Kirschkernküsse mit Meerblick - Rita Roth - E-Book

Kirschkernküsse mit Meerblick E-Book

Rita Roth

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Beschreibung

Inmitten von Tanz, Eisbechern und Neuanfängen mischt sich die Liebe ein.
Als Louisa ihren Job als Erzieherin verliert, bricht für sie eine Welt zusammen. Guten Ratschlägen folgend, versucht sie ihr Glück in der malerischen Hafenstadt Flensburg, wo Schicksal und Liebe sie auf einen turbulenten Weg führen.
Kaum in der neuen Stadt angekommen, begegnet sie Erik, der aussieht wie ein moderner Wikinger und sie beim ersten Date zum Kirschkern-Weitspucken herausfordert. Aus dieser Begegnung könnte mehr werden, wären da nicht ihre festgefahrenen Prinzipien, die alles zu zerstören drohen.
Während Louisa nach dem richtigen Weg für ihr Leben sucht, geben ihr neue Freundschaften Halt – und ausgerechnet Erik bringt sie auf passende Ideen und lässt ihr Herz schneller schlagen.
Doch zwischen Missverständnissen, Verwicklungen und Herzkirschen erkennt Louisa, dass das Leben oft anders verläuft als geplant. Findet Louisa, wonach sie sucht, wenn sie hinter Eriks freche Fassade schaut und mehr mit ihm teilt als Kirschkernküsse?

“Kirschkernküsse mit Meerblick” ist die komplett überarbeitete Neuauflage von “Herzkirschen und Fördeflimmern: Tanz mal drüber nach” (erschienen 2022).

 

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KIRSCHKERNKÜSSE MIT MEERBLICK

RITA ROTH

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Rita Roth

Cover: Grit Bomhauer, www.grit-bomhauer.com

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer

Satz: Zeilenfluss

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-96714-426-0

1

»Wochenend und Sonnenschein«, singe ich den alten Schlager im Radio mit, als ich von meinem Heimatdorf am Teutoburger Wald in die Stadt fahre, zu meinem Arbeitsplatz in einem Betriebskindergarten. Blühende Bäume ziehen wie rosarote Wolken an mir vorüber, endlich ist der Frühling da. Auch meine Stimmung ist rosarot, ich kann an nichts anderes denken als an das Kirschblütenfest, bei dem ich in diesem Jahr zum ersten Mal vor Publikum Lindyhop tanzen werde.

Laut Wetterbericht sollen die Temperaturen auf über zwanzig Grad klettern, so wie damals, als ich zur Kirschkönigin gewählt wurde. Das liegt mittlerweile acht Jahren zurück, da war ich gerade mal zwanzig. Die Krönung war mir furchtbar peinlich, denn ich wurde so rot wie eine vollreife Kirsche, als man mir das Diadem aufs Haar setzte. Mich schaudert‘s heute noch, wenn ich daran zurückdenke, wie die Jungs Wetten abschlossen, wer wohl mein Kirschkönig wird. Naiv, wie ich war, fiel ich auf Max, den heißesten Typen der Gegend, rein, nur weil er ein bisschen älter war und ein eigenes Auto hatte. Außerdem flogen alle Mädels auf ihn, aber mich hatte er auserwählt. Ein paar Wochen danach hatte er eine andere Auserwählte.

Eine halbe Stunde später bin ich an meinem Arbeitsplatz, bereite alles vor, trinke einen Kaffee und lasse heute wieder die Kirschohrringe an meinen Ohren baumeln, weil ich weiß, die Kinder finden es lustig und lieben es an mir.

Ein unerwarteter Anruf von meinem Chef, Herrn Weber, dämpft meine Vorfreude auf den Feierabend und die Aussicht auf ein unvergessliches Wochenende ein wenig, als er mich in sein Büro bittet.

Wie unvergesslich das Wochenende sich gestalten würde, ahne ich in dem Moment, als er mir die Schocknachricht von der Schließung des Betriebskindergartens enthüllt. Mit Beginn der Sommerferien soll sie dichtgemacht werden, und ich bin meinen Job los. Trotz eines unbefristeten Vertrags ist meine Position auf einmal nicht mehr sicher, es ist unfassbar.

»Ich bedauere die Schließung auch aus tiefstem Herzen«, sagt er betroffen. »Betrachten Sie es als Chance, sich neu zu orientieren. In Ihnen schlummert noch so viel Potenzial. Frau Kirsch, wollen Sie wirklich eine einfache Erzieherin bleiben? Haben Sie nie darüber nachgedacht zu studieren?«, sagt er. Unvermittelt schweift er ab und fängt an, von Flensburg zu erzählen. Er schwärmt regelrecht von der kleinen Stadt oben im Norden, in der er rein zufällig ein Stellenangebot als Erzieherin für mich hat. Wenn ich mich dort bewerbe – da ist er sich ziemlich sicher –, bekomme ich die Stelle auch. Mir ist nur die Verkehrssünderkartei bekannt und das gleichnamige Bier.

»Dat flenst!«, kann ich mir nicht verkneifen.

Herr Weber ist nicht der Erste, der zu wissen glaubt, was gut für mich ist. In meinem Freundeskreis bin ich die Einzige, die kein Studium hat, trotz eines super Notenschnitts im Abi, was für alle unverständlich ist. Der stille Vorwurf, nichts aus meinem Leben zu machen, nagt an meinem Selbstbewusstsein und wird immer lauter.

Mit einem dicken Briefumschlag, in dem vermutlich mein Schicksal besiegelt ist, und aufsteigenden Tränen stürze ich aus seinem Büro.

»Schönes Wochenende!«, ruft er mir hinterher, aber wie soll das Wochenende denn jetzt noch schön werden?

2

Der Umschlag auf meinem Beifahrersitz liegt da, wie ein Krokodil, das jeden Moment zuschnappen will. Ich könnte heulen vor Wut, als ich vom Hof des Firmengeländes fahre, und rufe meine Freundin Charlotte an. Irgendwie muss ich meinem Ärger ja Luft machen. Ausgerechnet heute erreiche ich sie nicht, obwohl sie freitagnachmittags nach der fünften Stunde Schulschluss hat.

Da ich aber jetzt mit jemandem reden muss, fahre ich zu Martha, unserer Nachbarin, die wie eine Freundin für mich ist. Bei ihr habe ich viele Stunden meiner Kindheit verbracht, wenn Mama noch auf der Arbeit war. Wir haben zusammen gegessen, Hausaufgaben gemacht und gespielt. Martha ist meine Ersatzmama, sie versteht mich, sie lässt mich sein, wie ich bin, und sagt mir die Meinung, wenn ihr etwas nicht gefällt.

Sie ist jedenfalls zu Hause., da geht es mir gleich ein bisschen besser. Wieder kämpfe ich mit den Tränen, und als sie mich liebevoll in den Arm nimmt, rinnen sie mir unaufhaltsam übers Gesicht.

»Was ist denn los, mein Mädchen?«, fragt sie und bugsiert mich zu der Küchenbank mit den rot-karierten Sitzkissen, auf denen ich schon als Kind gesessen habe. Sie schaltet die Kaffeemaschine an, und wenig später tröpfelt das feine Getränk in die Kanne.

Aufgebracht erzähle ich ihr von dem Gespräch mit meinem Chef und der Schließung der Kita. Martha hört aufmerksam zu, sagt aber nichts, was nicht allzu verwunderlich ist, da sie bei meinem Gefühlsausbruch überhaupt nicht zu Wort kommt.

Während ich mir den Frust von der Seele rede, nimmt sie ein Glas ihrer Himmlischen Herzkirschen aus dem Schrank, die sie nur aus den besten Früchten ihrer Bäume nach einem alten Geheimrezept herstellt. Die Obstplantage ist ihr ganzer Stolz, die will sie auch nach dem Tod ihres Mannes nicht verkaufen, obwohl es viele Interessenten gibt, die die seltenen Sorten zu schätzen wissen. Martha sagt, sie braucht kein Geld, sie liebt ihre Bäume und hat auch mit achtzig Jahren noch Freude daran, einen Teil der Ernte von Hand einzukochen.

Jeden Sommer haben wir zusammen Marmelade zubereitet, und als ich zwölf war, zeigte sie mir, wie eine Schwarzwälder Kirschtorte gebacken wird. Seitdem erzählt sie überall herum, in meinen Adern fließe Kirschblut.

Wenn man von dieser Spezialität einmal kostet, hat man das Gefühl, einen Hauch Sommer voller Leichtigkeit und Liebe zu spüren. Man schmeckt das Paradies auf der Zunge, sagt sie gern, und erzählt von ihrer Urgroßmutter, von der sie das Rezept hat. Immer mal wieder frage ich sie danach, sie will es aber nicht verraten.

Am Ende meines Monologs schweigt sie immer noch, dabei könnte ich doch mindestens eine winzige Reaktion erwarten. Lieber als das wäre mir ein heftiger Fluch, mit dem sie meinen Chef zum Teufel jagt oder über die Ungerechtigkeit in der Welt wettert. Aber nein, Martha schweigt und schmunzelt und öffnet den Gefrierschrank. Ich ahne, was kommt, als sie eine Packung Vanilleeis herausholt und je eine dicke Portion in zwei Gläser füllt. Auf das Eis verteilt sie eine daumendicke Schicht Himmlischer Herzkirschen, raspelt dunkle Schokolade darüber, spritzt einen Klecks Sahne obenauf und verziert den Eisbecher mit einem Waffelröllchen.

»Das ist besser, als wenn ich auch noch anfange zu meckern«, findet sie, schiebt mir meine Portion rüber und setzt sich gegenüber auf einen Stuhl.

»Nun sag doch mal endlich was! Was meinst du denn dazu?«

»Die Schließung des Kindergartens ist sehr schade«, erwidert sie. »Aber gegen die Entscheidungen der Geschäftsleitung kannst du nichts ausrichten. Oder siehst du eine Möglichkeit, das zu ändern, Louisa?«

Ich schüttle den Kopf.

»Dann wirst du das wohl oder übel akzeptieren müssen, so schwer dir das auch fällt.«

»Pah!«

»Louisa, es macht keinen Sinn, sich über etwas zu ärgern, das du nicht ändern kannst. Damit schadest du nur dir selbst. Du kriegst Falten und einen verbiesterten Gesichtsausdruck, oder du wirst ernsthaft krank. Das willst du doch nicht?«

Wütend löffle ich mich durch meinen Eisberg und pfeife auf ihre gut gemeinten Worte.

»Willst du meine ehrliche Meinung hören?«, fragt sie, was völlig ungewohnt ist. Normalerweise sagt sie mir ihre ungeschönte Meinung auch so.

»Und die wäre?«

»Sieh mal, Louisa, du bist jetzt achtundzwanzig«, beginnt sie. »Es ist schon lange an der Zeit, dass du dein Hotel Mama verlässt und dich in der Welt umsiehst. Warum nicht an der Flensburger Förde? Schleswig-Holstein mit den Meeren zu beiden Seiten wäre doch ein guter Anfang. Von dort aus kannst du Skandinavien erobern und mit etwas Glück vielleicht auch das Herz eines Mannes, mit dem du alt werden möchtest. Es ist eine echte Chance für dich.«

»Habt ihr euch jetzt alle gegen mich verschworen?«, brause ich auf. Martha will mich also auch loswerden! »Hat Mama sich beklagt?«, frage ich rundheraus, auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann. Unser Mutter-Tochter-Verhältnis ist ausgesprochen gut. Wir leben harmonisch unter einem Dach, ich in der Einliegerwohnung und meine Mutter im Rest des Hauses.

»Blödsinn!« Martha tippt sich an die Stirn. »Deine Mutter würde so etwas niemals sagen, noch nicht einmal denken! Sie hat dich viel zu gern in ihrer Nähe, ich glaube, sie kann nicht gut loslassen. Aber ich mache mir Sorgen um dich. Du kennst nichts anderes als unser Dorf, in dem man wirklich prima leben kann, und die nächstgrößere Stadt. Du wirst nächstes Jahr schon dreißig und hast noch nichts von der Welt gesehen, Louisa.«

»Stimmt nicht«, widerspreche ich. »Ich war schon auf Mallorca, und ich arbeite in der Stadt, jeden Tag bin ich da. Abgesehen davon finde ich es total schön hier auf dem Lande.«

»Ach Louisa, das weiß ich doch.« Martha tätschelt meine Hand und füllt meinen Kaffeebecher noch einmal auf. »Trotzdem, dein Chef hat nicht ganz unrecht. Denk mal darüber nach, ob du nicht doch noch studieren willst. Es ist natürlich deine Entscheidung, wohin dein Weg führen soll, die kann dir niemand abnehmen, auch ich nicht. Ich kann dir nur sagen, um glücklich zu sein, braucht man kein Studium. Was ist eigentlich dadrin?«, fragt Martha schließlich mit Blick auf den Umschlag, der zwischen uns liegt.

»Meine Kündigung mit dem Kleingedruckten, das ich mir am Wochenende durchlesen soll. Ich bekomme eine Abfindung, die Höhe wird sicher auch dadrin stehen.«

»Mach auf! Das sehen wir uns jetzt zusammen an.« Martha lässt mich nicht aus den Augen, als ich mehrere Papierbögen entnehme. »Und? Was ist es?«, will sie wissen.

Schweigend überfliege ich die Seiten. Mir stockt der Atem, als ich sehe, wie hoch die Abfindung ist.

»Die Bedingungen sind gar nicht so übel, wenn ich deinen Gesichtsausdruck richtig interpretiere.«

»Wahnsinn!«, murmle ich. »Das ist viel besser, als ich dachte.« Ich gebe Martha das Schreiben, sie soll es selbst schwarz auf weiß lesen.

»Also, mein Kirschmädchen, wenn du jetzt immer noch jammerst, dann hab ich bei deiner Erziehung was verkehrt gemacht«, brummelt sie, steht auf, geht zu ihrem antiquierten Plattenspieler und legt eine Schallplatte auf. Präzise setzt sie die Nadel auf die äußere Rille, dabei umspielt ein verzücktes Lächeln ihre Lippen.

Als die ersten kratzigen Töne erklingen, nimmt sie meine Hände und tanzt mit mir durch die Küche, bis unsere Wangen glühen und ich wieder lächeln kann.

Tanz mal drüber nach, das ist Marthas Lieblingsspruch und auch ihr Lebensmotto. Meine Martha! Sie hat nicht nur die Liebe zur Natur und den Kirschen in mir geweckt, auch die Liebe zum Tanzen, zum Lindyhop.

Heute Abend, das schwöre ich mir, heute Abend bei der Generalprobe tanze ich mir den Frust von der Seele. Und morgen wieder. Und wenn es sein muss, jeden Tag aufs Neue.

3

Für die Generalprobe am Abend habe ich mich besonders hübsch gemacht. Wenn es mir schon nicht gutgeht, muss man mir das nicht auch noch ansehen. Ben, mein Tanzpartner, flüstert mir ein Kompliment ins Ohr. Er kann das Flirten nicht lassen und hofft wohl, mich eines Tages für sich zu gewinnen. Charmant und gut aussehend, wie er ist, fällt es mir nicht immer leicht, dem zu widerstehen. Er soll aber nur mein Tanzpartner bleiben, mehr will ich nicht. Wäre er nicht verheiratet und Vater einer dreijährigen Tochter, sähe das eventuell anders aus.

»Dein Kleid ist umwerfend«, haucht er mir zu. »Du siehst phantastisch aus, und du hast heute eine Wahnsinnspower.« Wir tanzen auseinander, drehen uns, und als wir wieder zusammenkommen, fragt er halb scherzend: »Was hast du heute noch vor? Willst du mich verführen?«

»Verführen?«, sage ich schmunzelnd. »Ach Ben, da muss ich dich leider enttäuschen.«

Er zieht einen Flunsch, ist aber nicht wirklich eingeschnappt.

»Wenn du magst, können wir anschließend noch was trinken gehen, dann erzähle ich dir, was es mit meiner Power auf sich hat.«

Ben ist sofort dabei und schlägt vor, den Abend bei einem Cocktail ausklingen zu lassen.

Als unsere Getränke vor uns stehen, rückt Ben zentimeterweise an mich heran und ist neugierig, was es mit meiner umwerfenden Ausstrahlung auf sich hat.

Nach einem halben Gin Tonic bin ich in der Lage, heute noch einmal von meiner Kündigung zu berichten. Als mein Glas leer ist, erzähle ich ihm auch von Flensburg und der Überlegung, mir dort eine neue Stelle zu suchen oder eventuell sogar zu studieren. Ungläubig sieht er mich an, aber ich rede immer weiter.

»Meine heutige Power ist eigentlich nichts anderes als aufgestaute, rasende Wut. Keiner will mich«, murmle ich und bestelle einen weiteren Gin, mit dem es mir leichtfällt, mir die Erlebnisse des Tages von der Seele zu reden.

»Wie meinst du das? Keiner will dich?«, hakt er nach. »Das ist doch vollkommener Blödsinn.«

»Sogar meine beste Freundin will mich loswerden«, jammere ich weiter und erzähle von dem kurzen Telefonat mit Charlotte. Auch sie schließt sich der allgemeinen Meinung an, dass ich mehr aus meinem Leben machen soll. Charly ist bei solchen Sachen echt gut darin, etwas, das man nicht hören will, in watteweiche Worte zu verpacken.

»Auch Martha und meine eigene Mutter sind der Auffassung, ich müsste mal raus von zu Hause.«

»Und was ist mit mir?«, unterbricht Ben meinen Redefluss. »Was ist mit uns? Louisa, merkst du denn nicht, wie sehr ich dich mag? Oder willst du es nicht merken?« Intensiv sieht er mich an und legt seine Hand auf mein Knie. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich dich verliere. Ich … Also, wir …«

Wenigstens einer, denke ich bei seinen Worten und warte gespannt darauf, was er sich für uns beide vorstellt. Einen Moment lang verfängt sich mein Blick in seinen braunen Augen, und mit einem Mal verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was richtig und was falsch ist.

»Wir beide?«, wiederhole ich, als er ins Stocken gerät und aus seinen Augen nichts anderes als heißes Verlangen spricht. »Ben, du bist verheiratet, und du bist Papa einer süßen kleinen Tochter. Was wird das jetzt hier?« Wieder nehme ich einen langen Zug aus meinem Glas, ehe ich weiterrede. »Mit dir zu tanzen ist wundervoll, aber …« Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, ohne ihn zu verletzen. »Aber ich kann das nicht. Ich liebe Kinder, und ich habe mir geschworen, niemals eine Ehe zu zerstören. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie das ist, wenn man von seinem Papa verlassen wird.«

Ben sagt kein Wort. Er sieht mich nur an und sitzt da wie ein geprügelter Hund, der gekrault werden möchte.

»Bring mich nach Hause«, bitte ich ihn. Es tut mir weh, ihn so verletzt zu sehen. Ausgerechnet Ben, der immer so stark ist, der immer weiß, was zu tun ist, und mit dem ich so wunderbar tanzen kann. »Lass uns bitte Freunde bleiben. So wie bisher.«

»Du hast ja keine Ahnung«, murmelt er. »Es ist nicht so, wie du denkst. Lass mich dir doch einmal erklären, wieso meine Ehe …«, unternimmt er einen neuen Anlauf, wahrscheinlich um mich rumzukriegen.

»Nein? Natürlich ist es nicht so …!«, gifte ich ihn an. »Wie oft habe ich das schon gehört! Und das soll ich glauben? Ach Ben, sei doch nicht eingeschnappt. Ich mag dich sehr, daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Aber in puncto Beziehung habe ich meine Prinzipien.«

»Es würde nicht schaden, wenn du deine Prinzipien von Zeit zu Zeit mal hinterfragst«, rät er mir. Er ist doch sauer, ich habe ihn enttäuscht. Aber welcher Mann steckt schon gern eine Niederlage ein?

»Lass uns weiterhin nur miteinander tanzen, solange ich noch hier bin. Bitte.« Freundschaftlich lege ich meine Hand auf seinen Arm, er missversteht das, denn nun legt er zärtlich seine Hand auf meine.

»Willst du dir das nicht noch einmal in Ruhe überlegen? Die Kündigung hast du doch heute erst bekommen, oder? Schlaf eine Nacht darüber, morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.«

»Okay. Vielleicht hast du recht.«

»Louisa?« Ben hebt mein Kinn an und liebkost mich mit den Augen. »Ich brauche dich viel mehr, als du dir vorstellen kannst. Unsere wöchentlichen Treffen bedeuten mir sehr, sehr viel, du ahnst ja nicht, wie viel.«

In meinem Kopf dreht sich alles. Was will er mir damit sagen?

»Du bist eine wunderschöne Frau, und für mich gibt es nichts Schöneres, als dich in meinen Armen zu halten. Was soll denn aus mir werden, wenn du gehst?«

»Das bezweifle ich aber, dass es nichts Schöneres gibt«, sage ich und denke daran, wie schön es sein muss, wenn seine kleine Tochter ihre Ärmchen um ihn legt.

Neben diesem Gedanken ist da aber noch ein anderes Gefühl in mir, das mich verstört und so kribbelt wie Brausepulver unter der Zunge. Bens Atem streift meine Wange, unsere Nasen kommen sich näher, sie berühren sich zart, und dann spüre ich seine Lippen auf meinen. Ich erwidere seine Zärtlichkeiten, schmiege mich an ihn und verliere mich in seinem Kuss, in unseren Küssen, und weiß nicht, wie ich mit dem unbändigen Verlangen nach mehr umgehen soll.

»Gehen wir zu dir?«, flüstert Ben.

Ich kichere »Auf einen Kaffee?«

»Kaffee plus?«, fragt er mit rauer Stimme.

»Lass uns gehen.«

Was für ein verrückter Tag!

4

Am nächsten Morgen weckt mich mein nervendes Handy.

»Hallo«, murmle ich verschlafen, öffne langsam die Augen und sehe mich um. Neben mir im Bett liegt niemand, dann bin ich letzte Nacht doch noch vernünftig geblieben. Erleichtert seufze ich und will mich noch einmal umdrehen, aber Charlotte am anderen Ende der Leitung ist damit nicht einverstanden.

»Habe ich dich aus dem Bett geholt?«, zwitschert sie fröhlich.

»Wie spät ist es denn?«

»Halb zehn!«

»Was! So spät schon?«, rufe ich und stopfe mir ein Kissen in den Rücken. So lange schlafe ich nicht mal am Wochenende.

»Hey, du Schlafmütze. Aufwachen! Oder habt ihr bis Mitternacht geprobt und danach einen Absacker auf deine Kündigung genommen?«, lästert sie. »Eigentlich wollte ich nur hören, ob ich Brötchen mitbringen soll. Du hast unsere Verabredung doch nicht vergessen? Zum Frühstück!«

»Nein!«, versichere ich ihr. Richtig wach bin ich noch nicht, immer wieder muss ich an Ben und den Kaffee bei mir denken. Allerdings ohne Plus!

»Bist du noch da, Louisa?«, fragt Charlotte, als ich nichts weiter sage. »Bist du wieder eingeschlafen? In einer halben Stunde komme ich vorbei und bringe Brötchen mit. Kaffee hast du, oder? Und nun beeil dich.«

»Super, dann will ich mal schnell unter die Dusche springen«, beende ich das Gespräch.

Als Charlotte klingelt, bin ich fertig, das Frühstück ist vorbereitet, und die Kaffeemaschine blubbert vor sich hin. Kaum sitzt meine beste Freundin am Tisch, fängt sie an, mich auszufragen.

»Hast du deinem Ärger gestern noch einen Gin gegeben? Oder sogar zwei?«, will sie wissen. »Und Ben? Hat er dich getröstet?«

»Charlotte!«, funkle ich sie an. »Du nun wieder. Hör auf mit diesen dummen Fragen, es ist kompliziert genug«, sage ich und erzähle ihr jetzt ausführlich von dem Vorschlag meines Chefs, mich in Flensburg zu bewerben oder Lehramt zu studieren, wobei sich schon wieder ein Tränchen in meinem Auge breitmacht.

»Es ist doch nett und fürsorglich, dass er sich Gedanken um deine Zukunft macht«, erwidert sie. »Meine Meinung zum Thema Studium kennst du. Das ist wirklich eine Chance, auch wenn du das nicht wahrhaben willst.«

»Nun fang du nicht auch noch damit an«, grummle ich.

»Lass uns die Kita mal googeln. Ich kann dir auch bei deinen Bewerbungsunterlagen helfen«, schlägt Charlotte vor. Sie hat für alles eine Lösung, sie weiß immer, was zu tun ist.

»Okay. Dein Angebot nehme ich gerne an.«

»Du hast meine Frage aber noch nicht beantwortet. Hat Ben dich denn nun getröstet?« Durchdringend mustert sie mich. »Er hat dich getröstet! Das sehe ich dir an. Erzähl schon.«

Ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll, und beiße von meinem Brötchen ab.

»Herzlichen Glückwunsch, kann ich dann nur sagen. Es wurde auch langsam Zeit, dass du deinen inneren Moralapostel wegsperrst.«

»Ich habe meinen Moralapostel nicht weggesperrt«, brause ich auf. »Okay, er hat mich getröstet, aber ich bin anständig geblieben.«

»Warum tust du immer so, als ob da nichts ist zwischen euch? Du magst ihn doch. Ich verstehe das nicht«, fährt sie unbeirrt fort.

»Ach, Charlotte«, ich seufze, »ich mag ihn. Ja, sehr sogar. Aber er darf nur ein Freund und mein Tanzpartner sein. Er ist verheiratet.«

»Ja, und?«

»Nichts und. Er ist Vater. Ben hat ein Kind. Meine Zukunft stelle ich mir nicht als Fernbeziehung mit einem verheirateten Mann vor«, erkläre ich bestimmt und entschließe mich immer mehr, das zu tun, was alle mir raten. Ich werde nach Flensburg gehen. Weit weg von zu Hause, weg von Ben und von allem.

Charlotte sieht mich mit ihren klaren, hellen Augen immer noch forschend an. Sie bringt mich aus der Fassung damit, und nun erzähle ihr doch von dem Kuss.

»Und jetzt?«

»Nichts und jetzt«, murmle ich. »Aber küssen kann er noch besser als tanzen.«

»Oh!«

»Mehr war aber nicht. Ich schwöre!« Lächelnd hebe ich die Hand. »Nimm du ihn, er braucht bald eine neue Tanzpartnerin«, sage ich mit einem kleinen Zwinkern.

»Du bist ja rührend um sein und um mein Wohl besorgt. Traust du mir echt zu, dass ich meiner Freundin den Typen ausspanne?«, meint sie ärgerlich. »Ich habe auch meine Prinzipien. Das würde ich niemals tun.«

»Kommst du eigentlich heute Abend zu unserer Vorführung?«, wechsle ich das Thema. »Es gibt auch eine Schnupperstunde. Ben wird bestimmt gern mit dir tanzen. Mit ihm ist es supereasy, das wird dir Spaß machen«, will ich sie begeistern. »Du würdest mir damit eine große Freude machen.«

»Okay. Ich schaue es mir an und schnuppere vielleicht rein.«

* * *

Spätnachmittags schlendere ich über das Festgelände mit seinen strahlend weißen Zelten und lasse mich vom Zauber des Frühlingsfestes einfangen. Heimische Spezialitäten, selbst gebackene Kuchen und Kunsthandwerk laden zum Verweilen ein.

Für die Kinder gibt es Schminkaktionen, da werden aus kleinen Mädchen bunte Schmetterlinge oder Prinzessinnen und aus den Jungs Piraten mit Augenklappen oder lustige Dinos.

Aus den Augenwinkeln sehe ich mich nach Ben um. Ob er wohl allein unterwegs ist? Kaum denke ich an ihn, winkt er mir von einem Stehtisch aus zu und kommt zu mir rüber. Wie es scheint, ist er ohne Familie unterwegs.

»Hallo schöne Frau«, sagt er mit einer leichten Umarmung. »Wie geht es dir heute? Hast du gut geschlafen, und ist deine Welt jetzt wieder in Ordnung?«

»Hi Ben«, begrüße ich ihn verunsichert. »Nee. Ich konnte nicht einschlafen, mir ging noch so vieles durch den Kopf.«

»Und?« Sanft legt er seine Hand auf meinen Arm, es macht mir Gänsehaut und erinnert mich an die letzte Nacht. »War schön gestern«, flüstert er. »Wird es eine Fortsetzung geben? Wie sieht es heute mit uns aus? Ich habe bis morgen Abend Zeit.«

Meine Haut kribbelt unter seiner Hand, unter der Wärme, dem sanften Druck und seinen Blicken.

»Ach Ben.« Ich seufze, schaue auf den Boden und nehme seine Hand von meinem Arm. »Über Nacht hat sich nichts geändert. Im Gegenteil, ich ziehe in den Norden, auch wenn es mir nicht leichtfällt. Vielleicht ist die Kündigung wirklich ein Wink des Schicksals.«

»Ganz sicher?«

»Ja, Ben, ganz sicher. Bis es so weit ist, tanzen wir aber noch zusammen wie bisher. Bitte.«

»Natürlich«, antwortet er. »Nachher geben wir noch einmal alles. Okay?«

»Danke, Ben. Du bist ein Schatz«, sage ich, merke ihm seine Enttäuschung aber an.

»Einen besseren Partner als mich wirst du in Flensburg auch nicht finden«, meint er bitter. »Du wirst dir noch wünschen, du hättest dich anders entschieden. Bis nachher, süße Kirschprinzessin.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, geht er zu seinen Leuten zurück.

* * *

Bei unserem großen Auftritt tanzen wir so harmonisch zusammen wie immer, allerdings ist er mir gegenüber etwas reserviert, er bringt mich nicht, wie sonst, zum Lachen und flirtet auch nicht mit mir. Habe ich das denn erwartet oder heimlich gehofft? Wir hüpfen umher, drehen uns im Kreis, improvisieren, keiner merkt uns an, dass etwas nicht stimmt. Am Ende unserer Vorführung bin ich froh über die anschließende Schnupperstunde, bei der ich nicht mehr seine Partnerin bin.

»Na los. Du hast es mir versprochen«, ermuntere ich Charlotte, an der Schnupperstunde teilzunehmen. »Schnapp dir Ben. Er ist der Beste, du wirst begeistert sein.« Ich flüstere ihr ins Ohr, dass sie ihn wirklich übernehmen kann.

»Rede nicht so über ihn, das ist nicht fair. Versetz dich doch mal in seine Lage. Er hat Gefühle für dich, und du …«

»Du weißt doch, wie ich das meine. Kommt auch nicht wieder vor«, lenke ich ein.

»Dann will ich mal mein Glück versuchen.« Charlotte hüpft die Stufen hinauf, ich folge ihr, zeige den Männern die Grundschritte, die so einfach sind, dass sie sich schon bald trauen, sich auszuprobieren. Wie aus dem Nichts steht mir Max gegenüber und bittet mich mit zweideutigem Unterton, ihn anzulernen. Das ist zu viel, ich erfinde eine Ausrede und verlasse die Tanzveranstaltung. Noch einmal sehe ich zu Charlotte und Ben hinüber. Die zwei lachen und haben Spaß. Ben wird mir also nicht nachtrauern.

»Hey, warte doch mal, Louisa«, ruft Max hinter mir her und legt einen Sprint ein, um mich einzuholen. Ich ducke mich weg, schlage Haken wie ein junger Hase und hänge ihn tatsächlich ab. Es ist wirklich an der Zeit, alles hinter mir zu lassen.

Noch am selben Abend mache ich meine Bewerbungsunterlagen für die Uni und für die Kita fertig. Es ist spät, aber ich bin hellwach, als ich mit meinen Anschreiben zufrieden bin. Tief atme ich durch, meditiere noch fünf Minuten und gönne mir ein feines Glas Rotwein.

»Flensburg, ich komme!«

5

3 MONATE SPÄTER

 

Mit einer Tüte Kirschen, die Martha mir für meinen Städtetrip nach Flensburg mitgegeben hat, verlasse ich die urige Pension Ankerstolz und schlendere durch enge Gassen, vorbei an alten Häusern, auf der Suche nach dem Hafen. Dass diese Stadt so hügelig ist, hätte ich nicht gedacht. Die Luft ist auch frischer als zu Hause, und ich meine, eine leichte Meeresbrise auf der Haut zu spüren. Über mir am Himmel segelt eine Möwe, und schon kommen die Masten der Boote und Schiffe in Sicht, die hier vor Anker liegen. Mein Herz hüpft beim Näherkommen vor Aufregung ein bisschen höher. Mein Tempo steigert sich immer mehr, bis ich mein Ziel erreicht habe. Nun schaue ich mich nach einem ruhigen Plätzchen abseits des quirligen Trubels um, von dem aus ich das maritime Flair auf mich wirken lassen kann. Zum ersten Mal atme ich den Duft der großen weiten Welt und bin aus ganzem Herzen bereit, mich auf die Veränderung einzulassen.

Die vielen neuen Eindrücke sauge ich auf wie ein Schwamm, ich tue nichts anderes als aufs Wasser schauen, staunen und mir dabei eine Kirsche nach der anderen in den Mund stecken. Die Kerne spucke ich in hohem Bogen aus und verfolge ihre Flugbahn, bis sie wieder unten sind. Den Landeplatz merke ich mir und strenge mich an, ihn mit dem nächsten Kern zu übertreffen. Im Kirschkernweitspucken bin ich spitze, da macht mir keiner was vor. Mit sportlichem Ehrgeiz und Musik im Ohr stehe ich verträumt an einen Baum gelehnt, dabei geht mir alles Mögliche durch den Kopf, meine Vorfreude, aber auch Ängste, vor denen ich nicht die Augen verschließen kann. Fast meditativ nasche ich von den knackigen, süßen Früchten und gehe meine Pro-und-Kontra-Liste für Flensburg durch, die viele Pluspunkte aufweist, aber auch ein dickes Minus. Meine Freunde, meine Mutter und Martha werden mir fehlen, sogar die Kirschen aus meinem Dorf und vor allem mein Tanzpartner Ben.

Der erste Eindruck der Stadt ist positiv, er könnte nicht besser sein. Von der Zimmerwirtin meiner Pension wurde ich ausgesprochen herzlich empfangen, sie hat mich gleich geduzt, was mich zunächst irritiert hat. Vielleicht ist das in dieser Gegend aber so üblich. Auf meine Frage, wo man Lindyhop tanzen kann, konnte sie mir leider keine Antwort geben, dafür hat sie mich aber mit vielen Insidertipps versorgt und mir den Rat gegeben, einen Blick in das Veranstaltungsprogramm der Uni zu werfen.

Wieder ziehe ich zischend die Luft ein, blähe meine Backen auf wie eine Kröte, dann fixiere ich einen Punkt in der Ferne, spitze ein Kussmündchen, halte kurz die Luft an, um anschließend den Kern so weit wie möglich auszuspucken.

Just in dem Moment, als das Steinchen noch in meinem Mund ist, spüre ich, wie mich etwas an der Schulter streift, sehe, wie jemand in meine Kirschtüte langt, erschrecke und verschlucke mich. Der harte Kern steckt in meinem Hals fest und will nicht wieder raus.

Dem Ersticken nahe fange ich an zu japsen und zu husten und rudere wie wild mit den Armen. Im Geiste sehe ich mich schon qualvoll an dem Kirschkern zugrunde gehen. Sollte es das mit meinem Neuanfang gewesen sein? Kann es wirklich sein, dass meine Abenteuerlust an einem Kirschkern scheitert? Einen würdigeren Abgang für eine Ex-Kirschkönigin kann es kaum geben. Noch immer nach Luft ringend sehe ich dem Steinchen nach, das nun über meinen Kopf hinwegsaust und wenige Zentimeter hinter meinem letzten Treffer zu Boden geht.

Im selben Moment spüre ich einen kräftigen Schlag auf den Rücken, mit dem das Corpus Delicti in meinem Hals meinen Körper verlässt und mich ins Leben zurückholt. Japs. Das ist gerade noch mal gutgegangen! Schnaubend vor Wut drehe ich mich um und blicke in zwei sanfte, braune Hirschaugen. Der Geweihträger grinst mich majestätisch von einem T-Shirt an, wider Willen fange ich an zu lachen und bin neugierig auf den Besitzer des Wildtiers. Ich muss den Kopf in den Nacken legen und mit meinem Blick weit nach oben wandern, um zu sehen, wer mich so erschreckt hat.

Vor mir steht ein Kerl, der ein Nachfahre der Wikinger sein muss. Mit meinen eins fünfundsechzig kann ich ihm kaum in die Augen schauen, die so grün sind wie die von Nachbars Katze. Verwegen und amüsiert blitzen sie mich an und bilden einen hammermäßigen Kontrast zu seinem rostroten Vollbart. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht lässt der Typ sich meine Musterung gefallen, dabei zwinkert er mir auch noch zu.

»Geht’s noch?«, fahre ich ihn an.

»Sieht ganz so aus, als ob’s noch geht«, erwidert er lässig. »Jedenfalls lebst du noch, worüber ich mich wirklich sehr freue.«

»Ich mich auch«, sage ich, weil es mir die Sprache verschlagen hat und mir nichts Besseres einfällt. »Ich habe nämlich noch viel vor. In meinem Leben.«

»Tut mir echt leid, dass ich dich erschreckt habe. Das wollte ich nicht. Erzähl doch mal, was hast du denn noch alles vor in deinem Leben«, sagt er wenig zerknirscht, dafür aber ziemlich neugierig. Aus seinen Augen lacht mir der pure Übermut entgegen. »Ich wollte dich nicht in Angst und Panik versetzen. Eigentlich sehe ich doch auch gar nicht so furchteinflößend aus, sagt man mir jedenfalls nach.«

Mit der Linken fährt er sich dabei durch den akkurat gestutzten Bart, für dessen Pflege er bestimmt eine halbe Stunde vorm Spiegel verbringt. Der unverschämte Typ sieht zugegebenermaßen überdurchschnittlich gut aus.

»Ich habe vorher gefragt, ob ich zugreifen darf«, sagt er entschuldigend. »Wie konnte ich denn wissen, dass du Stöpsel in den Ohren hast und mich nicht hörst? Bei deinem Anblick konnte ich einfach nicht widerstehen, du hast so verführerisch ausgesehen. Ähm. Ich meine … deine Kirschen. Also, ich will sagen, wie du so verträumt in die Luft geguckt hast.«

»Hast du mich schon länger beobachtet?«, frage ich schmunzelnd bei seinem Herumgestammle. Furchteinflößend wirkt der Typ trotz seiner Größe kein bisschen. Sein Äußeres ist weder wild noch rau, wie bei einem nordischen Krieger. Ganz im Gegenteil. Sportlich sieht er aus, richtig athletisch. Und dann hat er auch noch dieses volle rote Haar, das ich mit den Händen am liebsten auf der Stelle durchstrubbeln möchte. Wenn der jetzt auch noch Lindyhop tanzen könnte, dann wäre mein Glück perfekt. Aber dafür ist er zu groß, ich reiche ihm nicht einmal bis zur Schulter.

»Nur kurz«, antwortet er. »Weißt du, auf einmal kam ich mir wieder vor wie ein kleiner Junge, der Lust aufs Kirschkernweitspucken hat.«

»Kleiner Junge?« Ich muss kichern. »Dein Treffer war nichts anderes als Zufall. Angeber! Cooles Shirt übrigens.« Ich tippe auf die Hirschnase auf seiner Brust. Ein Blick in diese sanften dunklen Augen macht es mir unmöglich, sauer auf ihn zu sein. »Das war ein Glückstreffer! Außerdem bist du einen halben Meter größer als ich, kein Wunder also. Das sind ungleiche Voraussetzungen.«

»Nun übertreib nicht so«, entgegnet er belustigt. »Du bist doch größer als eins fünfzig! Schickes Kleid übrigens, steht dir super. Was hältst du von einem Date zu einem Weitspuckwettbewerb? Ich besorge uns auch die Kirschen.« Sein Blick ähnelt jetzt dem des Hirsches auf seinem Shirt.

»Wann? Jetzt gleich?«, frage ich.