Kein Friede den Toten - Harlan Coben - E-Book
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Harlan Coben

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Beschreibung

Matt Hunter ist zwanzig, als sein Leben in Trümmern liegt: Ohne es zu wollen, hat er einen Menschen getötet. Neun Jahre später will Matt nur noch an die Zukunft denken, die gemeinsame Zukunft mit seiner Frau Olivia und dem Kind, das sie erwarten. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse. Matt erhält eine mysteriöse Videobotschaft, die Olivia mit einem andern Mann zeigt, und die Polizei steht vor Matts Tür: Ein Fremder, der Matt offenbar beschattet hatte, wurde ermordet …

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Buch

Als Matt Hunter zwanzig war, tötete er einen jungen Mann durch seinen Versuch, bei einer Schlägerei zu schlichten. Matts Leben lag in Trümmern.

Fast zehn Jahre später – vier davon hat Matt im Gefängnis verbracht – ist es ihm nicht nur gelungen, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen, nein, Matt hat auch sein Glück gefunden. Und dieses Glück hat einen Namen: Olivia. Olivia, seine große Liebe aus Studientagen, die nicht nur seine Frau geworden ist, sondern auch bald Mutter seines ersten Kindes sein wird.

Aber dann erhält Matt eine Videobotschaft von Olivias Handy – und sein Leben gerät ein weiteres Mal an den Rand eines tiefen, dunklen Abgrunds: Die kurze Filmsequenz zeigt eine Frau – trotz der platinblonden Perücke ganz eindeutig Olivia – in einer augenfällig kompromittierenden Situation mit einem fremden Mann. Völlig verstört versucht Matt sich noch einen Reim auf das Geschehene zu machen, als er mit einem Mal das Gefühl hat verfolgt zu werden. Wenig später wird die Polizei bei den Hunters vorstellig: Der Unbekannte, der Matt offenbar beschattet hat, wurde tot aufgefunden, und alle Verdachtsmomente deuten auf Matt Hunter …

Autor

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nach seinem Studium der Politikwissenschaft arbeitete er in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Werke wurden bislang in über zwanzig Sprachen übersetzt. Harlan Coben wurde als erster Autor mit allen drei wichtigen amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet, dem »Edgar Award«, dem »Shamus Award« und dem »Anthony Award«. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in New Jersey.

Weitere Titel des Autors sind bei Goldmann in Vorbereitung. Mehr zu Autor und Buch unter www.harlancoben.com

Von Harlan Coben außerdem bei Goldmann lieferbar:

Kein Sterbenswort. Roman (45251) Keine zweite Chance. Roman (45689) Kein Lebenszeichen. Roman (45688) Kein böser Traum. Roman (46084)

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 Kapitel 24 Kapitel 25 Kapitel 26 Kapitel 27 Kapitel 28 Kapitel 29 Kapitel 30 Kapitel 31 Kapitel 32 Kapitel 33 Kapitel 34 Kapitel 35 Kapitel 36 Kapitel 37 Kapitel 38 Kapitel 39 Kapitel 40 Kapitel 41 Kapitel 42 Kapitel 43 Kapitel 44 Kapitel 45 Kapitel 46 Kapitel 47 Kapitel 48 Kapitel 49 Kapitel 50 Kapitel 51 Kapitel 52 Kapitel 53 Kapitel 54 Kapitel 55 Kapitel 56 Kapitel 57 Kapitel 58 Kapitel 59 Kapitel 60 Kapitel 61 Kapitel 62 Kapitel 63 Epilog Dank Vorschau
Aufstieg und Fall von Super D
Copyright

Im Gedenken anSteven Z. Miller

Für alle, die das Glück hatten, zu seinen Freunden zu zählen.Wir versuchen, dankbar für die Zeit zu sein,die wir gemeinsam verbringen durften.Aber es ist verdammt schwer.

Und für Steves Familie, besonders Jesse, Maya T und Nico.Wenn wir die Kraft haben, werden wir über Euren Vater reden.Weil er der beste Mensch war, den wir kannten.

Prolog

Du wolltest ihn nicht umbringen.

Du heißt Matt Hunter. Du bist zwanzig Jahre alt. Du bist im Großraum New York in einem Vorort in New Jersey aufgewachsen, in dem sich die obere Mittelschicht breitgemacht hat. Ihr wohnt in der ärmeren Gegend einer insgesamt sehr wohlhabenden Kleinstadt. Deine Eltern arbeiten hart und lieben dich bedingungslos. Du bist das mittlere Kind. Du verehrst deinen älteren Bruder und erträgst deine jüngere Schwester.

Wie jeder Jugendliche im Ort hast du dir große Sorgen über die Zukunft gemacht und immer wieder darüber nachgedacht, auf welches College du es schaffen könntest. Du gibst dir viel Mühe und bekommst gute, wenn auch nicht überragende Zensuren. Die Durchschnittsnote im Abschlusszeugnis ist A minus. Damit gehörst du nicht zu den besten zehn Prozent der Schule, bist aber ziemlich nah dran. Deine Freizeitaktivitäten sind recht vorzeigbar, du bist sogar kurz Kassenwart gewesen. Du hast Auszeichnungen für besondere Leistungen in der Football- und der Basketball-Schulmannschaft bekommen – das reicht für einen Platz in der dritten Liga, aber nicht für ein Sportstipendium. Du bist ein bisschen vorlaut und hast natürlichen Charme. In der Beliebtheitsskala rangierst du gleich hinter den echten Spitzenplätzen. Bei den Zugangstests fürs College schneidest du so gut ab, dass dein Vertrauenslehrer seine Überraschung nicht verhehlen kann.

Du versuchst, auf eine der Spitzenuniversitäten der Ivy League zu kommen, schaffst es aber nicht ganz. Harvard und Yale lehnen dich direkt ab, Penn und Columbia setzen dich auf die Warteliste. Am Ende gehst du nach Bowdoin, ein kleines Elite-College in Brunswick, Maine. Dort fühlst du dich extrem wohl. Die Seminare sind klein. Du schließt Freundschaften. Du hast keine feste Freundin, suchst wahrscheinlich aber auch gar keine. Zum zweiten College-Jahr wirst du als Defensive Back ins College-Footballteam berufen. Im Basketballteam warst du von Anfang an, wenn auch vorwiegend als Auswechselspieler, aber weil der bisherige Stammspieler auf der Point Guard Position seinen Abschluss macht, bekommst du häufiger die Gelegenheit zu spielen.

Dann, im dritten Studienjahr, auf der Rückfahrt zum College am Ende der Winterferien, bringst du jemanden um.

Du hast wunderbare, etwas hektische Semesterferien im Kreise der Familie hinter dir, aber jetzt lockt das Basketballtraining. Du gibst Mutter und Vater einen Abschiedskuss und machst dich mit deinem besten Freund und Zimmergenossen Duff auf den Weg zum Campus. Duff kommt aus Westchester, New York. Er ist untersetzt und hat kräftige Beine. Er ist Right Tackle in der Football-Mannschaft und Ersatzspieler beim Basketball. Er ist der größte Säufer auf dem Campus – Duff hat noch keinen Saufwettbewerb verloren.

Du fährst.

Duff will auf dem Weg nach Norden an der University of Massachusetts in Amherst vorbeischauen. Ein High-School-Kumpel von ihm ist dort Mitglied einer coolen Studentenverbindung, die eine Riesenparty veranstaltet.

Du bist nicht begeistert, willst aber auch kein Spielverderber sein. Du fühlst dich wohler in kleineren Gruppen, wo du die meisten Leute kennst. Bowdoin hat rund 1600 Studenten. U-Mass fast 40 000. Es ist Anfang Januar und bitterkalt. Draußen liegt Schnee. Auf dem Weg zum Verbindungshaus kannst du deinen Atem sehen.

Ihr werft eure Jacken auf den Haufen. Du wirst noch lange darüber nachdenken, wie lässig ihr sie da hingeworfen habt. Hättet ihr sie anbehalten, im Wagen gelassen oder irgendwo anders hingelegt…

Habt ihr aber nicht.

Die Party ist ganz okay. Eine wilde Fete, bei der die Wildheit allerdings etwas aufgesetzt wirkt. Duffs Freund schlägt vor, dass ihr danach in seinem Zimmer schlaft. Ihr seid einverstanden. Du trinkst ziemlich viel – schließlich ist das eine Studentenparty – , aber längst nicht so viel wie Duff. Die Stimmung lässt langsam nach. Irgendwann geht ihr eure Jacken holen. Duff hat ein Bier in der Hand. Er greift nach seiner Jacke und wirft sie sich über die Schulter.

Dabei verschüttet er etwas Bier.

Es ist nicht viel. Nur ein Spritzer. Aber es reicht.

Das Bier landet auf einer roten Windjacke. Daran erinnerst du dich. Es war eiskalt draußen, vielleicht zehn Grad unter Null, trotzdem hatte irgendjemand nur eine Windjacke dabei. Eine andere Sache, die dir nie aus dem Sinn gehen wird, ist, dass die Jacke wasserdicht war. Das bisschen Bier macht der Jacke nichts aus. Es hinterlässt nicht einmal Flecken. Man hätte es ohne weiteres abspülen können.

Aber jemand ruft: »Hey!«

Der Besitzer der roten Windjacke ist ein kräftiger Bursche, aber kein Riese. Duff zuckt die Achseln. Er entschuldigt sich nicht. Der Typ mit der roten Jacke geht auf Duff los. Ein Fehler. Du weißt, dass Duff ein ausgezeichneter Kämpfer ist, dem allerdings sehr schnell die Sicherung durchbrennt. Jedes College hat seinen Duff – den Kerl, bei dem man sich nicht vorstellen kann, dass er jemals einen Kampf verliert.

Genau darin besteht natürlich das Problem. Jedes College hat seinen Duff. Und gelegentlich trifft euer Duff auf deren Duff.

Du versuchst, die Sache sofort zu beenden, das Ganze mit einem Lachen aus der Welt zu schaffen, aber du hast es mit zwei durch und durch biergetränkten Hirnis mit rot angelaufenen Gesichtern und geballten Fäusten zu tun. Einer fordert den anderen heraus. Wer wen, weißt du hinterher nicht mehr. Alle gehen raus in die eisige Nacht, und dir wird klar, dass du in der Scheiße steckst.

Der kräftige Typ mit der roten Windjacke hat seine Freunde dabei.

Acht oder neun Mann. Du bist allein mit Duff. Du hältst Ausschau nach Duffs High-School-Freund, aber der ist nicht zu sehen.

Der Kampf fängt sofort an.

Duff senkt den Kopf wie ein Stier und geht auf Rote Windjacke los. Rote Windjacke weicht aus und nimmt Duff in den Schwitzkasten. Er schlägt Duff auf die Nase. Während er Duff weiter so festhält, schlägt er ihn noch einmal auf die Nase. Und noch einmal. Und wieder.

Duff kommt nicht aus dem Schwitzkasten raus. Er schlägt wild um sich, trifft aber nicht. Nachdem er sieben oder acht Mal getroffen wurde, hört Duff auf, um sich zu schlagen. Rote Windjackes Freunde jubeln. Duffs Arme hängen schlaff herab.

Du willst, dass der Kampf aufhört, weißt aber nicht, wie du das machen sollst. Rote Windjacke geht systematisch vor, lässt sich Zeit mit den Schlägen und holt weit aus. Seine Kumpel feuern ihn an. Bei jedem Treffer stoßen sie ein lautes Oh oder Ah aus.

Du bist entsetzt.

Dein Freund bezieht Prügel, du aber sorgst dich vor allem um dich selbst. Du schämst dich. Du willst etwas tun, hast aber Schiss, so richtig Schiss. Du kannst dich nicht bewegen. Du bekommst weiche Knie. Es kribbelt in deinen Armen. Und du hasst dich dafür.

Wieder schlägt Rote Windjacke Duff ins Gesicht. Er löst den Schwitzkasten. Duff fällt wie ein nasser Sack zu Boden. Rote Windjacke tritt Duff in die Rippen.

Du bist der mieseste Freund, den man haben kann. Du hast zu viel Angst, um helfen zu können. Dieses Gefühl wirst du nie vergessen. Feigheit. Das ist schlimmer als eine Tracht Prügel, denkst du. Dein Schweigen. Diese schreckliche Schmach.

Noch ein Tritt. Duff grunzt und rollt sich auf den Rücken. Er hat jede Menge blutige Streifen im Gesicht. Später wirst du erfahren, dass er nur unbedeutende Verletzungen davongetragen hat. Duff kommt mit zwei blauen Augen und ein paar Hautabschürfungen davon. Das ist auch schon alles. Aber im Moment sieht er übel aus. Du weißt, dass er nicht tatenlos dastehen würde, während du so vermöbelt wirst.

Du hältst es nicht mehr aus.

Du springst aus der Zuschauermenge in die Mitte.

Alle Köpfe drehen sich zu dir um. Einen Augenblick lang bewegt sich niemand. Keiner sagt etwas. Rote Windjacke atmet schwer. Du siehst seinen Atem in der kalten Luft. Du zitterst. Du versuchst, vernünftig zu klingen. Hey, sagst du, er hat genug. Du breitest die Arme aus. Versuchst es mit einem charmanten Lächeln. Er hat verloren, sagst du. Es ist vorbei. Du hast gewonnen, sagst du zu Rote Windjacke.

Jemand greift dich von hinten an. Er umklammert dich.

Du sitzt in der Falle.

Rote Windjacke kommt auf dich zu. Dein Herz flattert in deiner Brust wie ein Vogel in einem zu kleinen Käfig. Du reißt den Kopf nach hinten. Dein Hinterkopf knallt jemandem auf die Nase. Rote Windjacke ist jetzt ziemlich nah bei dir. Du tauchst ab. Jemand anderes löst sich aus der Menge. Er ist blond und hat ein rötliches Gesicht. Du hältst ihn für einen weiteren Freund von Rote Windjacke.

Er heißt Stephen McGrath.

Er greift nach dir. Du zappelst wie ein Fisch am Haken. Noch mehr Leute kommen auf dich zu. Du gerätst in Panik. Stephen McGrath legt dir die Hände auf die Schultern. Du versuchst, dich zu befreien. Hektisch drehst du dich um.

Dann streckst du die Hände aus und legst sie ihm um den Hals.

Hast du ihn angesprungen? Hat er dich gezogen, oder hast du ihn gestoßen? Du weißt es nicht. Hat einer von euch auf dem Gehweg das Gleichgewicht verloren? War das Eis schuld? Unzählige Male wirst du diesen Augenblick hinterher im Geist durchgehen, aber nie zu einer eindeutigen Antwort kommen.

Irgendwie seid ihr beide gefallen.

Deine Hände liegen noch um seinen Hals. Umklammern seine Kehle. Du lässt nicht los.

Mit einem dumpfen Schlag geht ihr zu Boden. Stephen McGraths Hinterkopf kracht auf den Kantstein. Ein schreckliches Knacken ertönt, ein feuchtes, viel zu hohles Geräusch, wie du es noch nie zuvor gehört hast.

Dieses Knacken markiert das Ende deines Lebens, so wie du es bisher kanntest.

Du wirst es nie vergessen. Dieses fürchterliche Geräusch. Es wird dich nie wieder loslassen.

Alles um dich herum erstarrt. Du blickst nach unten. Stephen McGraths Augen sind offen. Er blinzelt nicht. Aber du weißt es schon. Du weißt es, weil sein Körper plötzlich schlaff geworden ist. Du weißt es, weil du das schreckliche Knacken gehört hast.

Die Menge zerstreut sich. Du rührst dich nicht. Du bewegst dich sehr lange nicht.

Dann geht alles ganz schnell. Der Campus-Wachdienst kommt. Dann die Polizei. Du erzählst, was passiert ist. Deine Eltern beauftragen eine Spitzenanwältin aus New York City. Sie sagt, du sollst auf Notwehr plädieren. Das tust du.

Und immer wieder hörst du dieses fürchterliche Geräusch.

Der Staatsanwalt spottet. Meine Damen und Herren Geschworenen, sagt er, der Angeklagte ist zufällig ausgerutscht, als er die Hände um Stephen McGraths Kehle gelegt hatte. Erwartet er wirklich, dass wir ihm das glauben?

Der Prozess läuft nicht besonders gut.

Dich interessiert das alles nicht. Früher waren dir Zensuren und Einsatzzeiten in den College-Mannschaften wichtig. Erbärmliches Zeug. Freunde, Mädchen, die Hackordnung, Partys, Erfolg und so weiter. Das ist alles vorbei. Stattdessen ist da nur noch dieses schreckliche Knacken, mit dem der Schädel auf den Kantstein krachte.

Beim Prozess hörst du deine Eltern weinen, aber da sitzen auch Sonya und Clark McGrath, die Eltern des Opfers und ihre Gesichter werden dich verfolgen. Sonya McGrath schaut dich den ganzen Prozess lang an. Sie fordert dich heraus. Du sollst ihr in die Augen sehen.

Du kannst es nicht.

Du versuchst, dir die Verkündigung der Entscheidung der Geschworenen anzuhören, aber die Geräusche in deinem Kopf sind zu laut. Sie hören nie auf und werden auch nicht leiser, selbst dann nicht, als der Richter dich streng ansieht und das Urteil spricht. Es sind Reporter im Gerichtssaal. Du wirst nicht in ein angenehmes Country-Club-Gefängnis für Weiße geschickt. Jetzt nicht. Nicht im Wahljahr.

Deine Mutter fällt in Ohnmacht. Dein Vater versucht, die Fassung zu bewahren. Deine Schwester läuft aus dem Gerichtssaal. Dein Bruder Bernie steht wie angewurzelt da.

Dir werden Handschellen angelegt, dann wirst du abgeführt. Deine Erziehung hat dich absolut nicht auf das vorbereitet, was dir jetzt bevorsteht. Die Geschichten über Vergewaltigungen im Knast kennst du natürlich aus dem Fernsehen. Das passiert dir nicht – keine sexuellen Übergriffe –, aber du wirst schon in der ersten Woche zusammengeschlagen. Du machst den Fehler, die Täter zu verraten. Daraufhin wirst du noch zwei Mal verprügelt und verbringst drei Wochen auf der Krankenstation. Noch Jahre später hast du manchmal Blut im Urin, ein Andenken an einen Schlag in die Niere.

Du lebst in ständiger Angst. Als du von der Krankenstation wieder zurück zu den normalen Insassen kommst, erkennst du, dass du nur überleben kannst, indem du einem bizarren Ableger der Aryan Nation beitrittst. Sie vertreten nicht so sehr die Vision eines rein arischen Amerikas, aus dem alle Farbigen hinausgeworfen werden. Im Großen und Ganzen wollen sie nur irgendwen hassen.

Sechs Monate nach deiner Verurteilung stirbt dein Vater an einem Herzanfall. Du weißt, dass es deine Schuld ist. Du willst weinen, kannst es aber nicht.

Du bleibst vier Jahre lang im Gefängnis. Vier Jahre – so lange, wie die meisten Studenten aufs College gehen. Du wirst demnächst vierundzwanzig Jahre alt. Die Leute sagen, du hättest dich verändert; du bist dir da aber nicht so sicher.

Als du rauskommst, gehst du ganz behutsam. Als könnte der Boden unter deinen Füßen nachgeben. Als könnte die Welt um dich herum jederzeit einstürzen.

Letztlich wirst du dein Leben lang so gehen.

Dein Bruder Bernie holt dich am Tor ab. Bernie hat gerade geheiratet. Seine Frau Marsha ist schwanger. Sie bekommt bald ihr erstes Kind. Bernie umarmt dich. Du spürst förmlich, wie die letzten vier Jahre von dir abfallen. Dein Bruder macht einen Witz. Du lachst. Zum ersten Mal nach langer Zeit lachst du wieder.

Du hast dich schon einmal geirrt – dein Leben ist nicht in dieser kalten Nacht in Amherst zu Ende gegangen. Dein Bruder wird dir helfen, wieder zur Normalität zurückzukehren. Irgendwann wirst du sogar einer schönen Frau begegnen.

Sie heißt Olivia. Sie wird dich wahnsinnig glücklich machen.

Du wirst sie heiraten.

Eines Tages – neun Jahre nachdem du durch dieses Tor gegangen bist – wirst du erfahren, dass deine schöne Frau schwanger ist. Ihr entschließt euch, Fotohandys zu kaufen, damit ihr immer in Kontakt bleiben könnt. In der Arbeit klingelt dieses Handy.

Du heißt Matt Hunter. Das Handy klingelt ein zweites Mal. Dann gehst du ran …

Neun Jahre später

1

Reno, Nevada, 18. April

Die Türklingel riss Kimmy Dale aus ihrem traumlosen Schlaf.

Sie drehte sich im Bett um, hustete und sah auf den Digitalwecker auf dem Nachttisch.

11.47 Uhr.

In Kimmys Mobile Home war es selbst mittags stockfinster. Sie wollte es so. Sie arbeitete nachts und hatte einen leichten Schlaf. Damals, als sie noch ein Star in Vegas gewesen war, hatte sie jahrelang mit Rollos, Rollläden, Vorhängen, Fensterläden und Augenbinden herumexperimentiert, bis sie schließlich eine Kombination gefunden hatte, durch die die brennende Sonne Nevadas ihr nicht mehr den Schlaf rauben konnte. Die Sonne in Reno war nicht ganz so erbarmungslos, aber auch sie fand unbarmherzig jeden Spalt.

Kimmy setzte sich in ihrem Doppelbett auf. Der Fernsehapparat, ein No-Name-Gerät, das sie gebraucht erstanden hatte, nachdem es bei der Renovierung eines Motels aussortiert worden war, lief immer noch mit abgeschaltetem Ton. Geisterhaft verschwommene Bilder aus einer fernen Welt. Derzeit hatte sie keinen Liebhaber, aber dieser Zustand änderte sich ständig. Es hatte eine Zeit gegeben, in der jeder Besucher, jeder potentielle Partner die Hoffnung in dieses Bett gebracht hatte, es könne sich um den Richtigen handeln, ein an Wahn grenzender Optimismus, wie Kimmy in Nachhinein klar geworden war.

Diese Hoffnung war dahin.

Sie stand langsam auf. Die Schwellungen an der Brust von ihrer letzten Schönheitsoperation schmerzten bei jeder Bewegung. Es war der dritte Eingriff in diesem Bereich gewesen, und sie war schließlich kein Kind mehr. Sie war dagegen gewesen, aber Chally, der glaubte, ein Auge für so etwas zu haben, hatte darauf bestanden. Ihre Trinkgelder waren kleiner geworden. Ihre Beliebtheit hatte nachgelassen. Also hatte sie zugestimmt. Aber bei der letzten chirurgischen Misshandlung war die Haut in diesem Bereich überdehnt worden. Wenn Kimmy sich auf den Rücken legte, rutschten die Mistdinger zur Seite und sahen aus wie Fischaugen.

Wieder klingelte es an der Tür.

Kimmy blickte auf ihre tiefschwarzen Beine hinab. Sie war fünfunddreißig Jahre alt und hatte kein Baby zur Welt gebracht, trotzdem ringelten sich die Krampfadern an ihren Waden wie Würmer auf Futtersuche. Sie hatte zu viele Jahre auf den Beinen verbracht. Vermutlich erwartete Chally, dass sie auch dagegen etwas unternahm. Ansonsten war sie ganz gut in Form, hatte immer noch eine ziemlich fantastische Figur und einen tollen Arsch, aber sie war eben fünfunddreißig und keine achtzehn mehr. Sie hatte auch leichte Cellulite. Und diese Krampfadern  … Wie eine Reliefkarte.

Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund. Das Streichholzheftchen stammte von ihrem derzeitigen Arbeitsplatz, einem Striplokal namens Eager Beaver. Früher einmal war sie ein Star in Las Vegas gewesen und unter dem Künstlernamen Black Magic aufgetreten. Sie sehnte sich nicht zurück nach diesen Tagen. Eigentlich sehnte sie sich nach gar keinem Tag.

Kimmy Dale warf sich einen Morgenmantel über und öffnete die Schlafzimmertür. Das vordere Zimmer war nicht so gut abgedunkelt. Die grelle Sonne stach ihr in die Augen. Sie hielt sich die Hand vors Gesicht und blinzelte. Kimmy bekam nicht oft Besuch – sie schaffte nie zu Hause an – und vermutete, dass die Zeugen Jehovas vor der Tür standen. Im Gegensatz zu fast allen anderen Menschen in der freien Welt hatte Kimmy nichts dagegen, wenn sie von Zeit zu Zeit vorbeischauten. Sie bat die religiös Verzückten herein, hörte ihnen gut zu, beneidete sie darum, eine Lebensaufgabe gefunden zu haben, und wünschte sich, sie könnte auf ihren Schwachsinn hereinfallen. Fast wie bei den Männern in ihrem Leben hoffte sie, dass der heutige Besucher anders sein würde, dass er sie überzeugen und sie ihm seine Lösung abkaufen könnte.

Sie öffnete die Tür, ohne zu fragen, wer da war.

»Sind Sie Kimmy Dale?«

Das Mädchen vor der Tür war jung. Vielleicht achtzehn, zwanzig Jahre alt. Nein, kein Zeuge Jehovas. Ihr fehlte dieses gehirnamputierte Lächeln. Einen Moment lang überlegte Kimmy, ob sie eine von Challys Neuen sein könnte, aber das passte nicht. Das Mädchen war keineswegs hässlich, aber sie war nicht Challys Stil. Chally stand auf Glanz und Glitter.

»Wer sind Sie?«, fragte Kimmy.

»Das spielt keine Rolle.«

»Wie bitte?«

Das Mädchen senkte den Blick und biss sich auf die Unterlippe. Kimmy erkannte etwas entfernt Vertrautes in dieser Geste wieder, und ihre Brust schnürte sich ein wenig zusammen.

Das Mädchen sagte: »Sie kannten meine Mutter.«

Kimmy spielte mit der Zigarette. »Ich kenne eine Menge Mütter.«

»Meine Mutter«, sagte das Mädchen, »war Candace Potter.«

Kimmy zuckte zusammen. Es war über fünfunddreißig Grad heiß, trotzdem schloss sie den Morgenmantel.

»Darf ich reinkommen?«

Hatte Kimmy ja gesagt? Sie wusste es nicht. Sie trat zur Seite, und das Mädchen schob sich an ihr vorbei.

Kimmy sagte: »Ich versteh das nicht.«

»Candace Potter war meine Mutter. Am Tag meiner Geburt hat sie mich zur Adoption freigegeben.«

Kimmy versuchte, Haltung zu bewahren. Sie schloss die Eingangstür. »Wollen Sie was zu trinken?«

»Nein, danke.«

Die beiden Frauen sahen sich an. Kimmy verschränkte die Arme.

»Ich weiß nicht genau, was Sie hier wollen«, sagte sie.

Das Mädchen wirkte, als hätte sie die Rede geprobt. »Vor zwei Jahren habe ich erfahren, dass ich adoptiert worden bin. Ich liebe meine Adoptionsfamilie, also ziehen Sie bitte keine falschen Schlüsse. Ich habe zwei prima Schwestern und wunderbare Eltern. Sie waren sehr nett zu mir. Darum geht es nicht. Ich will nur … wenn man so etwas erfährt, will man mehr darüber wissen.«

Kimmy nickte, ohne genau zu wissen warum.

»Ich habe angefangen, mich zu erkundigen. Das war nicht einfach. Aber es gibt Gruppen, die adoptierten Kindern helfen, ihre leiblichen Eltern zu finden.«

Kimmy nahm die Zigarette aus dem Mund. Sie zitterte. »Aber Sie wissen, dass Candi – ich meine, Ihre Mutter – Candace  …«

» … dass sie tot ist? Ja, ich weiß. Sie ist ermordet worden. Das habe ich letzte Woche erfahren.«

Kimmy bekam weiche Knie. Sie setzte sich. Erinnerungen stürzten auf sie ein. Schmerzhafte Erinnerungen.

Candace Potter. Die in den Clubs unter dem Namen Candi Cane bekannt war.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte Kimmy.

»Ich habe mit dem Polizisten gesprochen, der den Mord untersucht hat. Er heißt Max Darrow. Erinnern Sie sich an ihn?«

Oh ja, sie erinnerte sich an den guten, alten Max. Sie hatte ihn schon vor dem Mord gekannt. Anfangs hatte Detective Max Darrow gerade mal das Nötigste getan. Der Fall wurde nicht mit hoher Dringlichkeit behandelt. Tote Stripperin ohne Familie. Für Darrow war Candi nicht viel mehr gewesen als ein weiterer toter Kaktus in der Wüste. Kimmy hatte sich der Sache angenommen. Eine Hand wäscht die andere. Der Lauf der Welt.

»Ja«, sagte Kimmy. »Ich erinnere mich an ihn.«

»Er ist jetzt im Ruhestand. Er meinte, sie wüssten, wer sie umgebracht hat, sie wüssten aber nicht, wo er jetzt ist.«

Kimmy spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. »Das ist lange her.«

»Sie waren mit meiner Mutter befreundet?«

Kimmy nickte. Sie erinnerte sich natürlich an alles. Candi war mehr als eine Freundin gewesen. Man trifft im Leben nicht viele Menschen, auf die man sich wirklich verlassen kann. Candi war so jemand gewesen – vielleicht der einzige Mensch seit über zwanzig Jahren in Kimmys Leben – Mama war gestorben, als sie zwölf war. Kimmy und dieses weiße Mädchen waren unzertrennlich gewesen. Eine Zeit lang waren sie unter dem Namen Pic und Sayers aufgetreten, wie in dem alten Film Freunde bis in den Tod. Und wie in dem Film war die Weiße dann gestorben.

»War sie eine Prostituierte?«, fragte das Mädchen.

Kimmy schüttelte den Kopf und sprach eine Lüge aus, die ihr wie die Wahrheit vorkam. »Niemals.«

»Aber sie war Stripperin.«

Kimmy antwortete nicht.

»Ich will sie nicht verurteilen.«

»Was wollen Sie dann?«

»Ich will mehr über meine Mutter erfahren.«

»Das ändert doch nichts mehr.«

»Für mich schon.«

Kimmy erinnerte sich noch daran, wie sie von ihrem Tod erfahren hatte. Sie hatte in der Nähe von Lake Tahoe eine ruhige Nummer für ein Mittagspublikum getanzt. Das waren die größten Versager in der Geschichte der Menschheit. Männer mit Dreck an den Stiefeln und Löchern in den Herzen, die immer größer wurden, je länger sie nackte Frauen anstarrten. Sie hatte Candi schon drei Tage lang nicht gesehen, aber schließlich war Kimmy ja auch auf Tour. Da oben auf der Bühne hatte sie zum ersten Mal die Gerüchte gehört. Sie wusste, dass irgendetwas Furchtbares passiert war. Sie betete, dass Candi nicht darin verwickelt war.

War sie aber.

»Ihre Mutter hatte es schwer im Leben«, sagte Kimmy.

Das Mädchen wartete gespannt.

»Wissen Sie, Candi dachte immer, wir kommen da irgendwie raus. Erst hat sie gehofft, dass uns ein Kerl im Club entdeckt und da rausholt, aber das ist Schwachsinn. Ein paar Mädels haben das versucht. Es hat nie geklappt. Der Kerl sucht eine Fantasiefigur, nicht dich. Das hat deine Mutter dann auch ziemlich schnell mitgekriegt. Sie war eine Träumerin, aber sie hatte ihre Ziele.«

Kimmy sah schweigend zu Boden.

»Und dann?«, fragte das Mädchen.

»Dann hat dieses Arschloch sie umgebracht, wie man einen Käfer zertritt.«

Das Mädchen beugte sich vor. »Detective Darrow meinte, er heißt Clyde Rangor.«

Kimmy nickte.

»Er hat auch eine Frau namens Emma Lemay erwähnt. War sie nicht seine Partnerin?«

»In manchen Sachen schon. Aber ich weiß nicht, ob sie daran auch beteiligt war.«

Als Kimmy davon erfahren hatte, war sie nicht in Tränen ausgebrochen. Es hatte sie so schwer getroffen, dass sie nicht einmal weinen konnte. Aber sie war zur Polizei gegangen. Sie hatte es riskiert und diesem verdammten Darrow alles erzählt, was sie wusste.

So oft bezieht man nicht Stellung im Leben. Aber Kimmy wollte Candi nicht im Stich lassen, selbst wenn es zu spät war, um ihr zu helfen. Denn mit Candi war auch ein Großteil von Kimmy gestorben.

Also redete sie mit der Polizei, vor allem mit Max Darrow. Die Täter – und sie war sicher, dass es Clyde und Emma waren – konnten ihr was antun oder sie umbringen, sie würde keinen Rückzieher machen.

Am Ende hatten sich Clyde und Emma nicht mit ihr angelegt. Sie waren geflohen.

Das war jetzt zehn Jahre her.

Das Mädchen fragte: »Wussten Sie von mir?«

Kimmy nickte langsam. »Ihre Mutter hat mir von Ihnen erzählt – aber nur ein Mal. Es hat ihr zu weh getan. Candi war damals ja noch sehr jung. Fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Sie wurden ihr direkt nach der Geburt weggenommen. Sie wusste nicht einmal, ob Sie ein Junge oder ein Mädchen waren.«

Das Schweigen lag schwer im Raum. Kimmy wünschte, das Mädchen würde wieder gehen.

»Was ist Ihrer Meinung nach mit ihm geschehen? Mit Clyde Rangor, meine ich.«

»Wahrscheinlich ist er tot«, sagte Kimmy, glaubte es aber nicht. Solches Ungeziefer vergeht nicht. Es kriecht irgendwo wieder raus und sorgt für neues Leid.

»Ich werde ihn suchen«, sagte das Mädchen.

Kimmy sah sie an.

»Ich will den Mörder meiner Mutter finden und vor Gericht bringen. Ich bin nicht reich, aber ein bisschen Geld habe ich.«

Beide schwiegen einen Moment lang. Die Luft war drückend und schwer. Kimmy fragte sich, wie sie es sagen sollte.

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«, fing sie an.

»Natürlich.«

»Ihre Mutter hat versucht, sich dagegen zu wehren.«

»Gegen was?«

Kimmy fuhr einfach fort. »Die meisten Mädels geben irgendwann einfach auf. Ihre Mutter nicht. Sie hat sich nicht verbiegen lassen. Sie hatte ihre Träume. Aber sie konnte nicht gewinnen.«

»Ich versteh nicht, was Sie meinen.«

»Sind Sie glücklich?«

»Ja.«

»Gehen Sie noch zur Schule?«

»Ich fange jetzt auf dem College an.«

»College«, sagte Kimmy verträumt. Und dann: »Sie!«

»Was ist mit mir?«

»Sie sind der Triumph Ihrer Mutter.«

Das Mädchen sagte nichts.

»Candi – Ihre Mutter – würde nicht wollen, dass Sie in die Geschichte reingezogen werden. Verstehen Sie das?«

»Ich glaube schon.«

»Warten Sie.« Kimmy öffnete eine Schublade. Natürlich lag es da. Sie nahm das Foto nur noch selten heraus, aber es lag wie immer ganz oben. Sie stand neben Candi, und beide lächelten in die Welt hinein. Pic und Sayers. Kimmy schaute es sich an und erkannte, dass das junge Mädchen auf dem Foto, das damals unter dem Namen Black Magic bekannt war, eine Fremde war, als hätte Clyde Rangor auch sie totgeschlagen.

»Nehmen Sie das«, sagte sie.

Das Mädchen hielt das Bild vorsichtig in Händen, als wäre es teures Porzellan.

»Sie war schön«, flüsterte das Mädchen.

»Sehr schön.«

»Sie sieht glücklich aus.«

»War sie aber nicht. Heute wäre sie’s.«

Das Mädchen hob das Kinn. »Ich weiß nicht, ob ich mich da raushalten kann.«

Dann, dachte Kimmy, bist du deiner Mutter vielleicht ähnlicher, als du glaubst.

Sie umarmten sich und versprachen, in Verbindung zu bleiben. Als das Mädchen gegangen war, zog Kimmy sich an. Sie fuhr zum Blumenladen und kaufte ein Dutzend Tulpen. Tulpen waren Candis Lieblingsblumen gewesen. Sie fuhr die vier Stunden zum Friedhof und kniete vor dem Grab ihrer Freundin nieder. Sie war ganz allein. Kimmy wischte den Staub vom Grabstein. Das Begräbnis und den Stein hatte sie bezahlt. Candi sollte nicht in ein anonymes Grab.

»Deine Tochter war heute bei mir«, sagte sie laut.

Es wehte eine leichte Brise. Kimmy schloss die Augen und horchte. Sie meinte zu hören, wie Candi, die so lange geschwiegen hatte, sie bat, auf ihre Tochter aufzupassen.

Und während die heiße Sonne Nevadas auf ihrer Haut brannte, versprach Kimmy es ihr.

2

Irvington, New Jersey, 20. Juni

»Ein Fotohandy«, murmelte Matt Hunter kopfschüttelnd.

Auf der Suche nach Inspiration schaute er nach oben, sah dort aber nur eine riesige Bierflasche.

Die Bierflasche war ein vertrauter Anblick. Matt sah sie jeden Tag, wenn er vor die Tür seiner maroden Doppelhaushälfte mit der abblätternden Farbe trat. Die berühmte 150 Meter hohe Flasche dominierte die Skyline. Die ehemalige Pabst-Blue-Ribbon-Brauerei war schon 1985 stillgelegt worden. Früher war die Flasche ein prächtiger Wasserturm mit verkupferten Stahlplatten, glänzendem Email-Etikett und einem vergoldeten Kronkorken gewesen. Sie war nachts von Scheinwerfern angestrahlt worden und kilometerweit zu sehen gewesen.

Diese Zeiten waren vorbei. Auch wenn die Flasche flaschenbraun aussah, war sie in Wirklichkeit rostrot. Das Etikett war längst verschwunden. Das früher so stabile Viertel um sie herum war ihrem Beispiel gefolgt und zerfiel allmählich. Seit zwanzig Jahren arbeitete niemand mehr in der Brauerei. Wenn man die zerstörte Ruine betrachtete, hätte man vermuten können, dass sie schon länger leer stand.

Matt blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. Olivia, die Liebe seines Lebens, ging weiter. In ihrer Hand klimperten die Autoschlüssel.

»Ich find das nicht gut«, sagte Matt. »Ein Fotoapparat sollte ein Fotoapparat sein.«

»Sehr tiefsinniger Gedanke.«

»Ein Gerät, das beides kann … das ist doch pervers.«

»Na, das ist dann ja ein Gebiet, auf dem du dich auskennst«, sagte Olivia.

»Ha, ha. Merkst du nicht, wie gefährlich das ist?«

»Äh, nein.«

»Wenn man Fotoapparat und Telefon zusammenbaut …«, Matt suchte nach Worten, » … das ist, wie soll ich sagen, eigentlich ja eine Kreuzung aus ganz verschiedenen Spezies, wie so ein Experiment aus den alten B-Movies, das außer Kontrolle gerät und alles zerstört, was sich ihm in den Weg stellt. Ein Werk des Teufels.«

Olivia sah ihn nur an. »Jetzt drehst du aber völlig durch.«

»Ich weiß einfach nicht so genau, ob wir uns Fotohandys besorgen sollen.«

Sie drückte auf die Fernbedienung im Schlüssel, und die Wagentüren entriegelten sich. Sie öffnete die Tür. Matt zögerte noch.

Olivia sah ihn an.

»Was ist?«, fragte er.

»Wenn wir beide Fotohandys haben«, sagte Olivia, »kann ich dir Nacktfotos in die Arbeit schicken.«

Matt öffnete die Tür. »Welchen Anbieter nehmen wir? Verizon oder Sprint?«

Als Olivia ihm zulächelte, fing sein Herz wild an zu klopfen. »Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

Sie setzten sich in den Wagen. Olivia sah ihn an. Als ihm die Sorge auffiel, die aus ihrem Blick sprach, hätte er sich beinah abgewandt. »Das wird schon«, sagte sie. »Du glaubst mir doch, oder?«

Er nickte und rang sich ein Lächeln ab. Olivia würde es ihm nicht abnehmen, seine Bemühungen aber anerkennen.

»Olivia?«, sagte er.

»Ja?«

»Erzähl mir mehr von den Nacktfotos.«

Sie schlug ihm auf den Arm.

Doch Matts ungutes Gefühl kehrte zurück, als er den Sprint-Telefonladen betrat und etwas von der zweijährigen Vertragslaufzeit hörte. Das Lächeln des Verkäufers hatte etwas Satanisches an sich, wie der Teufel in diesen Filmen, in denen der Naivling seine Seele verkauft. Als der Verkäufer eine Karte der USA hervorzog – die Gebiete mit Netzabdeckung waren rot markiert, wie er erklärte –, wich Matt langsam zurück.

Olivias Enthusiasmus konnte auch das nicht bremsen, aber andererseits war seine Frau auch leicht zu begeistern. Sie gehörte dem seltenen Menschenschlag an, der sich gern an großen wie kleinen Dingen erfreute, womit er und seine Frau als Beweis für die These herhalten konnten, dass Gegensätze sich anziehen.

Der Verkäufer schwafelte weiter. Matt hörte nicht mehr hin, aber Olivia schenkte ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie stellte noch ein oder zwei Fragen, doch das war reine Formsache, und der Verkäufer wusste, dass er sie nicht nur am Haken hatte, sondern auch schon ausgenommen und geschuppt in der Pfanne und zur Hälfte verspeist.

»Dann bereite ich schnell den Vertrag für Sie vor«, sagte Hades und stahl sich davon.

Olivia ergriff Matts Arm und strahlte ihn an. »Toll, oder?«

Matt verzog das Gesicht.

»Was ist?«

»Hast du wirklich was von Nacktfotos gesagt?«

Sie lachte und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

Natürlich war Olivias Glückstaumel – und ihr unablässiges Strahlen – nicht allein auf den Wechsel des Handy-Vertrags zurückzuführen. Der Kauf der Fotohandys war eher ein Symbol, ein Zeichen für die Dinge, die noch kommen sollten.

Ein Baby.

Olivia hatte vor zwei Tagen einen Schwangerschaftstest gemacht, und nach einer Prozedur, deren Durchführung in Matts Augen vor religiösen Reminiszenzen nur so triefte, war schließlich ein rotes Kreuz auf einem weißen Teststreifen erschienen. Er war sprachlos vor Überraschung gewesen. Seit sie vor einem Jahr geheiratet hatten, hatten sie versucht, ein Baby zu bekommen. Durch die ewigen Fehlschläge war der früher spontane, herrliche Akt zu einer komplexen Aufgabe mit Temperaturmessungen, Markierungen im Kalender, länger währenden Abstinenzphasen und konzentrierter Leidenschaft geworden.

Das hatten sie jetzt hinter sich. Es war noch sehr früh, warnte er. Nur nichts überstürzen. Aber Olivias Strahlen war nicht zu übersehen. Ihre gute Stimmung war eine Macht, ein Sturm, eine Flutwelle, die alles mitriss. Matt hatte keine Chance.

Deshalb waren sie hier.

Fotohandys, hatte Olivia erklärt, würden ihrer bevorstehenden Dreisamkeit ein Familienleben ermöglichen, das sich die Generation ihrer Eltern gar nicht hätte vorstellen können. Dank ihrer Fotohandys würde keiner von ihnen einen entscheidenden oder auch nur ganz profanen Moment im Leben ihres Kindes verpassen – die ersten Schritte, die ersten Worte, das übliche Treffen mit den Freunden beim Spielen, oder was sonst noch so alles passierte.

So war es zumindest geplant.

Eine Stunde später, als sie nach Hause zurückkehrten, gab Olivia ihm einen flüchtigen Kuss und ging die Treppe hinauf.

»Hey«, rief Matt ihr nach, hob das Handy und zog eine Augenbraue hoch. »Wollen wir, äh, die Videofunktion ausprobieren?«

»Das Video läuft nur fünfzehn Sekunden.«

»Fünfzehn Sekunden.« Er überlegte, zuckte die Achseln und sagte: »Dann verlängern wir das Vorspiel eben.«

Olivia stöhnte verständnisvoll.

Sie wohnten in dem heruntergekommenen Viertel im seltsam beruhigenden Schatten der riesigen Bierflasche Irvingtons. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis war Matt der Ansicht gewesen, dass er nichts Besseres verdient hatte (was gut passte, weil er sich kaum etwas Besseres hätte leisten können), und trotz der Proteste seiner Familie hatte er sich vor neun Jahren hier eingemietet. Irvington ist eine abgehalfterte Stadt, deren afroamerikanischer Bevölkerungsanteil wohl bei über achtzig Prozent liegt. Manche von Matts Freunden kamen zu dem naheliegenden Schluss, dass er Schuldgefühle wegen des Verhaltens abarbeitete, das man ihm im Gefängnis aufgezwungen hatte. Matt wusste, dass es nicht so einfach war, hatte aber auch keine andere Erklärung, als dass er noch nicht in einen bürgerlichen Vorort zurückkehren konnte. Der Aufstieg wäre zu schnell gegangen, er fürchtete, sich das soziale Äquivalent der Taucherkrankheit zuzuziehen.

Jedenfalls war dieses Viertel – die Shell-Tankstelle, der alte Eisenwarenladen, das Feinkostgeschäft an der Ecke, die Penner auf den kaputten Gehwegen, die Schnellstraßen zum Newark Airport, die versteckten Kneipen in der Nähe der alten Pabst-Brauerei – sein Zuhause geworden.

Als Olivia aus Virginia zu ihm gezogen war, hatte er erwartet, dass sie darauf bestehen würde, sich in einem besseren Viertel niederzulassen. Er wusste, dass sie etwas anderes gewöhnt war – auch wenn es vielleicht nicht unbedingt viel besser war. Olivia war in dem kleinen Hinterwäldlerdorf Northways in Virginia aufgewachsen. Ihre Mutter hatte die Familie verlassen, als sie noch ein Säugling war. So hatte ihr Vater sie allein aufgezogen.

Er war ziemlich alt gewesen für einen jungen Vater. Als Olivia das Licht der Welt erblickte, war er schon 51 Jahre alt. Joshua Murray musste hart arbeiten, um für sich und seine kleine Tochter ein Zuhause zu schaffen. Joshua war der Arzt in Northways – ein Allgemeinmediziner, der sich um alles kümmerte, vom Blinddarm der sechsjährigen Mary Kate Johnson bis zur Gicht des alten Riteman.

Nach Olivias Beschreibung war Joshua ein freundlicher Mann, ein netter und wunderbarer Vater, der außerdem noch völlig vernarrt war in seine einzige richtige Verwandte. Vater und Tochter hatten allein in einem Backsteinhaus etwas abseits der Hauptstraße gelebt. Die Praxis war in einem Anbau rechts neben der Einfahrt eingerichtet gewesen. Meistens war Olivia direkt nach der Schule nach Hause gelaufen, um ihrem Vater bei den Patienten zur Hand zu gehen. Sie hatte verängstigte Kinder aufgeheitert oder mit Cassie geschwatzt, der ewigen Rezeptionistin und Arzthelferin. Cassie war auch eine Art Kindermädchen für sie gewesen. Wenn Joshua zu beschäftigt war, hatte sie das Abendessen gekocht und Olivia bei den Schularbeiten geholfen. Olivia verehrte ihren Vater. Früher hatte sie davon geträumt – und sie wusste natürlich, dass das hoffnungslos naiv klang –, Ärztin zu werden und mit ihrem Vater zusammenzuarbeiten.

In Olivias letztem College-Jahr änderte sich alles. Ihr Vater, und damit die gesamte Familie, die Olivia je kennen gelernt hatte, starb an Lungenkrebs. Die Nachricht zog Olivia den Boden unter den Füßen weg. Das alte Ziel, Medizin zu studieren und in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten – starb mit ihm. Olivia trennte sich von ihrem College-Liebhaber, einem Medizinstudenten namens Doug, und zog wieder in das alte Haus in Northways. Aber es tat zu weh, ohne ihren Vater dort zu leben. Schließlich verkaufte sie das Haus und zog in ein Mietshaus in Charlottesville. Sie bekam eine Stelle bei einer Software-Firma, für die sie ziemlich viel reisen musste, was in nicht unerheblichem Maße mit dafür verantwortlich war, dass sie und Matt ihre frühere, sehr kurze Beziehung wieder aufleben ließen.

Irvington, New Jersey, war ganz anders als Northways oder Charlottesville, Virginia, aber Olivia hatte Matt überrascht. Sie war zu ihm in dieses heruntergekommene Haus gezogen, damit sie das Geld für das inzwischen angezahlte Traumhaus schneller zusammensparen konnten.

Drei Tage nach dem Kauf der Fotohandys kam Olivia nach Hause und ging direkt die Treppe hinauf. Matt schenkte sich ein Glas Mineralwasser mit Limonengeschmack ein und griff sich ein paar Salzstangen. Fünf Minuten später folgte er ihr. Olivia war nicht im Schlafzimmer. Er sah im kleinen Arbeitszimmer nach. Sie saß am Computer und wandte ihm den Rücken zu.

»Olivia?«

Sie drehte sich um und lächelte. Matt hatte das alte Klischee von dem Lächeln, das einen Raum erleuchtet, immer verachtet, aber Olivia konnte das tatsächlich. Ihr Lächeln konnte die ganze Welt aufhellen. Es war extrem ansteckend, eine Art Katalysator, der sein Leben bunter machte, ihm ein Ziel gab und alles um ihn herum veränderte.

»Woran denkst du?«, fragte Olivia.

»Dass du eine echt heiße Braut bist.«

»Sogar wenn ich schwanger bin?«

»Besonders wenn du schwanger bist.«

Olivia drückte eine Taste, und das Bild auf dem Monitor verschwand. Sie stand auf und küsste ihn sanft auf die Wange. »Ich muss packen.«

Olivia musste geschäftlich nach Boston.

»Wann geht deine Maschine?«, fragte er.

»Ich werd wohl fahren.«

»Wieso?«

»Eine Freundin von mir hatte nach einem Flug eine Fehlgeburt. Das will ich einfach nicht riskieren. Außerdem muss ich morgen früh noch zu Dr. Haddon. Er will das Testergebnis überprüfen und nachsehen, ob alles okay ist.«

»Soll ich mitkommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du hast zu tun. Kannst ja dann beim nächsten Mal mitkommen, wenn sie eine Ultraschalluntersuchung machen.«

»In Ordnung.«

Wieder küsste Olivia ihn, dieses Mal länger. »Hey«, flüsterte sie. »Bist du glücklich?«

Er wollte einen Witz reißen, wieder eine zweideutige Bemerkung machen. Aber er ließ es bleiben. Er sah ihr direkt in die Augen und sagte: »Sehr.«

Olivia trat zurück. Durch das Lächeln hielt sie ihn immer noch in ihrem Bann. »Ich muss packen.«

Matt sah ihr nach. Einen Moment lang blieb er noch in der Tür stehen. Er war bester Stimmung. Er war tatsächlich glücklich, und das jagte ihm eine Heidenangst ein. Das Gute ist ungeheuer zerbrechlich. Das lernt man, wenn man einen Jungen tötet. Das lernt man, wenn man vier Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt.

Das Gute ist so fein, so zart, dass es schon von einem leichten Windstoß zerstört werden kann.

Oder vom Klingeln eines Telefons.

Auf der Arbeit vibrierte Matts Fotohandy.

Ein Blick aufs Display verriet ihm, dass es Olivia war. Matt hatte noch immer den alten Doppelschreibtisch, bei dem zwei Leute sich gegenübersaßen. Die andere Seite war allerdings seit drei Jahren verwaist. Sein Bruder Bernie hatte den Schreibtisch gekauft, als Matt aus dem Gefängnis gekommen war. Vor dem Ereignis, das die Familie beschönigend den »Ausrutscher« nannte, hatte Bernie große Pläne für die »Hunter Brothers« gehabt. An diesen Plänen wollte er festhalten. Matt würde keine bleibenden Schäden davontragen. Der Ausrutscher war nicht mehr als ein Schlagloch in der Straße gewesen, die sie hinter sich gelassen hatten, und jetzt nahmen die Hunter Brothers wieder Fahrt auf.

Bernie hatte das so überzeugend vorgebracht, dass Matt ihm fast geglaubt hätte.

Sechs Jahre lang hatten sich die Brüder den Schreibtisch geteilt. Sie waren als Anwälte tätig – Bernie im lukrativen Wirtschaftssektor, Matt, dem als verurteiltem Straftäter die Anwaltszulassung verwehrt worden war, kümmerte sich um die Bereiche, die weder lukrativ waren, noch mit Wirtschaft zu tun hatten. Bernies Partner in der Kanzlei fanden das Arrangement etwas seltsam, aber die Brüder legten beide keinen gesteigerten Wert auf Privatsphäre. Sie hatten sich die ganze Kindheit und Jugend ein Zimmer geteilt. Bernie hatte oben im Etagenbett gelegen: eine Stimme von oben in der Dunkelheit. Beide sehnten sich nach dieser Zeit zurück – Matt auf jeden Fall. Er fühlte sich allein nicht wohl. Mit Bernie im Zimmer fühlte er sich wohl.

Sechs Jahre lang.

Matt legte die Handflächen auf den Mahagoni-Schreibtisch. Er hätte ihn längst rausschmeißen sollen. Bernies Seite war seit drei Jahren unbenutzt, trotzdem schaute Matt manchmal in der Erwartung hinüber, dort seinen Bruder zu erblicken.

Wieder vibrierte das Fotohandy.

Eben hatte Bernie noch alles gehabt – eine tolle Frau, zwei tolle Jungs, das große Haus im Vorort, die Teilhaberschaft an einer renommierten Kanzlei, Gesundheit und Liebe und die Anerkennung seiner Mitmenschen –, und kurz darauf warf die Familie Erde auf seinen Sarg und versuchte, das Ganze zu begreifen. Ein Aneurysma im Gehirn, hatte der Arzt gesagt. Mit so etwas könne man jahrelang herumlaufen, dann setze es dem Leben manchmal schlagartig ein Ende.

Das Handy war auf »vibrieren – dann klingeln« eingestellt. Der Vibrationsalarm brach ab, und der alte Batman-Song aus der Fernsehserie erklang: Der mit dem einfallsreichen Text, bei dem im Prinzip eine Weile nur »nah-nah-nah« gesungen wurde, bis dann der Ruf »Batman!« ertönte.

Matt nahm das Handy vom Tisch.

Sein Finger lag auf der Annehmen-Taste. Etwas seltsam war das schon. Denn obwohl Olivia in der Computerbranche arbeitete, konnte sie mit technischen Geräten überhaupt nicht umgehen. Sie benutzte ihr Handy kaum, und selbst wenn, wusste sie doch, dass Matt im Büro war. Normalerweise hätte sie ihn auf dem Festnetzanschluss angerufen.

Matt drückte die Taste, worauf eine Meldung erschien, die besagte, dass ein Foto empfangen werde. Auch das war seltsam. Trotz ihrer anfänglichen Begeisterung hatte Olivia den Umgang mit der Foto-Funktion noch nicht ausprobiert.

Seine Sprechanlage summte.

Rolanda – Matt hätte sie als seine Sekretärin oder Assistentin bezeichnet, allerdings nicht in ihrer Gegenwart, weil sie ihn dann geschlagen hätte – räusperte sich. »Matt?«

»Ja.«

»Marsha ist auf Leitung zwei.«

Ohne den Blick vom Handy-Display abzuwenden, nahm Matt den Hörer ab und begrüßte seine Schwägerin, Bernies Witwe.

»Hey«, sagte er.

»Hey«, sagte Marsha. »Ist Olivia noch in Boston?«

»Ja. Ich glaube, sie schickt mir gerade ein Foto von ihrem neuen Handy.«

»Oh.« Nach einer kurzen Pause fragte sie. »Kommst du heute noch raus?«

Ein weiterer Schritt in Richtung Familie war der fast abgeschlossene Kauf eines Hauses im gleichen Viertel, in dem auch Marsha und die Jungs wohnten. Es stand in Livingston, dem Ort, in dem Bernie und Matt aufgewachsen waren.

Matt hatte sich gefragt, ob es klug war, dorthin zurückzukehren. Die Erinnerung der Menschen reichte weit zurück. Wie viele Jahre auch vergangen waren – wenn er in die Nähe kam, flüsterten die Menschen in seiner Heimatstadt und machten zweideutige Bemerkungen. Eigentlich kümmerten Matt solche Kleinigkeiten schon lange nicht mehr. Aber er machte sich Sorgen um Olivia und sein ungeborenes Kind. Denn der Sohn soll nicht mittragen die Missetat des Vaters, aber das war reines Wunschdenken.

Auch Olivia verschloss vor den Risiken nicht die Augen. Trotzdem wollte sie es.

Außerdem hatte die etwas nervöse Marsha – wie sollte er das umschreiben – gewisse Leiden. Nach Bernies überraschendem Tod hatte sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Marsha hatte sich eine zweiwöchige »Ruhepause« gegönnt – noch so ein Euphemismus. In dieser Zeit war Matt bei ihr eingezogen und hatte sich um die Jungs gekümmert. Es ging Marsha wieder gut – das sagten eigentlich alle –, aber Matt wollte doch lieber in der Nähe bleiben.

Heute stand die bautechnische Begutachtung des neuen Hauses an. »Ich mach mich demnächst auf den Weg. Warum, was gibt’s?«

»Kannst du mal reinschauen?«

»Bei euch?«

»Ja.«

»Natürlich.«

»Falls es nicht passt …«

»Nein, kein Problem.«

Marsha war eine hübsche Frau mit einem ovalen Gesicht, die gelegentlich mit tieftrauriger Miene nervös nach oben blickte, als wollte sie sich versichern, dass die dunkle Wolke noch über ihr hing. Selbstverständlich war das eine rein körperliche Eigenart, die nicht mehr über ihren Charakter aussagte als etwa eine Narbe oder geringe Körpergröße.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Matt.

»Ja, mir geht’s gut. Ist keine große Sache. Kannst du dich ein paar Stunden um die Jungs kümmern? Ich hab an der Schule zu tun, und Kyra ist heute Abend unterwegs.«

»Soll ich mit ihnen essen gehen?«

»Das wäre toll. Aber nicht zu McDonald’s, ja?«

»Chinesisch?«

»Perfekt«, sagte sie.

»Prima, geht klar.«

»Danke.«

Das Bild auf dem Handy baute sich auf.

»Dann bis nachher«, sagte er.

Sie verabschiedeten sich und legten auf.

Matt konzentrierte sich wieder auf das Handy. Er kniff die Augen zusammen und sah sich das Display genau an. Es war winzig. Kaum drei Zentimeter breit. Die Sonne schien, und der Vorhang stand offen. Bei diesen Lichtverhältnissen war kaum etwas zu erkennen. Matt schirmte das kleine Display mit der Hand ab und beugte sich tief darüber. Das half ein bisschen.

Auf dem Display erschien ein Mann.

Wieder konnte er kaum Einzelheiten erkennen. Der Mann war vielleicht Mitte dreißig – Matts Alter – und hatte tiefschwarze, fast schon blaustichige Haare. Er trug ein rotes Hemd mit Button-down-Kragen. Eine Hand hielt er in die Luft, als winke er. Er stand in einem weiß gestrichenen Zimmer mit einem Fenster, hinter dem grauer Himmel zu sehen war. Der Mann grinste ein wissendes Ich-bin-besser-als-du-Grinsen. Matt starrte den Mann an. Ihre Augen trafen sich, und Matt hätte schwören können, Spott darin zu erkennen.

Matt kannte den Mann nicht.

Er wusste nicht, warum seine Frau ihn fotografiert hatte.

Das Display wurde schwarz. Matt rührte sich nicht. Das Muschel-Meeresrauschen verschwand nicht aus seinen Ohren. Außerdem hörte er noch ein paar andere Geräusche – das Pfeifen eines Faxgeräts, dumpfe Stimmen, den Verkehr draußen –, doch das alles drang wie durch einen Filter an seine Ohren.

»Matt?«

Das war Rolanda Garfield, seine Assistentin/Sekretärin. Die Kanzlei war nicht begeistert gewesen, als Matt sie eingestellt hatte. Man merkte Rolanda ihre Herkunft »von der Straße« an, wodurch sie für die Wichtigtuer bei Carter Sturgis schwer zu ertragen war. Aber er hatte darauf bestanden. Sie war eine von Matts ersten Mandantinnen gewesen und gehörte zu den schmerzlich wenigen Fällen, die er gewonnen hatte.

Während seines Gefängnisaufenthalts war es Matt gelungen, genug Seminare abzuschließen, um seinen College-Abschluss zu bekommen. Kurz nach seiner Entlassung bestand er sein Jura-Examen. Bernie, der es bei Carter Sturgis, der bedeutendsten Kanzlei in Newark, inzwischen zum Staranwalt gebracht hatte, meinte, die Anwaltskammer überreden zu können, bei Matt eine Ausnahme zu machen und seinen Bruder aufzunehmen, obwohl er vorbestraft war.

Das war eine Fehleinschätzung.

Aber so leicht ließ Bernie sich nicht entmutigen. Er überredete seine Partner, Matt als »Sachbearbeiter« einzustellen. Dieser wunderbare und allumfassende Begriff bedeutete, dass er vor allem für die lästigen Routinetätigkeiten zuständig war.

Anfangs gefiel das den Teilhabern von Carter Sturgis nicht. Das überraschte Matt und Bernie nicht. Ein Exknacki in ihrer noblen Kanzlei? Das ging doch nicht. Aber Bernie appellierte an ihre zur Schau getragene Menschlichkeit: Matt sei gut für die PR. Er beweise, dass die Kanzlei ein Herz hätte und Menschen eine zweite Chance gebe – zumindest in der Theorie. Matt sei klug. Fachlich ein echter Gewinn für die Kanzlei. Außerdem könne Matt die Hauptarbeit bei den Probono-Fällen übernehmen, so dass die Teilhaber sich ihre tiefen Taschen vollstopfen könnten, ohne dass die Unterschicht sie behelligte.

Folgende zwei Argumente hatten schließlich den Ausschlag gegeben: Matt würde billig arbeiten – schließlich hatte er keine andere Wahl. Und sein Bruder Bernie, der der Kanzlei viel Geld einbrachte, würde aussteigen, falls sie den Vorschlag nicht akzeptierten.

Die Teilhaber waren in sich gegangen: Vielleicht konnte man tatsächlich Gutes tun und seinen Vorteil daraus ziehen? War das nicht die Logik, die auch den meisten anderen Wohltätigkeitsveranstaltungen zugrunde lag?

Matt starrte das leere Display an. Sein Herz tanzte einen kurzen Twostep. Wer, fragte er sich, ist der Mann mit den blauschwarzen Haaren?

Rolanda stemmte die Hände in die Hüfte. »Erde an Blödmann«, sagte sie.

»Was?« Matt erwachte aus seiner Trance.

»Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut.«

Rolanda sah ihn zweifelnd an.

Wieder vibrierte das Fotohandy. Rolanda verschränkte die Arme und blieb vor ihm stehen. Matt blickte sie an. Sie verstand den Wink nicht. Takt war nicht ihre Stärke. Wieder vibrierte das Handy, dann erklang die Batman-Melodie.

»Willst du nicht rangehen?«, fragte Rolanda.

Er blickte aufs Display. Wieder zeigte es die Handynummer seiner Frau an.

»Yo, Batman.«

»Ich bin ja schon dabei«, sagte Matt.

Er legte den Daumen auf die grüne Empfangstaste und zögerte dann einen Moment lang, bevor er sie drückte. Das Display wurde wieder hell.

Jetzt erschien ein Video.

Die Technologie machte zwar gewaltige Fortschritte, das wacklige Videobild war aber trotzdem zwei Klassen schlechter als der 8-mm-Film, den Abraham Zapruder von Kennedys Ermordung gemacht hatte. In den ersten zwei Sekunden erkannte Matt nicht, was geschah. Er wusste, dass das Video nicht lange laufen würde. Höchstens zehn, fünfzehn Sekunden.

Es war ein Zimmer. Das sah er. Die Kamera schwenkte über einen Fernseher auf einem Schrank. An der Wand hing ein Bild. Matt erkannte es nicht, hatte aber den Eindruck, dass es ein Hotelzimmer war. An der Badezimmertür blieb die Kamera stehen.

Dann erschien die Frau. Sie hatte platinblonde Haare. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und ein aufreizendes, blaues Kleid. Matt runzelte die Stirn.

Was sollte das?

Die Frau blieb einen Moment lang stehen. Offenbar wusste sie nicht, dass sie gefilmt wurde. Die Kamera folgte ihr. Es gab einen hellen Blitz, ein Sonnenstrahl, der durchs Fenster in den Raum fiel, dann war alles wieder zu erkennen.

Als die Frau zum Bett ging, stockte ihm der Atem.

Matt kannte den Gang.

Er kannte auch die Bewegung, mit der sie sich aufs Bett setzte, das zaghafte Lächeln und die Art, wie sie das Kinn hob und die Beine übereinanderschlug.

Er rührte sich nicht.

Er hörte Rolandas Stimme. Sie sprach jetzt leiser. »Matt?«

Er beachtete sie nicht. Die Kamera war jetzt offenbar abgelegt. Wahrscheinlich auf eine Kommode. Sie war immer noch aufs Bett gerichtet. Ein Mann ging auf die Blondine zu. Matt sah seinen Rücken. Er trug ein rotes Hemd und hatte blauschwarze Haare. Er versperrte den Blick auf die Frau. Und aufs Bett.

Matts Blick verschwamm. Er blinzelte, damit er wieder klar sehen konnte. Das LCD-Display wurde dunkler. Das Bild flimmerte kurz und verschwand dann, und Matt saß da, während Rolanda ihn weiter neugierig anstarrte, die Fotos auf der Schreibtischseite seines Bruders immer noch an ihren alten Plätzen standen, und er sich sicher war – na ja, ziemlich sicher, schließlich war das Display gerade einmal drei Zentimeter breit, oder? –, dass die Frau in dem fremden Hotelzimmer, die Frau in dem aufreizendem Kleid auf dem Bett, eine platinblonde Perücke getragen hatte und eigentlich brünett war, und dass sie Olivia hieß und seine Frau war.

3

Newark, New Jersey, 22. Juni

Loren Muse, die Ermittlerin der Mordkommission der Staatsanwaltschaft Essex County, saß im Büro ihres Chefs.

»Einen Moment mal«, sagte sie. »Wollen Sie mir etwa weismachen, dass die Nonne Brustimplantate getragen hat?«

Ed Steinberg, der Staatsanwalt von Essex County, strich über seinen Kugelbauch. Von hinten hätte man nur seinen schlanken Hintern gesehen und gar nicht vermutet, dass er dick war. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. In den Achselhöhlen war sein Hemd gelb verfärbt. »Sieht so aus, ja.«

Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »The Innocent« bei Dutton, a member of the Penguin Group (USA) Inc., New York

Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Die Personen, Orte, Ereignisse und Dialoge entstammen der Fantasie des Autors. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

1. Auflage Deutsche Erstausgabe Oktober 2006

Copyright © der Originalausgabe 2005 by Harlan Coben

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