindet, wenn die klassischen Demokraten eine Wahl gewinnen, zeigt das Beispiel Österreichs, wo die Nationalisten immer wieder aufs Neue einen Anlauf zur Macht nehmen. Oder der Fall Frankreich, wo sich die Le-Pen-Herausforderung, erst Vater, dann Tochter, über Jahrzehnte hielt und keineswegs auf Dauer gebannt ist.

Es wäre ein Wunder, wenn eine so tiefgreifende Gefahr sich einfach verflüchtigte – solange die tatsächlichen Verhältnisse und die damit einhergehenden Erfahrungen sich nicht nachhaltig geändert haben. Die Stimmung gegen freie Weltmärkte, gegen den internationalen Austausch von Waren, Geld und Arbeit beziehungsweise Menschen, sie entwickelt sich erst langsam und hält sich dann hartnäckig. Wie Niall Ferguson sagte: Viel muss geschehen, ehe eine Vielzahl oder gar Mehrheit der Bürger den liberal-internationalen Konsens aufkündigt. Aber dann geschieht es auch mit historischer Wucht.

Eine solche Stimmung ist gerade nicht Teil der Wankelmütigkeit, die uns das Nachrichten- und Umfragen-Internet täglich vor Augen führt. Was vielmehr geschieht, ist, leider, nachhaltig: Verunsicherte und verstimmte Bürger verlangen eine NEUE PERSPEKTIVE! Etwas ganz anderes, sozusagen. Wenn die liberale Demokratie ihnen das nicht bietet, suchen sie am Rand des Spektrums, und das von Paris bis Washington, von Wien bis Athen, mal in Minderheit, mal in Mehrheit.

Der britische Publizist Andrew Sullivan hat sich mit diesem »kollektiven Gefühl akuter Frustration« näher beschäftigt. Es trete nicht etwa in Erscheinung, wenn die Not am größten sei, so seine Erkenntnis. Daher auch nicht gleich im Jahr 2008, als mit der Lehman-Bank das Weltfinanzsystem zu zerbersten drohte und auf Titelseiten schon Todesanzeigen für die Wall Street veröffentlicht wurden. Das Gefühl entstehe erst, wenn die akute Bedrohung vorbei ist, aber die Zukunft nicht viel besser aussieht als das Erlebte. Wenn also Nullzinsen den Sparerfolg schmälern oder ganz zunichtemachen. Wenn der Aufschwung nur langsam kommt und die Menschen in der Mitte der Gesellschaft kaum erreicht. Oder in Sullivans Worten: »Nach Rezession und Arbeitslosigkeit zeichnet sich eine Zukunft ab, in der eine echte Erleichterung gegenüber früher immer gerade so außerhalb der eigenen Reichweite zu sein scheint. Und wenn dann denjenigen, die doch die Rezession mit verursacht haben, keine Strafe, sondern nur neuer Reichtum winkt, schwillt die Wut an.«

Aber bei uns doch nicht, heißt es in Deutschland. Unsere Wirtschaft ist seit über zehn Jahren eine funktionierende Jobmaschine, kein Land in Europa hat weniger Jugendarbeitslosigkeit. Vieles andere ist allerdings weniger beruhigend für aufregungsbereite Bürger, allen Phänomenen voran die Migration. Nichts hat die Unruhe so befördert, nichts der AfD so auf die Beine geholfen wie die knapp eine Million Flüchtlinge, die 2015 in die Bundesrepublik kamen und Schutz oder auch nur Wohlstand suchten. Kurz zuvor begannen die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida) durch Dresden zu ziehen, und auch diese Bewegung schöpfte ihre Energie aus der großen Zahl an Flüchtlingen.

Dann gingen die Zahl neuer Flüchtlinge und auch der Zorn auf der Straße zurück, und manchem ist klargeworden, dass Einwanderung nicht nur aus Flüchtlingen besteht. Auf längere Sicht waren es vor allem EU-Bürger, die in die wachsende deutsche Volkswirtschaft einwanderten. Beinahe in Hunderttausender-Schritten ist ihre Zahl gewachsen, seit die Finanzkrise ausbrach. Allein im Jahr 2014 waren es über 800.000 Menschen. Das ist durchaus ein Ausdruck der europäischen Idee: Wenn es in einem Teil Europas besser läuft als in anderen, dann kommt es zum wirtschaftlichen Ausgleich. Und Fachkräfte, die in Spanien unter der Massenarbeitslosigkeit vor allem unter jungen Leuten leiden, finden in Deutschland womöglich gleich mehrere offene Stellen.

Doch vor allem für die zornesbereiten Bürger in den mittleren und unteren deutschen Einkommensgruppen sind sie eben auch Konkurrenten um Arbeitsplätze, Wohnungen und staatliche Aufmerksamkeit. Der Staat kümmert sich um alles, so scheint es dann den Enttäuschten, um Migranten und Arme, um Vermögende und sogar die Banken – nur nicht um uns.

Niall Fergusons zweite »Zutat« zum Gebräu des Populismus ist wachsende Ungleichheit, und die ist auf den ersten Blick kein deutsches Problem. Die Verteilung der Einkommen ist in den vergangenen zehn Jahren anders als in den meisten Industrieländern nahezu unverändert geblieben: Seit dem Krisenjahr 2008 ist die Beschäftigungsquote um mehr als vier Prozentpunkte gestiegen, während sie fast überall fiel. Deutschland hat dem Trend des Westens also getrotzt, wie wir im Verlauf des Buches noch genauer sehen werden, dies allerdings erst ab Mitte des vergangenen Jahrzehnts. Zuvor, als Deutschland kurz nach der Jahrhundertwende sogar als kranker Mann Europas galt, hatten sich die Einkommen kräftig auseinanderentwickelt. Und genau das spüren immer noch viele Arbeitnehmer. Wenn sie sich nur lange genug zurückerinnern, dann merken sie, dass ihre Kaufkraft über 20 Jahre hinweg nicht merklich zugenommen hat. Langzeitarbeitslose haben es natürlich noch schwerer.

Die Ungleichheit der Einkommen nahm also erst richtig zu und dann nicht mehr richtig ab. Schwerer wiegt im Land der Mieter und Sparer, dass die Vermögen in Deutschland im Industrieländervergleich besonders ungleich verteilt sind. Das muss man auch in Verbindung zur Finanzkrise sehen, die in Deutschland anders wirkt als in großen Teilen Europas. Den Konjunktureinbruch nach dem Lehman-Crash hat die deutsche Wirtschaft, gestählt durch Gerhard Schröders Agenda 2010, zwar in Rekordzeit überwunden. Aber viele Deutsche bezahlen trotzdem, weil sie keine Zinsen mehr bekommen. Das verunsichert vor allem die Mittelschicht, die doch jahrzehntelang von der Politik gedrängt wurde, privat fürs Alter vorzusorgen.

Dann sollten die Deutschen eben mehr Aktien kaufen, lautet oft die Replik auf diese Klage. Doch damit wird nicht nur die deutsche Sparerseele verhöhnt, die Europa in der Eurokrise höchst wirksam gestützt hat. Auch die »Kränkung« der Mittelschicht, wie es der Münchner Soziologe Stephan Lessenich ausdrückt, macht sich hier bemerkbar. Tatsache ist nämlich, dass nur eine kleine Minderheit in Deutschland Aktien hält und eine große Minderheit in den eigenen vier Wänden wohnt. Die Mehrheit der Bundesbürger profitiert daher nicht von der Preisexplosion bei Immobilien und dem Kursfeuerwerk an der Börse.

Auch die Deutschen haben also, um mit Niall Ferguson zu reden, »eine große Finanzkrise« erlebt. Haben einige Zeit um die Basis ihres Wohlstands gezittert. Haben mit angesehen, wie die alten Euroregeln außer Kraft gesetzt wurden. Haben erlebt, wie – aus nationaler Sicht – Deutschland die Griechen unterstützte und dafür Hass und Hohn erntete. Und auch das Misstrauen in die heimischen Institutionen, die eigentlich Wohlstand und Fairness schaffen sollen, ist auf lange Sicht gewachsen: Im Jahr 2016 vertraute nicht einmal ein Fünftel der Bundesbürger den Konzernen und politischen Parteien. Höher im Kurs stehen Parlament und Presse. Doch auch ihnen hat die Mehrheit das Vertrauen entzogen.

All das drückt sich im Magengrummeln der Mittelschicht aus. Es geht nicht fair zu, sagt ein verbreitetes Gefühl, die Gewinner stehen schon fest, bevor das Spiel beginnt – und wenn sie verlieren wie die Banken und ihre Großkunden im Jahr 2008, dann eilt der Staat zu Hilfe.

Obwohl es in der Bundesrepublik kein Jobproblem gibt wie in Südeuropa und keine so eklatante Mittelschichtswut wie in Amerika, hat sich auch im Wirtschaftswunderland der Nachkrisenjahre die Stimmung gegen die offene Weltwirtschaft und gegen das Fremde, das damit einhergeht, gewandt. Das gilt nicht nur für die Menschen, die einwandern oder in Fernkonkurrenz den Deutschen Arbeitsplätze streitig machen. Es gilt auch fürs Kapital. 2016 zum Beispiel wollte die chinesische Midea-Gruppe den deutschen Roboter-Hersteller KUKA für einen Gesamtwert von 4,5 Milliarden Euro übernehmen. Früher hätte man sich über das Kapital aus Fernost gefreut, zumal die Chinesen als Unternehmenseigner in der deutschen Wirtschaft beliebt sind. Nun aber versuchte die Politik Alternativangebote zu organisieren – wenn auch erfolglos.

Noch deutlicher wurde die neue deutsche Haltung beim Streit um das Transatlantische Freihandelsabkommen. Im Jahr 2015 schon machten die Deutschen europaweit Schlagzeilen damit, dass nicht einmal 40 Prozent von ihnen für dieses TTIP waren – und damit weniger als sonst in der EU. Wenn sich schon die eindeutigen Gewinner der Globalisierung nicht trauen, ihre Grenzen etwas weiter zu öffnen, was sollen dann erst die Verliererländer sagen? Und mit jedem, der die Grenzen dicht macht – das sieht man am nicht endenden Flüchtlingspoker innerhalb Europas –, wird es für die anderen schwerer, ihre Grenzen offen zu halten.

Zeitweise verkrampft sich die industrialisierte Welt im Modus des Gegeneinanders. Ob bei AfD, Front National oder Fünf Sterne, ob in Ungarn und in Polen oder erst recht bei Donald Trump, den knapp die Hälfte der wählenden Amerikaner ausdrücklich wollte und wohl noch will: Immer geht es um ein Denken, das die Welt einteilt in »für mich« und »gegen mich«. Globalisierungs- und Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Isolationismus sind seine Ausdrucksformen. Hier wird nicht gemeinsam um die Zukunft gerungen, sondern allein, gegen die anderen, und ein Weltproblem wie der Klimaschutz ist schon gar kein Thema mehr. Es geht gegen Menschengruppen. Gegen Länder. Gegen Multikulti und liberale Lebensentwürfe. Gegen die Idee einer internationalen Marktwirtschaft und eines globalen Wettbewerbs, bei dem alle Länder gewinnen können. Der antifreiheitliche Virus ist ansteckend.

Vielen Zahlen und Argumenten führender Forscher, Politiker, Manager und Medienmacher wird nicht mehr geglaubt. Nicht wenige Bürger argwöhnen, dass die Gewinner einer Debatte oder einer Entwicklung immer schon im Vorhinein feststehen. Dass nach Kriterien entschieden wird, bei denen immer schon klar war, zu wessen Gunsten sie Anwendung finden. Wie etwa nach der Finanzkrise, als Steuerzahler die Banken und ihre Aktionäre retteten.

Das Gemeinsame in der Gesellschaft schrumpft. In den Fußballstadien sitzen Arm und Reich nicht mehr zusammen, sondern die einen unten oder ganz oben im Freien, die anderen in den Lounges. In den Schulen treffen Arm und Reich auch weniger aufeinander als früher, weil durch Stadtplanung und schnell steigende Immobilienpreise die Stadtteile zusehends homogener werden und Privatschulen für viele wohlhabende Eltern zu einer echten Option, zu einer Mode oder gar gefühlten Pflicht geworden sind. In der Krankenversicherung ist die Trennung in Deutschland ohnehin Programm. Und in den Ortskernen trifft man sich nicht mehr, weil das Einkaufen sich verlagert, einerseits in große Zentren auf der Wiese, andererseits in die Luxusläden der Städte, wo die Mieten so hoch sind. Das Gefühl, dass wir nicht mehr zusammengehören, hat eben eine reale Basis und ist Teil der empfundenen Ungleichheit.

Viele Politiker, Experten, Medienstimmen sind der Meinung, wir hätten es mit einem politischen Problem zu tun, weil eben die Demokratie selbst gefährdet ist. Demnach könnten wir die ökonomischen Perspektiven ausblenden und alles einem politischen Imperativ unterstellen – nach dem Motto: egal ob wirtschaftlich richtig oder falsch, Hauptsache, die Populisten werden bei der nächsten Wahl zurückgedrängt.

So löst man aber das Grundproblem nicht. Wer eine neue Basis, eine neue Stabilität für die liberale Demokratie will, sollte um eine andere Ordnung, andere Routinen und Wertmaßstäbe im Kapitalismus ringen, damit die Menschen wieder zusammenkommen. Damit sie das Gefühl entwickeln, dass auch sie gewinnen können und nicht nur die anderen, die schon ans Gewinnen gewöhnt sind. Die Bürger müssen sich eine andere Geschichte von ihrer (Wirtschafts-)Welt erzählen, so wie sie es taten nach Einführung der Sozialversicherung unter Bismarck oder nach der Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft ab 1949.

Neue Grundlagen für den Kapitalismus sind gefragt. Digitalexperten rechnen vor, dass fast die Hälfte aller Jobkategorien bedroht sei. Diesmal sind nicht billige Arbeiter in Fernost schuld, sondern Algorithmen und Roboter. In der alten Welt konnte man seinen Wohlstand gerade so halten, in der neuen Welt ist auch das bedroht. Nicht für mich! Dieses Gefühl sucht und findet immer mal wieder Bestätigung.

Es ist also gar nicht so schwer zu verstehen, woher die Spaltung rührt. Niall Ferguson hat recht behalten. Erstens damit, dass er damals, im noch sorgenarmen Frühling 2016, warnte, Donald Trump werde bis zur Wahl im Herbst des Jahres eine gute Chance auf den Sieg haben. Kaum einer bei Google mochte ihm dabei folgen. Zweitens mit der Kritik an der liberalen Elite, also den Zuhörern, die sich etwas vorgemacht haben. Diese Elite hat linken und rechten Globalisierungskritikern vorgerechnet, dass die Welt im Kampf gegen absolute Armut und Hunger vorangekommen sei; den Ärmsten der Welt gehe es heute ja auch besser als vor zwei Jahrzehnten, den Reichsten sowieso. Doch dazwischen stagniert der Wohlstand für westliche Mittelschichten, und vor allem fehlt die Hoffnung, dass dies nur eine Episode ist.

Aus dieser Erfahrung speist sich auch das Weltbild der heranwachsenden Generation, wie die britische Wirtschaftsforscherin und Journalistin Noreena Hertz belegt. Teenager von London bis New York erwarten demnach ein härteres Leben, als es ihren Eltern vergönnt ist. In Großbritannien sorgen sich fast 80 Prozent der 14- bis 21-Jährigen, ob sie einen Job bekommen. Schulden sind für sie »eine unvermeidbare Last …, die jeder in dieser Generation teilt«, wie es ein Befragter ausdrückt. Das Vertrauen gegenüber Konzernen und Regierungen ist noch geringer als bei der Generation vor ihnen.

Man kann sich vorstellen, dass es in Südeuropa mit Jugendarbeitslosenquoten von 40 Prozent und mehr nicht besser ist. Nur gut, dass Deutschland keine dauerhafte Krise nach dem Crash hatte, die bei Jugendlichen eine solche Stimmung auslöst. Die Startbedingungen im Ringen um den nächsten Kapitalismus sind also noch relativ gut zwischen Rhein und Oder. Man müsste nur einmal anfangen, sich einzugestehen, dass auch im Boomland D vieles verbesserungswürdig und verbesserungsfähig ist.

Noch einmal zurück zur Google-Bühne. Niall Ferguson beendet seinen Vortrag mit einem düsteren Ausblick, und das nicht bloß was Trump betrifft. Historisch gesehen, erklärt er, würde es in der Politik angesichts solcher aggressiven Stimmungen immer eine Gegenreaktion zur Globalisierung geben. Grenzen werden demnach dichter gemacht, Strafzölle erhoben, Flüchtlinge nach Hause geschickt, Nationalismen stärker betont. Die Frage sei nur, wer es mache: die alten Demokraten, die früh genug reagieren, oder die neuen Populisten.

Ende des 19. Jahrhunderts rettete sich das amerikanische Establishment, indem es auf Denis Kearneys Hasskampagne reagierte. Im Jahr 1882 trat ein landesweites Gesetz in Kraft, das chinesischen Arbeitern verbot, in die USA einzuwandern. Es folgte noch eine ganze Serie fremdenfeindlicher Gesetze, die das Land moralisch und ökonomisch ärmer machten. Doch die Hetzer erlangten nicht die politische Macht. In der Weltwirtschaftskrise errichteten viele Länder neue Grenzen und wickelten die Globalisierung der damaligen Zeit zum Teil wieder ab. Und die Migrantenströme verebbten.

Auch heute wird die Globalisierung zurückgedreht, und viele Grenzen schließen sich für Migranten. Dabei dürfen es die Verteidiger der liberalen Gesellschaft nicht belassen. Vielleicht können sie den Zorn der Bürger eindämmen, wenn sie auf populäre Forderungen eingehen. Aber solches Anpassungsverhalten ist rein defensiv, ihm fehlt ein offensives und reformerisches Element. Wir müssen verstehen, wo der Zorn seine Berechtigung hat und wo er nur das Resultat von Missverständnis und Manipulation ist. Und wie er wieder weicht zugunsten von Vertrauen und Kooperationsbereitschaft. Dafür müssen wir den Kapitalismus auseinandernehmen, das Unbehagen an ihm begreifen, um ihn dann neu zusammenzusetzen.

Genau daran arbeiten heute schon viele Menschen, bewusst und unbewusst. Sie suchen nach Wegen, die Spaltung zu überwinden, theoretisch und praktisch. Sie wissen: Das Wirtschaftssystem darf die Menschen nicht trennen, sonst trennen sie sich von der liberalen Demokratie, von einem gemeinsamen Europa, von der Erzählung des Miteinander.

Die Industrieländer müssen also neue Erfahrungen schaffen, und zwar mit im weitesten Sinne ökonomischen Mitteln. Materiell und emotional, auf die harte und die weiche Tour – im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts lässt sich das nicht mehr trennen.

Kapitel 2 Falsche Feinde, echte Feinde

Was an unserer Wirtschaftsdebatte nicht stimmt

Das Ziel ist leicht genannt und schwer erreicht: Es gilt das Ringen um den nächsten Kapitalismus zu gewinnen. Ihn so zu entwerfen und zu gestalten, dass er Wohlstand für möglichst viele schafft – um nicht mit Ludwig Erhard zu sagen: »für alle« –, dass er Menschen mitnimmt und die Gesellschaft nicht spaltet. Eine Soziale Marktwirtschaft II, für die Bedingungen des 21. Jahrhunderts.

Warum aber fällt das, was doch die vornehmste Aufgabe eines jeden Ökonomen sein sollte, offenbar so schwer? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Die erste ist, dass Ökonomie nun mal keine Naturwissenschaft ist, sondern eine soziale Disziplin. Ein Austausch von Ideen und Argumenten darüber, was herauskommt, wenn Menschen miteinander und gegeneinander wirtschaftlich handeln. Die zweite Antwort lautet, dass gerade deshalb die Ökonomie und ihr Diskurs viel Platz für Ideologie und den Einfluss von Spezialinteressen lassen. Es ist mühsam herauszufinden, was an einem Argument wirklich zentral ist und was nebensächlich, ob eine Studie tatsächlich neutral angelegt ist oder ob sie von einer Weltanschauung geprägt wird. Die dritte Antwort sollte uns heute besonders wichtig sein: Wirtschaftliche Erkenntnisse sind oft schwer zu vermitteln, weil sie der menschlichen Intuition widersprechen – oder dem Zeitgeist.