Kein Wort zu Papa - Dora Heldt - E-Book + Hörbuch

Kein Wort zu Papa Hörbuch

Dora Heldt

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Beschreibung

Der Nr.1-Bestseller jetzt im Taschenbuch »Das schaffen wir doch mit links!« Wie gut, dass Ines nichts schrecken kann. Ohne ihre patente Schwester wäre Christine sonst nämlich ziemlich mulmig zumute. Sie soll für einige Tage die Pension ihrer Freundin Marleen auf Norderney übernehmen – ein Job, von dem die 47-Jährige nicht die leiseste Ahnung hat. Kein Wunder, dass die beiden Schwestern schnell an ihre Grenzen stoßen. Und das nicht nur, weil sie nicht kochen können. Ihre Anwesenheit spricht sich auf der Insel schnell herum. Zu schnell. Und so dauert es nicht lange, bis Papa Heinz und Mama Charlotte vor der Tür stehen, um ihre Töchter mit höchst eigenwilligen Ideen zu unterstützen ...

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Zeit:3 Std. 15 min

Sprecher:Dora Heldt

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Dora Heldt

Kein Wort zu Papa

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

 

Für meine kleine Schwester Birgit,

ich habe viel von dir gelernt.

Danke.

»Komm. Nur zwei Wochen. Danach hast du auch wieder bessere Laune.«

Meine Schwester säuselte in diesem schmeichelnden Ton, den sie schon ihr Leben lang benutzt hatte, wenn sie etwas von mir wollte. Ich wollte aber nichts von ihr.

»Nein. Ich habe keine Lust, und ich habe kein Geld. Und übrigens auch keine schlechte Laune.«

Das war natürlich gelogen, Ines ging gar nicht darauf ein.

»Los, Christine, jetzt sag Ja. Dänemark ist ganz toll im September. Das Haus ist riesig, mit Sauna und Kamin und offener Küche. Wir nehmen uns stapelweise Krimis mit, gehen jeden Tag am Strand spazieren, unterhalten uns bei Rotwein und Kaminfeuer, schlafen aus, essen sooft wir wollen rote Würstchen und Backfisch, das wird super.«

»Nein.« Ich hatte momentan keine gute Zeit und wollte einfach meine Ruhe. Ferien mit meiner kleinen Schwester standen wirklich ganz unten auf meiner Liste. »Wir können die Diskussion an dieser Stelle beenden.«

Meine Schwester interessierte kein Nein. Das hatte sie noch nie interessiert. Sie kannte es auch kaum, zumindest nicht aus ihrer Kindheit. Es gab nur ein lässiges: »Ach, lass sie doch« oder: »Christine, andere Kinder wünschen sich eine kleine Schwester, sei froh, dass du sie hast und nimm sie mit« oder: »Vertragt euch, die Ältere ist die Klügere und gibt nach«. Das Wort »Nein« gab es nicht. Und wenn, dann kam ich nicht damit durch. Sie dafür immer. Und jetzt hatte ich dazu keine Lust mehr. Ich atmete tief durch, Ines war schneller: »Ich komme heute Abend bei dir vorbei und bringe einen Prospekt von dem Haus mit. Du wirst begeistert sein. Möchtest du Pizza mit Schinken oder Salami? Oder Thunfisch? Ich finde die mit Thunfisch und Schinken ja auch super.«

»Ich möchte gar keine Pizza. Ich kann nicht schlafen, wenn ich abends so viel esse.«

»Seit wann das denn?« Ines lachte. »Ich fahre doch sowieso beim Italiener vorbei. Also, ich bestelle eine große mit allem drauf, und die teilen wir dann. Gegen sieben?«

»Ich will keine und außerdem habe ich heute Abend überhaupt …«

»Christine, mein anderes Telefon klingelt, ich bin ja noch im Büro. Bis später dann, tschüss.«

Warum hörte sie mir eigentlich nie zu?

Ich legte das Telefon zurück auf die Station und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Meine Schwester hatte öfter idiotische Ideen. Sie war so furchtbar spontan, ich nicht. Von mir aus sollte sie doch mit ihrer Pizza vorbeikommen, ihre Dänemarkkataloge könnte sie danach ins Altpapier werfen. Zwei Wochen Ferien in Dänemark mit meiner kleinen Schwester, das war auch genau das, was mir im Moment gerade noch gefehlt hatte. Nur weil ihr geplanter Segeltörn kurzfristig geplatzt war, sollte ich jetzt als Lückenbüßer einspringen. Dabei waren die Zeiten, in denen ich ihren Babysitter spielen musste, wirklich vorbei.

Das Telefon klingelte erneut. Vermutlich war das wieder Ines, die wissen wollte, welches Dressing ich auf dem Beilagensalat haben wollte. Weil eine Familienpizza mit Salat dann ein Menü und drei Euro billiger ist. Ines liebte Schnäppchen und Aktionsangebote. Weil ihre ältere Schwester nie mit Geld umgehen konnte. Deswegen hatte sie das schon früh gelernt. Sie handelte immer wie auf einem türkischen Basar, egal ob sie sich ein Auto, eine Kiste Wein oder eine Pizza kaufte. Hauptsache, man konnte noch was am Preis drehen.

Die Nummer auf dem Display hatte eine schwedische Vorwahl, kein Mensch konnte ermessen, wie ich sie mittlerweile hasste. Ich nahm das Telefon hoch.

»Hallo, Johann.«

»Na? Was machst du gerade?«

Er hatte ein Lächeln in der Stimme, das mich aus irgendeinem Grund wieder schlecht gelaunt machte. Wieso ging es ihm gut und mir nicht? Er müsste sich mit vor Sehnsucht brüchiger Stimme melden, dann könnte ich ihn wenigstens trösten und sagen, dass doch alles nicht so schlimm sei. Schließlich würde dieser blöde Job in Stockholm ja nur noch etwa zwei Monate dauern. Aber so war nur meine Stimme gefühlt brüchig, und zwar wahrlich nicht mehr vor Sehnsucht, sondern vor Ärger, weil er diesen Job in Stockholm nämlich überhaupt nicht blöde fand. Mit einer unglaublichen Begeisterung und Euphorie sanierte Johann eine schwedische Zeitung. Als ob das niemand anders als der berühmte Johann Sander konnte, der dafür natürlich sofort den geplanten Umzug nach Hamburg in eine gemeinsame Wohnung mit mir verschob: »Christine, das ist eine ganz große Chance. Der Verlag hat mich extra angefordert, weil ich mit Verlagen Erfahrung und auch schon mal in Schweden gearbeitet habe. Und ich spreche die Sprache. Das ist ein sensationeller Job. Und was sind denn schon drei Monate? Sobald ich wieder da bin, ziehen wir um.«

Ganz klar, nur dass mittlerweile die drei Monate schon fast um waren und Johanns Auslandsaufenthalt auf fünf Monate verlängert worden war. Und da Johann offiziell auch noch in Bremen wohnte und nicht bei mir in Hamburg, musste er an den wenigen Wochenenden, an denen ihn die Schweden mal rausließen, auch noch zwischen seiner und meiner Wohnung hin- und herfahren. Das wäre vielleicht alles gar nicht so schlimm gewesen, wenn auch ich einen sensationellen Job gehabt hätte. Nur leider hielten sich zurzeit die Sensationen bei mir in Grenzen. Nachdem einer von Johanns Berufskollegen den Verlag, in dem ich seit Jahren gearbeitet hatte, mit ähnlicher Euphorie saniert hatte, war ich meinen Job los und hielt mich jetzt mit dem Schreiben kleiner Kolumnen für eine Frauenzeitschrift über Wasser. Aber wirklich nur eine Handbreit über der Wasseroberfläche. Alles in allem war meine Situation im Moment höchst anstrengend, und ich gab Johann die Schuld dafür. Das war leichter, als einfach nur niedergeschlagen zu sein.

»Christine? Bist du noch dran? Die Verbindung ist so schlecht.«

»Das kommt davon, dass du in Schweden bist. Und ich in Hamburg.«

Johann ignorierte meinen bissigen Ton. »Was machst du gerade?«

»Nichts weiter.«

»Aha. Hast du schlechte Laune?«

»Nein.«

»Das ist gut. Hast du deine Kolumne fertig?«

»Wie soll ich bitte eine lustige Kolumne schreiben, bei der das Thema der Urlaub eines Paares ist? Ich hatte keinen Urlaub mit dir, du bist in Schweden.«

»Ich weiß.« Er lachte. Es war nicht zu glauben. »Nimm doch unseren Sylt-Urlaub aus dem letzten Jahr.«

»Sehr witzig. Das war kein Urlaub, das war eine Katastrophe.«

»So schlimm war es auch wieder nicht. Lass ein paar Dinge weg, dann wird das doch ganz lustig. Du, hör mal, nächstes Wochenende kann ich hier eigentlich nicht weg. Wir kriegen das zeitlich sonst nicht hin, der Bericht für den Aufsichtsrat muss übernächste Woche fertig sein. Dafür komme ich danach für eine ganze Woche. Das ist doch schön, oder?«

Na, toll! Wieder mal ein einsames Wochenende. Ich wollte zurückschlagen.

»Da fahre ich mit Ines für zwei Wochen nach Dänemark.«

Was redete ich eigentlich? Das war reinster Blödsinn. Ich konnte mich doch nicht ernsthaft bei der Wahl zwischen einer Woche Johann und zwei Wochen Ines für meine Schwester entscheiden. Johann schien aber bereit, es zu glauben.

»Das ist doch nett«, sagte er in einem Ton, als ginge es ums Eisessen und nicht darum, dass wir uns noch länger nicht sehen würden, »Dänemark ist ganz toll im September. Das tut dir bestimmt gut.«

In diesem Moment bezweifelte ich, dass er eine vage Ahnung von dem hätte, was mir guttat. Ich war einfach sauer. Auf ihn, auf mich, auf das Leben und auf die Schweden. Und weil ich schon mal dabei war, auch noch auf Dänemark.

 

 

 

Meine Schwester balancierte einen Pizzakarton, auf dem noch eine Tüte hin und her rutschte, eine Flasche Rotwein und ihre überdimensionale Schultertasche das Treppenhaus hinauf. An den Türrahmen gelehnt, sah ich ihr entgegen, sie atmete schwer und blickte zu mir hoch.

»Dieses Treppenhaus macht mich wahnsinnig. Es wird wirklich Zeit, dass du umziehst.«

Sie hatte keine Ahnung, wie recht sie damit hatte. Oben angekommen, reichte sie mir den Karton und die Tüte.

»Mittwochs ist bei der großen Pizza immer ein Salat dabei. Gut, oder? Und den Rotwein gab es für sechs Euro. Apulienwoche oder so, habe ich gleich mitgekauft.«

»Ich habe noch zehn Flaschen im Schrank. Und auch gute.«

»Na ja«, sie ging an mir vorbei und warf ihre Tasche in den Flur, »wenn der Wein nicht schmeckt, machen wir einen von deinen auf.«

Ich schob ihre Tasche mit dem Fuß an die Seite und folgte ihr in die Küche. Ines kramte Besteck aus der Schublade, holte Gläser und Teller aus dem Schrank und deckte den Tisch. Dann nahm sie mir den Pizzakarton aus der Hand.

»Wo ist denn dein großes Messer?«

»Fühl dich wie zu Hause«, antwortete ich, während ich mich setzte und dabei auf die Spüle deutete, »und das Messer liegt in der Spüle, weil ich eigentlich vorhatte, heute Abend ein bisschen Amok zu laufen.«

Ines wischte die Klinge mit einem Spültuch ab und begann, die Pizza in Viertel zu schneiden.

»Gibt es was Neues vom Schwedenhappen?«

»Wenn du Johann damit meinst, der hat mir vorhin gesagt, dass er am Wochenende nicht kommen kann, dafür aber danach eine Woche freihat. Also hat sich dein Dänemarkplan für mich erledigt.«

»Wolltest du deshalb Amok laufen? Weil dein Süßer nicht kommt?«

»Unsinn.« Ich sah ihr zu, wie sie mit gleichmäßigen Bewegungen aus den Vierteln Achtel schnitt. »Aber mir geht dieses ganze Hin und Her auf die Nerven. Man kann überhaupt nichts mehr planen.«

Ines ließ das Messer zurück in die Spüle fallen und setzte sich mir gegenüber.

»Du könntest planen. Du machst dich nur so abhängig von Johann. Der spricht sich ja auch nicht immer mit dir ab. Und du musst doch nicht hier rumsitzen und warten, was der große Meister sagt. Ich finde das albern.«

Sie nahm das größte Stück und biss ab. Mit vollem Mund sagte sie: »Nimm doch, ist super.«

»Wozu hast du eigentlich Besteck hingelegt, wenn du jetzt mit den Fingern isst?«

»Esskultur! Aber Pizza geht besser mit der Hand.«

Eine Zeit lang kauten wir schweigend. Ines hatte recht, Thunfisch mit Schinken war wirklich gut. Außerdem hatte sie doppelt Käse bestellt. Von gesunder Ernährung konnte hierbei nicht die Rede sein, aber es schmeckte.

Nach dem dritten Stück stand Ines auf und holte einen Prospekt aus der Tasche. »Ferienhäuser Dänemark.« Sie hatte die Seite, auf der das Haus abgebildet war, mit einem gelben Klebezettel markiert.

»Guck mal. Ist das nicht schön? Und der Preis geht auch.«

Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf das rote Holzhaus mit dem hübschen Garten und schob den Prospekt sofort wieder zurück.

»Ich habe weder Lust noch Geld. Und außerdem kommt Johann ja in der Zeit. Wir sehen uns doch sowieso kaum noch.«

Ines fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare, ein kleines Stück Käse blieb an einer Ponysträhne hängen.

»Und wenn doch wieder was dazwischenkommt? Dann hängst du weiterhin schlecht gelaunt hier herum?«

»Ich weiß gar nicht, was du immer mit meiner schlechten Laune hast. Und ich hänge auch nicht herum.«

Mit einem weiteren Pizzastück in der Hand betrachtete Ines mich nachdenklich.

»Ich war am Wochenende zu Hause.«

»Ich weiß. Hat Mama mir erzählt. Und? War es nett?«

»Papa hat gesagt, ich soll mich um dich kümmern. Du wärst in einer schlechten Verfassung.«

Deshalb also Dänemark. Weil mein Vater mal wieder seine Hausfrauenpsychologie betrieb. Am Wochenende vorher war ich auf Sylt bei meinen Eltern gewesen. Bereits da war es mir auf die Nerven gegangen, dass mein Vater mich ständig mit zusammengekniffenen Augen beobachtet hatte. Bei einem Strandspaziergang hatte er mich gefragt, wie ich mir eigentlich meine Zukunft vorstellen würde.

»Christine, du musst doch Pläne haben. Sowohl beruflich als auch privat. Also auch, was du mal werden möchtest.«

»Papa, ich bin 47. Ich habe einen Job, wenn auch nicht besonders gut bezahlt. Und ich werde auch wieder was anderes finden. Und ich habe einen Freund, den du kennst. Ich weiß gar nicht, von welchen Plänen du redest.«

»Aber das läuft doch alles nicht rund bei dir. Da darf man sich als Vater doch wohl mal Gedanken machen.«

»Ja, natürlich. Mach dir Gedanken, aber erzähle sie mir nicht.«

Jetzt hatte er sie also Ines erzählt. Das war ja klar. Sie sah mich mit ernstem Gesichtsausdruck an.

»Papa hat einen Artikel gelesen, in dem stand, dass statistisch gesehen eine Wochenendbeziehung nicht länger als zwei Jahre hält.«

»Aha. Statistisch gesehen. Und weiter?«

Ines probierte den Rotwein und rümpfte die Nase. »Ich glaube, wir müssen doch eine von deinen Flaschen öffnen. Der schmeckt nicht.«

»Das Stichwort war ›Wochenendbeziehung‹.«

»Ja, sicher. Also, er meinte, dass dir dann mit Johann nur noch ein Dreivierteljahr bliebe. Wobei man das aber schlecht rechnen kann, weil Johann im Moment ja noch nicht einmal jedes Wochenende da ist. Wie das jetzt geht, wusste er auch nicht. Auf jeden Fall musst du aber etwas tun. Wobei ich dir die Idee, nach Schweden umzuziehen, ausreden soll.«

»Ich hatte noch nie im Leben die Idee, nach Schweden umzuziehen.«

»Soll ich jetzt einen anderen Wein holen, oder machst du das?«

Ines sah sich suchend um, blieb aber sitzen. Der Wein war wirklich ziemlich schlecht, Apulienwochen hin oder her. Ich schob mein Glas zur Seite und stand auf.

»Was hat Papa noch gesagt?«

Ines sammelte die Gurkenscheiben aus ihrem Salat und legte sie mir ungefragt auf den Teller. Sie hasste Gurken, ich mochte sie auch nicht besonders gern, aß sie aber trotzdem für sie. Seit sie wusste, was eine Gurke ist, machten wir das so.

»Papa findet die Situation hoch kompliziert. Er hat erklärt, dass er Johann ja ganz nett findet, aber sein Ehrgeiz wäre doch ein bisschen eigenartig. Fast schon krankhaft.«

»Meine Güte. Ich glaube, mehr will ich von seinen Überlegungen gar nicht wissen. Sonst kommen gleich Johanns ›tückische Augen‹ wieder ins Spiel.«

Ich öffnete die neue Weinflasche und holte zwei frische Gläser aus dem Schrank. Statt über unseren Vater zu reden, sollten wir uns lieber gepflegt betrinken. Das würde vieles einfacher machen.

Ines drückte den Korken in den Sonderangebotswein und meinte: »Damit kannst du jetzt Rotweinkuchen backen. Den musst du ja nicht wegschütten. Im Kuchen merkt man überhaupt nicht, wie schlecht der ist. Du nimmst einfach ein bisschen mehr Schokolade. Das geht bestimmt.«

Manchmal fragte ich mich, was Ines antrieb, alles an Getränken und Lebensmitteln, was ihr unter die Finger kam, zu konservieren oder zu verarbeiten. Sie war doch kein Flüchtlingskind, das drei Jahre lang durch halb Europa zu Fuß unterwegs gewesen war, immer auf der Suche nach Beeren und Blättern, getrieben vom Hunger und Überlebenskampf. Sie tat aber so. Es war mir ein Rätsel. Aber es war zwecklos, darüber mit ihr zu diskutieren.

Ich arbeitete mich durch die Gurkenschicht auf meinem Salat und hoffte, dass Ines das Thema wechseln würde. Sie tat es nicht.

»Jedenfalls hat Papa dann die glorreiche Idee gehabt, dass wir beide doch ein paar Tage zusammen verreisen könnten. Du kannst dir in aller Ruhe Gedanken über deine Zukunft machen, und ich vertreibe dir dabei die Zeit. Papa zahlt auch was dazu.«

»Er macht was?« Ich glaubte, mich verhört zu haben.

Ines hatte das Glas schon fast ausgetrunken. »Der schmeckt besser. Der ist sogar richtig gut. Kann ich noch was haben?«

»Trink doch erst mal aus.«

Sie tat es mit einem Schluck und hielt mir das leere Glas hin. Bei Katzen nannte man das Futterneid. Bei Ines war es wohl etwas anderes. Ich ertappte mich dabei, dass auch ich mein Tempo beim Essen und Trinken beschleunigte. Aber eigentlich waren wir bei einem anderen Thema.

»Was meintest du jetzt mit ›Papa zahlt was dazu‹?«

Treuherzig sah Ines mich an. »Na ja, habe ich doch erzählt: Er hat gesagt, ich soll mit dir ein paar Tage wegfahren, damit du auf andere Gedanken kommst. Daraufhin habe ich geantwortet, dass du bestimmt sagen wirst, du hättest kein Geld. Und ich sehe ja nicht ein, dass ich so ein Rettungspaket bezahlen soll.«

»Ines!«

»Genau dasselbe hat Papa auch gesagt.« Sie grinste. »Ich habe ihm aber ganz freundlich erklärt, dass ich mein Geld zum Segeln bräuchte. Der Törn ist nämlich teuer. Deswegen habe ich ihm vorgeschlagen, dass er das ja sponsern kann. Wollte er dann auch. Wobei er immer nur von ein paar Tagen geredet hat.«

»Aber doch keine zwei Wochen?«

Mein Glas war jetzt auch leer. Wir griffen gleichzeitig zur Flasche, ich war schneller und schenkte mir nach. Ines hob ihr halb volles Glas und musterte kurz den Inhalt der Flasche.

»Prost. Ich habe ihn gestern Abend angerufen und ihm erzählt, dass mein Segeltörn geplatzt ist, weil das Boot einen Motorschaden hat. Ich könnte jetzt aber mit dir zwei Wochen Urlaub machen. Und da wäre Dänemark doch sehr schön, das würde ihn aber ein bisschen was kosten.« Sie trank aus und zog die Flasche zu sich.

»Und?«

Während sie lächelnd ihr Glas sehr voll goss, antwortete sie: »Er hat gesagt, wir sollen es machen. Hauptsache, es hilft. Und wir könnten ja Lebensmittel mitnehmen und bräuchten nicht jeden Tag essen zu gehen.« Sie sah mich gut gelaunt an und legte den Kopf schief. »Wir können dein Auto nehmen. Mein Kofferraum ist so klein.«

Das war typisch für meine Schwester. Ich schob die letzten Gurken zur Seite.

»Das heißt, du sparst dein Urlaubsgeld für den nächsten Segeltörn und lässt dir von Papa den Ersatzurlaub bezahlen, weil du mich auf andere Gedanken bringen sollst?«

Ines nickte. »So ungefähr. Das ist doch nett von ihm.«

»Du fährst nur mit mir, weil er das bezahlt?«

»Nein«, mit hochgerecktem Kinn sah sie mich an. »Weil er das will. Ist die Flasche schon wieder leer?«

 

Eine weitere Flasche und eine Stunde später verkündete ich, schon leicht lallend: »Papa, Geld, Dänemark, alles egal, ich fahre nicht mit dir in Urlaub. So. Und das mit meinem Schwedenhappen löse ich wie folgt …«

Das Klingeln des Telefons unterbrach mich mitten in meinem Plädoyer. Ines fing albern an zu lachen und brüllte: »Wetten, das ist Papa? Oder … haha, noch besser, Johann, haha, der will mit dir nach Dänemark!«

Ich riss mich zusammen, meldete mich betont sachlich und hörte – ein Rauschen. Und ein Knacken und Knistern. Sonst nichts.

»Hallo? Wer ist denn da?«

»…«

»Hallo? Johann?«

»…«

Ines schlug sich vor Lachen schon fast auf die Schenkel und spülte mit Wein nach.

»Christine? … Hallo?«

Die Stimme klang wie die von Marleen, aber auch irgendwie anders. Ganz anders. Außerdem war Marleen im Urlaub. In Dubai, mit einer neuen Liebe. Beneidenswerte Marleen.

Ich presste den Hörer ans Ohr, gab Ines ein Zeichen, leiser zu sein.

»Hallo? Ich verstehe Sie nicht.«

»Ach, Gott sei Dank, du bist zu Hause. Christine, hör zu, es ist was Blödes passiert, ich …«

Es war tatsächlich Marleen.

Es rauschte und knisterte, ihre Stimme war wieder weg. Dann ein Knacken. Wieder das Rauschen. Ines beobachtete mich und hörte auf zu lachen. Sie schob mir mein Glas zu. Ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl und stellte das Telefon auf Lautsprecher.

»Marleen?«

»Ja.« Ihre Stimme klang gehetzt und ganz anders als sonst. »Ich kann nicht lange reden. Christine, ich sitze blöderweise in Dubai fest und kann am Wochenende nicht zurückfliegen. Du musst nach Norderney und mich in der Pension vertreten, ich erkläre dir alles später. Du kannst doch, oder?«

»Ich?« Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. »Was ist denn passiert? Sag doch mal, was los ist. Du klingst so komisch. Was heißt, du sitzt fest? Bis wann denn?«

Das Rauschen wurde etwas leiser. »Christine, mach bitte, was ich sage. Ruf meinen Anwalt Kühlke an, Ralf Kühlke, Anwalt in Oldenburg, und fahr nach Norderney. Und frag jetzt nicht. Ich kann nicht.«

Weinte sie etwa? Sie hatte so eine komische Stimme. Ich verstand gar nichts mehr.

»Marleen? Wo bist du denn?«

»Ich muss Schluss machen. Und du fährst nach Norderney, ja? Und bitte, sage keinem, wohin und mit wem ich verreist bin. Das ist ganz wichtig. Denk dir was aus.«

Ines nickte, während ich verwirrt wartete. Und dann rief sie in Richtung des Telefons: »Marleen, hier ist Ines. Wir fahren nach Norderney und schmeißen deinen Laden. Wir wollten sowieso mal raus.«

Das Rauschen und Knistern wurde wieder lauter, plötzlich hörten wir kurz Marleens erleichterte Stimme: »Danke und …« Dann war die Leitung tot.

»Wie? Denk dir was aus! Was soll ich mir denn ausdenken? Wieso denn?«

Aber die Leitung war tot. Meine Schwester und ich starrten uns an. Mit einem Schlag waren wir wieder nüchtern.

»Das ist ja schräg. Und so was von Marleen«, sagte Ines und fuhr sich durch die Haare, »… das ist ja völlig verrückt. Na gut, dann fahren wir eben nach Norderney, statt vorm dänischen Kamin Krimis zu lesen. Aber die Sache klingt nach Notfall. Was ist denn da nun passiert?«

»Keine Ahnung.« Ich ließ mich auf das Sofa sinken. »Das ist doch ein Witz, oder? Sie ist in Dubai und schickt mich nach Norderney?«

Ines trank den restlichen Wein aus der Flasche. Sie dachte kurz nach.

»Das hörte sich aber nicht an, als würde sie da freiwillig bleiben. Vielleicht haben sie ihr die Papiere geklaut. Aber wieso sollen wir diesen Anwalt anrufen? Na ja, die Nummer kriegen wir wohl von der Auskunft. Was anderes fällt mir im Moment auch nicht ein.«

Ich sah meine Schwester an, die mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir stand.

»Das ist doch völlig idiotisch.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich jetzt sauer auf Marleen oder besorgt sein sollte. So etwas passte überhaupt nicht zu ihr.

»Und was soll das mit dem Anwalt?«

Ines schob ihre Hände in die Jeanstaschen und zuckte mit den Schultern.

»Was weiß ich? Vielleicht fällt ihm etwas ein. Keine Ahnung. Ich war noch nie in Dubai. Ich habe keinen blassen Schimmer davon, was einem da passieren kann.«

»Toll.« Ich massierte mir die Schläfen, um besser denken zu können. »Aber irgendetwas Blödes muss ja passiert sein, sonst halten die einen doch nicht fest. Und wieso soll ich mir was ausdenken? Großer Gott, das ist ja völlig verquer. Aber dann muss ich wohl nach Norderney. Es hilft ja nichts. Willst du wirklich mit?«

Ines betrachtete mich verwundert. »Natürlich komme ich mit. Du hast doch noch nie eine Pension geleitet.«

»Du etwa?«

»Natürlich nicht. Aber zusammen kriegen wir das bestimmt irgendwie hin. Du weißt ein bisschen was, ich weiß ein bisschen was anderes, und in der Summe muss das dann reichen. Nur du alleine, Schwesterherz, das wird nichts. Du wirst doch immer so schnell hektisch.«

Man konnte meiner kleinen Schwester alle möglichen Dinge nachsagen, aber ganz bestimmt nicht, dass sie unter zu wenig Selbstvertrauen litt. Und so nervenschwach, wie sie meinte, war ich auch nicht.

»Ich habe die Pension damals mit umgebaut. Und außerdem fast drei Wochen lang den gesamten Frühstücksdienst gemacht. Das hat ziemlich gut geklappt.«

»Sag ich doch«, zufrieden sah sie mich an, »ein bisschen was weißt du, das andere ich. Aber du musst morgen früh erst mal mit diesem Anwalt telefonieren. Dann wissen wir vielleicht, wie lange das dauert. Wer arbeitet denn noch in der Pension? Ist die jetzt geschlossen?«

»Nein.« Ich überlegte, was mir Marleen alles am Telefon erzählt hatte, bevor sie in den Urlaub geflogen war. »Marleens Tante Theda hat die Urlaubsvertretung gemacht. Aber nur bis zum Wochenende. Ansonsten ist Gesa da, das ist die Nachbarstochter, die in den Semesterferien immer dort jobbt. Ich kenne sie noch vom Umbau. Und außerdem gibt es eine ältere Frau, eine Adelheid, die arbeitet da vormittags. Aber erst seit einem halben Jahr.«

»Dann musst du morgen Gesa anrufen. Wer war denn noch in der Umbauzeit dabei? Wer könnte zusätzlich mithelfen?«

Ein hysterischer Lachkoller stieg in mir auf. Die Truppe damals bestand aus Marleen, meiner Freundin Dorothea, deren Sommerflirt Nils und vier Rentnern. Der Anführer war mein Vater Heinz. Noch einmal würde ich diese Konstellation nicht überleben.

Ines schien meine Gedanken zu erraten. »Ach je, Papa war ja dabei. Und noch ein paar ältere Männer, oder?«

Ich nickte. »Ja. Und dann noch dieser unsägliche Inselreporter Gisbert von Meyer. Der hing auch jeden Tag auf der Baustelle herum. Vergiss es, die Einzige, die wir anrufen können, ist Gesa. Und im Moment habe ich keine Ahnung, was wir uns für eine harmlose Geschichte ausdenken sollen. Wieso darf denn keiner wissen, wo Marleen ist?«

Meine Schwester starrte lange auf die Wand hinter mir. Dann kehrte ihr Blick zu mir zurück. Leise sagte sie: »Kalli wohnt auf Norderney.«

Ich hielt kurz die Luft an, dann griff ich nach ihrem Handgelenk.

»Ines, wir müssen uns eine ganz wasserdichte Geschichte ausdenken. Wenn wir Kalli zufällig treffen, soll er denken, wir machen da ein paar Tage Ferien oder so etwas Ähnliches. Aber bitte, egal was passiert, kein Wort zu Papa! Sonst ist er mit der nächsten Fähre da. Und das halte ich nicht aus, ich schwöre es dir. Das halten wir beide nicht aus!«

Wir sahen uns lange an. Ines nickte ernst und rieb ihr Handgelenk.

 

 

 

Am nächsten Mittag stand ich zum dritten Mal im Bad, um irgendetwas zu holen, und hatte schon wieder vergessen, was es eigentlich war. Ich hatte ein ganz warmes Ohr vom stundenlangen Telefonieren und war vollkommen neben der Spur. Nachdem ich mein Spiegelbild erschrocken gemustert hatte, beschloss ich, mir einen Kaffee zu kochen, mich damit auf den Balkon zu setzen und eine Liste zu schreiben, um das Durcheinander in meinem Kopf einigermaßen zu sortieren. Ich schrieb in Krisensituationen immer Listen. Meine Schwester fand das albern, sie meinte, in der Zeit, die ich darauf verwendete, alles aufzulisten, hätte sie die gesamte Problematik schon zweimal gelöst. Ich hielt das für Unsinn.

Mit einem Blick auf den Kirchturm vor meinem Haus und einem kleinen Stoßgebet in dieselbe Richtung strich ich das Blatt Papier glatt und begann:

 

1.) Meine langjährige und beste Freundin Marleen hat eine Reise nach Dubai gebucht, zusammen mit ihrem neuen Freund Björn, von dem außer mir noch niemand weiß. Von dieser Reise sollte sie eigentlich diese Woche zurückkehren, das tut sie aber nicht.

2.) Stattdessen sitzt sie jetzt aus Gründen, die mir völlig schleierhaft sind, dort fest.

3.) Rechtsanwalt Kühlke aus Oldenburg blieb ganz locker, als ich ihn heute Morgen anrief, und hat sofort etwas unternommen.

4.) Die deutsche Botschaft wurde eingeschaltet, die wiederum einen Anwalt aus Dubai mit deutschen Sprachkenntnissen beauftragt hat, sich um den Fall zu kümmern. Der wiederum hat Marleen geraten, sich auch einen deutschen Anwalt zu nehmen, das haben wir ja nun schon erledigt. Es muss ein riesiges Missverständnis sein.

5.) Am Samstag ist Bettenwechsel und die Pension »Haus Theda« fast ausgebucht. Marleen wollte am Freitag wieder zurück sein. Das ist morgen, und daraus wird nun nichts.

6.) Deshalb fahren meine Schwester und ich heute Nachmittag nach Norderney. Gesa gibt uns den Schlüssel, bis dahin müssen wir uns noch eine unglaublich gute Geschichte ausdenken, die auf charmante Weise Marleens Fernbleiben erklärt. In dieser Geschichte dürfen drei Wörter keinesfalls vorkommen: »Dubai«, »Björn« und »Schwierigkeiten«.

7.) Ines und ich haben noch nie eine Pension geführt.

8.) Johann ist den ganzen Tag nicht zu erreichen gewesen und hat deswegen keine Ahnung, zu welchem Abenteuer ich gleich aufbrechen werde.

9.) Niemand, wirklich niemand, darf erfahren, was mit Marleen los ist, Anwalt Kühlke hat es strikt angeordnet. Aus diplomatischen und was weiß ich noch für Gründen.

10.) Die Idee mit Dänemark war eigentlich gar nicht so schlecht.

 

Ich las mir alles noch mal in Ruhe durch und kam zu dem Schluss, dass die Situation geschrieben noch schlimmer war als gedacht. Gut, ich hatte jetzt die Dinge in die Wege geleitet, die Marleen mir in diesem überraschenden Telefonat aufgetragen hatte. Aber wie ich das alles ernsthaft bewerkstelligen sollte, war mir im Moment noch ein Rätsel. Wobei ich auch niemanden kannte, der mit so etwas Erfahrung gehabt hätte. Niemand, den man anrufen konnte, um die lockeren Fragen zu stellen: »Sag mal, als deine Freundin in den Arabischen Emiraten verschollen war, wie lange hat das eigentlich gedauert? Das war doch nicht dramatisch, oder? Und die Pension hast du mit links geschmissen? Alles halb so wild?« Geschweige denn, die Antworten zu hören: »Du, das war nicht lange, ein, zwei Tage. Das hat ihr gut gefallen, sie hat dort ganz nette Leute kennengelernt. So eine Pension ist ein Kinderspiel, nach einer Stunde hast du das Gefühl, du hättest nie etwas anderes gemacht. Da musst du dich überhaupt nicht verrückt machen, das kriegst du alles hin. Und wenn deine Schwester mitkommt, wird das sein, als hättet ihr Ferien.«

Leider konnte mir hierbei niemand helfen. Also würde ich das allein hinkriegen müssen. Nein, nicht ganz allein, schließlich hatte ich eine kleine Schwester.

 

Als ich gerade mit geballter Kraft versuchte, den Reißverschluss meiner Tasche zu schließen, rief meine Mutter an. Ich bekam eine Hitzewelle. Ines und ich hatten uns noch nicht auf eine offizielle Geschichte geeinigt, jetzt würde ich improvisieren müssen.

»Hallo, Mama.«

»Na, Kind? Was machst du gerade?«

Ich zerrte weiter am Reißverschluss und klemmte mir den Finger ein. »Aua, ach, nichts weiter. Ich räume hier so ein bisschen herum.«

»Was räumst du denn? Ich denke, du willst sowieso bald umziehen.«

»Ja, sicher. Was wolltest du denn wirklich?«

»Ich wollte nur mal hören, was du so machst. Hast du schon was von deiner Bewerbung bei diesem Zeitungsverlag gehört?«

Ehrlich gesagt hatte ich die sogar schon ganz vergessen.

»Nein. Aber ich glaube, die Bewerbungsfrist läuft auch noch vier Wochen.«

»Was heißt, du glaubst? Christine, du musst dich doch mal kümmern.«

»Mama, bitte. Ich bin erwachsen.«

Meine Mutter klang jetzt schnippisch. »Ich meine es nur gut. Und? Wie geht es Johann? Wann kommt er denn mal wieder?«

Aus dem Schnippischen war jetzt etwas Lauerndes geworden. Aber das kannte ich ja. Meine Antwort war sehr freundlich.

»Übernächste Woche. Dann auch für ein paar Tage.«

Es folgte ein schweres, fast schon theatralisches Atmen. »Das ist doch auch komisch. Am Anfang hieß es, er kommt jedes Wochenende nach Hause, aber je länger dieser Job dauert, desto seltener bekommst du diesen Mann zu sehen.«

»Mama! Er hat viel zu tun!«

Jetzt wurde ich giftig. Ich durfte mich über Johann aufregen und schlecht über ihn denken, meine Mutter nicht. Das konnte ich nicht leiden.

Sie trat den Rückzug an. »Das ist auch eine anstrengende Arbeit, die er macht. Na ja, wird bestimmt alles klappen. Sag mal, hast du schon mit Ines gesprochen?«

Jetzt wurde es gefährlich.

»Worüber?«

»Dass ihr beide zusammen ein paar Tage nach Dänemark fahrt. Ines hat doch so ein Pech mit ihrem geplanten Urlaub und du ja auch, wegen Johann und so, da hatte Papa diese tolle Idee gehabt, ihr beiden Schwestern mal ganz alleine. Das ist doch nett von ihm. Er will euch das unbedingt schenken.«

Wegen Johann und so. Es ging eigentlich niemanden außer mir etwas an. Warum wurde bloß alles immer gleich ein Familiendrama?

»Ich fahre aber nicht nach Dänemark. Auch wenn Papa das will. Und es sogar bezahlt.«

»Jetzt sei doch nicht so stur. Er macht sich Sorgen. Du hast ja nicht die beste deiner Lebensphasen.«

»Mama, bitte! Ich bin alt genug, um das selbst zu entscheiden. Und wenn Papa anfängt, sich Sorgen zu machen, geht sowieso wieder alles schief.« Ich hielt inne, wenn ich weiter ausholen würde, käme gleich der Satz, dass sie nicht wüsste, von wem ich das hätte, und außerdem würde ich was Falsches sagen. Also zählte ich bis drei und fuhr betont ruhig fort: »Und im Übrigen haben Ines und ich gestern Abend beschlossen, ein paar Tage nach … Norderney zu fahren.«

Am anderen Ende blieb es einen Moment ruhig. Nur einen Moment. Dann kam die erstaunte Frage: »Zu Marleen?«

Ich hätte es mir denken können, trotzdem zuckte ich zusammen.

»Nein, nicht zu Marleen. Sie hat uns ein ganz tolles Hotel empfohlen, den ›Seesteg‹, ganz schön, mit Wellness, super Küche, schönen Zimmern und allem Drum und Dran. Und wir haben gedacht, wenn Papa so spendabel ist, dann können wir es uns dort auch nett machen. Und deshalb haben wir sofort gebucht, gestern Abend noch, die hatten nämlich gerade eine Absage, und deshalb klappte das. Toll, oder? Und wir freuen uns ja so.«

Ich biss mir auf die Unterlippe, wieso faselte ich eigentlich so viel Blödsinn? Weil ich einfach nicht gut lügen konnte. Hoffentlich nahm meine Mutter mir diese Rede ab.

Sie tat es. »Das ist eine gute Idee. Und ihr könnt Marleen ja besuchen, wenn ihr schon nicht bei ihr wohnt. Ach, und dann guckt doch auch bei Hanna und Kalli vorbei. Sie sind unsere ältesten Freunde und freuen sich, wenn ihr mal zum Essen kommt.«

Erleichtert antwortete ich: »Ja, mal sehen. Erst mal machen wir keine Pläne, sondern Urlaub. Und wir melden uns auch nicht. Wir wollen eigentlich unsere Ruhe haben.«

»Natürlich.« Die Stimme meiner Mutter klang sehr weich, sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. »Aber Papa will sowieso nachher noch Kalli anrufen, er kann euch ja schon mal ankündigen. Für irgendwann.«

»Nein, Mama, bitte nicht. Du kennst doch Kalli. Wir gehen da einfach mal vorbei. Du, ich muss jetzt auch Schluss machen.«

»Ja, klar. Also dann, viel Spaß. Ach so, wie lange bleibt ihr denn im ›Seesteg‹?«

Ich schluckte trocken. »Ines hat ja zwei Wochen Urlaub. Ich komme dann mit ihr zurück.«

Hoffentlich, dachte ich inbrünstig und klopfte dreimal auf meinen Holztisch.

 

Nachdem ich ein letztes Mal erfolglos versucht hatte, Johann zu erreichen, packte ich mein Auto und machte mich auf den Weg zu meiner Schwester.

»Ist es schon so spät?« Erschrocken sah Ines auf die Uhr, als ich ihre Wohnung betrat. »Tatsächlich. Ich bin noch gar nicht ganz fertig.«

Das war nichts Neues, das hatte sogar eine beruhigende Tradition. Die Welt ging unter, aber meine Schwester kam trotzdem zu spät. Als sie noch zur Schule ging, fuhr meine Mutter das Kind durchschnittlich dreimal in der Woche mit dem Auto zum Unterricht, so oft verpasste Ines nämlich den Bus. Meine Mutter trug bei diesen Fahrten immer einen verschossenen gelben Bademantel, der ihr etwas zu klein war. Erst nach einer sehr peinlichen Polizeikontrolle wurden diese Privatfahrten eingeschränkt und Ines morgens auch schon mal angebrüllt. Geholfen hatte es nichts.

»Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass du schon fertig bist.« Ich stieg über ihre Tasche, die mitten im Flur stand, und ging in die Küche. »Beeile dich, die Fähre wartet nicht auf uns. Hast du noch einen Kaffee?«

»In der Kanne«, antwortete sie und verschwand in ihrem Schlafzimmer.

Während ich den Kaffee trank, ihre Spülmaschine ausräumte, den Tisch abwischte und das ›Hamburger Abendblatt‹ von vorn bis hinten las, packte sie ihre Sachen zusammen und stand wieder vor mir.

»So, fertig. Ging doch ruck, zuck. Ich weiß gar nicht, warum du immer so hetzt. Hast du diesen Anwalt erreicht?«

»Ja. Erzähle ich dir dann auf der Fahrt. Wir müssen los, hast du jetzt alles?«

»Ich muss nur noch meine restlichen Lebensmittel einpacken, das wird ja alles schlecht, bis ich nach Hause komme. Wer weiß, wie lange die ganze Rettungsaktion dauert. Und das kann man doch nicht wegschmeißen.«

Ich stellte mich demonstrativ an die Haustür. Sie warf mir nur einen kurzen Blick zu.

»Es hat gar keinen Zweck, mich zu hetzen, ich packe diese Sachen trotzdem noch ein.«

Während sie in der Küche mit Tupperdosen hantierte, ging ich schon mal mit ihrer Tasche zum Auto.

 

 

 

Bis zu den Elbbrücken war Ines damit beschäftigt, sich auf der Straßenkarte den Verlauf der Strecke anzusehen. Mein Navigationssystem war zwar praktisch, aber abhängig sein wollte sie davon nicht.

»So.« Zufrieden und sehr exakt faltete sie die Karte wieder zusammen und schob sie ins Handschuhfach. »Jetzt erzähl mal.«

Nach einem Blick in den Seitenspiegel ordnete ich mich links ein und holte Luft.

»Als Erstes habe ich diesen Rechtsanwalt angerufen. Ich habe ihm von Marleens Anruf erzählt und damit gerechnet, dass er währenddessen vom Stuhl fällt. Ist er aber nicht, er blieb ganz cool. Er hat selbst mit dem Auswärtigen Amt telefoniert und mich dann zurückgerufen. Marleen und Björn müssen erst mal dableiben und haben von der Botschaft einen Anwalt gestellt bekommen. Das ist jemand aus Dubai, der Deutsch spricht. Sie können sich aber zusätzlich einen hiesigen Anwalt suchen, der mit dem aus Dubai Kontakt aufnimmt. Das macht nun dieser Herr Kühlke. Er hält mich auf dem Laufenden.«

»Und warum das alles? Was ist da jetzt passiert?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Für mich bleibt es nach wie vor sehr mysteriös. Aber Ralf Kühlke wirkte ganz souverän.«

»Dann wollen wir mal das Beste hoffen.« Ines klappte die Sichtblende runter und starrte sich im Spiegel an. »Hat er eine Ahnung, wie lange der Zirkus dauert?«

Ich schluckte trocken. »Ich habe ihn nicht gefragt.«

Mir wurde ein bisschen übel, und ich zwang mich, positiv zu denken. In ein paar Tagen würde bestimmt alles vorbei sein. Kühlke war ein guter Anwalt, und es handelte sich doch sowieso nur um ein riesengroßes Missverständnis.

Bis zum Bremer Kreuz unterbrachen nur das Radioprogramm und das Rascheln einer Lakritztüte die Stille. Dann knüllte Ines die leere Tüte zusammen und sagte, mit einem Blick auf mich: »Du hast eine ganz tiefe Zornesfalte über der Nase.«

»Danke.«

»Mach doch mal die Stirn glatt.«

»Ich mache mir Sorgen.«

Ines warf die zerknüllte Tüte hinter sich auf die Sitzbank. »Das hilft uns auch nicht weiter. Du denkst zu viel. Wir können sowieso nichts tun, außer die Pension zu schmeißen und zu hoffen, dass Menschen, die sich mit so was auskennen, alles tun, was möglich ist. Also entspann dich. Das sieht furchtbar aus mit dieser Falte.«

Manchmal ging Ines mir wahnsinnig auf die Nerven. »Vor sieben Jahren, als ich so alt war wie du jetzt, hatte ich diese Falte auch noch nicht. Warte ab, bei dir kommt das noch.«

»Glaube ich nicht.« Interessiert betrachtete Ines sich erneut im Spiegel. »Da ist alles glatt. Ich bin ja auch entspannt.« Sie klopfte leicht mit dem Zeigefinger um ihre Augen herum. »Noch nicht mal Ansätze. Das hat was mit der Lebenseinstellung zu tun. Ich sag’s doch: Du denkst zu viel. Bist du eigentlich nicht müde? Das war ja ziemlich spät gestern Abend.«

Ich war sogar sehr müde und wollte ihr gerade antworten, dass sie mich gern an der nächsten Raststätte ablösen könnte, als sie sich mit geschlossenen Augen an die Kopfstütze lehnte und binnen zehn Sekunden eingeschlafen war. Nur ein leises Röcheln war zu hören. Meine Schwester konnte stets und überall sehr gut schlafen.

Ich stellte das Radio leiser und ließ meine Gedanken schweifen. Vielleicht hatte Ines recht, ich sollte mir keine Sorgen um Dinge machen, die ich ohnehin im Moment nicht ändern konnte. Das raubte mir nur die Energie, die ich für unsere »Urlaubsvertretung« noch brauchen würde.

Rechts und links der Autobahn waren nur noch Felder, Kanäle und Kühe. Der Anblick beruhigte mich und gab mir trotz alledem einen Anflug von Ferienstimmung. Der Himmel war blau, nur ein paar kleine Wolken verteilten sich harmlos. Während Ines beim Luftholen sanft mit den Lippen blies, überkamen mich die Erinnerungen an den vergangenen Sommer.

 

Marleen hatte die Pension ihrer Tante Theda übernommen, die ihren Ruhestand lieber auf dem Festland verbringen wollte. Die Pension hatte zehn Zimmer und eine angrenzende Kneipe, die Marleen letztes Jahr komplett renoviert hatte. Meine Freundin Dorothea und ich hatten Urlaub genommen, um zu helfen. Wir mussten aber kurzfristig meinen Vater mitnehmen, weil meine Mutter im Krankenhaus war. Dass es mühsam würde, hatte ich mir schon gedacht, was dann aber alles passierte, das hätte sich zuvor niemand ausmalen können. Es war sehr anstrengend. Mein Vater hatte in kürzester Zeit Kontakte geknüpft und betrachtete sich, unterstützt von seinem alten Norderneyer Freund Kalli, als der wahre Organisator der Renovierung. Im Zuge dessen ging relativ viel schief. Allein der Tatsache, dass Marleen und ich uns über zwanzig Jahre kannten, war es zu verdanken, dass sie überhaupt noch mit mir sprach. Wobei, im Moment … Aber ich wollte nicht mehr darüber nachdenken.

Johann war damals Gast in der Pension, so hatten wir uns kennengelernt. Vermutlich hatte er meinen Vater für geisteskrank gehalten, aber nie etwas dergleichen gesagt. Vor ein paar Monaten, im Mai, hatten Johann und ich ein paar Tage bei meinen Eltern auf Sylt verbracht. Ich hatte die naive Vorstellung, dass er meine Familie auf den zweiten Blick doch sympathisch finden würde. Es hatte wieder einige Zwischenfälle gegeben, auch dieses Mal hatte Johann sich nicht weiter zu meiner Mutter, meiner Tante Inge oder Onkel Walter geäußert. Aber er hatte komisch geguckt. Eine böse Stimme im Kopf fragte, ob es nicht doch einen Zusammenhang zwischen meinem Familienclan und Johanns Aufenthalt in Schweden geben konnte. Ich wies die Stimme an, zu schweigen, es war blanker Unsinn. Ines hatte recht, ich dachte zu viel. Ich konzentrierte mich wieder auf das Bevorstehende: die Pension.

Während der Renovierung hatte ich jeden Morgen den Frühstücksdienst gemacht. Ich versuchte, mir die täglichen Abläufe in Erinnerung zu rufen. Die Tische wurden abends gedeckt. Wir hatten mit dem Kaffee- und Teekochen begonnen, dann die Platten mit Aufschnitt und Käse, Salaten und Obst hergerichtet. Während die Eier kochten, wurden die Saftkaraffen und Brotkörbe befüllt. Ich bekam alles wieder zusammen und nickte zufrieden. Bis sich zum zweiten Mal die böse Stimme meldete und mir zuraunte, dass ich ja nur die Anordnungen von Marleen ausgeführt hätte. Und die hatte immer den Überblick gehabt. Mir fiel siedend heiß ein, dass wir sie noch nicht einmal anrufen konnten, um irgendetwas zu fragen. Sie hatte nur so ein altes Handy, für das es in Dubai bestimmt kein Netz gab. Und eine andere Telefonnummer besaß ich nicht. Noch nicht einmal für den Notfall. Ich musste Kühlke danach fragen.

 

Ines röchelte etwas lauter, was mich seltsamerweise beruhigte. Sie regte sich selten auf und hatte auch vor nichts Angst. Ich wandte den Blick von der Straße und sah sie an. In diesem Moment war ich heilfroh, dass sie jetzt hier war. Zusammen würden wir das doch hinkriegen. Als hätte sie meinen Blick gespürt, öffnete sie die Augen, rappelte sich hoch und sah sich um.

»Wo sind wir denn?« Sie gähnte mit aufgerissenem Mund, ohne die Hand davor zu legen. »Gott, was war ich müde. Wo ist eigentlich das Wasser?«

»Hinten. Unter deinem zerknüllten Müll.«

Ines drehte sich um und angelte sich die Flasche. »Ist ja nicht mehr viel drin. Kann ich austrinken, oder?«

Die Flasche war natürlich leer, bevor ich antworten konnte.

»So.« Sie wischte sich den Mund ab und drehte den Schraubverschluss wieder zu. »Da vorn ist ein Parkplatz, wenn du willst, kann ich dich ablösen, dann kannst du auch einen Moment lang die Augen zumachen.«

Als sie es ausgesprochen hatte, merkte ich erst, wie unglaublich müde ich war.

 

»Christine?«

Ich watete knietief durch Seifenschaum, der aus allen Ritzen und Ecken des Frühstücksraumes quoll, in der Hand ein Tablett mit Hotdogs und auf der Suche nach Gesa, die zu viel Waschpulver in die Maschine gekippt hatte. Ich würde sie feuern müssen, diese Studentinnen hatten einfach keine Ahnung von Buntwäsche.

»Christine!«

Irgendetwas zerrte an meinem Arm, ich hielt krampfhaft das Tablett fest. Das musste aufs Buffet. Wir hatten heute dänischen Abend.

»Christine, wach auf. Wir sind da.«

Ich zuckte zusammen und setzte mich aufrecht hin. Mein Nacken war total steif, meine Hände umklammerten den Sicherheitsgurt. Wir standen tatsächlich bereits an der Norddeicher Mole, Ines hatte den Wagen schon auf die Wartespur gefahren und schaute mich vielsagend an.

»Du schnarchst und röchelst wie eine alte Dampflok. Kein Wunder, dass Johann den Job in Schweden angenommen hat. Der will einfach mal ein paar Monate in Ruhe pennen.«

»Sehr witzig.« Gähnend schnallte ich mich ab und öffnete die Autotür. »Meinst du ernsthaft, dass du geräuschlos schläfst? Du machst sogar Bläschen aus Spucke beim Atmen. Wie eine alte Frau.« Mit steifen Gelenken stieg ich aus und streckte mich.

»Gar nicht wahr.«

Ines schloss das Auto ab, ohne mir Zeit zu lassen, meine Tasche rauszunehmen. Ich lehnte mich an den Wagen und sah ihr nach, als sie zum Fahrkartenschalter ging. Kurz darauf drehte sie um und kam zurück.

»Ich habe gar kein Geld. Auf was wartest du denn?«

Ohne den Blick von ihr abzuwenden, deutete ich ins Wageninnere.

»Du hast abgeschlossen, und meine Tasche ist da drin. Warum rennst du auch gleich so los?«

 

Es waren wenig Autos am Fähranleger. Wir hatten Anfang September, die Ferien waren fast überall vorbei, der große Ansturm auf die Insel wohl auch. Die Gäste, die jetzt kamen, wollten Ruhe, Fahrrad fahren, spazieren gehen. Die meisten ließen ihr Auto auf dem Festland.

Mit den Fahrkarten in der Tasche traten wir aus dem Schalterhäuschen und schlenderten zurück zum Auto. Ines deutete auf die Silhouette von Norderney, die klar zu erkennen war.

»Guck dir mal diese Sicht an. So ein tolles Wetter, das ist doch noch richtig Sommer. Das hätten wir nicht gehabt, wenn Marleen alles nach Vorschrift gemacht hätte.«

»Also bitte. Das finde ich überhaupt nicht komisch. Hör auf, so darüber zu reden.«

Ines grinste mich an und stieg ins Auto. »Sei nicht so empfindlich. Wir können nichts daran ändern, da müssen wir jetzt alle durch. Hinterher lachen wir drüber. Komm, es geht los.«

Kopfschüttelnd öffnete ich die Tür. Ein bisschen mitfühlender könnte meine Schwester schon mal sein. Diese brutale Lässigkeit machte mich ganz nervös.

Obwohl nicht viele Autos auf die Fähre gefahren waren, war das Schiff voll. Die meisten der Fahrgäste saßen so wie wir auf dem Oberdeck. Ines hielt ihr Gesicht in die Sonne und lächelte. Plötzlich wurde sie ernst und wandte sich zu mir.

»Sag mal, wo schlafen wir eigentlich? In der Pension? Ich denke, die ist ausgebucht.«

»In Marleens Wohnung. Gesa hat den Schlüssel.«

 

Nachdem Ines gestern Abend gegangen war, hatte ich Gesa angerufen. Ganz unverbindlich hatte ich gesagt, dass ich am nächsten Abend mit meiner Schwester käme, Marleen hätte das ja bestimmt erwähnt, ich würde nur sicherheitshalber noch mal anrufen. Ich hatte meine Zehen regelrecht in den Schuhen verkrampft und inständig gebetet, dass sie jetzt keine Fragen stellen würde, deren Antworten ich mir noch nicht überlegt hatte. Aber Gesa freute sich nur über meinen Anruf.

»Das wusste ich nicht, Marleen wird wohl Adelheid Bescheid gegeben haben. Schön, dass ihr kommt. Seid ihr denn mit Marleen auf einer Fähre?«

»Du, ähm, Marleen kommt später. Wir helfen euch in der Pension. Ich erzähl dann mal in Ruhe …«

»Ehrlich? Du hilfst hier wieder? Wie im letzten Sommer? Das ist ja toll, das war alles so lustig, da war mal richtig was los. Kommt Heinz denn auch?« Sie lachte laut. »Das wäre doch wunderbar. Unser Dreamteam.«

Ich klopfte dreimal aufs Holz. »Nein, nein, nur Ines und ich. Wie kommen wir denn rein? Sollen wir den Schlüssel von Marleens Wohnung aus der Pension holen?«

»Ja, das ist am besten. Ich bin den ganzen Nachmittag hier und putze, Adelheid hat frei. Da freue ich mich aber. Dann bis später, tschüss.«

 

Ich wandte mich wieder meiner Schwester zu. »Gesa weiß bestimmt auch nichts davon, dass Marleen mit Björn im Urlaub ist. Marleen stellt sich so mit ihrem Privatleben an. Das muss alles hieb- und stichfest sein, bevor sie etwas öffentlich macht. Außerdem ist Björn noch verheiratet und lässt sich erst im Oktober scheiden.«

Ines sah mich überrascht an. »Sie ist seit über einem halben Jahr mit ihm zusammen. Du hast doch erzählt, dass er seit zwei Jahren in Trennung lebt. Und Marleen ist über fünfzig. Das ist doch Kinderkram, diese Geheimnistuerei.«

»Mag sein«, antwortete ich und griff nach ihrem Handgelenk, »aber denk dran, genau damit machen wir jetzt weiter. Nicht dass du dich verplapperst, sonst drehe ich dir deinen faltenfreien Hals um. Und jetzt will ich Kaffee trinken. Kommst du mit runter?«

Sie nickte ergeben und folgte mir in den Salon.

 

 

 

Nur wenige Tische waren besetzt, wir setzten uns ans Fenster und warteten auf die Bedienung. Als sie kam, bestellte ich mir einen Milchkaffee. Ines überflog die Karte.

»Du fährst doch das Auto zur Pension, oder? Dann nehme ich ein Bier.«

Ich schüttelte in Großer-Schwester-Manier den Kopf. »Es ist vier Uhr nachmittags. Ist das nicht ein bisschen zu früh, um Alkohol zu trinken?«

»Ferien. Blauer Himmel. Nordsee. Norderney.« Ines hob die Augenbrauen. »Alles Gründe für ein frühes Bier. Du wirst immer spießiger. Bestell dir mal einen Sekt, dann geht auch deine Zornesfalte weg.«

»Und wer fährt das Auto?«

»Christine.« Ines stöhnte und sah aufs Wasser. »Wenn du so weitermachst, sage ich bald ›Mama‹ zu dir. Sei locker!«

Eigentlich war es mir völlig egal, wann und wie viel Bier meine Schwester trank. Aber das musste ich ihr ja nicht sagen. Während wir auf unsere Getränke warteten, zog Ines einen Kugelschreiber und einen Block aus ihrer Tasche. Sie legte ihn vor sich hin, drehte am Stift und sah mich auffordernd an.

»Lass uns mal eine Liste machen, wie und mit wem wir die Sache organisieren.«

Verblüfft starrte ich sie an. »Ich denke, du findest Listen albern?«

»Habe ich das mal gesagt?« Achselzuckend wandte sie sich dem Block zu. »Ich mache oft Listen, das hilft beim Denken.«

Zweifelsohne hatten wir dieselben Gene. Sie teilte das Blatt in vier Spalten auf: Zimmer – Rezeption – Küche – Kneipe. Mit der Kante der laminierten Speisekarte zog sie gerade Linien.

»Also, nun denk mal mit. Wer macht wann was?«

Alarmiert las ich eines der Worte und erkannte schlagartig unser größtes Problem. Ines deutete meinen Gesichtsausdruck falsch.

»Wir müssen doch nur gucken, was Marleen sonst immer macht. Wahrscheinlich die Rezeption, oder? Das ist für mich kein Problem, ich bin Pflegedienstleitung, ob ich nun Dienstpläne schreibe oder Zimmerbelegungen, das dürfte nicht die Welt sein. Gibt es für die Kneipe nicht sowieso festes Personal?«

Ich starrte immer noch auf das eine Wort, antwortete aber automatisch, wenn auch unkonzentriert.

»Die Kneipe ist eine Bar. Marleen ist nur ab und zu da. Es gibt einen Geschäftsführer. Seinen Namen habe ich vergessen.«

Ines hob kurz den Kopf und starrte mich an. »Das fällt dir hoffentlich noch ein. Weiter im Text. Die Zimmer macht Gesa, stimmt das?«

»In den Ferien. Sonst Adelheid.«

»Adelheid? Ich denke, die kocht.«

Jetzt schien meine Schwester auch etwas zu ahnen. Ihr Blick wurde unsicher. Ich musste mich räuspern.

»Nein, Ines, die kocht nicht, die putzt, macht Betten, kümmert sich um allen möglichen Kram, aber die Küche macht sie nicht. Die Küche ist Marleens Einsatzgebiet.«

»Marleen kocht?« Ines ließ den Kugelschreiber langsam sinken. »Jeden Tag?«

Wir sahen uns lange an. Meine Schwester und ich haben viele Talente und sind auch durchaus in der Lage, einiges zu bewerkstelligen. Eines der Dinge, für die uns beiden jegliche Begabung fehlte, war das Kochen. Es gab drei Standardgerichte, die für jeden Geburtstag herhalten mussten, danach war Schluss. Das war kein Geheimnis. Unsere Freunde gingen gutmütig und locker damit um, nur: Sie aßen zu Hause, bevor sie uns besuchten.

Aber nun hatten wir ein Problem. Ich hielt dem Blick meiner Schwester stand.

»Marleen vermietet mit Halbpension. Es gibt jeden Abend drei Gänge.«

Ines legte den Kopf in den Nacken und lachte.

In dem Moment entlud sich alles: die ganze Situation, unsere Unsicherheit, wie die nächsten Tage verlaufen würden, die kurze Nacht, die lange Fahrt. Wir steigerten uns in ein Lachkrampf-Duett hinein, das nur von ausgestoßenen Satzfragmenten wie »Miracoli«, »Rollmops mit Brot« oder »Zwieback mit Milch« unterbrochen wurde. Mir taten die Rippen weh, meine Schwester war tränenüberströmt, und die anderen Fahrgäste sahen uns irritiert an. Plötzlich stand die Bedienung vor unserem Tisch und stellte zwei Schnapsgläser vor uns ab.

»Von dem Herrn da hinten. Prost.«

Ich griff nach dem Glas und überlegte, ob ich tatsächlich am helllichten Tage von fremden Herren harte Getränke annehmen sollte, bis ich sah, wer der edle Spender war. Ines schaute sich suchend um.

»Von wem …?«

»Trink aus!« Der Schock ließ mich schlagartig ernst werden. »Jetzt müssen wir lügen!«

Bevor sie irgendetwas verstehen konnte, war es schon zu spät. Gisbert von Meyers Fistelstimme schwang sich zu ungeahnten Höhen auf.

»Was für eine Überraschung. Meine liebe Christine, wir haben uns ja lange nicht gesehen, ach, welche Freude. Schon heute Morgen beim Aufwachen habe ich gespürt, dass dies mein Glückstag wird. Darf ich mich setzen?«

Er wartete die Antwort gar nicht ab, sondern warf sich mit begeistertem Blick neben mich auf die Bank. Sein Hals war von blassroten Flecken übersät, sein dünnes rotes Haar lag eng am Kopf, bis auf eine Strähne, die senkrecht hochstand und sich bei jeder seiner Kopfbewegungen sanft nach links, rechts, vorn und zurück neigte. Er trug eine karierte Bundfaltenhose, ein weißes, kurzärmeliges Hemd und einen gelben Pullunder. Dasselbe Gelb wie die Frotteeschweißbänder um seine Handgelenke. Ines starrte ihn ungläubig an, vermutlich hatte ich im letzten Sommer genauso geguckt, als ich ihn das erste Mal getroffen hatte. Aber irgendwann gewöhnte man sich dann an seinen Anblick. Es blieb einem auch nichts anderes übrig.

»Ines, darf ich vorstellen: Gisbert von Meyer, Reporter bei der ›Norderneyer Inselzeitung‹, Gisbert, das ist meine Schwester Ines.«

»Oh, sehr erfreut. Langsam kenne ich die ganze Familie, wie ist das schön. Ich habe mich ja im letzten Sommer sehr gut mit Ihrem Vater angefreundet, ach, wir hatten eine so gute Zeit. Darf ich ›du‹ sagen?« Ines schluckte stumm, Gisbert freute sich. »Dann haben wir das auch, ich heiße Gisbert, ohne Abkürzung bitte, aber das hat Christine ja schon erwähnt. Und? Ihr habt so gelacht? Freut ihr euch so auf ein paar Tage Ferien? Wie lange bleibt ihr denn? Sag mal, Christine«, suchend sah er sich um, »ist dein Freund, wie heißt er noch … Jakob? … Jan?«

Als ob dieser Blödmann den Namen vergessen könnte, er hatte Johann tagelang als mutmaßlichen Heiratsschwindler verfolgt und dabei sowohl sich als auch meinen Vater zum Affen gemacht.

»Johann, er heißt Johann. Ich dachte, du hast als Reporter so ein gutes Gedächtnis?«

Gisbert strahlte mich unbekümmert an. »Schon, aber solche Allerweltsnamen? Na ja. Aber wo ist er denn? Oder seid ihr nicht mehr zusammen?« Er rutschte mir noch dichter auf die Pelle, seine Augen glänzten. »Ich fand damals schon, dass ihr überhaupt nicht zusammenpasst. Aber du wolltest ja nicht auf mich hören.«

Diese Indiskretion war meiner Schwester sichtlich zu viel. »Johann kommt nach«, sagte sie etwas schnippisch, »darauf freuen wir uns auch. Und Sie, ähm, du bist hier Reporter?«

»Ja«, Gisbert schraubte seine schmächtige Figur so hoch es nur ging, »wobei mir der Begriff ›Journalist‹ lieber ist.«

Ich fand sein Lächeln genauso schmierig wie im letzten Jahr. Und ich stellte erstaunt fest, dass er einen Bauch bekommen hatte, Beinchen wie Streichhölzer, aber einen Bauch. Zu viele Feierabendbierchen, vermutete ich, oder zu viel Softeis.

»Und außerdem«, fuhr er fort, »bin ich auf dem Weg, freier Schriftsteller zu werden. Ich arbeite gerade an meinem ersten Roman.«

»Ach was.« Das Interesse meiner Schwester hielt sich in Grenzen. Enttäuscht wandte sich der Jungautor mir zu. »Es wird ein Enthüllungsroman.«

»Oh.« Höflich suchte ich nach einer geeigneten Antwort. »Das ist ja sehr interessant. Was enthüllst du denn?«

Er beschrieb mit seinen kleinen Händen einen großen Kreis. »Alles. Die Insel, die Menschen, die Gäste. Das wird Furore machen, das wird ein Bestseller.«

Bei der Vorstellung, was Gisbert von Meyer machen würde, wenn er herausbekäme, was mit Marleen passiert war, wurde mir ganz übel. Ich fixierte Ines mit dem schärfsten Blick, den ich draufhatte, sie reagierte überhaupt nicht. Stattdessen fragte sie Gisbert: »Und wie weit bist du schon?«

»Ich stecke mitten im Schaffensprozess. Ich komme gerade aus Hamburg, wo ich Gespräche mit Verlagen geführt habe. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Und ihr? Ihr wohnt ja bestimmt bei Marleen. Ich dachte, sie wäre noch im Urlaub?«

»Da bleibt sie auch noch.« Die Antwort meiner Schwester verursachte bei mir einen Schweißausbruch. »Christine arbeitet zwei Wochen lang für sie. Oder vielleicht auch noch länger.«

Mit offenem Mund starrte ich sie an und fragte mich, ob sie verrückt geworden war.

Gisbert konnte wenigstens reden. »Warum das denn?« Er erwartete eine Antwort von mir, ich hatte aber keine. Was war bloß in Ines gefahren? Die lehnte sich ganz entspannt zurück und antwortete: »Ihr seid quasi Kollegen. Christine arbeitet ja wieder bei einer Frauenzeitschrift.«

So konnte man das auch nennen, ich schrieb eine Kolumne pro Monat. Für einen Hungerlohn.

»Und die haben jetzt eine Serie gestartet, in der sie Frauen porträtieren, die etwas Außergewöhnliches geschafft haben.«

Oh ja, das hatte Marleen in Dubai hingekriegt.

»Und da Marleen die Bar ja so toll renoviert hat und ganz allein die Pension schmeißt, hat Christine sich überlegt, das erste Porträt über Marleen zu schreiben.«

»Eine sehr gute Idee.« Gisbert trommelte mit den Zeigefingern auf die Tischplatte.

Ines runzelte die Stirn, er faltete sofort die Hände. »Jedenfalls will die Redaktion, dass alles ganz authentisch ist. Und deswegen soll Christine jetzt mal Marleens Job machen, damit sie weiß, wie anstrengend das ist.«

Nicht einmal Gisbert von Meyer würde diesen Schwachsinn glauben.

Mit feurigem Blick sah er mich an. »Wir sind tatsächlich Kollegen? Also, wenn du irgendwelche Hilfe brauchst, beim Formulieren oder in der Rechtschreibung, auch bei allem anderen, ich helfe dir jederzeit. Ich bin ja sehr erfahren. Auch nachts. Ich schreibe am liebsten nachts. Das ist toll. Und Marleen kommt dann erst wieder, wenn du alles recherchiert hast?«

»Ich …«

Hilflos sah ich Ines an, diese Geschichte war dermaßen idiotisch, dass mir gar nichts dazu einfiel.

»Genau«, sprang meine Schwester ein, »die Redaktion hat sogar die Verlängerung des Urlaubs bezahlt. Christine darf nur keinem erzählen, warum sie da arbeitet. Sie soll so tun, als wäre es ein Ernstfall.«

Theatralisch presste Gisbert seine Hand aufs Herz. »Ich schweige. Ihr habt mich im Boot. Tolle Geschichte. Tolles Thema. Tolle Idee.«

Die Durchsage, dass die Autofahrer jetzt zu ihren Fahrzeugen gehen sollten, rettete mich vorerst.

»Wir müssen hoch«, sagte ich entschlossen und schob Gisbert zur Seite, »wir sehen uns ja bestimmt. Tschüss.«

Ines reichte ihm sogar noch die Hand. Als sie zu mir aufgeschlossen hatte, gab sie mir einen leichten Klaps auf die Schulter.

»Toller Typ.«

»Du bist nicht ganz dicht«, erwiderte ich, »so eine bescheuerte Geschichte zu erzählen. Da stimmt ja vorne und hinten nichts.«