Kommen Sie, Cohn! - Carola Stern - E-Book

Kommen Sie, Cohn! E-Book

Carola Stern

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Beschreibung

Carola Sterns Vermächtnis – ein Buch über die Schriftstellerin Clara Viebig und den Verleger Friedrich Theodor Cohn Carola Stern erzählt in ihrem letzten Buch die Geschichte einer jüdisch-christlichen Familie zur Zeit der Jahrhundertwende, als die von Fontane beschriebene Welt des preußischen Adels unterging und Berlin zu einer Metropole der wirtschaftlichen und kulturellen Moderne wurde. Ein neues Wort kam damals auf, das Geschichte machen sollte: Antisemitismus. Zu Hause beim alten Fontane hat alles begonnen: Die angehende Autorin Clara Viebig erbittet sich Rat von dem großen Berliner Schriftsteller. Und der reicht ihre Manuskripte weiter an den Verlag seines Sohnes. Teilhaber dieses Verlages ist Friedrich Theodor Cohn, weit gereister Sohn einer gebildeten jüdisch-bürgerlichen Familie. In »Fritz« findet Clara einen verständnisvollen Zuhörer, der an ihrer literarischen Arbeit interessiert ist. Mit seiner Hilfe wird die Chronistin der kleinen Leute, die »deutsche Zola«, eine Bestsellerautorin. 1896 heiraten die beiden – eine jüdisch-christliche Ehe ist zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit. Ihre Familien sind von der Verbindung nicht begeistert. Bei Claras Mutter muss Fontane vermitteln: Cohn gehöre doch zu den »feinen Juden«, nicht zu den Ostjuden, die der Berliner Historiker Heinrich Treitschke als »unser Unglück« bezeichnet hat. Carola Stern erzählt von Fritz und Clara, von den politischen und amourösen Affären ihres Sohnes Ernst, der komponiert und dirigiert und später emigriert, von dem Freundeskreis, zu dem Rudolf Steiner gehört, und von »Min«, dem politisch couragierten Schriftsteller Armin T. Wegner, der 1933 einen berühmten Brief an Hitler schreibt. Carola Stern hat bis zu ihrem Tod an ihrem letzten Buch gearbeitet. Letzte Ergänzungen und Überarbeitungen stammen von Ingke Brodersen, Carola Sterns langjähriger Lektorin und Freundin.

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Seitenzahl: 181

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Carola Stern

mit Ingke Brodersen

Kommen Sie, Cohn!

Friedrich Cohn und Clara Viebig

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Carola Stern

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Adieu

Der Fünfundsiebzigste

»Das ist schlecht, aber Sie haben Talent«

Familienstreit

»Ein guter Junge, aber unbedeutend«

Nichts für die »arbeitenden Kreise«

Die deutsche Zola

»Herrlichen Zeiten entgegen«

Ein Marder in »Claras Haus«

»Proletarische Manieren«

Cohns Erfolgsautoren

»Durch dick und dünn, durch Not und Tod«

Das Ende der alten Welt

Neue Zeiten

Enfant terrible

Der Verleger und sein Autor

Min, der mutige Empörer

»Ideale echter Weiblichkeit«

»Wir schlossen die Augen, versiegelten die Ohren«

»Alles ruiniert, alles entzwei«

Nach Brasilien

Jahre der Einsamkeit

Fürsorgliche Belagerung

Quellen und Literatur

Literatur

Bildnachweis

Inhaltsverzeichnis

Adieu

von Ingke Brodersen

Carola Stern, die Autorin dieses Buches, ist tot. Sie starb am 19. Januar 2006. Den größeren Teil dieses Textes hat sie geschrieben, bevor sie – in den letzten Jahren ihres Lebens zum wiederholten Mal – ins Krankenhaus musste.

Das Berlin der Jahrhundertwende ist eine der Bühnen, auf denen die Geschichte dieses Buches spielt. Im wilhelminischen Kaiserreich sprießen viele neue Verlage aus dem Boden, und in ihnen entsteht ein neuer Berufszweig: der Lektor. Ich war Carola Sterns Lektorin, als wir uns vor über zwanzig Jahren bei der Arbeit an dem ersten Teil ihrer Autobiografie »In den Netzen der Erinnerung« kennenlernten; später war ich ihre Verlegerin und Freundin.

Gleich zu Anfang unserer Zusammenarbeit ließ sie mich wissen, dass wir vielleicht doch nicht das ideale Gespann von Autorin und Lektorin sein würden. Meine Reaktion auf ihr Manuskript hatte zu lange auf sich warten lassen. Sie war ungeduldig, wollte wissen, woran sie war, denn sie hatte Pläne für eine ganze Reihe von Büchern. Biografien von Frauen, die sie bewunderte, wollte sie schreiben. Als ich sie fragte, warum sie sich gleich so viel vorgenommen hatte, gab sie mir eine Antwort, die ich erst später begriff: »Ich will endlich lernen, ich zu sagen.«

Die Auskunft verblüffte mich, schließlich war sie zu der Zeit eine öffentlich bekannte und geschätzte Journalistin, Rundfunk- und Fernsehkommentatorin und oft Teilnehmerin der internationalen Journalistenrunde in Werner Höfers Frühschoppen am Sonntagmorgen – häufig genug die einzige Frau unter lauter Männern, die zudem wenig Scheu kannte, ihre Meinung zu vertreten, auch wenn sie damit gegen die ganze Runde stand. Für überraschende Wendungen einer Diskussion war sie immer gut, sehr oft bestimmte sie den Verlauf. Wieso sollte ausgerechnet jemand wie sie lernen wollen, »ich« zu sagen?

Für Carola zog sich ein tiefer Bruch durch ihr Leben, ein Bruch, der ein Davor und ein Danach markierte. Selbst ihre »besten Jahre«, als sie eine viel gehörte Stimme war, die mit ihrem Engagement für die Ost- und Friedenspolitik, für Menschenrechtsfragen und die Gleichberechtigung von Frauen, die Entschädigung von Zwangsarbeitern und für die deutsche Sektion von Amnesty International das zivile Grundmuster dieser Republik entscheidend mitgestaltet hat – selbst diese besten Jahre haben den Bruch nie ganz kitten oder gar heilen können. Und so steht die Frage »Wer bin ich?« auch noch am Anfang ihrer zweiten vor einigen Jahren erschienenen Autobiografie »Doppelleben«. Eine ziemlich ungewöhnliche Frage für eine Frau, die auf eine 75-jährige Lebensgeschichte zurückblickte. Der Titel lässt erkennen, dass es für sie nie eine selbstverständliche Antwort darauf gab.

Als Autorin war Carola Stern ein seltener Glücksfall – in ihren Biografien stellte sie eine Bühne auf, suchte sich ihr Ensemble zusammen, baute Kulissen und besorgte Requisiten, sie war eine gute Dramaturgin, die den kleinen Fragen des Alltags im Leben ihrer Heldinnen und Helden mit der gleichen Akribie nachging wie den großen politischen Fragen der Zeit. Und immer erfuhr man in ihren Büchern auch etwas über die Biographin selbst; wenn sie an Rahel Varnhagen monierte, allzu beflissen auf Zustimmung anderer aus zu sein, dann scheute sie sich nicht zu erwähnen, dass sie diese Schwäche teilte.

Ihre Suche nach dem Ich, das nie wieder mitläuft, sondern aufsteht, das sich nicht mehr in Reih und Glied stellt, sondern hervortritt, sich einmischt, protestiert, kritisiert und sich solidarisiert, hat sie als ihre Lebensaufgabe gesehen – persönlich und politisch.

Fortan liebte sie in den Biografien besonders jene Figuren, die aufbegehrten – so wie es Dorothea Schlegel gegen die konventionelle Frauenrolle oder Rahel Varnhagen gegen den »Judenschmerz« tat. In diesem Buch war es der Autor Arnim T. Wegner, der ihr Herz eroberte – ein Abenteurer, der die Welt mit Zelt und Faltboot durchwanderte, zu den Abendeinladungen seines Verlegers Friedrich Theodor Cohn in der Königstraße 3 in Berlin-Zehlendorf auf dem feuerroten Sitz seines Motorrads vorfuhr, ein großer Mann mit nachtblauen Augen und einem ungestümen Temperament. Beim amerikanischen Präsidenten protestierte er gegen die Untätigkeit der Weltöffentlichkeit bei der Ermordung der Armenier durch die Türken im Ersten Weltkrieg, beim »Führer« beschwerte er sich über die Boykottaktionen gegen die deutschen Juden; er begründete den Bund der Kriegsdienstgegner mit und riskierte immer wieder seinen Arbeitsplatz, Leib und Leben, um sich für andere einzusetzen. Ein Rebell, ein Empörer, von der literarischen und politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik nahezu vergessen, von Carola aber überaus bewundert. Das war so einer, der heraustrat aus dem verordneten Marsch in Reih und Glied!

Für Friedrich Theodor Cohn, der in dieser Familiengeschichte eine der Hauptrollen spielt, hat sie eher zärtliche Fürsorge empfunden. Ein deutscher Jude, der seinen erlernten Beruf des Kaufmanns nach wenigen Jahren aufgab, um in die Welt der Bücher einzutauchen, als Teilhaber in den Verlag von Friedrich Fontane, dem Sohn des großen Dichters, eintrat und die einst vor seinem Schreibtisch sitzende Schriftstellerin Clara Viebig zu seiner Frau und zur Erfolgsautorin machte.

Später hat Cohn seinen eigenen Verlag gehabt, zu dessen Autoren nicht nur der erwähnte Arnim T. Wegner und Clara Viebig zählten, sondern auch Georg Hermann, Georg Lukács, Gertrud Kolmar, Ina Seidel und viele andere. Und doch hat Cohn, wie die meisten konservativen, kaisertreuen Juden zeit seines Lebens geglaubt, seine jüdische Herkunft verstecken zu müssen. Vor allem sein Sohn sollte nur den Namen der Mutter, nicht den des Vaters tragen, damit Ernst, sein Ein und Alles, ganz »dazugehört«.

Der Aufstieg Deutschlands unter Wilhelm II. zu einer führenden Industrienation war für Cohn eine Zeit der großen Zukunftshoffnung, und Berlin, die pulsierende europäische Metropole, genau der richtige Ort für das Verlagsgeschäft. Aber Cohn gehörte nicht wie Albert Einstein zu denjenigen, die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Abdankung des Kaisers und den politischen Neubeginn in der Weimarer Republik begrüßten. Der aufbegehrende revolutionäre »Pöbel« erschreckte ihn. Der größte Teil seines Vermögens, mit dem er Kriegsanleihen gezeichnet hatte, war verloren, seine Welt von Ordnung, Anstand und Disziplin schien für immer dahin. Dass die spätere Verfolgung unter den Nationalsozialisten ihn und alle anderen Juden meinte, wollte er nicht wahrhaben. Wie so viele seiner jüdischen Mitbürger pochte er darauf, dass er Deutscher und auf keinen Fall zur Emigration bereit sei, zu der sein politisch hellsichtigerer Sohn Ernst ihn drängte. 1936 starb Cohn, das Schicksal der Deportation und Ermordung, das auch viele aus seiner Familie traf, ist ihm erspart geblieben.

Ich vermute, dass Carola Stern in Friedrich Theodor Cohn in manchem ein Ebenbild ihres 2001 verstorbenen Mannes Heinz Zöger sah. So einen wie Cohn, der sich bescheiden und selbstlos immer wieder in den Dienst seiner schreibenden Frau stellte, als Erster ihre Texte las, Vorschläge machte, wie der Einstieg in die Geschichte umgeschrieben werden könnte, wo vielleicht eine zusätzliche Figur eingefügt werden sollte oder eine Streichung angebracht wäre – so einen hatte Carola Stern in ihrem Mann Heinz Zöger. Letztlich verdankt sie ihm auch den Hinweis auf Cohn. Zögers Lieblingsschriftsteller war Theodor Fontane gewesen, mit dem er wieder und wieder als Leser durch die Mark Brandenburg wanderte, dessen Witz und Ironie er schätzte und dem er in der unprätentiösen Offenheit für Neues seelenverwandt war. Die Liebe ihres Mannes zu Theodor Fontane ließ Carola eines Tages auf dessen Gedicht »An meinem Fünfundsiebzigsten« aufmerksam werden, das der Dichter wenige Tage nach seinem Geburtstag verfasst hatte und das mit der Zeile endet, die ihre Neugier weckte: »Kommen Sie, Cohn!« Wer war dieser Cohn?

So kam Carola zu Friedrich Theodor Cohn und zu Clara Viebig. Und wie immer erhielt ich eines Tages einen triumphierenden Anruf meiner Autorin: »Ich habe schon die ersten zehn Seiten geschrieben!«

Ab dann trudelten in regelmäßigen Abständen die Manuskriptseiten bei mir ein. Das anfänglich erstellte Inhaltsverzeichnis plante Carola sehr genau durch, überlegte sich Aufbau und Personal, Kulissen, Nebenrollen und Dramaturgie. Selten wurden größere Umbauten daran noch während des eigentlichen Schreibens vorgenommen. Wenn das Rohmanuskript fertig war, dann gab sie es mir wie auch anderen zu lesen, hörte sich Einwände, Kritik und Ergänzungsvorschläge an, strich selbst in den nächsten Durchgängen, was ihr überflüssig, zu wenig ausgebaut oder ablenkend erschien, und reicherte den Text oft durch zahlreiche zusätzlich eingelegte Seiten an.

Noch vor ihrem 80. Geburtstag im November 2005 hatte sie »Kommen Sie, Cohn!« fertig geschrieben. Aber wir waren uns einig, dass der Text in vielem noch ergänzt werden sollte. Ich wünschte mir mehr zu Theodor Fontane, schließlich hatte der doch Fritz und Clara überhaupt erst zusammengebracht und auch in dem Streit der Familien um die Heirat einer Christin mit einem Juden diplomatisch geschickt vermittelt. Die »Physiognomie« Berlins um die Jahrhundertwende, als die Stadt durch U- und Hochbahn, durch AEG und neuartige Warenhäuser zu »Spree-Chicago« wurde, sollte deutlicher hervortreten. Nicht nur für Fritz Cohn, sondern für viele deutsche Juden war es eine Zeit der Hoffnung, des Aufbruchs, bei dem sie selbst die Pioniere waren. Und den Schriftstellern, auch Clara Viebig, lieferten die radikalen gesellschaftlichen Umbrüche der Stadt ständig Stoff für ihre Geschichten. Nicht von ungefähr entstand zu dieser Zeit der Großstadtroman, nahezu synonym mit dem »Berlin-Roman«, der in den zahllosen literarischen Zeitschriften fast in den Rang eines eigenen Genres erhoben wurde.

Auch in dem Urteil über die hier auftauchenden Personen waren wir nicht immer einer Meinung. Zu Clara Viebig beispielsweise hielt Carola Distanz. Zwar bewunderte sie den Mut, mit dem die Viebig realistisch die Welt der »Mietskasernen«, der Dienstmädchen oder der Frauen in den Eifeldörfern beschrieben hatte – die positive Resonanz der Leser war der »deutschen Zola« dabei keineswegs von Anfang an sicher. Aber Carola, die die Romane der Viebig eher mit heutigen Augen las, war manches darin zu kitschig, zu sentimental oder auch zu heroisch. Dabei war ihr die auflagenstarke Autorin von damals in manchen Tugenden – in Fleiß, Begabung, sorgfältiger Recherche und in ihrem Respekt vor dem Publikum, den Lesern – gar nicht unähnlich. Aber Carola nahm ihr übel, dass Clara Viebig nach dem Tod ihres Mannes den Antrag auf Aufnahme in Goebbels’ Reichsschrifttumskammer stellte; als Ehefrau eines Juden hatte sie vorher kein Mitglied sein können, ohne diese Mitgliedschaft allerdings konnte kaum ein Autor oder eine Autorin etwas publizieren. Genützt hat ihr das nichts mehr. In den einsamen Jahren nach dem Tod ihres Mannes brachte Clara, die bis dahin Jahr für Jahr ein neues Buch geschrieben hatte, keinen Roman mehr zustande.

Auch bei Ernst, dem Sohn von Fritz Cohn und Clara Viebig, waren Carola und ich verschiedener Meinung. Für sie war Ernst ein Hallodri, ein Frauenheld, fast ein modischer Kulturbolschewist, ein Verschwender, ein Angeber, der seine Frauen ebenso häufig wechselte wie seine politische Gesinnung. Ich sah in Ernst eine ganz andere Person. Ich sah ein verlorenes, einsames Kind, das fremd in der Welt seiner Eltern war, eigentlich – obgleich verwöhnt und verhätschelt – kein Zuhause hatte. Ein schwieriges Kind, das seinen Eltern oft Kummer bereitete, das kränkelte, schlecht in der Schule war und sich immer wieder hingezogen fühlte zum »Personal« mit seinen »proletarischen Manieren«, zu dem er in den Augen der klassenbewussten Eltern Abstand zu halten hatte. Man muss kein Psychologe sein, um Ernsts zahllose »Amouren« als immer wieder scheiternde Anläufe eines Liebe Suchenden erkennen zu können. Nur wenn er am Klavier saß oder komponierte, konnte er sich jene Welt erschaffen, in der er ganz »bei sich« war. Was hätte aus diesem hochbegabten Musiker werden können, wenn die Gestapo ihn nicht aus dem Land getrieben hätte? Ernst emigrierte rechtzeitig.

Und das tat auch Franz Colmers, Cohns Halbbruder, ein Sohn aus der zweiten Ehe des Vaters, dessen eigenes Schicksal Carola entgangen war. Franz war früh zum Katholizismus übergetreten, wie so viele deutsche Juden sicherlich in der Hoffnung, sich mit der Taufe ein anerkanntes »Entrebillett«, wie Heinrich Heine es genannt hat, zur deutschen Gesellschaft zu verschaffen. Er war mutiger als sein Bruder Fritz, in jungen Jahren ein Abenteurer, der in die Welt hinauszog, in die Mandschurei und nach Bulgarien, um Erfahrungen in der Feldchirurgie zu sammeln. Franz machte Karriere als allseits anerkannter Chirurg, er wurde Geheimrat und Mitglied des Preußischen Herrenklubs. Aber was scherte das die SA? Knapp zwei Monate nach dem Tod des Bruders wendete sich Franz an Thomas Mann, den er persönlich kannte, mit der Bitte, ihm bei der Emigration nach Amerika behilflich zu sein. Mit dessen Unterstützung gelang es Franz Colmers, seine Familie und sich selbst rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

 

Carola Stern und ich hatten vereinbart, uns über alle diese Geschichten auszutauschen, nachdem sie sich von den Strapazen der Ehrungen und Würdigungen zu ihrem achtzigsten Geburtstag erholt hätte. Am 6. Januar, so versprach sie mir, würde sie von Usedom, ihrer geliebten Insel, wieder zurück sein: »Und dann besprechen wir alles.«

Aber es kam anders. In den Weihnachtstagen telefonierte ich mit ihr. Gut klang sie nicht. Alarmiert war ich erst, als ich von ihr die Nachricht erhielt, sie sei vorzeitig auf dem Weg zurück nach Berlin – ins Krankenhaus. Wenige Tage später erfuhr ich durch einen Anruf des Arztes, dass sie operiert und danach ins künstliche Koma versenkt worden sei. In den nächsten Wochen sah ich sie täglich. Vielleicht spürte sie meine und die Besuche anderer. Vielleicht.

Ich saß im Kino und sah die Anfangsszene von Woody Allens Film »Match Point«. Der Ball berührt das Netz, federt hoch, ein kurzes Zögern – man weiß nicht, wird er das Netz noch einmal überwinden oder fällt er zurück, woher er gekommen ist. Ich hatte dieses Bild vor Augen, als mich der Anruf der Klinik aus dem Kino holte. Eine gute Stunde vorher noch hatte ich mit dem Arzt telefoniert – ob es ein Problem sei, wenn ich an diesem Abend erst sehr spät zu Carola käme. Ich kam zu spät. Den letzten Schritt hatte sie allein gemacht. Wenn es für sie beschlossene Sache war, zögerte sie nie, bisher unbekanntes Gelände zu betreten. Aber sie bereitete sich gewissenhaft darauf vor.

Auch auf den Tod. Seit Jahren schon, seit dem Tod ihres Mannes, erhielt ich meist schriftliche Instruktionen von ihr. »Im Falle meines Todes« waren sie überschrieben. »Nimm das zu deinen Akten« stand darunter. Sie diktierte mir Telefonnummern und Adressen, ließ mich wissen, welchen Sarg sie wünschte und welche amtlichen Dokumente ich kennen sollte, knappe Notizen, unsentimental, geschäftsmäßig. Bis ich erzürnt protestierte, weil ich von Tod und Trauerfeier nichts wissen wollte – wir hatten doch noch so viele Pläne. Ab dann fing jeder ihrer Briefe mit dem Satz an: »Liebe Ingke, ich verspreche dir, dies wird das letzte Schreiben in Sachen meines Todes sein, aber nimm es zu den Akten.« Sie rügte, dass ich mich weigerte, mich damit zu beschäftigen. »Du wirst mir noch dankbar sein«, sagte sie, »dass ich alles geregelt habe.«

Der Ball fiel zurück an diesem 19. Januar. Ich hatte den Augenblick des Abschiednehmens gefürchtet. Nie wieder wird sie mir, kaum stehe ich im Hausflur ihrer Wohnung, von der Küche aus fragend zurufen: »Willst du lieber einen Prosecco oder einen Rotwein?« Nie wieder wird sie triumphierend-glücklich die ersten geschriebenen Seiten melden. Nie wieder drängend insistieren, dass wir uns schon mal die nächste Figur für ein nächstes Buch überlegen sollten. Tucholsky und seine Frauen werden auf ihr nächstes Leben warten müssen.

Cohn sollte das nicht passieren. Carola Sterns Verleger Helge Malchow bat mich, das Buch zu Ende zu schreiben. Wir hatten beide das Gefühl, das sei richtig und in ihrem Sinne. Denn Carola hätte darauf gedrängt, Cohn nicht noch einmal »auszulöschen«, so wie ihn die Nationalsozialisten nach seinem Tod aus allen amtlichen Dokumenten der Familie Cohn-Viebig »auslöschten«. Carola hatte ihm durch ihre Arbeit ein Stück von seinem Leben zurückgeben wollen.

Und so ließ ich mich auf diese postume Zusammenarbeit ein. Ich tauchte in Carolas Arbeitsmappen ein, die sie, wie bei jedem ihrer Projekte, auch zu diesem Buch in einer kleinen Hängeregistratur angelegt hatte. »Clara Viebig Teil 2« stand auf der einen, »Ergänzungen« auf einer anderen, »noch mit Ingke besprechen« auf einer dritten. Manches fand sich, was mir die Arbeit erleichterte, anderes rührte mich, weil ich immer wieder die sorgfältig und geradezu verschwenderisch recherchierende Autorin erkannte, die sich Literatur über »Berlins S-Bahnhöfe« besorgt hatte oder über »900 Jahre Kostümgeschichte« – vermutlich, um die kleine Anfangsszene, wenn die Gäste zu Theodor Fontanes Geburtstag kommen, mit einer angemessenen und historisch korrekten Beschreibung der Damenkleidung ausfüllen zu können.

Aber ich musste auch selbst auf die Suche gehen, ungedeckt von meiner Mitautorin. Ihr Stil war mir vertraut durch viele Bücher, an denen wir zusammengearbeitet hatten. Dass ich versuchte, beim Leser durch meine Darstellung etwas mehr Verständnis für Ernst zu wecken, dass ich Claras Naturalismus ausführlicher würdigte, die Familie Fontane häufiger zu Wort kommen ließ und auch den Verleger Cohn ironisch zeigte – ob ihr das immer gefallen hätte? Ich weiß es nicht, vermute aber, dass es ihr nicht unwillkommen gewesen wäre. Sie war von einer wahrhaft professionellen Uneitelkeit als Autorin und nahm Zusätzliches fast immer dankbar auf.

Zuweilen aber brach ich in Tränen aus, weil es meine Begleiterin so vieler Jahre, ihre zupackende Lust am Arbeiten und Plänemachen plötzlich wieder so gegenwärtig und den Verlust so schmerzhaft spürbar werden ließ – »ein neues Projekt mit Ingke«, hieß eine Mappe. Was von einem Menschen bleibt, ist das, was er anderen gegeben hat. Und sie hat nicht nur mir großzügig geschenkt.

Ich sage dir Adieu, umarme dich und danke dir, Carola Stern.

 

Und nun kommen Sie, Cohn!

 

 

Berlin im April 2006

Inhaltsverzeichnis

Der Fünfundsiebzigste

In der Potsdamer Straße 134c, nahe dem Berliner Landwehrkanal, da, wo nach dem Mauerbau eine West-Berliner Staatsbibliothek errichtet werden wird, stand Ende des 19. Jahrhunderts das Johanniterhaus, in dem der Dichter Theodor Fontane wohnte, fünfundsiebzig Stufen hoch, beengt, doch recht behaglich.

Die Arbeit an »Effi Briest« hat er einige Monate zuvor abgeschlossen. Emilie, seine Frau, hat wie immer das »untergeordnete Amt des Abschreibens«, wie sie es spöttisch nennt, übernommen. Vermutlich aber nicht nur das. Wer ein Manuskript abschreibt, stößt unweigerlich auf Ungereimtheiten, entdeckt so manche Unstimmigkeit, wird Einwände haben und Vorschläge machen. »Wir basteln meinen Roman fertig«, pflegt ihr Mann zu dieser gemeinsamen Arbeit zu sagen.

Dort, in seiner »Dreitreppenklause«, sitzt der Hausherr nun um die Jahreswende 1894/95 in seinem geräumigen Arbeitszimmer und denkt noch einmal an seinen 75. Geburtstag zurück, den er vor wenigen Tagen gefeiert hat.

Schon am Vormittag des 30. Dezember 1894 waren die Pferdekutschen mit den Gästen vorgefahren. Die Herren erschienen in schwarzen Gehröcken oder eleganten Cutaways, unter denen goldene Manschettenknöpfe blinkten, die Damen, Hüte groß wie Wagenräder auf den Locken, trugen hochgeschlossene Gewänder, geschmückt mit Rüschen und Jabots, Volants und Spitzen und den gerade in Mode gekommenen breiten Keulenärmeln, die engen Röcke unter den fest zugeschnürten Taillen vom Knie an abwärts glockenartig zu kleinen Schleppen auseinanderfallend. Und während sie mit ihren Begleitern die Stufen hoch zu den Fontanes stiegen, raschelte und knisterte verführerisch das Seidenfutter unter ihren Röcken, und auf den Pompadouren glänzten die aufgestickten Perlen. Man trat ein, man gratulierte, stand, ein Weinglas in der Hand, plaudernd im Empfangszimmer zusammen. Gegen Mittag fuhren die Pferdekutschen wieder vor, und die Gäste sagten Adieu. Ja, so war es gewesen.

Auch der preußische Staat hatte den Dichter endlich mit besonderen Auszeichnungen gewürdigt. Auf Anregung des Historikers Theodor Mommsen war ihm die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität zugesprochen worden. Und der preußische Kultusminister hatte ihm jene lang erhoffte lebenslange Pension zugebilligt, die die ständigen Geldsorgen der Familie wenn nicht beseitigen, so doch mildern wird. Aber der alte Herr reagiert auf alle Ehrungen mit einer Mischung aus Stolz und Missmut – Mommsen, der zu den Bewunderern Fontanes zählt, mag er nicht, der ist ihm zu wenig »zweifelsohne«, und ohnehin kommt alles, was ihm an Würdigung zuteil wird, zu spät.

Einige Jahre zuvor hatte er endlich die »Tretmühle« des Journalismus verlassen und die Stelle als Theaterkritiker bei der alten »Vossin«, der »Vossischen Zeitung«, aufgeben können, um sich ganz der freien Schriftstellerei zu widmen. So verhasst er sich bei den Theatern durch seine oft erbarmungslose Kritik an Stücken und Inszenierungen gemacht hat, so populär ist er durch seinen unverfroren ironischen Ton bei den Lesern geworden. Denn er schonte niemanden: »Schlecht ist schlecht, und es muss gesagt werden.«

Sein Ruhm ist in den letzten Jahren ebenso gewachsen wie seine Leserschaft. Briefe von Bewunderern und vor allem auch von Verehrerinnen stapeln sich auf dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers. Als Dreißigjähriger war er als freier Schriftsteller gescheitert – nun scheint sein Leben zurechtgerückt. Er genießt Wohlwollen und Anerkennung. Kann er nicht zufrieden sein?

Und dennoch, der Geehrte ist enttäuscht. An seinem 75. hat sich wiederholt, was er ähnlich schon bei der großen, zu Ehren seines 70. Geburtstages veranstalteten Feier im Englischen Haus erlebt hat: Damals wie diesmal hat sich das »alte Preußen« kaum blicken lassen, jene Welt des märkischen Adels, die er doch seit über vierzig Jahren in Romanen, Erzählungen, Tagebuch-Aufzeichnungen, in Land-und-Leute-Schilderungen so unnachahmlich beschrieben hat. »Ich bin immer ein Adelsverehrer (…) gewesen«, sagt er von sich selbst, aber bei »meinen Lieblingen, den Junkern (…), stehe ich auf dem Index«. Keiner von ihnen ist gekommen, um ihm, dem Dichter, zu gratulieren. Wieder hat der preußische Adel wie schon vor fünf Jahren »alles den Juden überlassen«. Unter ihnen hat er eine große Schar von Bewunderern. Und Freunde, die seine Literatur zu schätzen wissen.