Karl Lagerfeld - Alfons Kaiser - E-Book

Karl Lagerfeld E-Book

Alfons Kaiser

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Beschreibung

"ES FÄNGT MIT MIR AN, UND ES HÖRT MIT MIR AUF."

Karl Lagerfeld stilisierte sich selbst zum lebenden Logo und zu einem Mythos der Modewelt. F.A.Z.-Redakteur Alfons Kaiser, der Lagerfeld seit langem kannte, stellt in dieser Biographie anhand vieler bislang unbekannter Quellen den charismatischen Modeschöpfer vor. Und er erklärt die vielen Rollen seines Lebens: den jugendlichen Außenseiter im norddeutschen Flachland, das weltgewandte Genie in Paris, den unermüdlichen Zeichner, begeisterten Fotografen, leidenschaftlichen Büchersammler und den preußisch disziplinierten Workaholic.

Was steckt hinter dieser überlebensgroßen Figur, die trotz aller Kommunikationslust die eigene Lebensgeschichte geheim hielt? Alfons Kaiser kommt in dieser Biographie dem Menschen Lagerfeld nahe: dem frühreifen Jungen, der lieber auf dem Dachboden zeichnete, als mit Altersgenossen zu spielen; dem Sohn, der mit seinen Eltern stritt, aber nie von ihnen loskam; dem Konkurrenten von Yves Saint Laurent, den er am Ende überstrahlte; dem Bruder, Onkel, Freund - und schließlich dem Partner von Jacques de Bascher, der großen Liebe seines Lebens.

  • Die erste umfassende deutschsprachige Biographie
  • Alfons Kaiser kannte Karl Lagerfeld persönlich
  • Der Darstellung liegen über 100 Interviews mit Freunden, Verwandten, Mitarbeitern und anderen Zeitzeugen zugrunde
  • Erstmals wurden hier unbekannte Fotos, Briefe und Dokumente ausgewertet

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ALFONS KAISER

Karl Lagerfeld

Ein Deutscher in Paris

Biographie

C.H.BECK

Mit einem Blick für Paris: Karl Lagerfeld stellt seine Mode für Chloé 1972 auf der Esplanade du Trocadéro vor.

Zum Buch

«Es fängt mit mir an, und es hört mit mir auf.»

Karl Lagerfeld stilisierte sich selbst zum lebenden Logo und zu einem Mythos der Modewelt. F.A.Z.-Redakteur Alfons Kaiser, der Lagerfeld seit langem kannte, stellt in dieser Biographie anhand vieler bislang unbekannter Quellen den charismatischen Modeschöpfer vor. Und er erklärt die vielen Rollen seines Lebens: den jugendlichen Außenseiter im norddeutschen Flachland, das weltgewandte Genie in Paris, den unermüdlichen Zeichner, begeisterten Fotografen, leidenschaftlichen Büchersammler und den preußisch disziplinierten Workaholic.

Über den Autor

Alfons Kaiser ist Redakteur der «F.A.Z.» und leitet das Ressort «Deutschland und die Welt». Für das monatlich erscheinende «Frankfurter Allgemeine Magazin», das er ebenfalls verantwortet, zeichnete Karl Lagerfeld jahrelang politische Karikaturen («Karlikaturen»).

Inhalt

Erinnerung

Vorgeschichte

Vater

Mutter

1933 bis 1951

Geburt

Bissenmoor

Kindheit

Krieg

Partei

Schule

Demütigung

Schwestern

Preußen

Aufbruch

1952 bis 1982

Paris

Anfänge

Freunde

Aufschwung

Baden-Baden

Chloé

Fendi

Labelfeld

Amerikaner

Jacques

Deutsche

Schloss

Einrichtung

1983 bis 1999

Lagerfeld

Chanel

Fotos

Models

Hamburg

Blumen

Journalisten

Zeichnungen

Bücher

2000 bis 2019

Diät

Logo

H&M

Werbung

Feinde

Baptiste

Hudson

Schauen

Kritik

Choupette

Ende

Nachleben

Anhang

Dank

Anmerkungen

Erinnerung

Vorgeschichte

1933 bis 1951

1952 bis 1982

1983 bis 1999

2000 bis 2019

Nachleben

Bildnachweis

Personenregister

Stammbaum

«Karl For Ever»: Gedenkfeier im Grand Palais am 20. Juni 2019

Erinnerung

Es war wie immer, wenn Chanel zur großen Schau lädt. Auf den Treppen zum Grand Palais wies man junge Männer in schwarzen Anzügen in ihre Rolle als Ordner ein. An der Avenue Winston Churchill staute sich der Verkehr, weil die dunklen Limousinen auch in der zweiten Reihe parkten. Vor dem Haupteingang des Riesengebäudes aus der Belle Époque standen die Damen im Tweed-Kostüm und taten unentschlossen, damit sie noch einmal fotografiert wurden, bevor sie hineingingen. Die Sonne, die schon schräg stand, schimmerte an diesem letzten Abend vor Beginn des Sommers melancholisch durch das Dach des Glaspalasts.

Aber es war nichts wie sonst an diesem 20. Juni 2019 in Paris. Denn all die fiebrigen Vorbereitungen, die gespannte Erwartung der Gäste, die zur Schau gestellten Eitelkeiten – sie drehten sich um eine Leerstelle in ihrer Mitte. Karl Lagerfeld, das Zentralgestirn des seltsamen Paralleluniversums Mode, war vor vier Monaten gestorben. Nun kamen sie alle noch einmal zusammen, die um ihn gekreist waren, seine Familie, wie sich die engsten Mitarbeiter immer schon nannten, «Karl’s family», und seine erweiterte Familie, 2500 Gäste, angereist aus aller Welt, gekleidet oft in Schwarz, manchmal aber auch in Rosa oder Weiß, weil er es nicht mochte, wenn man trauert.

«Karl For Ever», so hatte man das offizielle Gedenken genannt. Eine Trauerfeier sollte es nicht sein, denn Lagerfeld hasste den verklärenden Rückblick – er hatte nicht einmal an den Beerdigungen seiner Eltern und seiner Schwestern teilgenommen. Also wurde es eine fröhliche Gedenkfeier, die mit einem Schaulaufen der Prominenten begann, mit Einspielfilmen, Konzerten, Tanzeinlagen und Lesungen weiterging und mit einem Champagner-Empfang endete. 2500 Menschen in seinem Namen versammelt – das hätte ihm gefallen, denn eine seiner großen Stärken war es, Menschen zusammenzubringen.

Le Tout-Paris wurde vorgefahren. Première Dame Brigitte Macron, die Lagerfeld schon deswegen geschätzt hatte, weil ihr Mann Emmanuel Macron als Premierminister den ungeliebten François Hollande abgelöst hatte; die ehemalige Première Dame Carla Bruni-Sarkozy, die lange als Model, auch für Chanel, gearbeitet hatte; Caroline von Monaco, eine der besten Freundinnen des Modeschöpfers, mit schwarzer Schleife an der weißen Bluse, und ihre Tochter Charlotte im knöchellangen schwarzen Kleid. Auch seine einstigen Musen schritten die Treppen im Glaspalast hinab, ganz langsam, um den Fotografen kein unglückliches Bild zu bieten: Inès de la Fressange, Claudia Schiffer, Caroline de Maigret. Das Model Gigi Hadid sagte gerührt in die Kameras: «Ich habe mich heute so angezogen, als ob ich ihn jetzt wirklich treffen würde.»

Der Mann, der dem Modeschöpfer in seinen letzten Jahren am nächsten war, lächelte sibyllinisch. Sébastien Jondeau, der Leibwächter, Fahrer und Vertraute, erschien zugeknöpft im Dreiteiler, schweigsam über diesen Tag hinaus. Lagerfeld wollte, dass seine Asche mit der seiner Mutter und seines schon vor drei Jahrzehnten verstorbenen Lebensgefährten Jacques de Bascher vermischt wird. Sébastien Jondeau hatte den letzten Willen längst erfüllt: Nach der Einäscherung im Krematorium des Mont-Valérien-Friedhofs in Nanterre hatte er die Asche an einen unbekannten Ort gebracht, so dass der Verstorbene verschwand, wie er es sich zu Lebzeiten gewünscht hatte – ohne eine Spur zu hinterlassen.

Im Palast der Weltausstellung von 1900 hatte Karl Lagerfeld bis zu der Couture-Schau im Januar 2019, zu der er wegen seiner Krankheit nicht mehr erschienen war, vier Mal im Jahr seine Welt ausgestellt, zwei Mal beim Prêt-à-Porter, zwei Mal bei der Haute Couture. Dieses Mal ging es im Grand Palais nicht um die Kleider der nächsten Saison. In diesen zwei Stunden ging es um ein ganzes Leben, um die vielen Rollen, in die sich ein Mensch in 85 Jahren kleiden konnte, um alle Dimensionen, in denen er dachte, redete, handelte, lebte. Der Modeschöpfer, das war am Ende zu erkennen, war auch ein Schöpfer von Ideen, Büchern, Zeichnungen, Sinnsprüchen, Logos, Beziehungen, Karrieren und Idealen.

Also kamen nicht nur die Kundinnen und die Fans, die Manager und die Models, die Schneiderinnen und die Schauspielerinnen. An der Avenue sprang seine Floristin Caroline Cnocquaert aus dem Lieferwagen ihres Blumenladens Lachaume; aus Hamburg kam Marina Krauth vom Buchgeschäft Felix Jud; an seiner eigenen Buchhandlung 7L auf der anderen Seite der Seine hatten Hervé Le Masson und Catherine Kujawski ein handgeschriebenes Zettelchen an die Glastür geklebt, dass heute schon von 16.30 Uhr an geschlossen sei; Schmuckdesigner Aaron Cyril Bismuth trug die Halsketten mit großen bunten Steinen, die auch Lagerfeld sich zu besonderen Gelegenheiten umgelegt hatte; und Birte Carolin Sebastian erzählte vom Beginn ihrer Karriere als Model in den neunziger Jahren, als er ihr kurz vor der Chanel-Schau mit einem Augenzwinkern Mut machte in einer Welt, die ihr noch ganz neu war.

Im Grand Palais stand an diesem letzten Frühlingsabend nicht die Mode im Mittelpunkt, sondern er selbst.[1] An den Stahlstreben der großen Halle hingen 56 große Fotos des Designers aus all seinen Epochen: mal mit Bart, mal mit Monokel, mal mit Katze. An den Bildern ließ sich die Dauer erkennen, in der er modisch tätig war, nämlich sechseinhalb Jahrzehnte, wenn man die Zeit bei Pierre Balmain seit 1954 als Beginn ansetzt. Zu sehen war auch seine Lust an der Selbstdarstellung, vom romantisch verklärten Jüngling Ende der Fünfziger mit Seitenscheitel und weißem Einstecktuch bis hin zum überretuschierten Weltstar, der sich in der Pose eines Rockmusikers gefiel oder im überkandidelten Habitus eines Dandys mit Birmakatze im Arm.

Sechsundfünfzigfach blickte er hinab auf ein Pariser Gesellschaftsspiel, wie er es so liebte. Eingeladen hatten nämlich alle drei Marken, für die der rastlose Designer bis zuletzt tätig war: Chanel, Fendi und Karl Lagerfeld – und die gehören ganz verschiedenen Besitzern. Bernard Arnault, der Fendi seinem LVMH-Universum einverleibt hatte, dem größten Luxuskonzern der Welt, könnte es auch auf die beiden anderen Marken abgesehen haben. Als sollten solche Verschwörungstheorien gar nicht erst aufkommen an diesem Abend des Gedenkens, unterhielt sich der reichste Franzose entspannt mit Alain Wertheimer, dem Chanel zusammen mit seinem Bruder Gérard gehört. Der nette Umgang wird nicht das Verlangen des unersättlichen Markensammlers stillen. Denn die Wertheimer-Brüder, um die 70 Jahre alt, könnten nach Jahrzehnten im Luxusgeschäft langsam die Lust verlieren an ihrer glänzenden Marke. Schließlich hatte Lagerfeld dreieinhalb Jahrzehnte lang den Wiederaufstieg von Chanel orchestriert. Nun war er nicht mehr. Wie sollte es jetzt weitergehen?

Mit den vielen Designer-Kollegen, die gekommen waren, hätte man eine ganze Modewoche bestücken können: Valentino Garavani äußerte «größten Respekt» für einen Freund, den er schon seit den fünfziger Jahren kannte; Stella McCartney, die Lagerfeld bei der Marke Chloé gefolgt war, trug einen schwarzen Spitzenschleier; Tommy Hilfiger, der ihn einst ermunterte, mehr aus der Marke seines Namens zu machen, war aus Nizza angereist; Ralph Lauren kam aus London, wo er gerade von Prinz Charles zum Ritter geschlagen worden war. Gucci-Designer Alessandro Michele umarmte Fendi-Chefin Silvia Fendi. Auch Alber Elbaz und Haider Ackermann waren da. Beide waren einst zu möglichen Thronfolgern bei Chanel stilisiert worden – und beide verharrten in der Möglichkeitsform.

Karl Lagerfeld hatte keinen großen Sinn für seine eigene Familie. Umso wichtiger war ihm die Familie, die er sich selbst geschaffen hatte. «Das war seine Stärke, dass er jeden um sich herum genutzt hat für sein Schaffen, für sein Leben, für sein Wissen, um zu erfahren, was auf der Straße los war», sagte Sébastien Jondeau in einem der Einspielfilme, die Opernregisseur Robert Carsen mit Live-Aufführungen zu einer abendfüllenden Hommage am zweitlängsten Tag des Jahres zusammengestellt hatte. «Er war der Multi-Tasker schlechthin, ein Mann, der alles gleichzeitig machte», sagte «Vogue»-Chefin Anna Wintour. «Er mochte Partys, er liebte Menschen, aber er hat sein Privatleben geschützt. Er hat oft gesagt, wenn er sterbe, wolle er verschwinden und nur sein Werk zurücklassen. Das darf nicht passieren.»

Und das passierte auch nicht. Der sonst so schweigsame Alain Wertheimer erzählte, ihr Verhältnis habe 1982, als er ihn für Chanel engagierte, als Geschäftsbeziehung begonnen und sei dann zur Freundschaft geworden. Bernard Arnault verglich den Modeschöpfer mit Picasso, der sich in seinen verschiedenen Phasen auch immer neu erfunden habe. Und Tilda Swinton las auf der Bühne aus dem Roman «Orlando» von Virginia Woolf, einem von Lagerfelds Lieblingswerken: «Die Kleider tragen uns, nicht wir sie. Sie ändern unsere Sicht auf die Welt und die Sicht der Welt auf uns.» Cara Delevingne trug virtuos ein Katzen-Gedicht von Colette vor, Lang Lang spielte auf einem von Lagerfeld entworfenen Steinway-Flügel Chopins «Grand valse brillante» in Es-Dur, Pharrell Williams sang sein schwereloses Lied «Gust of Wind», und Helen Mirren zitierte ihre liebsten «Karlismen»: «Persönlichkeit beginnt da, wo das Vergleichen endet.»

Es war ein Abend, der die Selbstmythisierung des Modemachers umstandslos übernahm. Wie könnte man sich auch davon befreien? Denn viel von seiner kreativen Durchsetzungskraft hatte er in die eigene Person gesteckt. Er war der Zeichner seines eigenen Bildes, der Zeremonienmeister seiner Selbstfeier, der Herrscher über die Wahrnehmung seiner Person. Seinen Ruhm verdankte er auch seiner gut inszenierten öffentlichen Wirkung. Mit seinen Weisheiten und Witzen unterhielt er ein großes Publikum. Mit dem Logo, zu dem er sich selbst modelliert hatte, nahm er im Zeitalter des Visuellen Millionen Menschen für sich ein.

«No second choice» – das war eine seiner liebsten Formulierungen. Eindeutigkeit ist altmodisch in Zeiten der Optionenvielfalt. Wenn alles möglich ist, wird vieles beliebig, erst recht in der Modeszene. Seine Entschiedenheit hingegen war so altertümlich wie sein Stehkragen: Er legte sich fest und zog es durch. An seiner Person prallten die Diagnosen einer Gesellschaft ab, in der Verbindlichkeiten verlorengehen und Zugehörigkeiten zerbrechen. Er war zum lebenden Beweis dafür geworden, dass man sich binden und dennoch bei sich selbst bleiben kann.

Seine «rigueur», die Strenge, über die sich Franzosen immer wunderten, weist den Weg zu seinen Wurzeln. Ohne Großeltern und Eltern, ohne Schwestern und Freunde, ohne Lehrer und Mitschüler war sein Leben nicht zu verstehen. Ohne den biographischen Hintergrund preußischer Beamter und hanseatischer Kaufleute wäre diese Karriere eines Deutschen in Paris nicht möglich gewesen. Aber weil er Spuren verwischte, weil er falsche Fährten legte und weil Journalisten die Selbststilisierung nur allzu gern für wahr hielten, verloren sich viele Details seiner frühen Jahre im Nebel der Geschichte. Die Faszination, die Karl Lagerfeld als ein so zeitgebundenes wie überzeitliches Phänomen auf viele ausübte, verstellte den Blick auf den Menschen.

An diesem Abend im Grand Palais, obwohl er so hell war und so schön, war das meiste nicht zu sehen. Woher dieser Modeschöpfer eigentlich kam. Wie ihn seine frühen Jahre prägten. Wie er in seiner Kindheit traumatisiert wurde. Wie er später die Kontrolle nicht nur über sein eigenes Leben anstrebte. Was ihn zu dieser endlosen Produktivität antrieb. Warum er so vieles beherrschen wollte, auch als Produktdesigner, Fotograf, Bühnenbildner, Inneneinrichter, Illustrator, Karikaturist, Sammler, Herausgeber, Verleger.

Dieses Buch soll einem Mann näherkommen, der auf Distanz hielt. Dabei halfen Gespräche mit weit mehr als 100 Verwandten, Freunden, Bekannten, Klassenkameraden, Nachbarn, Kollegen, Geschäftspartnern und Mitarbeitern in Deutschland, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten. Dabei half auch die Einsicht in bisher unveröffentlichte Briefe und Faxe des Modeschöpfers sowie in zahlreiche unbekannte Briefe, Notizen und Fotos seiner Eltern. Verwendet wurden auch zwei Interviews des Autors mit Karl Lagerfeld aus den Jahren 2015 und 2017, die bisher nur in Teilen veröffentlicht wurden. Und schließlich waren dabei Privat-, Kirchen-, Stadt-, Landes- und Staatsarchive hilfreich – in Baden-Baden, Bad Bramstedt, Beckum, Hamburg, Jakutsk, Kiel, Münster, Neumünster, Neustadt in Holstein, Palm Beach Gardens, Paris, Reggio Emilia, Schleswig und Wladiwostok.[2]

Der Mythos, das übersah das begeisterungswillige Publikum an diesem Abend im Grand Palais nur allzu leicht, war ein Mensch – mit Ideen, mit Fähigkeiten, mit Schwächen, mit Fehlern. Die Modeszene kreiste wieder einmal nur um sich selbst. Der Mann aber, um den es hier ging, stammte nicht aus dem Nichts. Die Energie, die viele an diesem Abend noch zu spüren glaubten, musste doch von irgendwoher gekommen sein. Aber woher? Auch wenn man ein Leben von seinem Ende her sieht – man sollte von vorne anfangen.

11.  April 1930, Münster, Dürerstraße 3: Otto Lagerfeld und Elisabeth Bahlmann (Mitte links) feiern ihre Hochzeit. Trauzeugen sind ihre Schwester Felicitas (rechts) und deren Mann Conrad Ramstedt (hinten links). Deren Töchter Eva (vorne links) und Tita werden später zu den Lieblingskusinen Karl Lagerfelds. In der Mitte die Brautmutter Milly Bahlmann.

Vorgeschichte

Vater

Einen seiner besten Abnehmer hatte der Kondensmilch-Fabrikant Otto Lagerfeld zu Hause. Sein Sohn Karl wurde nämlich aus der Büchse ernährt. Lagerfelds Frau Elisabeth wollte ihn nicht stillen. «Ich habe nicht einen Milchfabrikanten geheiratet, um meinen Busen für so etwas herzugeben. Es gibt ja Dosenmilch», sagte sie nach der späteren Darstellung ihres Sohns.[1] Weil sie sich nicht «ihren Busen ruinieren» wollte,[2] bekam der kleine Karl Kondensmilch. Es scheint ihm nicht geschadet zu haben.[3]

Auch Otto Lagerfeld, der am 20. September 1881 in Hamburg geboren wurde, ist dank Kondensmilch groß geworden: Mit der Erfindung der Marke Glücksklee machte er das Geschäft seines Lebens. Aber bis dahin war es ein langer Weg, auf dem er sich vielen Gefahren aussetzte. Denn wer im Kaiserreich ein hanseatischer Kaufmann werden wollte, der musste in der Welt herumkommen, zum «Kaffeelernen». Otto Lagerfeld erfuhr also schon in jungen Jahren, was globaler Handel bedeutet – und wie die Weltgeschichte zuschlagen kann.

Schon Otto Lagerfeld senior, sein Vater, war Kaufmann. Im Hamburger Telefonbuch von 1910 ist sein Name verzeichnet als «Weinhandlung und beeidigter Weinverlasser, General-Depot der Grande-Chartreuse (Pères Chartreux in Tarragona)». Der Weinhändler, der 1845 geboren worden war, saß am Rödingsmarkt 74, also ganz in der Nähe des Hamburger Binnenhafens, und verkaufte auch Kräuterlikör.[4] Sein Sohn Otto baute ihm fürs Alter ein Haus in Ottensen: Als Traueradresse für Tönnies Johann Otto Lagerfeld, der am 22. Juni 1931 im Alter von 85 Jahren starb, war Elbchaussee 70 angegeben. Das Haus mit Blick auf die Elbe war auch noch die Traueradresse beim Tod seiner Frau Maria Lagerfeld, geborene Wiegels, am 13. März 1936.[5] Damals war die Elbchaussee, auch der vordere Teil in Ottensen, eine noch feinere Anschrift als heute, denn die Hauptverkehrsstraße in die Elbvororte war kaum von Autos befahren. Auch gerade Hausnummern, stadtauswärts auf der rechten Seite gelegen, waren nicht von Nachteil. Heute bedeutet das, dass man, um zur Elbe zu gelangen, eine vielbefahrene Straße überqueren muss.[6]

Otto Lagerfeld junior, eines von elf Kindern, wurde ein Kaufmann wie sein Vater, machte eine Lehre in einem Hamburger Kaffee-Handelsunternehmen, absolvierte seinen Militärdienst und ging Ende 1902 für die Hamburger Firma Van Dissel, Rode & Co. nach Maracaibo in Venezuela. Ein solcher Auslandseinsatz im Zeichen des damals in Hamburg begehrten venezolanischen Kaffees war ungemein gefährlich.[7] Otto Lagerfeld setzte sich nicht nur dem Gelbfieber aus, das von Mücken aus der sumpfigen Umgebung von Maracaibo übertragen wurde. Wegen des Verfalls des Kaffeepreises gab es auch politische Unruhen. 1899 brachte eine Revolution in Kolumbien das Geschäft mit dem Nachbarland zum Erliegen. Guerrillakämpfe erschwerten die Arbeit auf den Plantagen. Von 1902 bis 1903 führte die «Venezuela-Krise» dazu, dass viele Deutsche im Land verhaftet wurden.

Trotzdem schiffte sich der Einundzwanzigjährige 1902 auf einem Frachtkahn nach Venezuela ein.[8] Laut seinen eigenen Aufzeichnungen geriet er in Maracaibo in Kriegsgefangenschaft. Und das Gelbfieber überlebte er nach eigenen Worten nur, weil ihn eine Indianerin Tag und Nacht mit Öl eingerieben habe.[9] Auf der Suche nach besseren Kaffeebohnen bereiste er Kolumbien auf dem Rücken von Maultieren. Die politischen Konflikte, die erst mit einem Abkommen im März 1903 endeten, zeigten dem jungen Kaufmann, dass man nicht erfolgreich handeln kann, wenn es die politische Lage nicht zulässt.

Anzeige aus dem Jahr 1912: Otto Lagerfeld verkaufte in Wladiwostok Dosenmilch und weitere amerikanische Produkte wie Fliegenfänger, Seile und Werkzeuge.

Seinen Vertrag kündigte er nach wenigen Jahren, weil sich ihm keine Aufstiegschancen boten.[10] Otto Lagerfeld reiste in die Vereinigten Staaten, wo schon seine beiden Brüder Joseph und Johannes lebten. Am 16. April 1906 kam er in San Francisco an,[11] zwei Tage vor dem großen Erdbeben mit mehr als 3000 Todesopfern, das auch zu verheerenden Bränden führte. Von Sausalito aus, auf der anderen Seite der Golden-Gate-Meerenge gelegen, habe er die Feuer beobachtet, erzählte er seiner Enkelin Thoma Schulenburg.[12]

Noch mindestens bis zum Dezember 1906 blieb Otto Lagerfeld in San Francisco.[13] Von dort aus reiste er in Richtung Norden nach Kent bei Seattle im Bundesstaat Washington, zu der noch jungen Carnation Evaporated Milk Company, die für ihr expandierendes Geschäft einen ehrgeizigen Handelsreisenden gut gebrauchen konnte. Über Japan, Manila und Hongkong kam er 1907 nach Wladiwostok und baute dort eine Vertretung für den Dosenmilchhersteller auf.[14] Kondensmilch war noch ein recht neues Produkt. Erst seit dem 19. Jahrhundert war es möglich, die Keime in der Milch durch Erhitzung abzutöten, ihr durch Eindickung Wasser zu entziehen und durch Homogenisierung die Fett-Tröpfchen so zu zerkleinern, dass die Milch nicht so schnell aufrahmt und leichter zu verdauen ist. Bedarf an Kondensmilch, die lange haltbar ist, hatten vor allem Regionen, in denen Frischmilch fehlte – und das waren damals viele Gegenden, denn Kühlschränke waren noch nicht verbreitet.

Aber Russland? Und dann gleich Wladiwostok? 8000 Kilometer von Hamburg entfernt? Karl Lagerfeld, der viel über seine Mutter erzählte, aber wenig über seinen Vater, konnte seine Zuhörer in Gesprächen immer wieder mit dem Satz verblüffen: «Mein Vater hat sogar in Wladiwostok Kondensmilch verkauft.» Da schmückte sich der Sohn mit dem Unternehmergeist und der Abenteuerlust seines Vaters. Der Heimatforscher Andrei Sidorov aus Wladiwostok hat in einem Nachschlagebuch von 1912 eine Anzeige gefunden, die Otto Lagerfeld aufgegeben hatte.[15] Demnach verkaufte er außer Kondensmilch auch weitere amerikanische Produkte wie Fliegenfänger, Trockenfrüchte, Manilahanf-Seile, Feilen und andere Metallwerkzeuge wie Bohrer für Minenarbeiten und landwirtschaftliche Geräte.

Die Stadt am östlichen Rand des Russischen Reichs war ein ideales Terrain für einen Kaufmann, der gute Verbindungen zu Herstellerfirmen hatte. Denn die Transsibirische Eisenbahn, die in mehreren Etappen bis 1916 fertiggestellt wurde, rückte den Fernen Osten näher an Europa heran. Das führte seit 1903 zu einem wirtschaftlichen Aufschwung: Die wichtigste russische Hafenstadt am Pazifik wurde zu einem internationalen Handelszentrum. Die Dosenmilch, benannt nach dem amerikanischen Wort für Nelke, Carnation, verkaufte Otto Lagerfeld in der ostsibirischen Stadt unter dem russischen Wort für Nelke: Gwosdika.

Für den Russland-Liebhaber, der auch Russisch sprach, muss es besonders schmerzhaft gewesen sein, dass sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs alles änderte. Als Deutschland am 1. August 1914 Russland den Krieg erklärte, beantragte Otto Lagerfeld bei den russischen Behörden seine Ausreise über Japan in die Vereinigten Staaten, denn aufgrund der «Einstellung der Handelsoperationen mit London und Hamburg» könne er seine Geschäfte nicht mehr fortsetzen.[16] Aber wenige Tage später wurde er festgenommen, weil man ihn und weitere Landsmänner der Spionage verdächtigte.[17] Im Gefängnis von Wladiwostok beantragte er noch die russische Staatsangehörigkeit, weil er seit sieben Jahren in Russland lebe und im Alltag neben Englisch auch Russisch spreche.[18] Aber vergebens. Die Amerikanerin Eleanor L. Pray war Zeugin am Bahnsteig, als Otto Lagerfeld und weitere Deutsche abtransportiert wurden.[19]

Nach einer mehr als 2000 Kilometer weiten Fahrt Richtung Norden, zu großen Teilen vermutlich per Schiff, kam er nach Werchojansk, in ein verlorenes Nest jenseits des Polarkreises. Jakutien war schon zu Zarenzeiten eine Region für Verbannte. Zunächst waren es Bauern und Arbeiter, Altgläubige und Sektenanhänger, nun vermehrt «Politische». In Stalin-Zeiten wurde Jakutien dann zum «Gefängnis ohne Gitter». Die Gegend war so entlegen, die Bedingungen waren so rau, dass an Flucht kaum zu denken war, zumal es keine Eisenbahnen und keine befestigten Straßen gab. Werchojansk hatte 470 Einwohner, drei Läden, eine Kirche. Von Otto Lagerfelds Zeit dort ist wenig überliefert.[20] Er unterstand der örtlichen Polizei, nicht den militärischen Behörden. In Werchojansk gab es kein Kriegsgefangenenlager – es war ein Ort der Verbannung.

Die Umstände des Lebens dort lassen sich nur indirekt erschließen. Otto Lagerfeld schrieb 1956 in einem Leserbrief an die «Frankfurter Allgemeine», ergänzend zu einer Zeitungsmeldung über «Milch in Scheiben»: «Ich möchte dazu mitteilen, dass nicht nur in Jakutsk an der Lena Milch in Scheiben käuflich ist, sondern in ganz Nordsibirien. (…) Im Winter wird die Milch in einen tiefen Teller gemolken, und während des Melkens und gleich danach ist die Milch gefroren. Die Bauersfrauen lösen die Milch vom Teller dadurch ab, dass sie mit dem Teller über das Feuer streichen und die Milchscheiben in einen Sack werfen. Man kauft die Milch in Nordsibirien per Sack und hält sie in einem Eisloch zu Hause. Wenn man Milch benötigt, geht man hinein, schlägt sich etwas Milch ab und taut es über dem Herdfeuer auf. Ich war vier Jahre an der nördlichen Lena in der Nähe von Jakutsk während des ersten Weltkrieges interniert. Wir hatten dort durchschnittlich 50 bis 55 Grad Kälte im Winter.»[21]

Was für eine unterkühlte Darstellung! Das Leben in der Gegend muss brutal gewesen sein. Am 5. Februar 1892 herrschten dort minus 67,8 Grad, die bis dahin niedrigste gemessene Temperatur. Werchojansk galt forthin als «Kältepol» aller bewohnten Gebiete in der nördlichen Hemisphäre, als «kälteste Stadt der Welt». Aber Otto Lagerfeld, der Elend und Entbehrung gar nicht erst thematisiert, schreibt in sachlicher Form über Milch, als wäre in dieser entlegenen Siedlung sonst nicht viel passiert. Man erkennt darin den traditionellen männlichen Gestus, sich nichts anmerken zu lassen, vielleicht auch die hanseatische Tugend, Schicksalsgeschichten in Understatement zu kleiden, womöglich die fürs 20. Jahrhundert so typische Überlebensstrategie der Verdrängung.

Otto Lagerfeld gelangte in den Wirren der Revolution 1918 über Sankt Petersburg zurück nach Hamburg. Schon 1919 begann er dort mit seiner Firma Lagerfeld & Co., Carnation-Dosen einzuführen.[22] Eingetragen wurde er ins Handelsregister am 1. März 1919 gemeinsam mit seinem Bruder Johannes Jacob Lagerfeld, wie er «Kaufmann zu Groß Flottbek». Am 26. August 1922 wurde auch Carl Wübbens als Mitgesellschafter eingetragen, ein Freund, mit dem er von Wladiwostok aus verbannt worden war.[23] Evaporierte Dosenmilch wurde langsam populär. 1923 gründete Otto Lagerfeld eine eigene Marke unter dem Namen Glücksklee. Das rot-weiße Etikett mit dem vierblättrigen grünen Kleeblatt, damals noch mit dem Kopf einer Kuh in der Mitte, entwarf er selbst. Wie man eine Marke aufbaut, das konnte Karl Lagerfeld am Beispiel seines Vaters gut beobachten. Der Sohn schien stolz darauf zu sein: Noch in den siebziger Jahren trug er ein goldenes Glücksklee-Blatt am Revers.[24]

«Lagerfeld & Co.» saß An der Alster 52. Die «Gen.-Vertr. f. amerikan. Dosenmilch ‹Carnation›» war wohl das erste deutsche Unternehmen, das sich auf Kondensmilch spezialisierte. Zunächst importierte der Geschäftsführer die evaporierte Milch für fünf Dollar je Kiste.[25] Aber wegen höherer Importzölle musste seit 1922 jede Milchkiste laut Lagerfelds Aufzeichnungen mit 20 Reichsmark verzollt werden. Daher überzeugte er seine amerikanischen Lizenzgeber, dass es billiger sei, die Dosen mit deutschen Arbeitskräften herzustellen und mit deutscher Milch zu befüllen. 1925 gründete er die «Glücksklee Milchgesellschaft mbH» – und profitierte in den nächsten Jahren vom bescheidenen Wohlstand der «Goldenen Zwanziger».

Am 1. Mai 1926 lief die Produktion im neuen Fabrikgebäude am Hafen von Neustadt an. Die Stadt liegt logistisch ideal: in der Nähe der vielen Milchviehbetriebe in Ostholstein und mit direktem Zugang zur Ostsee für den Vertrieb. «Die Glücksklee», wie man in Neustadt sagte, war eine Erfolgsidee. Denn die Zeit war reif für die haltbare Milch: Man kann heiße Schokolade und Desserts damit zubereiten, den Kaffee genießbar machen oder die mit Wasser verdünnte Milch einfach trinken. Eine Glücksklee-Werbung von 1930 hatte die Überschrift «Bitte, gib mir noch mehr, Mutti»: «Auch Kinder, die sonst nur ungern Gemüse essen, bitten um eine zweite Portion, wenn am Gemüse etwas Glücksklee-Milch ist.»

Mit den seit 1933 herrschenden Nationalsozialisten suchte sich Otto Lagerfeld gut zu stellen – aber geschäftlich geriet er in Schwierigkeiten. Bis 1937 wurden zwar sogar noch zwei weitere Werke angegliedert, in Waren (Mecklenburg) und in Allenburg (Ostpreußen). Der Krieg schnitt jedoch in die Produktion ein. Der Fabrikleiter schrieb in einem Brief vom 9. April 1941: «Dann fehlen uns die Kohlen, dann Dosen, dann Fässer, dann fehlt uns Blech, dann Lötzinn, und so ist jeden Tag was Neues los, Sie können sich nicht denken, was es heißt, 130.000 Liter Milch täglich anzunehmen, ohne dass man weiß, ob man sie noch verpacken kann.»[26] Bald musste man auf Käse-, Butter- und Milchpulverproduktion umstellen. Die Werke in Waren und Allenburg gingen durch den Krieg verloren. Der Direktor hatte aber keine Not zu leiden. Nach den Angaben auf seinem Entnazifizierungs-Fragebogen hatte er durch Gehalt, Bonus, Dividende, Zinsen und Miete seit 1935 stets ein Bruttoeinkommen von mehr als 50.000 Reichsmark im Jahr, von 1940 bis 1944 waren es sogar etwa 70.000 Reichsmark.[27]

In den letzten Tagen des Krieges spielte sich in der Lübecker Bucht eine Tragödie ab. Vor Neustadt versenkten am 3. Mai 1945 britische Bomber die deutschen Schiffe Cap Arcona, Thielbek, Deutschland und Athen, die keine Truppenverbände an Bord hatten, wie die Briten annahmen, sondern hauptsächlich Häftlinge aus Konzentrationslagern. Mehr als 8000 Menschen kamen dabei ums Leben. In Neustadt brach das Chaos aus. Die Überlebenden holten sich Lebensmittel aus den Magazinen der Glücksklee. Ein Verpflegungsgüterzug mit Käserädern, Zuckersäcken und Butterpaketen am Bahnhof wurde ausgeräumt. Auch Einwohner, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene plünderten die Lebensmittellager.[28] Dabei kam es zu tragischen Todesfällen: Entkräftete ehemalige Häftlinge, die sich auf die Butter stürzten, vertrugen die ungewohnte Kost nicht und starben «in großer Zahl».[29] Unklar ist, ob der Glücksklee-Direktor in diesem Zusammenhang festgenommen wurde, etwa weil er Lebensmittel bevorratet und den Behörden vorenthalten hatte. Angeblich kam Otto Lagerfeld jedenfalls vorübergehend in Neumünster in Untersuchungshaft. «Seiner Frau war das sehr peinlich.»[30]

Dafür hatte der Direktor schon bald nach dem Krieg wieder Glück mit Glücksklee. Die Währungsreform von 1948 half dem Kaufmann: «Durch die einseitige Abwertung der Geldvermögen und die Stabilität der Sachwerte wurden Haus- und Grundbesitzer, Wirtschaftsunternehmen und Kaufleute extrem begünstigt.»[31] 1952 verarbeitete das Unternehmen 535.000 Liter Milch pro Tag. «Die Glücksklee» war ein wichtiger Arbeitgeber in Neustadt, der größte Steuerzahler der Stadt und ein hervorragender Abnehmer für die Milchbauern in Ostholstein.

In seiner Kindheit und Jugend erlebte Karl Lagerfeld einen Vater, der ständig zu den Fabriken unterwegs war oder zum Hauptsitz seiner Firma am Mittelweg 36 in Hamburg.[32] «Der hat sich außer um Dosenmilch um nichts gekümmert», sagte er.[33] «Mein Vater sprach wenig, höchstens über Geschäfte. Er war sehr hanseatisch. Tiefe Konversationen hatte ich mit ihm nicht. So was galt damals als Mangel an Schamgefühl.»[34] Er sei ein «Pfeffersack» gewesen, also ein echter Hamburger Kaufmann.[35] Anfreunden konnte sich Karl Lagerfeld mit den Geschäften nicht. Der Hamburger Großbürgersohn fremdelte mit der holsteinischen Provinz. Nur einmal sei er zur Glücksklee-Fabrik nach Neustadt gekommen, so erinnerte sich später sein Cousin Kurt Lagerfeld. Das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Fabrik wurde im Mai 1952 im nahen Grömitz begangen. Als bei dem Fest ein Bauer mit Karl ein Bier trinken wollte, habe der Achtzehnjährige abgewinkt: Er trinke nur Champagner.[36] Bald darauf ging er nach Paris.[37]

Otto Lagerfeld blieb bis 1957 Glücksklee-Geschäftsführer. So erfolgreich er auch gewesen war: Der Marktanteil von Bärenmarke, der Allgäuer Konkurrenz, die vor allem den süddeutschen Markt beherrschte, lag 1963 bei 26 bis 28 Prozent, während Glücksklee auf 16 bis 17 Prozent kam.[38] Mitte der Sechziger lag der Umsatz, den rund 1000 Mitarbeiter erwirtschafteten, bei vermutlich mehr als 100 Millionen Mark.[39] Heute ist das Werk Otto Lagerfelds kaum noch zu sehen. Der amerikanische Glücksklee-Lizenzgeber wurde 1985 vom Schweizer Konzern Nestlé übernommen. Am 17. September 1987 wurde die Glücksklee GmbH aufgelöst und in die Nestlé Deutschland AG integriert.[40] Das Werk in Neustadt an der Ostsee stellte zum 31. Dezember 2002 nach 76 Jahren seinen Betrieb ein, obwohl die Produktivität stimmte und die Auftragsbücher voll waren. Die Neustädter waren enttäuscht von Nestlé. Das lange Backstein-Gebäude am Hafen stand plötzlich leer. Schon im Jahr 2003 verkaufte Nestlé seine Kondensmilch-Sparte an die Hochwald-Nahrungsmittelwerke in Rheinland-Pfalz. Seit 2008 ist Hochwald alleiniger Hersteller von Dosen-Kondensmilch in Deutschland. Der Verbrauch ist rückläufig. Man ernährt sich heute gerne fettarm. Nur noch ältere Menschen stechen zwei Löcher in die Dose und drücken die fettreiche Milch tropfenweise in den Kaffee.

Otto Lagerfeld, ein freundlicher Herr, der aber stets distanziert blieb, versuchte in späten Jahren, seine Enkelin Thoma an seinen Lebenserfahrungen teilhaben zu lassen. Er nahm das Mädchen mit nach St. Pauli, in eines der chinesischen Restaurants am Wilhelms-Platz, dem späteren Hans-Albers-Platz, und plauderte mit den Besitzern auf Chinesisch. Die Sprache und das Essen beeindruckten sie sehr. Es ist unklar, ob Otto Lagerfeld in seinen Lehr- und Wanderjahren wirklich neun Sprachen gelernt hatte, wie sein Sohn später behauptete.[41] Sicher aber sprach er Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und etwas Chinesisch. Und nun freute er sich, dass er das mal jemandem zeigen konnte.[42]

Im März 1960 zogen Otto Lagerfeld und seine Frau Elisabeth nach Baden-Baden. Bei der Anmeldung an seinem Altersruhesitz gab er als Beruf «beratender Direktor» an;[43] von seiner Lebensaufgabe konnte er offenbar noch immer nicht lassen. Als Rentner hatte er nach den Worten seines Sohns «nichts mehr zu tun, keine Aufgabe, fühlte sich nutzlos, hat den ganzen Tag nur Zeitung gelesen, zehn Jahre lang.»[44] Sein Vater sei «an Langeweile» gestorben: «Er ist nämlich beim Zeitunglesen mit 90 eingeschlafen.»[45] Dabei war Otto Lagerfeld, als er am 4. Juli 1967 im Schwarzwälder Rentnerparadies starb, 85 Jahre alt – so alt wie sein Vater und sein Sohn, als sie starben.

Erst drei Wochen nach dem Tod des Vaters habe seine Mutter ihm die traurige Nachricht überbracht, sagte Lagerfeld oft. Das mache aber nichts, fügte er hinzu, er gehe ohnehin nicht gerne auf Beerdigungen.[46] Allerdings erschien schon zwei Tage nach dem Tod des Vaters die von der Glücksklee-Milchgesellschaft aufgegebene Todesanzeige in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». «Aus kleinsten Anfängen», so heißt es dort, habe Otto Lagerfeld «eines der bedeutendsten Unternehmen der deutschen Milchwirtschaft» geschaffen.[47] Sollte die Mutter nichts von der Anzeige mitbekommen haben? Sollte sie es riskiert haben, dass der Sohn in Paris vom Tod des Vaters durch eine Anzeige erfährt und nicht durch sie selbst? Natürlich nicht. Die Nachricht vom Tod seines Vaters muss Karl Lagerfeld bald erreicht haben, denn die Erdbestattung auf dem Nienstedtener Friedhof in Hamburg fand am 10. Juli 1967 statt, und er war dort.

Beziehungsweise auch wieder nicht. Die Beisetzung war nämlich ein letztes seltsames Zeugnis der merkwürdigen Beziehung von Karl Lagerfeld zu seinem Vater. Der Sohn des Verstorbenen ging nicht etwa zum Friedhof, sondern wartete im nahen Hotel Louis C. Jacob an der Elbchaussee, bis die Trauergesellschaft dort schließlich erschien.[48] Die Familie war empört. Bei dem Anlass machte sich auch «Tante Ebbe» unbeliebt. Nach der Erinnerung von Karls Cousin Kurt sagte Elisabeth Lagerfeld zur Familie ihres Mannes, das mit der Verwandtschaft sei ja jetzt vorbei: «Jetzt sagen wir Sie zueinander.» Karl Lagerfelds später geäußerter Satz, mit ihm werde die Dynastie der Lagerfelds enden, musste die Familie ebenfalls ärgern. Denn auch Otto Lagerfelds Geschwister hatten Kinder, Enkel und Urenkel. Es gibt in Deutschland und in den Vereinigten Staaten viele Menschen mit dem Namen Lagerfeld, die meisten von ihnen sind jedoch nicht im Telefonbuch zu finden.

Man kann Karl Lagerfeld aber nicht vorhalten, dass er sich nicht um das Familiengrab im Feld 16D des Nienstedtener Friedhofs gekümmert hätte, in dem auch sein Großvater, seine Großmutter und zwei seiner Tanten begraben liegen. Die Laufzeit des sechsstelligen Wahlgrabs, so die Friedhofsverwaltung, wurde beizeiten von ihm selbst verlängert: bis zum Jahr 2042.[49] Das ist eine außergewöhnlich lange Zeitspanne. Wenn seine Ruhestätte eingeebnet wird, ist Otto Lagerfeld, die letzte Person, mit der das Familiengrab belegt wurde, schon seit 75 Jahren tot.

Mutter

Sein Vater kam Karl Lagerfeld abgehoben vor. Also hielt er sich an seine Mutter, die öfter da war und stets etwas zu sagen hatte. Ihre spitzen Bemerkungen allerdings drückten neben abgründigem Witz vor allem unerbittliche Strenge aus. All die Merksätze und Urteilssprüche, die ihr Sohn einer staunenden Öffentlichkeit überlieferte, lassen Elisabeth Lagerfeld nicht gerade als mütterliche Person erscheinen. Vielmehr ist zu erahnen, dass sie ihre hohen Ansprüche ans Leben ungefiltert an ihren einzigen Sohn weitergab – und ihn dadurch zugleich frustrierte und stimulierte.

Einmal erzählte Lagerfeld, sie habe seine alten Tagebücher weggeworfen. «Das braucht ja nicht jeder zu wissen, dass Du so doof bist.»[50]

«Setz keine Hüte auf, Du siehst aus wie eine alte Lesbierin.»[51]

«Du siehst aus wie ich, aber nicht so gut.»[52]

«Deine Nase ist wie eine Kartoffel. Und Du solltest Vorhänge für die Nasenlöcher bestellen!»[53]

«Du hättest mehr aus Dir machen können, aber bei deinem Mangel an Ehrgeiz ist es schon okay, was du geschafft hast.»[54]

«Sprich bitte schneller, damit du mit dem Stuss, den du redest, bald zu Ende kommst.»[55]

«Mit so dicken Fingern solltest Du nie im Leben rauchen oder Klavier spielen.»[56]

«Schade, dass du dich nicht über den Hof gehen siehst, sonst hättest du gesehen, was für einen dicken Hintern du gekriegt hast.»[57]

Man kann nur schwer ermessen, wie mütterliche Härte ein Kind prägt. Die bizarre Bosheit dieser mütterlichen Botschaften kann wohl kein Minderjähriger als originell erkennen. Wegen der harschen Bemerkungen fremdelte er mit seiner Rolle als Kind. Somit musste er sich auch unter Gleichaltrigen als Außenseiter fühlen. Die Merksätze verstärkten den Wunsch, so schnell wie möglich das beklemmende Dasein als Kind hinter sich zu lassen und erwachsen zu werden. Vielleicht war das aber auch alles gar nicht so gemeint – und die Sätze zeugten von mütterlichem Stolz, der durch Herabsetzungen relativiert werden musste.

Man muss einen Schritt zurücktreten und auf die Geschichte von Elisabeth Bahlmann schauen, um ihr Verhalten zu deuten. Als Tochter des Landrats in Beckum wurde sie zwar in provinziellen Verhältnissen groß; die Stadt zwischen Münster und Paderborn hatte um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht einmal 10.000 Einwohner. Aber Elisabeth und ihre ältere Schwester Felicitas Bahlmann wuchsen in dem Bewusstsein auf, dass sie wegen vieler familiärer Ortswechsel diesen Verhältnissen nicht entstammten. Außerdem hatten sie als Töchter des Landrats in der provinziellen Umgebung eine herausgehobene Stellung und konnten folglich leichter den Kindheitsmustern entfliehen als Alteingesessene.

Auf die Haltung kam es an: Die Schwestern Felicitas (links) und Elisabeth Bahlmann wuchsen privilegiert in der damaligen Kreisstadt Beckum auf.

Denn ihr Vater Karl Bahlmann (1859 bis 1922) war nicht einfach ein westfälischer Provinzpolitiker. Er war in Neustadt in Oberschlesien geboren worden, machte 1881 sein Abitur in Recklinghausen, studierte Rechtswissenschaften in Freiburg, Greifswald und Berlin, wurde 1884 in Jena promoviert, war Regierungsassessor und von 1891 bis 1899 Oberamtmann in Gammertingen auf der Schwäbischen Alb und schließlich von 1899 bis 1922 Landrat im Kreis Beckum. Von 1911 bis 1920 war er für die Zentrumspartei auch Mitglied im Provinziallandtag der Provinz Westfalen. Den langsamen Abstieg der Zentrumspartei, das Erstarken der Nationalsozialisten und die Auflösung des Provinziallandtags nach der Machtergreifung 1933 musste er nicht mehr miterleben.

Karl Bahlmann, dessen Enkel seinen Vornamen erben sollte, war mithin ein gebildeter und umtriebiger Mann, der sich in Politik, Justiz und Bürokratie des Kaiserreichs und der beginnenden Republik gut auskannte. Schon sein Vater Wilhelm Bahlmann (1828 bis 1888) war Richter und Ministerialbeamter in Preußen gewesen. Die Ernennung Karl Bahlmanns zum Landrat nahm der Kaiser persönlich vor. «Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen etc.», so beginnt das Schreiben Wilhelms II. vom 23. August 1899, das in Bahlmanns Personalakte im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, erhalten ist. Er habe die Bestallung, so schrieb der Kaiser, «allerhöchst selbst vollzogen».[58]

Die noch junge Familie zog nach Beckum – und sollte es nicht bereuen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es ihnen dort gut. Der neue Landrat beantragte beim Regierungspräsidium als Reserveoffizier nicht nur die Freistellung für «militärische Dienstleistung», die er mindestens in den Jahren 1900, 1905 und 1907 absolvierte, in der Regel für vier Wochen. In der Personalakte im Landesarchiv Münster sind auch seine Urlaubsanträge zu finden. 1901 ging es für vier Wochen nach Norderney, im August 1904 für drei Wochen in die Schweiz, im Sommer 1905 für vier Wochen nach Tirol, 1907 vier Wochen im Juli in die Schweiz.

Der Familie fehlte es in dieser Zeit an nichts. Vom 1. Oktober 1904 an bewilligte der Regierungspräsident von Münster dem Landrat zum Jahresgehalt von bis dahin 5400 Mark eine Zulage von 600 Mark. Zum 1. Oktober 1907 wurden auf die 6000 Mark weitere 600 Mark jährlich aufgeschlagen. Und schon zum 1. Oktober 1910 wurde von 6600 auf 7200 Mark erhöht. Das war viel Geld in Zeiten, in denen ein Arbeiter auf etwa 1500 Mark im Jahr kam und in denen ein Zentner Kohle oder ein Kilo Schweinefleisch nur etwas mehr als eine Mark kosteten. Schon 1911 wurde dem Landrat zudem vom Kreis ein Automobil für dienstliche Angelegenheiten zur Verfügung gestellt.

Elisabeth, die am 25. April 1897 noch in Gammertingen im Landkreis Sigmaringen geboren worden war, also mit zwei Jahren nach Beckum kam, und ihre ältere Schwester Felicitas mussten sich wie Prinzessinnen fühlen. Die Familie lebte in einer großen Dienstwohnung im Erdgeschoss des Kreisständehauses in Beckum. Der neugotische Prachtbau von 1886/1887, heute «Altes Kreishaus», war mit seiner Größe und mit dem weitläufigen Park hinterm Haus für Kinder ein kleines Paradies. Elisabeth ging erst in Beckum zur Schule, von 1911 bis 1913 besuchte sie dann das Lyzeum im fünf Kilometer entfernten Ahlen. Nach der Mittleren Reife ging sie ab.[59]

Allerdings bekam das schöne Bild bald Risse. Denn Karl Bahlmann erlitt vermutlich im Frühjahr 1908 einen Herzinfarkt, noch keine 50 Jahre alt. Im April und Mai 1908 war er in Wiesbaden in Behandlung sowie im Oktober in Köln. Fortan war der Vater, der ohnehin viel im Landkreis unterwegs war, öfters an Wehrübungen teilnahm und sich seit 1911 auch immer wieder für die Verhandlungen des Provinziallandtags beurlauben ließ, noch seltener da. Denn nun fuhr er oft mehrmals im Jahr wochenlang zur Kur nach Bad Nauheim, das auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen spezialisierte Heilbad in Hessen.

Den Amtsgeschäften ging er weiter unvermindert nach. Das lässt sich aus den Auszeichnungen schließen, die ihm verliehen wurden. Im Januar 1915 schrieb «Der Minister des Innern», «des Königs Majestät» habe den Landräten Karl Bahlmann in Beckum und Max Gerbaulet in Warendorf «mittels Allerhöchsten Erlasses vom 19. Januar 1915 den Charakter als Geheimer Regierungsrat Allergnädigst zu verleihen geruht». 1917 erhielt er laut Aktenvermerk das «Eiserne Kreuz am weiß-schwarzen Bande». Am 19. April 1921 wurde sein Amt als «großes Landratsamt» eingestuft, was auch höhere Dienstbezüge bedeutete. Am 6. März 1922 dann die Nachricht des Kreissekretärs an den Regierungspräsidenten: «Der Landrat, Geheimrat Dr. Bahlmann ist heute vormittag verschieden.» Bestattet wurde er auf dem Elisabethfriedhof in Beckum.

Der frühe Tod des Vaters an seinem 63. Geburtstag traf die Familie schwer. Die Witwe musste die Dienstwohnung in Beckum für den neuen Landrat frei machen. Emilie («Milly») Bahlmann wollte nach Münster ziehen, wo schon ihre ältere Tochter Felicitas lebte. Dort fand sie aber keine Wohnung, «durch die auf dem Wohnungsmarkte bestehenden Schwierigkeiten», wie sie in einem Brief an den Regierungspräsidenten schrieb. Sie bat daher um Verständnis, dass sie erst im Folgejahr umziehen konnte. Und weil die Inflation galoppierte, suchte «Frau Wwe. Landrat Bahlmann» am 31. März 1923 um eine Umzugskostenbeihilfe nach.[60] Am 11. September 1923 bewilligte ihr der Regierungspräsident dafür 3.037.376 Mark.

Emilie Bahlmann, die zunächst in der Achtermannstraße wohnte, zog im Frühjahr 1929 in das neue Haus Dürerstraße 3 im aufstrebenden Kreuzviertel, einem der beliebtesten Wohnviertel von Münster, das direkt an die alte Stadtbefestigung grenzt, die heutige Promenade. Die Witwe des Landrats war die erste Mieterin im ersten Stockwerk, in der Bel Etage. Die Enkelin der Besitzer, Ruth Brandt, 1922 geboren, erinnert sich noch heute, wie sie einen Knicks machen musste, wenn sie die schwarz gekleidete Witwe im Treppenhaus oder draußen traf. Emilie Bahlmann, die standesgemäß ein Hausmädchen hatte, sprach man als «Frau Geheimrat» oder auch «Frau Landrat» an.[61]

Ihre Tochter Felicitas lebte um die Ecke. Karl Lagerfelds Tante, geboren am 16. November 1892, hatte 1920 den Chirurgen Conrad Ramstedt geheiratet, der die Raphaelsklinik in Münster leitete. Nach der Erinnerung ihres Enkels Gordian Tork war Felicitas Ramstedt «sehr elegant, ihrer Zeit voraus und sehr selbständig». Seit den fünfziger Jahren fuhr sie als Vertreterin für Arzneimittel mit dem Auto durch Nordrhein-Westfalen. Manchmal durfte Gordian mitfahren, der Sohn ihrer jüngeren Tochter Felicitas («Tita»), verheiratete Tork. Und während die «Frau Professor», wie sie sich anreden ließ, bei den Ärzten vorsprach, putzte ihr Enkel draußen den Wagen, einen Ford Taunus.[62]

Die zwanziger Jahre waren keine leichten Zeiten. Für Elisabeth Bahlmann, die 24 Jahre alt war, als der Vater starb, bedeutete die durchaus prekäre Lage ihrer Mutter, dass sie schnell selbständig werden musste. In gewisser Hinsicht war ihr das vermutlich recht, denn sie wollte weg vom platten Land. Feministische Ideen waren ihr Leitbild. Schon in jungen Jahren hatte sie selbständig politisch gedacht, wie man an Äußerlichkeiten ablesen konnte. Seine Mutter habe ihr Haar «sehr früh abgeschnitten, um 1919», sagte Karl Lagerfeld einmal. «Sie war sehr feministisch. Auf den Bildern aus ihrer Kindheit hat sie ganz lange Haare. Später, für den Rest ihres Lebens, hatte sie die Haare immer kurz.»[63] Bevor der Bubikopf in den zwanziger Jahren zum Modetrend wurde, war die weibliche Kurzhaarfrisur ein Ausdruck von weiblicher Freiheit, also eine feministische Aussage.

Politisiert wurde Elisabeth Bahlmann von der Frauenbewegung, die jahrzehntelang für politische Teilhabe gestritten hatte. «Eine ihrer Heldinnen war Hedwig Dohm, die seit dem 19. Jahrhundert eine Feministin in Deutschland war, als Frauen noch keine bedeutende Rolle hatten», sagte Karl Lagerfeld 2015. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als die ersten Bücher Dohms erschienen, seien die Rechte der Frauen beschränkt gewesen auf die drei K: Kinder, Küche, Kirche. Schon als Kind habe er von der Berliner Feministin gehört, deren Enkelin Katia später Thomas Mann heiraten sollte. «Man erinnert sich an die englischen Suffragetten, aber die erste, die sich für Frauenrechte einsetzte, war Hedwig Dohm.»[64]

In der Tat hatte Hedwig Dohm (1831 bis 1919) als feministische Vordenkerin schon im 19. Jahrhundert gefordert, was erst im 20. Jahrhundert langsam Wirklichkeit werden sollte: Mädchen sollten die gleichen Bildungs- und Ausbildungschancen haben wie Jungen; für eine gleichberechtigte Partnerschaft mit einem Mann könne man sich als Frau nur entscheiden, wenn man ökonomisch selbständig sei; und Frauen solle endlich das Wahlrecht zugesprochen werden. Sie spießte die chauvinistisch grundierten Machtansprüche der Männer auf, und sie behauptete, Mutterliebe sei kein natürlicher Trieb, sondern anerzogen – die Frauen könnten also nach der Geburt weiter ihrem Beruf nachgehen, und Institutionen könnten Hausarbeit und Kindererziehung übernehmen.

Mutterliebe kein natürlicher Trieb? Das erinnert stark daran, wie Elisabeth Lagerfeld mit ihrem Sohn umging. Sollte sich der Lebensweg dieses Mannes nicht nur dem Ehrgeiz und der Strenge seiner Mutter verdanken, sondern womöglich auch ihrem feministischen Impuls?

Als Heranwachsende wird Elisabeth Bahlmann begeistert gewesen sein von der Aussicht, dass Frauen, die seit 1908 Mitglied einer politischen Partei werden durften, dann auch wählen konnten. Laut der Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung («Reichswahlgesetz») vom 30. November 1918 durften nun «alle deutschen Männer und Frauen» wählen, «die das 20. Lebensjahr vollendet haben». Auch die 21 Jahre alte Elisabeth Bahlmann wird bei der Wahl am 19. Januar 1919 ihre Stimme abgegeben haben. Am Ende waren unter den 423 Mitgliedern der deutschen Nationalversammlung, die bis zum September in Weimar tagte und dann in Berlin, 37 Frauen: 19 von ihnen für die SPD, sechs fürs Zentrum und noch weniger für die anderen Parteien. Man kann annehmen, dass es wegen dieses hart erkämpften Erfolgs der Frauenbewegung auch im Hause Bahlmann zu Diskussionen kam, denn der Vater war als Mitglied der gemäßigt konservativen Zentrumspartei vermutlich kein Anhänger des Frauenwahlrechts.

Überhaupt wurde Elisabeth Bahlmann streng erzogen. Kindererziehung im Kaiserreich hatte wenig mit Zuwendung zu tun. Liebe sollte man außer seinem Ehepartner allenfalls noch dem Vaterland entgegenbringen. Militarismus, Autoritarismus und – im Münsterland – Katholizismus führten in der Erziehung zu unerbittlicher Strenge. Zärtlichkeit war nicht vorgesehen. «Körperliche Nähe war meiner Mutter zuwider», sagte Karl Lagerfeld einmal. «Dass ich auch so bin, habe ich sicher von ihr geerbt.»[65] Gordian Tork, 1951 geboren, sagt, seine Großmutter Felicitas und ihre Schwester Elisabeth seien in dem preußischen Beamtenhaushalt in Beckum streng erzogen worden: «Da ging es viel um Etikette und Benehmen. Sie mussten Ehrfurcht vor den Eltern haben und durften keine Gefühle zeigen.» In der Familie sei man aber liebevoll miteinander umgegangen. «Tante Ebbe war nicht so herrisch, wie er sie oft darstellte», sagt Tork über seinen Onkel zweiten Grades. «Sie war scharfzüngig, aber eben auch lustig.»[66]

Als junge Frau ließ Elisabeth Bahlmann Provinz und Patriarchat hinter sich und zog nach Berlin. Nach der Erinnerung von Karl Lagerfelds Cousin Kurt arbeitete sie dort als Verkäuferin in einem Kaufhaus, in der Abteilung für Damenunterwäsche.[67] Thoma Schulenburg, die Tochter ihrer Stieftochter Thea, sagt aber, dass sie in Berlin eine Schneiderlehre gemacht und als Direktrice in einem Modehaus gearbeitet habe: «Sie hatte über Stoffe ein unglaubliches Wissen und hat mit Freude und Talent alle Arten von Handarbeit gemacht.» Es sei ein großes Vergnügen gewesen, nach dem Krieg mit ihr in Hamburg ins Geschäft «Seiden Brandt» am Rathaus zu gehen: «Sie begutachtete die Stoffe durch ein Monokel und maßregelte das Verkaufspersonal nur mäßig, denn sie wollte ja wiederkommen.»[68]

Als Verkäuferin zu arbeiten hätte nicht ihrem Bedürfnis nach Selbständigkeit widersprochen. Im Gegenteil: Denn anders als die meisten jungen Frauen in Beckum emanzipierte sie sich von der Rolle als Hausfrau und Mutter, die damals für Mädchen vom Land vorgesehen war. Die Angestellte symbolisierte «den neuen, modernen Typ der Frau», schreibt der Historiker Ulrich Herbert. Sie verkörperte «eine gewisse neue weibliche Selbstständigkeit und bildete einen deutlichen Kontrast zu jenem wilhelminischen Frauenbild, als dessen Prototypen die Bäuerin, die verhärmte Arbeiterfrau mit vielen Kindern und die bürgerlich-konservative, dem Erwerbsleben ferne ‹Gattin› der besseren Gesellschaft galten».[69] Angestellte wurden mit erweiterten Konsummöglichkeiten und großstädtisch orientiertem Freizeitverhalten assoziiert.[70]

Es ist unklar, wann Elisabeth Bahlmann ihr Zuhause verließ. «Als junge Frau hatte sie erst in München gelebt, dann in Berlin», sagte Karl Lagerfeld.[71] In den jährlichen Ausgaben des «Berliner Adreßbuchs» und des «Adressbuchs der Stadt München und Umgebung» ist sie nicht verzeichnet. Und ihrem Sohn schwärmte sie immer nur vage von den Verlockungen der damaligen Reichshauptstadt vor. «Du kannst mich fragen, was Du willst, über meine Kindheit und über die Zeit, seit ich Deinen Vater kenne», sagte sie zu ihm. «Was dazwischenliegt, geht Dich nichts an.» Daher wisse er «im Grunde nichts» von seinen Eltern, «aber brauche ich ja auch nicht», sagte der Modemacher in seiner flapsigen Art: «Ist ja ihr Leben, geht mich ja nichts an.»[72]

Womöglich wollte seine Mutter verheimlichen, dass sie schon einmal verheiratet gewesen war. Ihr Sohn erwähnte das später immer nur nebenbei – und es blieb unklar, wo und wann und wer das war. Auch erfuhr die Nachwelt nicht, wie sich die erfahrungshungrige Elisabeth Bahlmann und der erfahrungsgesättigte Otto Lagerfeld kennenlernten. Die Phantasie einiger Interpreten ergeht sich darin, dass sie sich in der Damenwäsche-Abteilung in Berlin kennenlernten, in der sie angeblich arbeitete und er angeblich einkaufte.[73] Aber nach ihrer Berliner Zeit hatte sie noch Pläne, die sie wohl nicht angegangen wäre, wenn sie schon mit Otto Lagerfeld liiert gewesen wäre: Am 1. April 1929 zog sie nach Köln.

Im Kölner Adressbuch von 1930 findet sich unter Elisabeth Bahlmann der Eintrag: «Kindergymnastik, Salierring 43hp, Telefon 217.742» – wobei «hp» für Hochparterre steht.[74] Und in zwei Briefen aus Köln an ihre Mutter in Münster schreibt sie über ihr neues Leben. Es sei «alles in schönster Ordnung es fehlen nur die Kinder». Sie müsse ihr «Lädle», so schreibt sie, «in Schwung» bringen. Sie sei stolz auf die Schilder, «wenn ich es schon von weitem leuchten sehe». Sie berichtet über den «Turnraum», offenbar ein Zimmer in ihrer Wohnung, und sie schreibt über Besuche bei Ärzten, denen sie sich vermutlich als Kindergymnastin vorstellen wollte. «Mit den Kindern das wird schon bestimmt kommen», schreibt sie an Milly Bahlmann – und scheint sich selbst damit Mut machen zu wollen.[75]

In Berlin war sie also längst nicht mehr. Otto Lagerfeld könnte sie demnach gut im Sommer 1929 im Urlaub kennengelernt haben. Denn in diesem Fall scheint Karl Lagerfelds Überlieferung glaubwürdig zu sein: «In die Ferien an der Ostsee hatte sie ihre Nichten eingeladen. Und mein Vater, der Witwer war, war dort mit seiner Tochter. Als sie sich kennenlernten, dachte er, sie sei auch eine Witwe – war sie aber nicht.»[76] Auch Otto Lagerfeld war schon einmal verheiratet gewesen. Der Unternehmer hatte am 31. Januar 1922, immerhin schon 40 Jahre alt, die Kaufmannstochter Theresia Feigl geheiratet, die am 20. März 1896 in Hamburg geboren worden war.[77] Aber Theresia Lagerfeld starb noch im Jahr der Hochzeit im Kindbett, am 30. November 1922, gerade einmal 26 Jahre alt. Ihre Tochter, an ebenjenem 30. November 1922 geboren, wurde Theresia genannt und Thea gerufen, wie ihre Mutter. So kurz nach dem mit Mühe überstandenen Ersten Weltkrieg hatte Otto Lagerfeld nun noch ein Schicksalsschlag getroffen. Seine Schwestern kümmerten sich um die kleine Thea, die ihr Leben lang mit der Bürde leben musste, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war.

Am 8. März 1930 annoncierten «Otto Lagerfeld jr.», Elbchaussee 70, und Elisabeth Bahlmann («Münster i. Westf., Dürerstr. 3») in den «Hamburger Nachrichten» ihre Verlobung, «statt Karten». Am 11. April 1930 heirateten sie in Münster, er schon 48, sie noch 32 Jahre alt. Im Heiratseintrag des Standesamts Münster steht bei Elisabeth Josef Emilie Bahlmann der Hinweis «ohne Beruf», während bei ihrer Schwester Felicitas, die gemeinsam mit ihrem Mann Conrad Ramstedt Trauzeugin war, «Hausfrau» angegeben ist.[78] Ein Foto (s. Abb. S. 16) zeigt die kleine Hochzeitsgesellschaft vor dem Haus an der Dürerstraße, die Damen mit Glockenhüten, die Herren mit Zylinder, das Brautpaar in freudiger Stimmung, die Brautmutter in der Bildmitte sichtlich stolz, dass sie nun auch ihre jüngere Tochter gut verheiratet hatte, wie man damals so sagte – der erste Schwiegersohn war Professor, der zweite Direktor.

Die Ehe ließ sich gut an. Von der Wirtschaftskrise, die den Nationalsozialisten zu immer größeren Erfolgen verhalf, war bei Glücksklee wenig zu spüren. Otto Lagerfeld verdiente so viel, dass er mit seiner Frau an der Elbchaussee weiter stadtauswärts ziehen konnte, wo es noch grüner, noch schöner, noch ruhiger war. Am 25. März 1930 kaufte er die Villa Baurs Park 4 von Auguste Baur, der Tochter von Georg Friedrich Baur, der diesen mit Villen bebauten Landschaftspark gegründet hatte.[79] Aber schon am 7. April 1933 ging es hinüber in die Nummer 3, die einen noch schöneren Blick auf die Elbe gewährte, und zwar unverbaubar, weil der Hang steil zum Fluss hin abfällt. Doch zu Hause waren sie auch dort noch nicht. Die Kinder Christiane (1931) und Karl (1933) waren noch klein, als die Familie 1934 von Hamburg nach Bad Bramstedt zog. 1935 verkaufte Otto Lagerfeld Baurs Park 3 an den Nationalsozialisten Joachim de la Camp, damals Vizepräsident, später Präsident der Handelskammer Hamburg.[80]

Warum nur? Warum verlässt man eine der schönsten Adressen in ganz Blankenese? Womöglich wegen der Gefahren, die durch den Nationalsozialismus drohten. Otto Lagerfeld, der die Venezuela-Krise und den Ersten Weltkrieg überstanden hatte, sah nun wieder gewalttätige Auseinandersetzungen kommen: Der «Altonaer Blutsonntag» am 17. Juli 1932, als bei einem Marsch der SA, der nationalsozialistischen «Sturmabteilung», 18 Personen erschossen wurden, spielte sich gewissermaßen vor der Haustür in Blankenese ab. In der holsteinischen Kleinstadt Bad Bramstedt, die mit dem Zug von Hamburg gut zu erreichen war und auf dem Weg zur Fabrik in Neustadt lag, hatten die Lagerfelds einen Sicherheitsabstand zu politischen Verwerfungen – und waren gut mit Lebensmitteln versorgt.[81]

Nach Meinung eines Zeitzeugen war aber nicht die Angst vor einem möglichen Krieg der Grund für den Umzug. Helmut Junge, 1930 geboren, Sohn des Rechtsanwalts und Notars Kurt Junge, der für Otto Lagerfeld arbeitete, lebte mit Familie in Baurs Park 5, gleich nebenan. Der kleine Helmut spielte oft mit Christel Lagerfeld. Das Kindermädchen Schwester Meta kümmerte sich auch um ihn – für seine Mutter Gertrud war das «ein Geschenk», wie sich Junge erinnert. Mit Frau Lagerfeld jedoch kam Frau Junge gar nicht klar. Und der kleine Helmut auch nicht: Eines Morgens klingelte der Drei- oder Vierjährige nebenan, weil er mit Christel spielen wollte. Es war aber so früh, dass er Elisabeth Lagerfeld weckte. «Da hat sie mich gleich mal angepustet, was ich denn so früh wolle.» Generell sei sie in Blankenese nicht glücklich gewesen: «Das Problem der Familie war die Frau.»[82]

Ihrer Stiefenkelin erzählte Elisabeth Lagerfeld in der Tat später, dass sie dort unglücklich war. Der Blick hinab auf den Fluss wirkte nicht etwa beruhigend auf sie, sondern niederschmetternd: «Von Ebbe und Flut habe ich Depressionen bekommen», sagte sie zu Thoma Schulenburg. In der Unterelbe, einem Tidegewässer, variiert der Wasserstand zwischen Niedrig- und Hochwasser um mehr als 3,50 Meter, und bei Ebbe sind die großen Schlickflächen jenseits der Fahrrinne nicht unbedingt ein schöner Anblick. «Aber vielleicht war das auch nur ein Vorwand», meint Thoma Schulenburg.[83] Elisabeth Lagerfeld fühlte sich in Blankenese jedenfalls fehl am Platz. Vielleicht auch, weil man in Hamburg erst dann zur besseren Gesellschaft gehört, wenn man seit Generationen dort ansässig ist.[84]

Jedenfalls wollten sie fort. Und so kam Elisabeth Lagerfeld, die der Provinz in ihren Zwanzigern in die vier größten deutschen Städte entflohen war, nach München, Berlin, Köln und Hamburg, doch wieder aufs Land. In Bad Bramstedt, der Kleinstadt, die sie an Beckum erinnern musste, hat sie sich «zu Tode gelangweilt», wie ihr Sohn 2004 sagte.[85] Wegen des begüterten Mannes, der ländlichen Verhältnisse, der vielen Bediensteten, der beiden eigenen Kinder und der Stieftochter stand sie nicht mehr unter dem Zwang, sich beruflich zu betätigen. Also blieb sie zu Hause, in dem Gutshof hinter Bäumen, etwas abgelegen und auch etwas unheimlich.

Für die Kinder aus der Nachbarschaft war die ganze Erscheinung der Herrschaften aus Hamburg einschüchternd. Habitus, Gestus und Duktus der Zugezogenen waren ihnen fremd. «Frau Lagerfeld kam mir immer wie eine englische Lady vor», sagt der ehemalige Nachbarsjunge Karl Wagner.[86] «Mit den anderen wollte sie nichts zu tun haben», sagt Sylvia Jahrke, die gegen Ende des Kriegs mit ihrer Familie im Gutshaus der Lagerfelds einquartiert war. «Sie lächelte nie. Dabei hatte sie ein schönes Leben, musste nicht arbeiten. Ich schlich nur an ihr vorbei, machte meinen Knicks und haute ab. Ich habe die Frau gefürchtet.»[87]

Die drei großen K konnten die Feministin nicht zufriedenstellen. Sie musste Kinder, Küche, Kirche überwinden und wuchs ins Format einer schillernden Persönlichkeit. Mal hatte sie ihren Auftritt als strenge Erzieherin, mal als tatkräftige Chefin eines großen Haushalts, mal als realitätsflüchtige Dauerleserin, mal als konsumfreudige Freundin des Luxus und der Moden, mal als Violinistin, die drei Stunden pro Tag übte, bis sie irgendwann einfach damit aufhörte und nie wieder spielte.[88] Intensiv arbeitete sie an ihrer Selbstdarstellung. «Sie hatte schon Maniküre, was es damals selten gab», erinnert sich Sylvia Jahrke. «Sie hatte weiße Kragen und trug eine Brosche.» Elisabeth Lagerfeld las Modezeitschriften, fuhr gerne nach Hamburg zum Einkaufen und achtete bei ihren Kindern auf ein gepflegtes Äußeres. Auch ihr Mann passte in das Bild weltläufiger Selbstinszenierung: Er trug einen Siegelring – Sylvia hatte so etwas noch nie in ihrem Leben gesehen.

Woran sollte Elisabeth Lagerfeld sich halten in der holsteinischen Provinz, von der sie gelangweilt war wie einst Madame Bovary von Yonville? Sie gab sich, ähnlich wie die Frau von Gustave Flauberts Landarzt, den schönen Künsten hin. «Meine Mutter hat dauernd gelesen», sagte ihr Sohn. «Ich erinnere mich, wie sie auf der Couch las und anderen Leuten sagte, was zu tun war.»[89] Oft las sie französische Bücher, weil sie ihre Sprachkenntnisse verbessern wollte. Auch diese Beschäftigung färbte auf ihren Sohn ab: «Ich habe schon gelesen, bevor ich überhaupt zur Schule ging», sagte er einmal. «In meinem Leben habe ich nichts anderes getan, als zu zeichnen und zu lesen.»[90]

Emma Bovary hatte sich in der Provinz in eine unglückliche Liebe geflüchtet. Elisabeth Lagerfeld scheint teilweise ins Reich der Phantasie abgehoben zu sein. So behauptete ihr Sohn, sie habe «als eine der ersten Frauen in Europa» eine Fluglizenz erworben.[91] «Schon 1919 flog sie selbst ihr eigenes Flugzeug», behauptete er.[92] Sicherheitshalber fügte er aber hinzu, er habe sie «nie fliegen sehen».[93] Vermutlich war er da nicht der Einzige. Fotos aus dem Jahr 1924 zeigen immerhin ihre Schwester Felicitas, wie sie an einer einmotorigen LVG C.VI steht, einem ehemaligen Kampfflugzeug, das nach dem Ersten Weltkrieg für Rund- und Streckenflüge genutzt wurde.[94] Das Foto könnte Elisabeth gemacht haben, vielleicht hatten sie einen Rundflug gebucht. Wenn Elisabeth selbst als Pilotin geflogen wäre – dann hätten sich bestimmt auch davon Fotos im Nachlass ihrer Schwester erhalten.

Ihr Sohn überlieferte auch, dass sie in einem Kleid der damals in Paris sehr erfolgreichen Madeleine Vionnet geheiratet habe.[95] Für deutsche Verhältnisse wäre das ungewöhnlich. Die Autorin Raphaëlle Bacqué behauptet, diese elegante Vergangenheit mit Besuchen in dem Pariser Modehaus habe ihr der Sohn nur angedichtet, weil er mit Yves Saint Laurent und dessen Mutter mithalten wollte. Lucienne-Andrée Mathieu Saint Laurent war wirklich eine elegante Erscheinung, Yves hatte sie sogar einst Christian Dior vorgestellt.[96] Aber auch Elisabeth Lagerfeld kannte sich aus. Sie hatte in Modefirmen gearbeitet und liebte Paris. In ihrem Nachlass fand man die erste deutsche «Vogue» sowie Ausgaben von «Beyers Mode für alle», «Ullstein Moden Album», der «Hamburger Illustrierten» und sogar der «VTZ», der «Vereinigten Textil- und Bekleidungszeitschrift», die von 1937 bis 1943 als «Exportorgan der deutschen Textil- und Bekleidungswirtschaft» erschien.[97] Sie war also gut informiert und hatte Geschmack. Aber das Kleid auf dem Foto von ihrer Hochzeit ist wohl kein Vionnet-Original. Damals kauften Modehäuser in Hamburg und Berlin Schnittmuster («patrons couture») in Paris und schneiderten sie nach, in Originalstoffen, aber mit vereinfachtem Schnitt. Es könnte sich also um die schlichte Version eines Vionnet-Kleids gehandelt haben.

Einer Frau, die in Westfalen aufgewachsen ist, kommt dem Wirklichkeitssinn aber nicht der Möglichkeitssinn in die Quere. Anders als bei den Bovarys, wo Emma am Leben zerbrach und Charles an seiner Frau, gingen die Lagerfelds die 37 Jahre bis zu seinem Tod 1967 gemeinsam. Das war, wie in jeder Ehe, mit Opfern verbunden. Sie war häufig allein mit den Kindern. «Vermutlich war sie nicht gerade glücklich, weil der Mann ja viel unterwegs war», sagt Sylvia Jahrke. «Vielleicht war sie auch deshalb so dominant, so herb.»

Otto Lagerfeld hatte sich, wenn der Chauffeur ihn denn mal aus Hamburg oder Neustadt nach Bad Bramstedt gebracht hatte, zu Hause oft genug zu fügen. «Sie erzählte immer den Männern um sie herum, wie alles gemacht werden sollte», sagte Lagerfeld 2015. «Sie war sehr hart und sehr böse. Mein Vater war sehr lieb und ihr Opfer. Mein Vater hatte genau die Frau gefunden, die nicht zu ihm passte. Er konnte niemals entspannen.»[98] In einem Dokumentarfilm sagt es der Sohn noch deutlicher: «Sie machte alle zu Sklaven.» Und: «Sie war nicht fürsorglich. Man musste um ihre Gunst kämpfen.»[99]

Karl Lagerfeld hat bis zu ihrem Lebensende um ihre Gunst gekämpft – und womöglich sogar noch über ihren Tod hinaus. «Wegen des oft abwesenden und durchaus weichen Vaters scheint die Mutter ihren einzigen Sohn zu einer Art männlichem Lebenspartner, einem Ersatzmann, erkoren zu haben», sagt die Pariser Psychotherapeutin Daniela Tran. «Er war eine phantastische Projektionsfläche und wurde zu ihrem Werk, das natürlich perfekt sein sollte. Kein Kind kann einer solchen Projektion standhalten. Was er auch tat, es war ungenügend.»[100] Aus dieser psychologischen Konstellation erwuchs für Karl Lagerfeld das unbewusste Lebensprojekt, der stets unzufriedenen Mutter zu gefallen.

Seit all den Herabsetzungen habe er «wahrscheinlich immer nur überkompensiert»,[101] sagte er selbst. Das ist eine ungewöhnlich psychologisierende Vokabel aus seinem Mund, denn er sah jede Introspektion skeptisch.[102] Der Psychologe Alfred Adler hatte unter Überkompensation den übersteigerten Ausgleich körperlicher, geistiger, charakterlicher oder sozialer Mängel verstanden. In dieser Logik ist es kein Wunder, dass schon der kleine Karl glaubte, er werde eines Tages berühmt. Demnach wären sein beachtliches Selbstbewusstsein und die schier unendliche Arbeitswut, die diesen Mann bis ins hohe Alter im Griff hatten, als Gegenbewegung zu den frühen Demütigungen zu verstehen, seine Karriere als eine paradoxe Folge der Herabsetzungen.

Trotz der ungnädigen Urteile identifizierte sich der Sohn mit seiner Mutter. Wenn er ihre scharfen Sentenzen wiedergab, und das tat er häufig, dann fügte er oft hinzu, sie habe recht gehabt mit den Bemerkungen.[103] «Ich war so größenwahnsinnig als Kind, dass ich auch einen kleinen auf den Deckel brauchte.»[104