Kickl - Gernot Bauer - E-Book

Kickl E-Book

Gernot Bauer

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Beschreibung

Fast drei Jahrzehnte war Herbert Kickl der Mann im Schatten: derjenige, der für Jörg Haider die Reden schrieb; derjenige, dessen (heftig umstrittene) Slogans Heinz-Christian Strache zum Vizekanzler der Republik Österreich machten; der einzige Minister seit 1945, der aus seinem Amt entlassen wurde.
Einst standen Kickls rhetorische Radikalität, die scharfe Argumentation und Agitation seiner Karriere im Weg, jetzt entsprechen diese Eigenschaften einem Zeitgeist, der die liberale Demokratie nicht nur in Österreich, sondern im Verbund mit Alice Weidel, Viktor Orbán, Marine Le Pen und anderen Rechtspopulisten auch in ganz Europa abschaffen will.
Gernot Bauer und Robert Treichler haben sich auf Spurensuche begeben und liefern eine neue Sicht auf einen asketischen Ideologen, einen wankelmütigen Volkstribun – und einen brandgefährlichen Politiker.

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Das ist das Cover des Buches »Kickl« von Gernot Bauer, Robert Treichler

Über das Buch

Fast drei Jahrzehnte war Herbert Kickl der Mann im Schatten: derjenige, der für Jörg Haider die Reden schrieb; derjenige, dessen (heftig umstrittene) Slogans Heinz-Christian Strache zum Vizekanzler der Republik Österreich machten; der einzige Minister seit 1945, der aus seinem Amt entlassen wurde.Einst standen Kickls rhetorische Radikalität, die scharfe Argumentation und Agitation seiner Karriere im Weg, jetzt entsprechen diese Eigenschaften einem Zeitgeist, der die liberale Demokratie nicht nur in Österreich, sondern im Verbund mit Alice Weidel, Viktor Orbán, Marine Le Pen und anderen Rechtspopulisten auch in ganz Europa abschaffen will.Gernot Bauer und Robert Treichler haben sich auf Spurensuche begeben und liefern eine neue Sicht auf einen asketischen Ideologen, einen wankelmütigen Volkstribun — und einen brandgefährlichen Politiker.

Gernot Bauer Robert Treichler

Kickl

und die Zerstörung Europas

Paul Zsolnay Verlag

Vorwort

Herbert Kickl hat laut Umfragen in der österreichischen Bevölkerung einen Bekanntheitsgrad von 97 Prozent, und wem er nicht spätestens im bevorstehenden Nationalratswahlkampf medial oder sogar persönlich über den Weg läuft, der sollte seine Sinnesorgane durchchecken lassen. Der Parteichef der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Spitzenkandidat und selbsternannte »Volkskanzler« war bisher 16 Jahre Nationalratsabgeordneter, eineinhalb Jahre Innenminister und somit so lange im Rampenlicht der Berichterstattung, dass alle Politikinteressierten wissen, was man über Herbert Kickl wissen muss. Sollte man meinen.

Tatsächlich ist über den Mann, der von sich behauptet, volksnaher zu sein als seine Mitbewerber, erstaunlich wenig bekannt. Seine Familiengeschichte, seine Jugend, sein Weg zur FPÖ, sein Aufstieg zum Parteichef — all das bleibt bisher weitgehend im Dunkeln. Verantwortlich dafür ist vor allem einer: Herbert Kickl. Herbert Kickl, der zwar medial allgegenwärtig scheint, aber zur sprichwörtlichen Sphinx mutiert, sobald es um Details aus seinem Leben geht. Keine einzige Homestory gibt es von ihm, sein Lebenslauf ist karg wie Haferflocken, sein Lieblingsfrühstück. Immerhin das hat er in einem Interview mit dem Radiosender Ö3 verraten. Aber sonst? Wer waren seine Eltern, seine Großeltern? Wie ist er aufgewachsen? Wie kam er zur FPÖ? Die ungewöhnlich vielen weißen Flecken im Bild von Herbert Kickl sind der Ausgangspunkt für dieses Buch. Daraus folgt dessen Ziel: die Herkunft, den Charakter und Lebenslauf des möglicherweise ersten FPÖ-Kanzlers der Republik Österreich zu ergründen und zu beschreiben.

Herbert Kickls Biografie zu schreiben, enthält ein unbestreitbares Risiko, nämlich den Vorwurf, man erhöhe dadurch die Bedeutung eines umstrittenen Politikers. Ebenso gut möglich ist es allerdings, dass einem dieselben Leute vorwerfen, man habe ihn sträflich unterschätzt, wenn man sich nicht der Mühe unterzieht, seine Geschichte vollständig zu be- und durchleuchten.

Wir haben Herbert Kickl zu Beginn unserer Recherchen kontaktiert und über unser Projekt informiert. Mehrmals haben wir ihn entweder direkt oder über seine Mitarbeiter um ein Gespräch gebeten, um ihm Fragen zu stellen. All dies hat er abgelehnt.

Gernot Bauer hat in seinem Job als innenpolitischer Redakteur des Nachrichtenmagazins profil Herbert Kickl über viele Jahre beobachtet und ihn oft interviewt, zuletzt im Juni 2023. Bauers Kenntnis der Person Kickl ist so fundiert, wie eine jahrzehntelange professionelle Beziehung zwischen einem Journalisten und einem Politiker sein kann. Nicht zuletzt daraus schöpft dieses Buch viele Details und Zusammenhänge.

Wir haben bei der Recherche mit vielen Menschen gesprochen, die Herbert Kickl begegnet sind. In seiner Kindheit in Radenthein, am Gymnasium in Spittal an der Drau, während seines Studiums und natürlich später, als er seine Parteikarriere begann und bis zum Bundesparteiobmann aufstieg. Darunter sind ehemalige Nachbarn, Lehrer, Freunde, (ehemalige) Parteifreunde und politische Gegner, Menschen, die ihn seit langem begeistert unterstützen, und andere, die von ihm enttäuscht sind. Nicht alle wollten namentlich genannt werden, was wir selbstverständlich respektieren.

Diese Biografie hat die Besonderheit, dass sie sich an einem Punkt von der Person, die sie zeichnet, scheinbar entfernt. Dies dient dem besseren Verständnis des Porträtierten, denn Herbert Kickl hat zwar wie jeder Mensch eine individuelle Geschichte, als Politiker ist er jedoch Teil einer Bewegung, die überall in Europa — und darüber hinaus — die politische Landschaft verändert. Man nennt sie den Rechtspopulismus, einen Begriff, den Kickl für sich ablehnt, der jedoch sowohl in der Politikwissenschaft als auch im weiteren Sprachgebrauch verwendet und verstanden wird. Robert Treichler verfolgt als außenpolitischer Redakteur des profil seit langem den Aufstieg der europäischen Rechtspopulisten. Er hat ihre Parteitage besucht, Wahlkämpfe verfolgt, unter anderem Marine Le Pen (Rassemblement National), Geert Wilders (Partei für die Freiheit) und Ungarns Außenminister Péter Szijjártó interviewt und vor allem mit vielen Anhängerinnen und Anhängern rechtspopulistischer Parteien intensive Gespräche geführt. Auch wenn Kickl ein österreichischer Politiker ist, zumal ein dezidiert nationaler, so ist seine politische Bedeutung nur zu erfassen, wenn man seinen Aufstieg im Zusammenhang mit Gleichgesinnten beschreibt, die sehr ähnliche Wege gehen: Alice Weidel, Marine Le Pen, Matteo Salvini, Geert Wilders, Viktor Orbán und etliche mehr. Was sie vereint, ist ihr gemeinsames Ziel: Sie alle wollen Europa von Grund auf verändern.

Lesen Sie dieses Buch, und Sie werden Dinge über Herbert Kickl erfahren, die Sie bisher nicht wussten, und vielleicht auch Zusammenhänge sehen, die Ihnen noch nicht klar waren. Eine Politikerbiografie enthält unweigerlich auch Wertungen und ist deshalb auch ein politisches Buch. Das vorliegende fügt sich nicht in die Reihe der bereits vorhandenen aktivistischen Publikationen, im Vordergrund steht das Bemühen, Herbert Kickl als Person und als Politiker fassbar zu machen.

Wir haben gute Gründe, uns bei vielen Menschen zu bedanken, ohne die wir dieses Buch nicht hätten schreiben können: bei allen, die bereit waren, mit uns über Herbert Kickl zu sprechen. Um dessen Familiengeschichte zu dokumentieren, konsultierten wir Archive in Österreich und Deutschland, auch für deren Arbeit bedanken wir uns. Wichtige Hinweise gab uns Michael Eisenriegler in seiner Eigenschaft als Ahnenforscher (genealogie.mediaclan.at). Selbstverständlich haben wir bei der Recherche auf Informationen zurückgegriffen, die bereits in Texten und Beiträgen von Kolleginnen und Kollegen vorlagen. Besonders hervorheben wollen wir die Arbeiten von unserer profil-Kollegin Christa Zöchling und von Nina Horaczek vom Falter. Sehr hilfreich war auch Martin Kowatsch, Autor des Buches »Radenthein — Arbeiterleben und Wirtschaftswandel — zur Entstehung eines Weltkonzerns«.

Schließlich gilt unser Dank dem Zsolnay Verlag und besonders dessen Leiter Herbert Ohrlinger, der sich, ohne zu zögern, auf unser Projekt einließ, und der uns zudem mit seiner Expertise als Lektor zur Seite stand.

Gernot Bauer und Robert Treichler

Wien, im Februar 2024

Einleitung

Der 6. März 2021 ist ein kalter, klarer Spätwintertag. Die Sonne scheint bereits in der Früh, aber die Temperatur erreicht in Wien bis Mittag gerade sechs Grad. Doch ist die Stimmung in der Stadt an jenem Samstag fiebrig und politisch aufgeheizt. Der Ursprung des eskalierenden Konflikts ist die Covid-19-Pandemie. Über Monate hat sich eine Bewegung gebildet, die alle Maßnahmen kategorisch ablehnt, die von der Bundesregierung zur Eindämmung der Infektionszahlen getroffen werden. Esoteriker, Impfskeptiker, Verfechter der Alternativmedizin, Anhänger von Verschwörungsmythen, anarchistische Hippies und vor allem viele Regierungsgegner aus dem rechten Lager — bis hin zu Rechtsextremen — haben sich zu einer seltsamen, explosiven Menge zusammengefunden.

Ein Mann spürt von Anfang an, dass ihm diese Bewegung nützen wird, und er schürt ihre Aufgebrachtheit, wo immer er kann: Herbert Kickl, zu diesem Zeitpunkt Klubobmann der FPÖ. An diesem Samstag wird er dabei sein, ja mehr als das. Der 6. März 2021 wird für Kickl zu einem Triumph, der ihm bewusst macht: Ich bin mehr als der Antreiber, der Schlagwortlieferant — ich bin selbst die Nummer eins. Es ist ein folgenschwerer Moment in Kickls politischer Karriere, es ist ein schicksalhafter Moment für Österreich, womöglich für Europa.

Nicht weniger als 34 Demonstrationen sind in Wien angemeldet worden. Darunter solche, deren Forderungen geringes Echo finden würden, wie etwa »Österreich braucht Jesus« und »Für die Entschleunigung für Mutter Erde und für Menschenwürde als Grundrecht«. Die meisten jedoch vereint dasselbe Thema: die Maßnahmen der Regierung gegen die Covid-19-Pandemie. »Corona-Wahnsinn«, »Gegen Corona Diktatur«, »Corona und seine Folgen!«, »Wirtschaftliche Folgen durch Corona«, »Spaziergang für die Freiheit«, »Für die Freiheit« und »Schluss mit experimentellen GenImpfungen und unverhältnismäßigen Maßnahmen!« lauten ihre Slogans. Sie alle wurden behördlich untersagt, da die Behörden davon ausgehen, dass während dieser Kundgebungen die Schutzmaßnahmen gegen Covid-19-Infektionen missachtet würden. Zur Erinnerung: Zu diesem Zeitpunkt muss auch im Freien eine FFP-2-Maske getragen und zu anderen Personen ein Mindestabstand von zwei Metern eingehalten werden.

Dass Demonstrationen wegen des Verbots abgesagt werden, glaubt niemand, am wenigsten die Exekutive selbst. Insgesamt 1521 Polizistinnen und Polizisten, darunter Beamte der Sondereinheit WEGA, werden einberufen, um, in den Worten des damaligen Innenministers Karl Nehammer, »eine Eskalation im Sinne einer Gefahr für Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit« zu verhindern.

Tausende Teilnehmer strömen bereits am Vormittag an die Orte der untersagten Kundgebungen, darunter Mitglieder der Identitären Bewegung, Anhänger der »Reichsbürger« und amtsbekannte Rechtsextreme wie Gottfried Küssel. Die Polizei versucht, die schließlich 20.000 Menschen durch die Stadt zu lotsen und Ausschreitungen zu verhindern — aufhalten können sie die Märsche nicht.

Am späten Nachmittag ziehen die Demonstranten auf einer nicht angemeldeten Route vom Maria-Theresien-Platz an der Wiener Ringstraße bis in den Prater. Auf der Jesuitenwiese ist eine Bühne mit Lautsprecheranlage aufgebaut. »Für unser Österreich — Freiheit, Demokratie, Grundrechte« ist auf dem rot-weiß-roten Transparent im Hintergrund zu lesen. Österreich-Fahnen werden geschwenkt, auch eine deutsche und eine israelische Flagge, Transparente fordern »Kurz muss weg«. Die Sonne steht tief, die Demonstranten warten auf den Höhepunkt des Tages: Herbert Kickl tritt vor das Mikrofon. Er trägt eine blaue Sportjacke mit türkiser Kapuze, legt sein Manuskript auf das Rednerpult und lässt den Blick über die Menge gleiten. Es ist nicht seine erste Rede an diesem Tag, schon am Heldenplatz hat er gesprochen, aber jetzt ist er beeindruckt. »Liebe Freunde der Freiheit!«, beginnt er. »Es gehört schon einiges dazu, dass es mir die Sprache verschlägt, aber heute bin ich knapp davor angesichts der Menschenmassen, die hier zusammenstehen, um für unsere Freiheit und Demokratie einzutreten!« Freudenbekundungen gehören nicht zum rhetorischen Standard-Repertoire des freiheitlichen Klubobmanns. Er gibt fast immer den Scharfmacher, attackiert, haut hin, provoziert. Kickl ist der Meister zorniger Formulierungen. Jetzt aber ist er vom Zuspruch überwältigt und zeigt es auch. Am Weg in den Prater habe er viele tolle Slogans gesehen, sagt er und ruft einen davon in die Menge: »Kurz wegkickln«, und im Kärntner Dialekt fügt Kickl hinzu: »Des gfollt ma guat!« Die Leute jubeln.

Kickl ist der Star. Vierzig Minuten lang wird er die Menge einschwören auf den »Sieg« und die »Rückgewinnung unserer Freiheit«. Er zieht Parallelen zu »denjenigen, die vor uns für die Freiheit gekämpft haben und dafür Verfolgung in Kauf genommen haben«. Es ist nicht klar, wen er damit meint. Kickl liebt es, seine ideologischen Positionen mit Geschichte aufzuladen. Und mit Bedeutungsschwere: »Wir lösen ihnen gegenüber eine Schuld ein!«

Rasch ist die positive Ouvertüre verklungen, und die Menge der Wütenden bekommt, was sie nährt: Schmähungen des »Systems, das gegen uns ankämpft«, und Verachtung für »die da oben, die uns beherrschen wollen, egal ob in Berlin, ob in Paris oder sonst wo auf dieser Welt«.

Applaus, Jubel, Parolen. Kickl skandiert mit: »Kurz — muss — weg! Kurz — muss — weg!« Bundeskanzler Sebastian Kurz steht hier für das System, für Die-da-oben und für alle Anti-Covid-19-Maßnahmen sowieso.

Kickls Rede besteht nicht bloß aus aneinandergereihten Phrasen. Gewissenhaft hat er sich auf diesen Auftritt vorbereitet. Mit einem kurzen Ausflug in die Philosophie leitet er den Begriff der Freiheit her und zitiert aus Jean-Jacques Rousseaus »Gesellschaftsvertrag«: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.« Dieser Satz habe sich während seiner Studienzeit »bis ins Mark eingebrannt«, sagt Kickl, der sein abgebrochenes Philosophie-Studium noch einmal strapaziert und sich und der Menge (annäherungsweise) in Kants Worten bescheinigt: »Wir haben Mut, unseren eigenen Verstand zu benutzen.« Gemeint ist im konkreten Fall allerdings recht profan: anstatt auf die Ratschläge der Epidemiologen zu hören.

Vierzig Minuten Aufmerksamkeit, vierzig Minuten Applaus. Dem drahtigen Mann am Mikrofon tost die Verehrung der Masse entgegen. Am Ende liest er ein selbst verfasstes, fünfstrophiges Gedicht vor, in dem er »nicht alle beugen ihr Haupt« auf »statt leise sind wir laut« reimt; sogar dafür gibt es Beifall.

Die Position im Mittelpunkt ist eigentlich nicht diejenige, die Herbert Kickl für sich beansprucht. Er gibt wenig von sich und seiner Herkunft preis, lediglich, dass er aus »kleinen Verhältnissen« stammt. Von da schaffte er es dank seiner intellektuellen Begabung, besonders seines sprachlichen Talents, in die Politik. Doch Kickls Aufstieg endete stets auf Platz zwei. Er war der Mann hinter FPÖ-Chef Jörg Haider, dessen Reden er schrieb; dann hinter dessen Nachfolger Heinz-Christian Strache, jetzt wieder hinter dessen Nachfolger Norbert Hofer. Mehr als ein Vierteljahrhundert im Schatten des jeweiligen Anführers zu stehen, kann zermürben. »Herbert, Herbert, Herbert«, skandiert die Menge in der Abendsonne im Prater. Parteichef Norbert Hofer ist nirgendwo, weder ist er hier präsent noch in der erbittert geführten Debatte. Hofer verweigert die Scharfmacherei gegen die Covid-19-Maßnahmen und lässt sich sogar impfen.

Die gedankliche Radikalität, seine scharfe Argumentationsweise und auch sein politisches Handeln standen Kickl lange im Weg. Jetzt aber entspricht diese Radikalität dem Zeitgeist, vor allem wenn sie politisch rechts beheimatet ist. Nicht nur in Österreich. Europa hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine enorme politische Umwälzung erfahren. Als die FPÖ unter Kickls Ziehvater Haider im Jahr 2000 als Koalitionspartner der christlich-sozialen ÖVP in die Regierung eintrat, empfand die politische Klasse in Europa dies als Tabubruch. Heute tragen rechtspopulistische Parteien in mehreren Staaten der Europäischen Union Regierungsverantwortung, und es gibt kaum ein Land, in dem sie bei Wahlen nicht auf den vorderen Plätzen liegen.

Hinter diesen Wahlergebnissen steckt eine Werteverschiebung nach rechts, eine politische Kulturrevolution, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu spüren ist. Kickl hat diese Entwicklung mitgestaltet, er ist ein Teil von ihr. Er prägt die FPÖ zwar in einem anderen Stil als Marine Le Pen, Matteo Salvini, Alice Weidel und andere Parteichefs ihre jeweilige rechtspopulistische Formation. Aber gemeinsam bilden sie eine politische Macht, deren Aufstieg in Europa anhält.

Mit ihr wächst der Rechtsextremismus vom Randphänomen zu einer beunruhigenden politischen Größe. Alle rechtspopulistischen Parteien haben entweder Wurzeln im Rechtsextremismus, oder sie pflegen Kontakte zu rechtsextremen Gruppierungen und Personen — oder beides. Herbert Kickl weist — wie alle Rechtspopulisten — jeglichen Extremismus von sich, Berührungsängste kennt er in dieser Richtung allerdings kaum. Das Transparent »Kurz wegkickln«, das er am 6. März 2021 von der Bühne aus lobend hervorhebt, wird von Mitgliedern der Identitären Bewegung in die Höhe gehalten. Diese Gruppe, die laut Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) »exemplarisch für den Bereich des sogenannten modernisierten Rechtsextremismus« steht, nennt Kickl eine »NGO wie Greenpeace oder Global 2000«.

Wo endet bei Kickl die Lust an der Provokation, und wo beginnt die gefährliche Drohung?

Nach seinem umjubelten Auftritt im Prater ist jedem — sowohl den Beobachtern als auch Kickl selbst — bewusst, dass er bald die neue Nummer eins in der FPÖ sein würde. Die Journalistin Christa Zöchling schreibt damals im Nachrichtenmagazin profil: »Er weiß um die Macht der Straße und nützt sie. Parteichef Norbert Hofer wird da nicht mehr viel tun können, auch wenn er wollte.« Drei Monate später gibt Hofer seinen Rücktritt als FPÖ-Parteiobmann bekannt.

Seit Kickl die Partei übernommen hat, ist sie in den Umfragen vom dritten Platz auf den ersten Platz vorgestoßen, und von 17 Prozent auf knapp dreißig. Bei den Nationalratswahlen im Herbst 2024 will Kickl die FPÖ auf Platz eins führen und danach eine Regierung bilden — als »Volkskanzler«, wie er es nennt. »Wir sind das Volk«, rufen seine Anhänger auch am 6. März in den Straßen. Die Polizei zählt rund um die Demonstrationen 3183 Anzeigen und 42 Festnahmen.

Die Herbert-Kickl-Story handelt von dem am schwierigsten einzuschätzenden Kanzlerkandidaten der zweiten österreichischen Republik. Lange Zeit als politisches Leichtgewicht abgetan, löst der ehemalige Innenminister — und der erste entlassene Minister seit 1945 — bei politischen Gegnern heute schwere Besorgnis aus. Der gegenwärtige Bundeskanzler Karl Nehammer nennt ihn ein »Sicherheitsrisiko«, Bundespräsident Alexander Van der Bellen warnt vor einem »starken Mann«.

Kickl selbst macht plakative Andeutungen, etwa dass er eine »Festung Österreich« errichten wolle, und er orakelt, dass »das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht«. Niemand jedoch weiß, wie weit der »Volkskanzler« gehen würde. Wenn er sagt, dass er es »Orbán nachmachen« will, meint er damit die Migrationspolitik? Oder plant er, Österreich in einen sogenannten »illiberalen« Staat zu verwandeln, in dem Menschenrechte von Minderheiten, die Medienfreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz weitgehend abgeschafft sind? Obwohl Kickl so offensiv formuliert wie niemand sonst in der österreichischen Politik, bleiben seine konkreten Absichten im Dunkeln. Weiß sein engster Kreis über seine Vorhaben Bescheid?

Auch das Privatleben des 1968 geborenen Kärntners ist abgesehen von ein paar dürren Fakten bisher ein Mysterium. Grund für diese Leere ist nicht mangelndes Interesse an seiner Person, sondern die Tatsache, dass Kickl allen Fragen dazu ausnahmslos ausweicht. Worin gründet seine Verschlossenheit? Wer kennt den Mann wirklich, der sich volksnah geben will?

Will man etwas über Herbert Kickl in Erfahrung bringen, muss man sich auf eine mühsame Spurensuche begeben.

Hier beginnt sie.

Der Bub aus der Bergbaustadt

Herbert Kickl wächst in bescheidenen Verhältnissen in der Kärntner Provinz auf. Die Familie ist NS-belastet.

»Ich bin der Bub einer Arbeiterfamilie. Ich komme aus wirklich bescheidenen Verhältnissen. Ich bin in einer Arbeitersiedlung groß geworden.« Selten erzählt Herbert Kickl von seiner Herkunft, und Details erwähnt er auch diesmal nicht, als er beim »Heimatherbst«, dem FPÖ-Oktoberfest in der steirischen Gemeinde Hartberg, zu seinen Anhängern spricht. Er wirft in der Rede Bundeskanzler Karl Nehammer Abgehobenheit vor und präsentiert sich selbst als einen Mann, der auf dem Boden geblieben sei. »Ich habe meine Wurzeln und meine Herkunft nicht vergessen«, beteuert Kickl und fügt hinzu, dass er im Leben »sehr, sehr oft Glück« gehabt habe, denn man müsse die »richtigen Menschen und die richtigen Entscheidungen treffen«, und man brauche auch »ein bisschen Unterstützung vom Herrgott«.

Herbert Kickls Wurzeln liegen in der Kärntner Gemeinde Radenthein unweit des Millstätter Sees. Genauer: in der sogenannten Erdmannsiedlung. In der Bachstraße steht das kleine, gelb gestrichene Haus. An der Straßenseite im Erdgeschoß liegen neben der Eingangstür drei kleine Fenster, das mit Eternit-Platten gedeckte Dach ist tief heruntergezogen. Im ersten Stock befindet sich eine Dachgaube mit einem Fenster, und darüber, etwas versetzt, ein Schornstein. Klein ist das Haus, schlecht isoliert und im Inneren wegen der kleinen Fenster wohl recht dunkel. Zum Heizen dient ein Holzofen, der in der Küche steht.

Hier wächst Herbert Kickl auf, geboren am 19. Oktober 1968 in Villach. Er wohnt mit seinen Eltern, Andreas und Herta Kickl, im Erdgeschoß, in der Wohnung darüber lebt Leopoldine Lackner, seine Großmutter mütterlicherseits. Damals lautet die Adresse noch Erdmannsiedlung 79, die hübschen Straßennamen wie »Bachstraße« werden erst 2017 eingeführt. Die Familie wohnt zur Miete, Eigentümerin des Hauses ist die Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft Neue Heimat. Rechts und links stehen weitere, identische Familienhäuser, weiter unten an der Straße gehen sie in Reihenhäuser über, doch der Bauplan ist immer derselbe. Alle wohnen gleich, allerdings haben die meisten Familien damals mehrere Kinder und leben deshalb gedrängter. Herbert ist ein Einzelkind.

Noch heute nennen manche Bewohner diesen Teil der Siedlung, der den Hügel hinauf am Rand des Waldes liegt, »Kanaltaler Siedlung«. Als Kanaltaler bezeichnete man Deutschsprachige, denen vom nationalsozialistischen Deutschland im Zuge der »völkischen Flurbereinigung« die Wahl gelassen wurde, aus dem Kanaltal, das seit dem Friedensvertrag von St. Germain von 1919 zu Italien gehörte, »heim ins Reich« zu kommen. Die meisten von ihnen entschieden sich nach 1939 für diese Option, und um die »Umsiedler« zu beherbergen, baute oder erweiterte der NS-Staat in Kärnten mehrere Siedlungen. Nichts deutet darauf hin, dass Kickl selbst von Kanaltalern abstammt, wohl aber manche seiner Nachbarn.

Weitere Häuser werden gebaut, vor allem, weil wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs der Österreichisch-Amerikanischen Magnesit AG (ÖAMAG, heute: RHI Magnesita) immer mehr Arbeiter nach Radenthein ziehen. Die Siedlung bekommt offiziell den Namen Erdmannsiedlung, benannt nach Konrad Erdmann, einem Werksdirektor der ÖAMAG.

Es ist die Zeit der Patriarchen und der strengen Hierarchien. Der Generaldirektor wohnt in einer Werksvilla, Angestellte essen im Angestellten-Kasino, Arbeiter in der Werkskantine. Doch alle sind froh, einen Job bei der ÖAMAG zu haben, denn das Unternehmen bemüht sich, Leute nach Radenthein zu holen und sie hier zu halten. Die Arbeiter bekommen eine Kinderzulage, eine Wohnungszulage, sechs bezahlte Krankheitstage pro Jahr und drei freie Tage zur Gesundheitsvorsorge.

Herbert Kickl hat recht, wenn er von »wirklich bescheidenen Verhältnissen« in der Arbeitersiedlung spricht, in der er aufgewachsen ist. Doch die Familien in der Erdmannsiedlung sehen die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Die Gehälter steigen, und wer sparsam ist, kann auf Urlaub fahren, ein Auto kaufen oder sein Kind in eine höhere Schule schicken. Die Welt, in die Herbert Kickl geboren wird, ist eine optimistische, und er wird von diesem Fortschritt profitieren.

Florian Johann Kickl, Herberts Großvater väterlicherseits, wird am 4. Mai 1904 in Sittich, einer Ortschaft der Gemeinde Feldkirchen in Kärnten geboren. Er ist das uneheliche Kind von Agnes Kickl, einer Dienstmagd, und wird katholisch getauft.

Am 7. Februar 1932 heiratet er Maria Reimann, geboren am 26. August 1909 als Tochter eines landwirtschaftlichen Hilfsarbeiters. Zu diesem Zeitpunkt haben die beiden bereits einen Sohn namens Walter. Florian Kickl ist Hilfsarbeiter. Das Ehepaar wohnt in Niederdorf, Ortschaft Sittich, in Feldkirchen. Florian und Maria Kickl werden laut dem Trauungsbuch der Diözese Gurk Eltern von 13 Kindern. Der uneheliche Sohn Walter wurde 1940 legitimiert.

Am 26. Februar 1933 tritt Florian Kickl der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei. Er gibt als Beruf »Hilfsarbeiter« an und erhält die Mitgliedsnummer 1451800, Ortsgruppe Feldkirchen. Die Mitgliedskarte wird am 23. März ausgestellt. Sie ist im Deutschen Bundesarchiv unter der Signatur »BArch R 9361-XI KARTEI / 19991558« archiviert.

Wenige Wochen vor Kickls Eintritt in die NSDAP, am 30. Jänner 1933, ist Adolf Hitler in Deutschland zum Reichskanzler ernannt worden, und seine Machtergreifung verleiht auch den österreichischen Nationalsozialisten Aufwind. Der Historiker Alexander Verdnik beschreibt in einem Beitrag für die Kleine Zeitung, wie die NSDAP in Feldkirchen dieses Ereignis feierte: »Am Abend des 6. März 1933 veranstaltete die zu diesem Zeitpunkt noch legale NSDAP in Feldkirchen zu Ehren des neuen deutschen Reichskanzlers Adolf Hitler einen Fackelzug. Um zirka 19 Uhr sammelten sich am Bahnhof rund 700 NS-Anhänger, die unter großem Jubel der Feldkirchner durch die Stadt marschierten. Danach fand im Hotel Feldkirchnerhof eine Massenversammlung statt.«

In Österreich setzt in den Monaten nach Hitlers Machtergreifung eine Terrorwelle ein. Nach einem tödlichen Attentat der Nazis in Krems wird die NSDAP schließlich am 19. Juni 1933 verboten. NSDAP-Mitglieder wie Florian Kickl sind jetzt illegal.

Die Nazis setzen ihre Anschläge und Propagandaaktionen auch nach dem Parteiverbot fort, wobei sie in Kärnten besonders aktiv sind. Historiker Verdnik berichtet von einem Vandalenakt auf die katholische Kirche von Bodensdorf, etwa zehn Kilometer von Feldkirchen entfernt. Unbekannte brechen in der Nacht zum 16. Juli 1933 in die neu erbaute Kirche ein und malen mit schwarzer Farbe Schmähungen an die Wände: »Heil Hitler« und »Nieder mit der schwarzen Brut«.

Am 8. Juli 1944 kommt Herberts Vater, Andreas Siegfried Kickl, in Feldkirchen in Kärnten auf die Welt. Er ist im Eintrag seiner Eltern im Trauungsbuch als elftes Kind vermerkt. In den Geburtenbüchern der Diözese Gurk sind einige seiner Brüder auffindbar: Walter (1929), Volkmar (1940), Adolf (1941), Max (1942), Gerhard (1947), Anton (Geburtsjahr unleserlich). Am 1. August 1944, kurz nach der Geburt von Andreas Kickl, tritt Florian Kickl, Herberts Großvater, aus der Kirche aus. »Apostasiert und gottgläubig geworden«, lautet der Eintrag im Geburtenbuch. Der erste Begriff zeigt, dass Kickl die Kirche verlassen hat (Apostasie, der Abfall vom Glauben). Der Vermerk »gottgläubig« geht auf einen Erlass des deutschen Reichsinnenministeriums aus dem Jahr 1936 zurück, der festlegt, dass die bis dahin üblichen Einträge »dissident« und »konfessionslos« durch »gottgläubig« zu ersetzen sind. 13 Jahre später, am 4. Mai 1957, kehrt Florian Kickl laut Geburtenbuch »zur Kirche zurück«. Er stirbt am 4. Dezember 1970, Herbert ist zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt.

Kickls Großvater mütterlicherseits, Johann Lackner, wird am 11. Jänner 1905 in der Ortschaft Lang im steirischen Bezirk Leibnitz geboren. Er ist der Sohn eines Bauunternehmers. Von Beruf wird er »Beamter der Versicherungsgesellschaft der Österreichischen Bundesländer«. Er wohnt in Niederdellach, einem Ortsteil von Radenthein in Kärnten. Am 27. September 1931 heiratet er dort Leopoldine Maier, Tochter eines Fleischermeisters aus Niederdellach. Sie ist am 1. April 1913 geboren und zum Zeitpunkt der kirchlichen Trauung 18 Jahre alt, nach damaligem Recht also minderjährig.

Johann und Leopoldine Lackner werden Eltern eines Mädchens, das den Namen Herta bekommt. Am 20. Oktober 1938 treten sowohl Johann als auch Leopoldine Lackner aus der katholischen Kirche aus. Johann dient laut Dokumenten des Österreichischen Staatsarchivs während des Zweiten Weltkriegs bei einer Flak-Einheit der Luftwaffe der Wehrmacht. 1943 wird er zum Stabsgefreiten befördert. Bei Kriegsende gerät er in britische Gefangenschaft, aus der er im Oktober 1945 entlassen wird. Nach dem Krieg werden Johann und Leopoldine geschieden. Johann Lackner geht 1955 in Salzburg eine zweite Ehe ein. Er stirbt im April 1992 in Salzburg. Leopoldine Lackner bleibt mit ihrer Tochter Herta in Radenthein.

Hier lernen einander Andreas Kickl und Herta Lackner, Herberts Eltern, kennen. Andreas Kickl ist laut der Erinnerung eines damaligen Freundes gelernter Maurer, doch seine Leidenschaft gilt dem Fußball. Er spielt zunächst für den SV Feldkirchen, ehe er — vermutlich im Jahr 1965 — ein Angebot von der Werkssportgemeinschaft Radenthein bekommt. Die WSG Radenthein ist zu dieser Zeit ein finanziell gut ausgestatteter Verein, der in der Regionalliga Mitte spielt. Die drei Regionalligen bilden die zweite Leistungsstufe gleich unterhalb der Nationalliga, die der heutigen Bundesliga entspricht.

Der Verein WSG gehört der ÖAMAG, der die Gemeinde Radenthein ihre Bedeutung verdankt. Hatte der Ort zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gerade einmal zweitausend Einwohner, steigt diese Zahl bis Anfang der 1970er Jahre um das Dreieinhalbfache auf mehr als siebentausend.

Die ÖAMAG, Vorgängerin des heute an der Londoner Börse notierten Unternehmens RHI Magnesita, ist nicht nur die größte Arbeitgeberin im Ort. Das »Werk«, wie das Unternehmen bis heute in Radenthein genannt wird, kümmert sich um alle Lebensbereiche. In den 1920er und 1930er Jahren stiftet der Generaldirektor der Gemeinde zwei Kindergärten und übernimmt zwei Drittel der Kosten für den Bau einer Volksschule. Das Werk stellt den Arbeitern Baugründe zur Verfügung, hilft mit Krediten und Baustoffen, und es vergibt Wohnungen zur Miete. Neben der Werkskulturgemeinschaft, die den Bau einer evangelischen Kirche, Theatergruppen und eine Werkskapelle finanziert, betreibt das Unternehmen auch die Werkssportgemeinschaft mit zirka zwanzig Sparten: Schispringen, Basketball, Badminton, Gewichtheben, Fußball … Ursprünglich zur Ertüchtigung der Arbeiter gegründet, entwickelt die WSG bald den Ehrgeiz, in den höchsten Ligen mitzuspielen.

So kommt Andreas Kickl aus Feldkirchen als Abwehrspieler zur WSG nach Radenthein. Er ist 21 Jahre alt, kampfstark am Feld und bei den Mitspielern beliebt. Hans Neuwirth, ein Mannschaftskollege, beschreibt ihn als ruhigen, introvertierten, jungen Mann. Einige der Spieler gehen gern und oft aus, doch der »Andi« ist da selten dabei. »Er war kein Trinker«, sagt Neuwirth. Manchmal wird die ganze Mannschaft nach dem Spiel zu einer Jause eingeladen. Einmal ist Kickl dabei, er hat seine Gitarre mitgebracht, erinnert sich Neuwirth. Das Instrument hat Kickl als Autodidakt erlernt. »Komm, Andi, spiel was, und wir singen«, sagen die Teamkollegen. Sie erwarten sich Kärntnerlieder. Doch Kickl sagt: »Das kennt ihr sicher alle«, und beginnt ein amerikanisches Lied zu singen: »Hang Down Your Head, Tom Dooley«. Alle lachen. Ein anderes Mal trägt Kickl ein Lied vor, dessen Text er selbst geschrieben hat. Es heißt: »O du mein Untertweng«. Untertweng ist eine Ortschaft in Radenthein.

Die Momente, in denen Andreas Kickl für andere Gitarre spielt, sind selten. Meist bleibt er der stille, freundliche Kumpel. Karl-Heinz Gross, ein anderer aus der Mannschaft, sagt, dass sich Kickl in der Siedlung um kranke Nachbarn gekümmert hat und für sie einkaufen gegangen ist. Auch er bestätigt, dass Kickl sehr zurückgezogen gewesen sei. Bei den späteren Treffen der ehemaligen Vereinskollegen sei er nie aufgetaucht. Von den Fußballspielern hat der zwei Jahre jüngere Franz Buchacher den engsten Kontakt zu Andreas Kickl. Er ist Torwart der WSG Radenthein, Betriebsrat im Werk und später SPÖ-Bürgermeister der Gemeinde. Auch Buchacher beschreibt Kickl als auffallend in sich gekehrt: »Am liebsten war er allein.« Doch er sei ein »durch und durch liebenswerter Mensch«, sagt Buchacher. Bei Auswärtsspielen teilen sich die beiden ein Hotelzimmer. Als sie einmal in Wien spielen, weckt Kickl Buchacher mitten in der Nacht auf.

»Was ist los, Andi?«

»Du, Franz, ich glaub, ich hab einen Toto-Zwölfer gemacht!«

Kickl hat mit einem Kollegen gemeinsam einen Toto-Wettschein abgegeben; zusammen haben sie ungefähr fünfzigtausend Schilling gewonnen. »Das war ein Haufen Geld«, erinnert sich Buchacher. Als Spieler verdient er 1500 Schilling pro Monat, plus 1000 Schilling für jeden Meisterschaftspunkt. Die meisten Spieler sind Amateure, arbeiten im Werk der ÖAMAG und kicken am Wochenende für die WSG Radenthein. Beim Fußball verdienen sie mehr als im Werk.

Andreas Kickl ist in einer Abteilung beschäftigt, die für die Hauspost und den Kopierdienst zuständig ist. Bei der ÖAMAG lernt er Herta Lackner kennen. Sie arbeitet im Werkskaufhaus, wo die Arbeiter Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs günstig bekommen.

Herta Lackner wird im Vergleich zu Andreas Kickl als extrovertierter beschrieben. Ihr fällt der Kontakt mit anderen leichter. Sie hat einen Führerschein, er nicht. Die beiden werden ein Paar. Am 19. Oktober 1968 kommt ihr Sohn Herbert auf die Welt. Die Eltern heiraten laut Trauungsbuch knapp zwei Monate später am 28. Dezember 1968. Sie ziehen in das Haus Erdmannsiedlung 79, wo auch Hertas Mutter wohnt.

Kickl erlebt mit der WSG Radenthein Erfolge und Misserfolge. Die Mannschaft steigt insgesamt dreimal von der Regionalliga in die Nationalliga auf und jedes Mal wieder ab. 1973 wird der Teilweise-Profibetrieb des Vereins eingestellt, die WSG Radenthein fusioniert mit dem Villacher SV. Kickl beendet seine Karriere und wird Spielertrainer beim unterklassigen Verein Untertweng.

Franz Buchacher sieht seinen ehemaligen Zimmerkollegen nur selten, obwohl beide in der Erdmannsiedlung wohnen. Kickl absolviert regelmäßig Ausdauerläufe und kommt dabei auch an Franz Buchachers Haus vorbei. Doch selbst dann »spricht er fünf Worte und läuft weiter«, sagt Buchacher.

Die meisten seiner ehemaligen Mitspieler und Bekannten sagen, Andreas Kickl sei nach seiner Fußballkarriere einfach verschwunden. Er ging nicht mehr auf den Fußballplatz, nicht zu den geselligen Treffen, nicht in die Gaststätten in Radenthein. Dieser Wesenszug des Vaters wird auch bei Herbert Kickl eine Rolle spielen.

Als Kind hat Herbert Kickl den besten Spielplatz vor der Haustür: den Wald. Die Eltern sind berufstätig, oft passt seine Großmutter Leopoldine auf ihn auf. In der Siedlung findet Herbert sehr früh seinen bis heute besten Freund. Er heißt Bernhard, die beiden sind unzertrennlich, »wie Pech und Schwefel«, sagt Bernhards Mutter. Herbert sei ein »sehr braves Kind« gewesen, erinnert sie sich. Meistens streifen die Buben durch den Wald, wo es Höhlen gibt und einen Bach.

Herbert und Bernhard besuchen dieselbe Klasse der Volksschule in Radenthein und sind Sitznachbarn. Herbert erweist sich als guter Schüler. Noch etwas fällt sofort auf: Er ist klein, verfügt aber über großes Bewegungstalent. Beim Fußball ist er einer der Besten, und beim Sechzig-Meter-Lauf besiegt er alle anderen Schüler, erzählt ein Schulfreund.

Herbert verbringt die Nachmittage oft in der Wohnung von Bernhards Eltern. Die beiden Buben wachsen auf wie Brüder. Im Sommer fährt Herbert mit der Familie seines Freundes mit auf Urlaub nach Bibione, auch ein Tagesausflug nach Venedig steht auf dem Programm.

Am Ende der vier Volksschuljahre werden nur drei Kinder ins Gymnasium geschickt. Herbert Kickl ist eines davon. Bernhard kommt in die Hauptschule. Doch der Freundschaft tut das keinen Abbruch. Sie ziehen an den Nachmittagen weiter stundenlang durch den Wald. Einige in der Siedlung erinnern sich daran, dass die heranwachsenden Buben immer Kleidung im Military-Look trugen. Manchmal liegen sie auch mit Steinschleudern bewaffnet im Gebüsch und zielen — gänzlich harmlos — auf vorbeigehende Mädchen, erzählt eine Frau, die heute in einem Café in Radenthein arbeitet.

Das nächstgelegene Gymnasium befindet sich in der Bezirkshauptstadt Spittal an der Drau, etwa eine halbe Stunde entfernt von Radenthein. Die Klasse, in die Herbert Kickl kommt, erweist sich als eine Gruppe von bemerkenswerten jungen Leuten. Darunter sind etwa Eva Glawischnig, die spätere Bundessprecherin der Grünen, Johannes Strobl, ein heute international gefragter Organist, und Matthias Geist, der aktuelle Wiener Superintendent der Evangelischen Kirche.

Einer von Kickls Klassenkameraden ist Wolfgang Polanig. Er arbeitet heute für eine soziale Non-Profit-Organisation in Spittal an der Drau und ist SPÖ-Stadtrat in Radenthein. Polanig sitzt jeden Morgen neben Herbert Kickl im Bus. Bereits die Volksschule haben sie gemeinsam besucht. Ein dritter Freund aus der Klasse ist auch immer dabei, und die drei nutzen die Zeit, um sich zu unterhalten, Hausübungen rasch fertig zu machen oder auch abzuschreiben. »Die Busfahrt war wichtig für uns«, erinnert sich Polanig. Man tauscht sich aus und erzählt einander Neuigkeiten. Zum Beispiel an einem Dezembermorgen 1980, die Schüler sind in der zweiten Klasse Gymnasium, und Wolfgang Polanig hat gelesen, dass John Lennon erschossen worden ist. Kickl, der das noch nicht wusste, reagiert entsetzt. Wie viele in seiner Klasse mag er die Beatles.

In der Pubertät entwickelt Kickl seinen eigenen Stil. Er trägt auch in der Schule Militärhosen, die er im US-Army-Shop in Spittal kauft. Dazu kurz geschorene Haare, eine kreisrunde Nickelbrille, wie die von Lennon, und bald einen Dreitagebart, erinnert sich Polanig. Alles, was mit dem Militär zusammenhängt, fasziniert Kickl. Darin kennt er sich gut aus, und in der vierten Klasse eröffnet er seinen Mitschülern, dass er die Schule wechseln wird. Kickl will das Oberstufenrealgymnasium an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt besuchen. Dort tragen die Schüler auch im Unterricht Uniform und erhalten eine vormilitärische Ausbildung. Polanig erzählt, Kickl habe sich am Ende des Schuljahres verabschiedet. Doch am ersten Schultag der fünften Klasse sitzt Herbert Kickl wieder im Bus zum Gymnasium in Spittal. Warum aus dem Schulwechsel nichts wurde, weiß Polanig nicht.

Die Klasse von Kickl, Glawischnig und Co wächst im Lauf der Jahre zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Kickl ist mit einigen gut befreundet und macht auch bei den Partys mit. Er sei in der sozialen Hierarchie »eher weiter oben« gestanden, sagt ein Mitschüler. Man feiert in der Gaststätte, die von Glawischnigs Eltern geführt wird, oder im Jugend-Treff »Postskriptum« in Döbriach, einer Ortschaft, die zu Radenthein gehört. Bei einem dieser Abende küssen Glawischnig und Kickl einander im Zuge des Partyspiels »Flaschendrehen«, erzählt Glawischnig 2023 in einem Interview mit Krone TV.

Kickl fühlt sich im Kreis der Klassenkameraden wohl, mag aber sonst keine Gruppen. Am liebsten verbringt er Zeit mit seiner Freundin — sie heißt Susanne — oder, wie schon seit der frühen Kindheit, mit seinem besten Freund Bernhard. Seine große Leidenschaft ist der Sport. Bis ins Alter von 16 Jahren spielt er in den Jugendmannschaften der WSG Radenthein, danach betreibt er ein Jahr lang Judo. In der Schule glänzt er beim Handball und beim Geräteturnen. Er und seine Freunde sind Anhänger des Eishockeyvereins KAC.

In der Oberstufe macht Kickls Klasse wegen eines kleinen Aufstands von sich reden. Eine Mathematik-Schularbeit wird zunächst abgesagt, weil zu viele in der Klasse krank sind — eine Grippewelle geht um. Doch am fraglichen Tag sind plötzlich gerade so viele Schüler da, dass die Schularbeit abgehalten werden kann. Der Lehrer verteilt die Prüfungszettel, doch die Klasse hat sich bereits abgesprochen: Der Großteil wird ein leeres Blatt abgeben, damit die Schularbeit wiederholt werden muss. Nur ein paar, die in Mathematik Probleme haben, nutzen den Termin, um eine zweite Chance zu haben.