Klartext zur Integration - Ahmad Mansour - E-Book
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Klartext zur Integration E-Book

Ahmad Mansour

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Beschreibung

»Wir müssen offen miteinander reden, sonst spielen wir den Rechten in die Hände.« Ahmad Mansour Eine der drängendsten Aufgaben unserer Gesellschaft ist Integration. Doch kein Thema polarisiert stärker. Staat und Gesellschaft stehen dieser Aufgabe bisher planlos gegenüber, es mangelt an konkreten Konzepten, einer unvoreingenommenen, sachlichen Debatte und langfristigen Plänen. Der Psychologe und Bestsellerautor Ahmad Mansour, selbst muslimischer Immigrant, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Problemen und Chancen von Integration. Er reiste durch ganz Deutschland, besuchte Haftanstalten, Schulen und Flüchtlingsunterkünfte und sprach mit Politikern, Lehrern und Sozialarbeitern. So hat er wie niemand sonst erfahren, wie Zusammenleben funktionieren und woran es scheitern kann. Ohne falsche Rücksichtnahme spricht er offen an, in welchen gesellschaftlichen Bereichen Veränderungen nötig sind, wo die Politik oder jeder Einzelne gefragt ist und welche Werte unverhandelbar sind. Mansour macht unmissverständlich klar, dass wir alle umdenken müssen – ein eindrücklicher Appell.

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Seitenzahl: 408

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Ahmad Mansour

Klartext zur Integration

Gegen falsche Toleranz und Panikmache

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorwort Anleitung zur Realität1 UnterwegsVater und SohnSchule der RadikalitätDie Sache mit LisaPing Pong der Begrifflichkeiten2 AngekommenEs könnte alles so leicht seinHeimatgefühleWas tun, wenn alles fremd ist?Ohne WorteZwei Schritte vor, ein Schritt zurückDie ticken alle ganz andersHeimliche LiebeFußball, Freundschaft, FriedenVerstehen und VerständnisDer Kreis hat sich geschlossenVerkaufte Identität3 Wir sind nicht eure KuscheltiereDas Kuscheltier-PhänomenDie Beschützer der konservativen MuslimeFriedliche Oberfläche oder friedlicher Kern?Wer kuschelt mit wem?Die Doppelmoral der PredigerBrennende ProblemeKeine Solidarität von der AfD4 Abbas – zwischen den Stühlen5 Die Wir-Wende: Warum wir den Begriff «Heimat» neu besetzen müssenDeutschland: ein besonderer FallWir und die LeitkulturWas uns und unsere Heimat ausmacht6 Nader – mittendrin7 Momentaufnahme IntegrationSechs Beispiele aus der WirklichkeitZwischenstandUnbeantwortete Fragen, ungesehene ÄngsteFremd-Wahrnehmung8 Schwerpunkte der IntegrationGegen das PatriarchatAbstand zur MehrheitsgesellschaftDie patriarchale Gesellschaft als PyramideSchwächling StaatMissverständnisse überallGleichberechtigung im KopfGleichberechtigung auf dem KopfGleichberechtigung von KindernMädchen werden benachteiligt, Mütter machen mitAngst vor MachtverlustWenn die Religion im Wege stehtIntegration und VerantwortungUnmündigkeit bis ins letzte DetailGeneration Allah und ihre FolgenGrundwerte leben und vermittelnWo entstehen Alternativen?Wie konservative Verbände unterstützt werdenMeinungsfreiheitGesellschaftliche ProzesseAntisemitismus und die historische Verantwortung DeutschlandsAntisemitismus beim SalafismusDas Verhältnis der GlaubensgemeinschaftenReligion, die auf einfachen Narrativen beruhtPropaganda trifft auf mangelhaftes FaktenwissenAnsätze gegen den Antisemitismus9 Mousa – außen vor10 Anleitung zur Integration: Zehn konkrete Schritte, die Politik und Gesellschaft gehen müssenForderung Nummer 1:Forderung Nummer 2:Forderung Nummer 3:Forderung Nummer 4:Forderung Nummer 5:Forderung Nummer 6:Forderung Nummer 7:Forderung Nummer 8:Forderung Nummer 9:Forderung Nummer 10:

Vorwort Anleitung zur Realität

Am 13. Mai 2018 trafen sich die deutschen Fußball-Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündoğan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in einem Londoner Hotel. Sie schüttelten ihm die Hände, ließen sich mit ihm vor zwei türkischen Fahnen fotografieren, lächelten. Stolz sahen die beiden aus. Schließlich überreichten sie ihm ihre Trikots. Ilkay Gündoğan hatte seines beschrieben. Neben seiner Unterschrift stand: »Sayın Cumhurbaşkanım’a saygılarımla«, was mit »Hochachtungsvoll für meinen geschätzten Präsidenten« übersetzt werden kann.

Dieses Treffen sorgte für große Empörung. Zu Recht. Auch viele meiner Bekannten kritisierten es. Einige nicht öffentlich: »Nur unter uns, Ahmad.« Sie sagten, es gehe doch nicht, dass deutsche Nationalspieler – Vorbilder also, die die Staatsbürgerschaft eines demokratischen Staates besitzen und immer als Symbol einer gelungenen Integration gefeiert worden waren – sich neben diesen Despoten, Tyrannen, Diktator stellten und Werbung für ihn machten. Wir waren einer Meinung. Der Unterschied: Ich äußerte diese Meinung laut, sie hingegen leise.

Ich kann die Beweggründe meiner Bekannten nachvollziehen. Sie wollten nicht als intolerant, rechts oder gar rechtsradikal gelten. Das kann schnell passieren, wenn man bestimmte Probleme – vor allem wenn es um die Themen Integration und Migration geht – offen anspricht.

Wie schwer sich die Gesellschaft mit dem Thema tut und wie hilflos manche dabei sind, zeigten auch einige Reaktionen auf dieses Treffen, etwa die von Oliver Bierhoff, Manager der deutschen Fußballnationalmannschaft: »Das war eine große Veranstaltung mit 400 Personen. […] Man muss natürlich auch verstehen, wie Türken dann auch ticken in solchen Bereichen.« Das klang wie eine Entschuldigung, als hätten die beiden nur kurz mal nicht nachgedacht. Oder die Reaktion von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, mit dem sie sich ein paar Tage später trafen und der anschließend sagte: »Ihre Geschichte spiegelt wider, was ich in meiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit gesagt habe: ›Heimat gibt es auch im Plural. Ein Mensch kann mehr als eine Heimat haben und neue Heimat finden.‹« Aha. Das klang wie ein Zuspruch, als sei völlig o.k., was Özil und Gündoğan da gemacht hatten. In Wirklichkeit zeigten diese Reaktionen, dass das eigentliche Problem überhaupt nicht verstanden worden war.

Drei Tage nach diesem Treffen stand die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alice Weidel, bei einer Generaldebatte am Rednerpult des Bundestages und sagte: »Burkas, Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.«

Auch diese Szene sorgte für große Empörung in Deutschland. Direkt im Anschluss an die Rede sprach der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble einen Ordnungsruf aus: »Damit diskriminieren Sie alle Frauen, die ein Kopftuch tragen. Dafür rufe ich Sie zur Ordnung.« Andere wiederum traten in den folgenden Tagen in Aktion, zogen Kopftücher an, fotografierten sich damit und teilten die Fotos in den sozialen Netzwerken. Das Motto: »Ich zeige Gesicht gegen die AfD und trage Kopftuch.« Selbst ein Pfarrer aus Baden-Württemberg trug eines bei seiner Pfingstmesse. Warum? Müssen wir immer das Gegenteil von dem tun, was die AfD sagt, um zu zeigen, dass wir Demokraten sind? Nein. Müssen wir nicht. Natürlich müssen wir in der Lage sein, diese Frau für ihre rassistische, diffamierende Art und Weise zu kritisieren. Aber wir dürfen das, worüber sie redet, nicht einfach totschweigen, nur weil es aus ihrem Mund gekommen ist. Wenn es ein Problem ist, ist es ein Problem. Es ist wichtig, das zu verstehen, denn auch mir wird immer wieder vorgeworfen, ich würde mit meiner Kritik am Islam der AfD Argumente liefern, ihren Anhängern in die Hände spielen, von ihnen den größten Applaus ernten.

Was also tun? Schweigen? Nichts mehr sagen? Missstände verschweigen und zum Tabu erklären, nur weil sie zum Themenspektrum der AfD gehören? Kritische Zustände einfach zulassen – und sich hinterher über die Folgen wundern?

So ist es lange und oft gemacht worden. Zu lange und zu oft. Lassen Sie uns damit aufhören.

Und so sollte die Frage nicht sein, ob wir Probleme offen ansprechen können, sondern wie wir es tun können. Wie können wir Kritik ausüben, ohne uns gleich als rechts zu fühlen oder so bezeichnet zu werden? Wie können wir es schaffen, dass Radikale, egal welchem Lager zugehörig, weder vom Schweigen noch von irgendeiner Hysterie profitieren, die manche Kritik nach sich zieht? Wie kann man eine Debatte sachlich betreiben, ohne alle Menschen in einen Topf zu werfen und vorzuverurteilen, ohne sie pauschal zu Tätern oder zu Opfern zu machen?

Beim Thema Integration, das – gerade weil es in vielerlei Hinsicht so emotional ist – kommen wir nur weiter, wenn wir es mit kühlem Kopf, einer differenzierten Haltung und ohne Tabus behandeln. Es geht bei dieser Emotionalität oft um sehr persönliche, aber auch irrationale Ängste und Vorurteile – und zwar von beiden Seiten. Meine Mutter zum Beispiel. Sie fragt mich immer wieder, was mein Kind denn nun sei – arabisch oder deutsch? Als gäbe es nur entweder oder. Als sei es ein Konflikt, bei dem man sich für oder gegen etwas entscheiden müsse. Mein Kind ist aber beides. Arabisch und deutsch. Es soll das Beste aus beiden Kulturen mitnehmen und es als Geschenk betrachten. Es soll als Demokrat mündig werden, frei aufwachsen, leben und sich selbst entfalten, beide Sprachen sprechen und beide Kulturen kennen – und noch viele andere kennenlernen. Ich wünsche mir, dass das jeder begrüßt. Deutschland ist nun mal ein Einwanderungsland, in dem unzählige Kulturen zu Hause sind, die alle ihre Berechtigung haben. Natürlich gibt es eine Grenze dieser Freiheit: das Grundgesetz. Daran muss sich jeder halten, der in diesem Land lebt – ohne Wenn und Aber. Anders funktionieren Zusammenleben und Gesellschaft in einem demokratischen Staat nicht. Anders funktioniert auch Integration nicht.

Wir müssen uns fragen, was wir von Menschen, die neu in das Land kommen, verlangen dürfen – und sie von uns. Es bringt uns dabei keinen Schritt weiter, permanent mit Vorurteilen im Kopf herumzulaufen und pauschal zu meinen, Flüchtlinge seien kriminell und faul, Muslime seien Terroristen und alle muslimischen Frauen würden zwangsverheiratet werden. Oder genau das Gegenteil: Muslime oder Flüchtlinge seien immer nur Opfer. Es bringt uns auch nicht weiter, über die Deutschen zu sagen, sie seien alle kalt und geizig, würden selbst in einer Ehe immer bis auf den letzten Cent miteinander abrechnen, würden ihre Eltern in Altersheime abschieben und sie dort vor sich hin vegetieren lassen und Männer hätten hier grundsätzlich nichts zu sagen. All das ist pauschal und somit falsch.

Die Antwort ist: Wir sollten voneinander verlangen, eine Gesellschaft von Demokraten zu sein, die Demokratie, Offenheit, Toleranz und Akzeptanz vermittelt und verteidigt. Grundsätzlich. Immer. Die Antwort ist auch, dass wir gegenseitig voneinander einfordern sollten, eine Integration zu schaffen, die Unterschiede nicht verurteilt, aber auch nicht zelebriert, sondern Regeln festhält, an die sich alle halten müssen. Und schließlich ist die Antwort, gegen beides zu sein: gegen falsche Toleranz und Panikmache.

1 Unterwegs

Ein kleiner Raum im Kellergeschoss eines Gefängnisses irgendwo in Deutschland. Kleine vergitterte Fenster lassen etwas Licht hinein. Durch sie kann man den verschneiten Hof sehen, auf dem Männer in Parkas im Kreis laufen: in Gruppen oder alleine, sich unterhaltend oder schweigend, in Gedanken, rauchend oder die Hände in die Taschen gesteckt.

Der kleine Raum ist ein Klassenzimmer. An den Wänden hängen selbstgeschriebene Steckbriefe der Gefangenen, Wunschlisten für Bücher, gemalte Bilder von Alleen, die ins Unendliche führen, eine Weltkarte, eine Europakarte, eine Deutschlandkarte. An der Tafel stehen noch Matheaufgaben vom Vortag, die keiner weggewischt hat. Die Gleichungen werden heute aber keine Rolle spielen, heute geht es um Gleichnisse. Heute findet auch kein Frontalvortrag statt – wir werden im Kreis sitzen. Heute bin ich mit drei Kollegen hier, um mit 20 Gefangenen drei Stunden lang einen Workshop zu machen. Es werden keine leichten drei Stunden – für keinen von uns.

Die Zielgruppe unserer Gefängnisworkshops sind Menschen in einer persönlichen Krise, auf der Suche nach Orientierung und Halt in einer schwierigen Phase. Denn diese Gruppe ist anfällig für radikales Gedankengut. Wir aber wollen schneller sein als die Radikalen jeglicher Couleur. Wir wollen aufklären, reden, die Möglichkeit geben, mündiger zu werden und die Zeit im Gefängnis für einen neuen Start zu nutzen – nicht im Sinne von Radikalisierung, sondern im Sinne von Aufklärung und Demokratie.

Je nachdem, wie lange und intensiv eine Gruppe ein bestimmtes Thema behandelt, versuchen wir in diesen Workshops alle Hauptgründe anzusprechen, die zu Extremismus und Radikalisierung führen können: Gleichberechtigung, starres Islamverständnis, patriarchalische Väter, Gottesbilder, Sexualität, Männlichkeit, religiöse Ideologien, Missionierung, Antisemitismus, Verschwörungstheorien und Opferhaltung. Meine Kollegen und ich wollen erreichen, dass die Insassen ihre Einstellungen und Meinungen hinterfragen und im besten Fall neu bewerten. Wir wollen dabei Denkanstöße geben und vor allem auch Alternativen aufzeigen.

Und so sitzen heute Gefangene im Alter zwischen 16 und 60 Jahren mit uns im Klassenzimmer. Alle tragen das Gleiche: schwarze Schuhe, dunkelblaue Hosen, blaue Pullis und weiße oder khakifarbene Parkas. Die Hosen zu kurz oder zu weit mit Rissen in den Taschen, die Pullis ausgewaschen, die Schuhe abgetragen. Die Männer haben fast nichts gemein außer ihrer Kleidung. Sie haben libysche Wurzeln oder afghanische, serbische oder marokkanische, deutsche, irakische, türkische, tschechische oder irische. Sie sind Christen, Moslems, Juden, Atheisten. Im echten Leben hätten sie sich wahrscheinlich nie getroffen. Aber so ist das mit Schicksalsgemeinschaften. Man sucht sie sich nicht aus, aber sie lehren einen oft die besten Lektionen.

Dabei sind es nicht wir, die diesen Männern Lehren erteilen wollen, das müssen sie schon selbst tun. Wir begleiten sie auf eine Reise, fahren müssen sie selber. Wir sind Gedankenpflanzer im Garten der Mündigkeit und Aufklärung. Dabei wollen wir ihnen weder etwas eintrichtern noch etwas vorschreiben. Das Einzige, was wir wollen, ist, sie zum Nachdenken anzuregen über Dinge, die sie bis jetzt vielleicht anders gesehen haben, die sie vielleicht nie hinterfragt haben oder über die sie noch nie nachgedacht haben. Warum? Weil immanente Veränderungen nicht durch Imperative passieren. Wir gehen nicht zu den Menschen und sagen ihnen: »Denkt so! Nur das ist der richtige Weg!« Das ist nicht unser Ansatz. Unser Ansatz findet auf Augenhöhe statt.

Es geht nicht darum, den Inhaftierten zu sagen, wo es langgeht, oder sie etwas auswendig lernen zu lassen. Genauso kennen es allerdings viele dieser Männer. Damit sind sie groß geworden. Ich möchte das ändern. Manche von ihnen wird die Augenhöhe überfordern, weil sie dadurch gezwungen sind, selbst nachzudenken, einen eigenen Standpunkt zu vertreten und eigene Entscheidungen zu treffen. Manche werden lange brauchen, Gedanken über sich selbst, ihre Situation und ihre eigene Biographie zuzulassen und Antworten darauf zu suchen, warum sie im Gefängnis gelandet sind. Manche werden wir überhaupt nicht erreichen. Leider.

Ich stelle den Männern meine Kollegen vor, dann sage ich: »Ich bin Ahmad. Können wir uns duzen?« Die Männer nicken. Dann stellen sich die Jungen und Männer der Reihe nach vor. Ein jüngerer mit kurzen, gegelten Haaren, der die ganze Zeit unruhig mit den Beinen wippt und schnell spricht, sagt zum Beispiel: »Ich heiße Arwin, bin aus Afghanistan. Ich bin 16.« Er sieht eher aus wie Mitte 20, denke ich, aber spreche es nicht aus. Es gibt Flüchtlinge, die sich jünger machen, als sie in Wirklichkeit sind. Ein anderer, älterer, graue Haare, Zahnlücke, unrasiert mit Brille, sagt: »Ich heiße auch Ahmad. Lustig. Ich komme aus Libyen, bin 45. Ach, ich bin übrigens unschuldig hier.«

Ich antworte: »Es interessiert uns nicht, warum ihr im Gefängnis seid. Und wir versprechen euch nicht, dass ihr morgen aus dem Gefängnis gehen könnt, weil ihr hier mitmacht. Wir versprechen euch nur eines: euch neue Wege aufzuzeigen. Aber der Weg ist eurer. Den müsst ihr alleine gehen. Wir werden ein paar Rollenspiele mit euch machen und euch dabei keine Regeln vorgeben, außer der, dass wir alle respektvoll miteinander umgehen. Schaffen wir das?« Die Männer nicken wieder.

Das mit dem Respekt sage ich immer, denn Respekt ist im Gefängnis keine Selbstverständlichkeit. Trotzdem klappt es immer, dass der Ton zwar manchmal laut, aber nicht verletzend oder grenzüberschreitend ist.

Vater und Sohn

Wir fangen an. Die Rollenspiele, die wir mit ihnen durchführen, sollen überspitzt Situationen aus Familien beschreiben: Ein Vater kommt nach Hause, sieht seinen Sohn vor dem Computer sitzen und spielen. Der Vater wird wütend, gibt dem Sohn einen Schlag auf den Hinterkopf.

»Was machst du hier? Spielen, spielen, spielen! Den ganzen Tag spielst du. Gehst nicht in die Schule, sitzt nur zu Hause rum und machst nichts, außer zu spielen.«

»Ja, aber Baba …«

»Deine Mutter weint jeden Tag wegen dir. Und warum warst du heute nicht in der Moschee? Alle fragen mich ständig nach dir. Und ich? Ich weiß nie, was ich sagen soll. Ich schäme mich.«

»Ich weiß auch nicht …«

»Ich weiß auch nicht, ich weiß auch nicht! Was weißt du denn, Sohn? Sag’s mir!«

»Ich …«

»Was?«

»Mir geht’s nicht so gut …«

»Kein Wunder. Du hängst ja auch nur zu Hause rum und spielst. Zur Schule gehen sollst du, arbeiten, beten sollst du, auf deine Schwestern aufpassen. Nichts davon machst du. Was soll nur aus dir werden? Eine Schande bist du!«

»Baba, ich …«

»Sei ruhig. Ich will nichts mehr hören. Geh mir aus den Augen. Sofort.«

Ende.

Applaus.

Ich warte einen Moment, dann frage ich: »Was fällt euch dazu ein?« Manche Antworten kommen unmittelbar, manche sehr zögerlich – und sie sind sehr unterschiedlich:

»Ha, genauso ist mein Vater. Als ob ihr in meiner Familie zu Besuch wart.«

»Ich wünschte, ich hätte so einen Vater gehabt. Meiner hat mich eigentlich immer nur ignoriert. Da konnte ich machen, was ich wollte.«

»Ich verstehe den Vater. Er will dem Sohn etwas vermitteln. Da muss man auch streng sein. Die Eltern meinen es ja nicht böse. Sie wollen, dass man etwas von der Familie, Religion und Tradition lernt.«

Am Anfang gibt es von den Gefangenen häufig viel Zuspruch für den Vater. Ich sage zu meinem Kollegen: »Was bist du für ein Vater? Wo ist die Liebe? Hast du dich gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass dein Sohn jetzt so ist?« Der Vater antwortet: »Ich gehe jeden Tag zwölf Stunden arbeiten, nur für ihn, das ist doch Liebe.« Dann frage ich, wieso er so mit seinem Kind redet und wie seine Erziehung bis jetzt gewesen ist.

Auf einmal melden sich auch andere Stimmen zu Wort:

»Also ich sehe nur Dominanz. Da wird nicht nachgefragt, warum spielst du? Nur Vorwürfe, ein Gewitter an Ansagen. Es wird ihm ein schlechtes Gewissen gemacht, mehr nicht. Da ist null Interesse für den Sohn.«

»Ich kenne das von meinem Vater, die Erniedrigungen, die Vorwürfe. Das hat mir keinen Spaß gemacht. Ich war einfach nicht religiös und hab mir das dann einfach nur angehört. Ich konnte ja nicht einfach meinen Vater schlagen, auch wenn ich …«

»Und dann bist du auf die Straße gegangen und hast andere dafür geschlagen. Stimmt’s?«, sagt ein Mitgefangener.

Stille.

Ein anderer redet weiter:

»Was soll er denn auch tun? Den Vater kritisieren? Das macht man doch nicht. Wenn ich öfter auf meinen Vater gehört hätte, säße ich heute nicht hier. Ganz bestimmt nicht.«

»Aber da kommt nur Kritik. Ich sehe keine Liebe. Meine Eltern haben mir das auch nicht beigebracht. Ich habe irgendwann gemerkt, dass mir etwas fehlt. Deshalb möchte ich das ändern. Ich möchte lernen, über meine Gefühle zu sprechen. Ich mache deshalb eine Gewalttherapie.«

Ich bin überrascht, wie sich diese Männer den anderen Gefangenen und uns gegenüber allmählich öffnen, über Fehler nicht nur nachdenken, sondern auch sprechen, sie zugeben, sie reflektieren. Und das, obwohl wir uns erst eine halbe Stunde kennen.

Sicherlich schafft die Tatsache, dass meine Kollegen und ich selbst Migranten sind, oft die gleiche Sprache sprechen und manchmal sogar die gleichen Namen tragen, Vertrauen. Wir sind nicht die Polizei, nicht die Justiz. Wir sind nicht die anderen, wir sind nur wir. Manchmal reicht es, unsere Namen zu nennen und automatisch ist ein gewisses Grundvertrauen da. Wir spielen ihnen nichts vor, sondern interessieren uns tatsächlich für ihre Meinungen und Einstellungen. Wir schließen niemanden aus, wir bewerten weder ihr Aussehen noch ihre Strafen oder ihre Äußerungen. Hier dürfen sie drei Stunden lang mit ihren Gedanken frei sein, nach unserem Motto: Freiheit beginnt im Kopf.

Auch die Art, wie wir ihnen gegenüber auftreten, gibt den Teilnehmern nicht das Gefühl, dass wir auf der einen und sie auf der anderen Seite stehen: Wir demonstrieren unterschiedliche Meinungen, streiten uns ein bisschen und machen zwischen all den ernsten Themen immer mal wieder ein paar Späße, damit die Teilnehmer sich trauen, frei zu reden. Durch all das werden ihre Gedanken aktiviert.

Wir spielen weiter. Wir bitten den jungen Mann, der gerade die Dominanz und das Gewitter an Ansagen des Vaters kritisiert hat, nach vorne. Er ist erst Anfang 20, trotzdem soll er die Rolle des Vaters einnehmen. »Versuch es«, sage ich. »Wie würdest du als Vater reagieren?« Er zögert. »Komm, mach schon«, sagt ein älterer Gefangener. Da steht er auf, setzt sich auf den freien Stuhl und schaut mich an, als solle ich ihm helfen. »Also, du kommst nach Hause und siehst deinen Sohn vor dem Computer«, sage ich. »Was machst du?«

»Hallo.«

»Hallo, Baba.«

»Was machst du?«

»Ich spiele.«

»Ah.«

Stille. Lange Stille. Unangenehme Stille. Als er es selber nicht mehr aushält, dreht sich der Junge, der den Vater spielen soll, zu mir und sagt: »Ich weiß, dass ich es anders machen will, aber ich weiß nicht, wie.« Ich nicke ihm zu und antworte: »Das ist o.k. Danke, dass du nach vorne gekommen bist und es probiert hast. Wie dir geht es vielen.« Er steht auf und setzt sich wieder auf seinen Stuhl. Er wird den Rest des Workshops schweigen, so, als würde er die ganze Zeit überlegen, was er hätte sagen können.

Wenn ich sehe, dass einer nicht weiß, was er sagen soll, frage ich manchmal, ob ich seine Frau spielen darf. Die Gruppe lacht dann immer. Gemeinsam gehen wir zum Sohn, und ich versuche, dem Vater beizustehen und ihm als Mutter Ideen zu geben, das Gespräch mit dem Sohn anders zu führen.

Heute brauche ich das nicht. Denn als wolle er dem jungen Gefangenen beistehen, meldet sich einer und sagt: »Ich bin mir sicher, dass man etwas ändern kann, wenn man in eine gewaltfreie Kommunikation geht.«

Was er damit meint, soll er uns jetzt zeigen. Er spielt den Vater. Er kommt ins Zimmer, sieht seinen Sohn. Doch anstatt ihm mit Vorwürfen zu begegnen, setzt er sich neben ihn und sagt: »Ich sehe dich sehr oft vor dem Computer. Geht es dir gut, mein Sohn?« Der Sohn antwortet: »Nein, Baba. Gar nicht.« Dann fängt er an zu reden, erzählt von den Problemen, die er in der Schule hat, von den Mitschülern, die ihn hänseln, von seinen Versagensängsten. Der Vater sagt nichts. Keine Vorwürfe. Er hört nur zu. Dann fragt er: »Wie kann ich dir helfen?«

Die Gruppe beobachtet. Einige lachen leise. Einige, das merkt man, können das alles kaum aushalten. Man sieht ihnen an, wie viele Gedanken ihnen durch den Kopf gehen. Einige sehen traurig aus, andere schauen aus dem Fenster. Die meisten aber hören aufmerksam zu. Vater und Sohn reden weiter. Der Vater zeigt Verständnis, es interessiert ihn, was in seinem Sohn vorgeht, und er verspricht, ihn zu unterstützen.

Auch wenn man dem Gefangenen, der den Vater spielt, anmerkt, dass er abwechselnd erst stolz auf sich selber ist, so einfühlsam zu sein, und sich dann aber wieder schämt und lacht, weil es ihm schwerfällt, diese ihm so fremde Situation, diesen liebenden Vater zu spielen – die Gefangenen erleben ihn als einen Vater, der Liebe und Interesse zeigt, der da ist für Probleme. Einen Vater, der nicht nur Macht ausübt und Gewalt als probate Erziehungsmaßnahme betrachtet. Einen Vater, der anwesend ist und auch Schwäche zulässt. Einen Vater, den sie früher – und vor allem auch jetzt – gebraucht hätten. Viele dieser Jungen und Männer kennen einen solchen Vater gar nicht. Die Islamisten nutzen das aus. Sie wissen, wie sie junge Männer dazu bringen, sich vom eigenen Vater zu lösen. Gleichzeitig bieten sie ihnen eine neue Vaterfigur an. Eine, die aber noch stärker, mächtiger und patriarchalischer ist: Einen Allah, der zornig ist, der bedroht, belohnt und bestraft.

Zu alldem wollen wir Alternativen aufzeigen. Wir wollen ihnen eine dritte Möglichkeit anbieten, die auf Mündigkeit, Liebe, Kommunikation und Interesse basiert. Wir wollen Sozialarbeit betreiben, die die Themen dieser Generation erkennt und behandelt und nicht – wie es so oft geschieht – irgendwelche Maßnahmen ergreifen, die kaum etwas mit den Welten dieser Jugendlichen zu tun haben.

»Danke, Baba, dass du mir zugehört hast. Das hat schon geholfen.«

Ende.

Applaus.

Wie es mit dem Vater und seinem Sohn weitergeht, kann oder muss jeder der Männer selber überlegen. Vielleicht hat die kurze und vorsichtige Annäherung des Vaters ja schon ausgereicht, bei den Männern Gedanken über sich selbst und über ihr Verhältnis zu ihren Vätern und Söhnen auszulösen. Vielleicht hat sie ihnen gezeigt, dass Empathie keinen Machtverlust zur Folge haben muss. Oder anders: Dass man als Vater und Mann trotzdem respektiert werden kann, auch wenn man seine Autorität nicht ständig zur Schau stellt.

Ich merke: Manchen fällt es unheimlich schwer, plötzlich zu sprechen, weil es ihnen bisher immer verboten worden war. Aus manchen sprudelt das, was in ihnen seit Jahren schlummert, nur so heraus. Jeder Teilnehmer ist anders. Jeder Workshop ist anders.

Es geht weiter: Eine Aussage ergibt die nächste, bis wir irgendwann bei den Themen Tradition und Kultur ankommen. Ein Afghane, der kaum Deutsch kann, meldet sich und sagt: »Am Anfang in Deutschland war das ein Schock für mich, wie Deutsche über ihre Eltern sprechen. So respektlos. Wie sie mit den Eltern telefonieren und sie anschreien. Das finde ich falsch, böse. Man muss Respekt vor den Eltern haben. Hier geben die Kinder die Eltern in Heime, wenn sie alt sind. Das ist schlecht, sehr schlecht.«

Ein anderer: »Ich bin schon zwei Jahre in Deutschland, aber ich kenne keine Deutschen. Ich will wissen, wie die denken und leben.« Dabei schaut er eine Mitarbeiterin des Gefängnisses, die dem Workshop beiwohnt, voller Sehnsucht und Neugierde an.

Ein Syrer erzählt von den Unterschieden zwischen Syrien und Deutschland und sagt: »In Syrien, Frau will Mann verlassen, Mann sie schlägt, dann Polizei kommt und auch Frau schlägt. Hier in Deutschland ist Gleichberechtigung, hier Frau will Mann verlassen, ruft Polizei, und dann sitze ich hier.«

Ein Älterer ruft dazwischen: »Hier herrscht keine Gleichberechtigung. Hier kommt erst Frau, dann Kind, dann Hund und dann Mann.«

Die anderen lachen.

Ein Marokkaner erzählt, dass er hier in Deutschland zum ersten Mal in seinem Leben Eltern gesehen hat, die Hand in Hand mit ihren Kindern zur Schule gehen und sie mit Küssen verabschieden. »Das wünsche ich mir für meine Kinder.«

Jetzt scheint es, als wollten alle auf einmal sprechen:

»In Deutschland schaut man eine Frau an, spricht sie an und man wird angezeigt.«

»Mein Vater wollte, dass ich Jurist werde, dass ich Anwalt werde. Ich wollte nur Automechaniker werden, und jetzt sitze ich hier.«

Viele berichten, dass die Väter sie im Gefängnis gar nicht besuchen, zu groß sei die Schande, dass sie dort gelandet seien.

Und dann gibt es noch Erlebnisse und Geschichten, die mir sehr unter die Haut gehen, irgendwie mehr als die anderen. Bei einem anderen Workshop beispielsweise kam mal ein sehr junger Syrer zu uns und fragte, ob wir ihm helfen könnten, eine deutsche Familie für ihn zu finden. Seine Eltern waren ums Leben gekommen, seitdem lebte er auf der Straße. Irgendwie hatte er es nach Deutschland geschafft, war auch hier auf der Straße gelandet, hatte gelernt, wie man sich hier so durchschlägt, und saß jetzt hier.

Ein Eritreer erzählte von seinem Vater, der ihm schon als Kind Drogen verabreicht hatte, um ihn ruhigzustellen und zum Schlafen zu bringen. Irgendwann starb der Vater, und er entschied, nach Europa zu kommen. Er erzählte von der Flucht, den Schleusern, der Fahrt auf dem Boot, das mitten auf dem Meer anfing zu sinken. Das Schlimmste sei der Mann gewesen, der unterging und mit letzter Kraft versuchte, sein Kind über Wasser zu halten. Sie schafften es beide nicht. Diese Bilder bekam er nicht mehr aus dem Kopf. Er brauchte Halt, wollte seinen Cousin in Dänemark besuchen, durfte aber nicht. Aus dieser Hilflosigkeit und Verzweiflung versuchte er immer wieder, sich selbst zu verletzen. Seine Arme und Beine waren voller Schnittwunden. »Ich will endlich neu anfangen.«

Ein anderer Mann fing einmal an, laut zu lachen. Er lachte und lachte und hörte nicht auf, doch plötzlich verwandelte sich das Lachen in ein bitterliches Weinen. Ich werde dieses Weinen nie vergessen. Die anderen Gefangenen schauten weg, als sei es ihnen unangenehm. Ein Kollege von mir setzte sich neben ihn, fragte, ob alles o.k. sei, ob er zur Toilette wolle, und ging schließlich mit ihm raus. Später kam er zu uns und sagte: »Entschuldigung für vorhin, aber auch danke für vorhin.«

Ich erinnere mich auch an einen Mann, der immer unruhiger wurde, als wir über Antisemitismus sprachen. Irgendwann meldete er sich und sagte: »Ich hasse Juden. Juden sind im Koran verflucht. Da gibt es nichts zu diskutieren.« Solche Aussagen hören wir oft. Ein anderer Gefangener antwortete: »Halt mal. Juden sind Menschen. Wieso hassen? Immer nur hassen, hassen, hassen. Ich will endlich lernen zu lieben.«

Schule der Radikalität

Was klar sein muss: Diese gebrochenen Biographien sind die beste Möglichkeit für Radikale, die Männer für sich zu gewinnen. Das Gefängnis quasi als Fachhochschule der Radikalität. Hier sehnen sich die Jungen und Männer nach einem Neuanfang, Orientierung und Anerkennung. Genau deshalb sind wir hier, um den Radikalen nicht das Feld zu überlassen.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Weil es mir wichtig ist, von der tatsächlichen täglichen Arbeit zu erzählen, die im Zusammenhang mit Erziehung, Bildung und Integration eine Rolle spielt. Arbeit, die in Kindergärten, Schulen, Integrationskursen, Workshops, im Privaten und im Öffentlichen – und eben auch in Gefängnissen – stattfindet und bei der ich immer wieder feststelle, dass es in Deutschland in dieser Hinsicht noch unendlich viel zu tun gibt.

Ich erzähle die Geschichte auch, weil ich in diesem Buch noch häufig über diese Art von Autorität und patriarchalen Strukturen sprechen werde. Sie gehört zu den wesentlichen Punkten, wenn es um das Gelingen oder Scheitern von Integration geht.

Dabei richte ich mein Hauptaugenmerk – in meinem Arbeitsfeld und in diesem Buch – auf die große Gruppe der Muslime. Das ist mein Schwerpunkt. Das soll allerdings niemanden ausschließen, denn Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die uns alle angeht und betrifft.

In meiner Tätigkeit als Psychologe und Berater – und das bin ich nicht erst seit 2015, als Hunderttausende von Flüchtlingen nach Europa und Deutschland kamen, sondern seit 2007 – treffe ich immer wieder auf Herausforderungen, bei denen Teile dieser Gesellschaft völlig überfordert sind: Lehrer, die nicht wissen, wie sie mit Themen wie Patriarchalismus, Fundamentalismus, Tabuisierung von Sexualität, Ehre, Antisemitismus, Geschlechtertrennung und Konflikten zwischen verschiedenen Wertesystemen umgehen sollen. Sozialarbeiter, die keinen Zugang zu Jugendlichen kriegen. Politiker, die manchmal sehr naiv und manchmal sehr überspitzt auf bestimmte Situationen reagieren. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.

Ich merke, dass den Menschen der Umgang mit etwas Fremdem, anderen Religionen, anderen Haltungen, Werten und Traditionen nicht immer leichtfällt. Und ich versuche, meine persönlichen Erfahrungen – vor allem das, was ich jeden Tag hautnah bei der Arbeit erfahre – einzubringen, um Vorurteile ab- und Brücken aufzubauen. Denn Ängste bestehen auf allen Seiten: bei Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, deren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern schon hier lebten und die manchmal gerne als Biodeutsche oder alte Deutsche bezeichnet werden – beides unglückliche Begriffe für eine Debatte, die genauso unglücklich und überfordert geführt wird. Und bei Menschen, die aus anderen Ländern hierhergekommen sind – ob vor 50 Jahren oder gestern. Deshalb müssen dringend Dialogplattformen auf Augenhöhe geschaffen werden. Die Probleme werden von Tag zu Tag größer.

Die Sache mit Lisa

Zurück im Gefängnis: Das nächste Rollenspiel. Ein junger Syrer verliebt sich in ein Mädchen. Er erzählt seinem Vater davon, und dieser freut sich, umarmt ihn, küsst beide Wangen des Sohnes immer wieder.

»Wie ich mich für dich freue. Ja, wie ich mich freue. Endlich. Endlich hast du eine Frau gefunden. Endlich wirst du heiraten. Endlich bekomme ich Enkel. Wann gehen wir zu ihrem Vater, zu ihrer Familie?«

»Ich hab Lisa noch nicht gefragt. Ich wollte es erst dir sagen.«

Der Vater hört auf zu lachen.

»Wie heißt sie?«

»Lisa.«

»Lisa?«

»Ja, Lisa.«

»Deutsch?«

»Ja.«

»Deutsch! Deutsch! Bist du verrückt?«

Die letzten Worte schreit der Vater. Er ist wütend, nein, er ist mehr als das. Er ist außer sich.

»Was fällt dir ein, eine Deutsche zur Frau nehmen zu wollen? Hast du an unsere Ehre gedacht? Nur eine Sekunde lang? Was soll ich erzählen? Mein Sohn heiratet eine Deutsche? Er wird jetzt Schweinefleisch essen und Weihnachten feiern? Ist sie Christin? Natürlich ist sie Christin! Du weißt, was die Christen mit uns gemacht haben. Meinen Segen bekommst du niemals. Hau ab. Hau ab!«

Der Sohn schaut den Vater an mit ängstlichem, traurigem, aber auch wütendem Blick. Er weiß nicht, was er sagen soll. Er weiß auch nicht, wohin. Er ist durcheinander.

Wir diskutieren in der Gruppe über die Situation des jungen Mannes und spielen schließlich weiter: Er sucht Rat bei einem langjährigen Freund, dem er alles erzählt.

»Bruder, was ist los mit dir? Du kommst zu mir, erzählst mir eine Geschichte, dass du dich in eine Deutsche verliebt hast. Und das Einzige, was dich interessiert, ist, was dein Vater denkt und wie er reagiert hat?«

»Ja.«

»Bruder! Hast du dich gefragt, wie Allah dazu steht?«

»Also …«

»Obwohl wir jahrelang zusammen gebetet haben, geweint haben, Gott angefleht haben, dass er uns richtig leitet? Dass wir uns von dieser Gesellschaft nicht beeinflussen lassen, von diesem sündenhaften Leben? Und du kümmerst dich nicht darum, was Allah davon hält? Du möchtest eine Frau heiraten, die dich nicht näher ans Paradies bringt?«

»Ich liebe sie.«

»Aber du fragst dich nicht, ob sie Muslima ist. Was wird aus euren Kindern? Werden sie Laternenfeste mitmachen, Weihnachten feiern? Werde ich bei dir zu Hause in Zukunft Wein finden und Salami zum Frühstück bekommen? Haben wir uns nicht immer gewünscht, eine Frau zu haben, die uns in die richtige Richtung bringt? Oder bewegst du dich gerade mit 180 Stundenkilometern in Richtung Hölle?«

»Wieso soll mich Liebe in die Hölle bringen?«

»Du bist blind, Bruder. Verliebtsein ist Teil dieser Dunja, dieses Lebens. Das und Sexualität sind genau die Methoden des Teufels, der uns beeinflussen will. Liebe ist vergänglich. Im Paradies bekommst du die Liebe deines Lebens. Für immer. 72 Jungfrauen. In diesem Leben musst du eine Frau suchen, die dich näher zu Gott bringt. Die dich morgens um 5:00 Uhr aufweckt, damit du beten kannst. Die nicht fremdgeht, die ihre Reize nicht zur Schau stellt.«

»Aber ich kann Lisa doch jetzt nicht einfach verlassen. Ich möchte das auch nicht.«

»Nein, musst du nicht. Aber du solltest deine Prioritäten anders setzen. Du solltest immer Gott und Allah vor Augen haben. Dein Ziel muss sein, in den Himmel zu kommen, nicht in die Hölle. Du musst Verantwortung für deine Kinder übernehmen.«

»Aber das werde ich.«

»Verantwortung für deine Kinder bedeutet aber, dass du alles dafür tun musst, dass sie als gute Muslime aufwachsen können. Und dann kommst du mit einer Deutschen an? Und das soll die Beste für dich sein? Bruder! Ich sag das alles, weil ich dich liebe. Weil ich mit dir im Paradies sein will. Ich will nicht an deinem Grab weinen, weil du dieses Leben nicht genutzt hast, weil du dich von diesem Leben hast verblenden lassen.«

»Was soll ich denn tun?«

»Du weißt, Allah ist barmherzig. Bring Lisa mal mit in die Moschee. Die Schwestern reden mit ihr. Und wenn sie ein guter Mensch ist, eine reine Frau, dann wird sie begreifen, dass der Islam das Beste ist. Dann ist sie vielleicht eine gute Ehefrau für dich. Im Islam ist es nicht wichtig, aus welchem Land du kommst, darum geht es mir nicht, es geht um den Glauben und die Nähe zu Gott. Nur das zählt. Bring sie mal mit.«

»Ich hab aber Angst, dass sie das nicht möchte und dass das zu offensichtlich ist, wenn ich sie mit in die Moschee nehme.«

»Nein, nein. Die Schwestern wissen schon, was sie machen. Komm am Samstag nach dem Mittagsgebet. Dann wird sie auch den Unterricht vom Imam mitbekommen. Danach wird es genügend Frauen geben, die mit ihr sprechen und sie bestimmt überzeugen werden. Aber mir ist viel wichtiger, dass auch du wieder in die Moschee kommst. Denn auch eine gute Frau ist nicht ausreichend, wenn dein Herz nicht rein ist.«

Ende.

Applaus.

 

Noch während die anderen applaudieren, ruft ein junger Teilnehmer: »Brutal. Ich hab Gänsehaut. Das ist echt ein guter Freund. Brutal. Der versteht ihn. Ich wünsche mir auch so einen Freund.«

»Das ist kein Freund, das ist ein Terrorist!«, ruft ein älterer.

So wie der jüngere Teilnehmer reagieren viele, wenn wir dieses Rollenspiel zeigen. Immer wieder stellt sich dann heraus, dass die, die am lautesten applaudieren, den Islam am wenigsten kennen. Sie tragen Narrative in sich, die sie von den Imamen in ihren Moscheen und zu Hause gelernt haben. Wir bedienen diese Narrative in unserem Rollenspiel absichtlich und merken immer wieder, wie positiv diese Männer darauf reagieren, welche magische Ausstrahlung die Worte des Freundes auf sie haben.

Es ist wichtig, das zu erzählen, denn genau so arbeiten Salafisten. Diese müssen gar kein Wissen über den Koran mitbringen. Sie müssen nur so tun, als würden sie im Namen Gottes sprechen. Und sie müssen Macht ausüben. Freundlich, aber bestimmt. Dann werden viele Jugendliche sprachlos und wissen nicht mehr, wie sie damit umgehen sollen.

Manchmal spiele ich die Szene in meinem Kopf noch ein bisschen weiter. Der Freund:

»Was soll das mit der Liebe? Deine Brüder sterben gerade in Syrien, und du beschäftigst dich mit der Liebe. Das sind Kinder dort, verstehst du? Kinder, die sterben. Darüber solltest du nachdenken. Das sollte dich beschäftigen. Du bist ein Ehrenloser.«

Ich frage mich, wie viele Jungen da draußen sich von solchen Worten überzeugen lassen. Diese selbsternannten Stellvertreter Gottes oder Allahs gibt es zuhauf, und es reicht, den richtigen Moment und den richtigen Jungen zu treffen, die richtigen Worte zu wählen und sie zu wiederholen, hier und da »Allah« zu sagen und »Maschallah«, »Satan«, »Hölle«, »Ehre«, »Paradies«, »Jihad«. Wörter, die ganz bestimmte (Schuld-)Gefühle auslösen. Wörter, die die Jungen empfänglich für die Ideologie machen, für die Rattenfänger aller Sorten, die im Namen der Religion auf Jagd gehen.

Ich sehe immer wieder Gefangene, die bei diesem Rollenspiel eifrig und zustimmend nicken. Sie wären bereit, alles zu tun. Es tut mir leid, das zu sehen. Aber es spricht Bände.

Diese Männer haben nicht gelernt zu reflektieren, sich ihre eigene Meinung zu bilden und mündig zu werden. Wäre das der Fall, könnten sie andere Meinungen aushalten und respektieren oder ihnen konstruktiv widersprechen und darüber streiten. Wer selber denkt, wer mündig ist, wird in der Regel nicht radikal. Diese Männer aber sind in anderen, patriarchalen Strukturen aufgewachsen. Strukturen, die es ihnen kaum ermöglichen, Teil einer demokratischen Gesellschaft zu werden, was ich im Laufe des Buches noch deutlicher machen werde. Sie sind ebenfalls mit einem Islamverständnis groß geworden, das genauso patriarchalisch und autoritär ist wie ihre Familien. Allah bestraft darin genau wie die Väter. Sie müssen nicht viel vom Islam kennen, allein die Worte, die angeblich von oben kommen, aktivieren die Gefühle von Angst und Schuld. Dann fühlen sie sich hilflos gegenüber dem Vater – und gegenüber Allah.

Diese Männer haben gelernt zu gehorchen. Hätten sie nicht viel eher sehen müssen: Der junge Mann ist verliebt, und wir haben ihn völlig vergessen. Es geht auf einmal nur noch um Leute, die behaupten, Gott spielen zu wollen.

Wir sprechen mit den Gefangenen an diesem Tag noch viel über Feindbilder und Antisemitismus, über Homosexualität, über Respekt und Offenheit, Toleranz und Akzeptanz, über Gleichberechtigung und die Freiheit, eine eigene Meinung vertreten zu dürfen. Die Männer sollen verstehen, dass dies Grundpfeiler für ein friedliches Zusammenleben sind – in unseren Familien und in unserer Gesellschaft. Nur wenn Differenzen ausgehalten und nicht in einem Kräftemessen entschieden werden, ist dies möglich.

Bei der Arbeit mit ihnen und mit vielen anderen denke ich immer wieder: Trotz aller Hindernisse und Probleme können wir es schaffen, aufeinander zuzugehen. Wir können eine Gesellschaft bilden, die offen, integrativ und vielfältig ist – wenn wir endlich begreifen, wie tiefgreifend diese Aufgabe ist und wie lange sie uns begleiten wird.

Ping Pong der Begrifflichkeiten

Denn obwohl Einwanderung beileibe kein neues Phänomen ist, steht unser Staat – wie viele andere Staaten übrigens auch – dieser Aufgabe bis heute planlos gegenüber. Es sollte längst klar sein, dass die Integration von Millionen von Menschen nicht durch Notmaßnahmen gelingen kann oder dadurch, dass man einfach wegschaut und meint, in ein paar Generationen habe sich das Problem von alleine gelöst. Es sollte auch klar sein, dass es dabei um weit mehr geht als um den Spracherwerb, die Bereitstellung von Wohnraum und medizinischer Versorgung. Ein durchdachter, zukunftsorientierter Plan zur Integration von neuen und bereits hier lebenden Migranten in unsere Wertegemeinschaft ist dringend nötig. Fehler und Abkürzungen, die in Deutschland seit Jahrzehnten in diesem Bereich an der Tagesordnung sind, dürfen sich nicht ständig wiederholen. Früher galt: Ein bisschen notbetreut, ein bisschen vergessen, irgendwie geduldet – das war die Lage. Und das ist sie heute vielerorts immer noch.

Es wird viel geredet – meist oberflächlich und undifferenziert – und wenig gemacht. Immer wieder kommen die Fragen: Wann ist jemand integriert in Demokratie und Rechtsstaat? Und wer und was gehört zu Deutschland? Sie werden wie Ping-Pong-Bälle zwischen Politikern hin- und hergeschossen ohne eine Auseinandersetzung damit, worum es dabei konkret und deutlich gehen muss.

Ist es dienlich, wenn Horst Seehofer sagt: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland«? Oder wenn Angela Merkel sagt: »Der Islam gehört zu Deutschland« – so ganz pauschal, ohne jede Differenzierung? Was für ein Zeichen geben sie damit Migranten, die schon lange hier leben oder gerade erst angekommen sind? Heißt das: Ihr könnt machen, was ihr wollt – ihr werdet niemals dazugehören? Oder heißt es: Ihr dürft machen, was ihr wollt – wir tolerieren sowieso alles?

In diesem Durcheinander, in dem – wie so oft – nur über Begrifflichkeiten und nicht über Inhalte diskutiert wird und mit undifferenzierten Aussagen um sich geworfen wird, passiert Folgendes: Es bilden sich zwei Seiten. Doch die Polarisierung, die Spaltung einer Gesellschaft, ist etwas sehr Gefährliches. Ich weiß das, denn ich komme selbst aus einem Land, das so gespalten ist und so polarisiert, dass ich es dort nicht mehr ausgehalten habe. Die palästinensische Mitte ist schon längst verschwunden. Heute regieren die Radikalen. Auf der israelischen Seite musste ich miterleben, wie die Volkspartei, also die Arbeitspartei, fast ausgestorben und vor allem keine Partei des Volkes mehr ist, wie die Angst vor Terror und der Terror selbst dazu führen, dass die Linke in Israel nur noch eine kleine Rolle in der Gesellschaft spielt. Das ist unter anderem ein Grund, warum ich jetzt in Deutschland lebe, warum ich hier eine Familie gegründet habe. Ich will das hier auf keinen Fall erleben.

Auf der einen Seite stehen dort die Panikmacher, die Migranten als Gefahr sehen. Zu ihnen wiederum gehören zwei Arten von Menschen: Erstens diejenigen, die ihr Umfeld und die Ereignisse in der Welt bewusst selektiv wahrnehmen und ständig nach Bestätigung für ihre Meinung suchen, dass eine Gruppe von Menschen von Natur aus bösartig ist, etwas, das man nicht ändern kann, weshalb man sich auch nicht konstruktiv mit Problemen auseinandersetzen muss. Zweitens diejenigen, die bestimmte Ereignisse und Sachverhalte mitbekommen und dadurch Ängste entwickeln. Doch auch diese Menschen werden schnell sehr einseitig und selektiv in ihrer Wahrnehmung.

Auf der anderen Seite stehen die Übertoleranten, die Migranten pauschal als Kuscheltiere betrachten, die man vor den Panikmachern beschützen muss und denen man auf keinen Fall unsere Kultur und unsere Werte aufzwingen darf.

Doch die Debatte um die wesentlichen Punkte der Integration gehört weder zu den Panikmachern noch zu den Übertoleranten. Sie gehört in den bürgerlichen Raum der Mitte. Dort müssen die großen Volksparteien das Thema sehenden Auges, ohne irrationale Abwehr und ohne irrationale Sentimentalität für sich beanspruchen, denn beides wird den Migranten nicht gerecht. Es geht darum, klar zu handeln, pragmatisch, menschlich, demokratisch und ohne verdrehte Tabus. Integration muss ein offenes Thema werden, kein Minenfeld der politischen Sprengsätze und Ängste. Es geht um viel. Um die demokratische Gesellschaft wie um die Angekommenen, vor allem um deren Kinder, die nächste Generation.

Die deutsche Gesellschaft muss sich dieser Herausforderung gewachsen zeigen, bei der es schließlich nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch um Hunderttausende geht, die seit zwei oder drei Generationen in Deutschland leben, ohne angekommen zu sein. Wer dann noch keinen Zugang zur Gesellschaft gefunden hat, wer dann noch immer Teile des Grundgesetzes ablehnt oder gar nicht kennt, der ist zwar physisch da, aber mental weit weg. Wer hier auf offener Straße mitten in der Demokratie für Recep Tayyip Erdoğans Alleinherrschaft oder sogar für die Todesstrafe demonstriert, wer sich in antisemitischen und autoritativen Parallelgesellschaften bewegt, der oder die muss endlich auch eine Chance auf Inklusion und Integration erhalten – ganz genauso wie Neuankömmlinge.

Das ist die klare und wichtige Wahrheit in einem Land, in dem in Städten wie Hamburg oder Berlin 47 Prozent der Schulanfänger die Buchstaben NDH in ihrer Schulakte stehen haben: »Nichtdeutscher Herkunft«. Diese Kinder sind oder werden Deutsche.

Doch was passiert? Im Moment wird weiter an kurzfristigen Notmaßnahmen gebastelt, ein paar mehr Lehrer für Willkommensklassen werden eingestellt, viele rührende Menschen engagieren sich für Flüchtlinge. Das ist alles gut. Aber ein umfassender Plan fehlt, damit sich an der Gesamtheit des Problemkomplexes grundlegend etwas positiv verändert. Gebraucht wird ein gezielter, professioneller und bundesweiter Plan für Integration. Aus dem aktuellen Patchwork muss ein bundesweites Konzept gewoben werden. Ein Plan, der für die Mehrheit und die Minderheiten nachvollziehbar ist, der dem politischen sowie zivilgesellschaftlichen Handeln eine Richtung geben kann. Vermittelt werden müssen – auf jeder Ebene und überall mit Festigkeit, Freundlichkeit und Fairness – die im Grundgesetz verankerten demokratischen Werte. Hat jemand Obdach und Arbeit, ist er oder sie noch lange nicht integriert – noch lange nicht Demokrat oder Demokratin. Integration ist keine Kurzzeitmaßnahme, sie ist nicht temporär. Sie dauert. Sie wird uns auch noch 2020 und 2030 beschäftigen. Wir müssen endlich beginnen zu handeln.

Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einem hochrangigen Politiker aus Deutschland. Wir trafen uns bei einer Podiumsdiskussion, bei der es um Radikalisierung ging. Wir diskutierten, wir stritten. Danach gab es einen Empfang. Wir tranken etwas zusammen und diskutieren weiter mit vielen anderen Menschen. Später an dem Abend kam er zu mir, setzte sich neben mich und sagte, als wolle er mich beruhigen: »Herr Mansour, ich bin dankbar für Ihre Arbeit, aber machen Sie sich keine Sorgen, wir schaffen das schon, wir haben Coca-Cola. Das ist stärker als jede Ideologie.« Fassungslos schaute ich ihn an, dachte noch Tage später über seine Aussage nach. Ja, es stimmt, wir leben im Westen, im Kapitalismus, wir haben die Freiheit. Das ist eines unserer höchsten Güter. Aber so einfach können wir dieses als Gesellschaft nicht weitergeben, vor allem wenn Familien, Moscheen, Eltern und Ideologien diese Freiheit immer wieder abwerten und als Risiko sehen. Wir müssen Wege finden, diese Freiheit an die Menschen weiterzugeben, damit sie sie als Chance, als ein Gewinn für sich und ihre Familie verinnerlichen. Wie kann es sein, dass wir Jugendliche so einfach für Apple-Produkte begeistern können aber nicht für Demokratie, Menschenrechte und Freiheit?

Ja, Integration ist ein langer und schwieriger Prozess. Sie ist aber möglich, sehr gut sogar. Ich darf das so klar sagen, weil ich täglich auch Menschen in diesem Land begegne, die anderen Menschen erfolgreich demokratische Werte, die deutsche Verfassung und was sie bedeutet, Empathie, Toleranz und Akzeptanz näher- und beibringen. Es gibt gute Beispiele, die zeigen, dass Dialogplattformen helfen, eine Gesellschaft zum Positiven zu formen und zu verändern.

Ich darf das auch deshalb so klar sagen, weil ich Integration selber erlebt habe und immer noch lebe.

2 Angekommen

Es könnte alles so leicht sein

Manchmal will ich einfach nur Migrant sein. Jeden Samstag auf der Sonnenallee Falafel essen, abends in Kreuzberg Shisha rauchen und viele arabische Freunde haben. Im Sommer in mein Heimatland fliegen, meiner Familie tütenweise billige Kleider von C&A mitbringen, zwei Wochen dort bleiben, alle Onkels und Cousins besuchen und ihnen sagen, wie toll Deutschland ist, wie viel Ordnung hier herrscht, wie viel Geld man hier verdienen kann, wie teuer Avocados sind und wie billig Autos. Ich werde erzählen, dass die Deutschen ihre Hunde mehr lieben als ihre Kinder, dass man auf den Autobahnen so schnell fahren kann, wie man will und wie frech man mit Polizisten umgehen kann.

Nach dem Abendgebet berichte ich von meinen Frauengeschichten – die meisten erfunden. Die Männer sind begeistert. Die Frauen versuchen, mich zum Heiraten zu bewegen. Ich bekomme Bilder von möglichen Kandidatinnen und lehne erst mal alle ab. Meine Mutter ist sauer auf mich, sagt, dass sie bitteschön auf meiner Hochzeit tanzen möchte, noch bevor sie stirbt. Sie warnt mich vor sündhaften Beziehungen zu Frauen und vor Aids. Sie will, dass ich Kinder habe, die sie umarmen kann, und sie wird immer wieder fragen, ob ich nicht doch schon heimlich geheiratet habe.

Kurz vor der Abreise kaufe ich haufenweise Hummus, Sesamsoße und arabisches Gebäck und lasse meine Mutter ihre speziellen gefüllten Weinblätter kochen. Freunde begleiten mich zum Flughafen und sprechen von ihrem Neid auf mich. Voller Genugtuung erzähle ich noch einmal, wie großartig das Leben in Deutschland ist. Wir werden uns zum Abschied küssen, sie kehren in ihre Leben zurück, ich steige in den Flieger. Am Himmel wechseln sich Sonne und Wolken ab – in meinen Gefühlen auch.

Am nächsten Morgen stehe ich auf, lade Freunde zum Essen ein und meckere viel über meine Familie und die anderen Menschen in meiner Heimat. Mit meinen Freunden hier spreche ich Arabisch, ab und zu sagen wir »ach so« oder »doch«. Das klingt cool. Ich sage ihnen, wie schön es ist, zurück zu sein. Abends aber schaue ich wieder Nachrichten von Al-Jazeera und danach eine arabische Serie auf YouTube. Plötzlich bekomme ich Sehnsucht nach zu Hause, nach dem Geruch, dem Essen, der Musik, den Menschen, meiner Familie, der Geborgenheit.

Ich bin hier und nicht hier, dort und nicht dort.

Im nächsten Sommer halte ich dem Druck meiner Familie nicht mehr stand: Ich heirate meine Cousine. Wir kennen uns kaum, aber sie ist wirklich wunderschön. Als Bräutigam muss ich für alles aufkommen, also mache ich Schulden. 5000 Euro bekommen allein die Eltern meiner Zukünftigen, das ist der Brautpreis. Das Kleid, das sich meine Cousine ausgesucht hat, ist ein 2000 Euro teurer Traum – wie sie es nennt – aus Tüll und Spitze, Strass und Perlen. Ein langer Schleier gehört auch dazu. Sie wollte dieses und kein anderes. Ich bezahle es. Außerdem bekommt sie Goldschmuck von mir. Sie soll die Schönste auf der Hochzeit sein.

Zur Feier erwarten wir 900 Gäste. Es wird ein rauschendes Fest. Meine Braut: atemberaubend. Meine Mutter: so ausgelassen und glücklich, wie ich sie noch nie zuvor erlebt habe. Alle essen, trinken, lachen und tanzen stundenlang. Ich bin stolz und, wie ich glaube, auch irgendwie glücklich.

Ich finde eine kleine Wohnung in Berlin für uns, richte sie mit schönen Möbeln ein. Schlafzimmer, Sofa, Teppiche, Esstisch, Gardinen: alles neu, alles vom Feinsten. Meine Frau wird ein paar Wörter auf Deutsch lernen, um einkaufen und mit dem Bus fahren zu können. Wir sprechen nicht viel miteinander, auf Deutsch sowieso nicht. Wofür also die Sprache richtig lernen? Gemeinsamkeiten zwischen uns gibt es kaum.