Kopfarbeit - Dr. Peter Vajkoczy - E-Book
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Dr. Peter Vajkoczy

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Beschreibung

Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag der Neurochirurgie – und in das menschliche Gehirn: Ein weltweit renommierter Gehirnchirurg erzählt von außergewöhnlichen Fällen und seinem Alltag im Operations-Saal. Das faszinierende Sachbuch zum Thema Gehirnchirurgie und Neurowissenschaft jetzt im Taschenbuch! Prof. Dr. Peter Vajkoczy ist Direktor der Klinik für Neurochirurgie an der Berliner Charité. Bis zu hundert Patienten aus aller Welt betreut er auf seinen drei Stationen und führt mit seinem Team bis zu fünf, sechs Operationen pro Tag durch – meist geht es um Schlaganfälle, Gehirntumore, Bypässe und Störungen an der Wirbelsäule. Diese Operationen sind körperlich anstrengend, oft zermürbend lang und hochkompliziert. Und alles spielt sich im Mikrobereich ab: Der Operateur sieht das, was er tut, nur durch ein Mikroskop in bis zu vierzigfacher Vergrößerung und näht mit Fäden, die nur wenige Hundertstel Millimeter Durchmesser haben.  Auch wenn oft behauptet wird, es seien Wunder, die Prof. Vajkoczy und sein Team vollbringen – es ist vor allem das routinierte Zusammenspiel von jahrelang geschulten Spezialisten, modernster Technologie und der Bereitschaft, auch neue Wege zu gehen, um Heilung möglich zu machen. Doch all dies ist keine Garantie, dass das gewünschte Ziel erreicht wird. Geht etwas schief, ist die Gefahr groß, dass Patienten nur mit schweren Behinderungen oder im schlimmsten Fall gar nicht überleben. Es ist ein schmaler Grat, auf dem Prof. Vajkoczy und sein Team unterwegs sind, und zwar immer, an jedem Tag, bei jeder Operation, selbst wenn sie noch so beherrschbar scheint. In aufrichtiger Offenheit erzählt Prof. Vajkoczy, wie er und sein Team mit dieser Herausforderung umgehen, wie schwierigste Operationen geplant und ausgeführt werden, was ihn als Neurochirurgen antreibt und was er fühlt, wenn er scheitert – und wenn sein Plan gelingt.

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Peter Vajkoczy

Kopfarbeit

Ein Gehirnchirurg über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Zwei Klinik-Stationen, bis zu hundert Patienten aus aller Welt und fünf bis sechs Operationen pro Tag – meist geht es um Schlaganfälle, Gehirntumore und Bypässe. Seine Instrumente sind winzig, seine Erfolge groß. In seinem Buch erzählt der Gehirnchirurg Prof. Dr. Vajkoczy von spektakulären Fällen, außergewöhnlichen Methoden wie dem Operieren bei vollem Bewusstsein des Patienten und vom unerbittlichen Kampf gegen die Uhr, wenn er einen Bypass im Gehirn legt. Es ist das aufrichtige und faszinierende Selbstporträt eines Arztes, den die Medien »den Mann für das Feine« nennen und dessen vorzüglichste Eigenschaft die Demut ist. Er erlebt täglich, dass die Patienten Wunder von ihm erwarten. Und er weiß gleichzeitig, wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod ist, wenn er am offenen Gehirn operiert, wo Bruchteile eines Millimeters über Erfolg oder Scheitern entscheiden.

Inhaltsübersicht

Vorwort

1 Gefahr im Kopf

2 Verräterische Symptome

3 Small Talk unterm Messer

4 Kampf gegen einen Koloss

5 Überall Blut

6 Tumor – Gigant im Kreuz

7 Takt und Respekt

8 Alles auf eine Karte

9 Verantwortung riskieren

10 Zwischen OP-Saal und Labor

11 Zu Besuch in Japan

12 Zweimal querschnittsgelähmt

Epilog

Danksagung

Vorwort

Sie hatte schwere Symptome, Schwierigkeiten, sich zu bewegen; immer wieder traten Schwindelgefühle auf, und zeitweise konnte sie nicht einmal mehr sprechen. Ein MRT ergab, dass die 35-jährige Singer-Songwriterin Pam Reynolds ein großes Aneurysma im Gehirn hatte. Ein Aneurysma ist eine krankhafte Aussackung einer Arterie, in diesem Fall einer besonders wichtigen, tief im Gehirn, nahe dem Hirnstamm. Es drückte auf andere sensible Bereiche, daher die Ausfallerscheinungen, und es drohte jederzeit zu platzen: Das wäre ihr sicherer Tod. Die Chance, eine Operation in dieser Region zu überleben, war gleich null.

Es gab eine winzig kleine Hoffnung, an die zu klammern in etwa so viel bedeutete, als würde man sich an einem Blatt, das an der Wasseroberfläche treibt, festhalten wollen, um sich vor dem Ertrinken zu retten, zumindest klang es nicht weniger abstrus: Hypothermic cardiac standstill, so die Fachbezeichnung. Eine extrem selten durchgeführte Operationstechnik. Man würde die Patientin in einen Zustand versetzen, in dem sie klinisch tot war, Herzstillstand durch Unterkühlung. Keine Atmung mehr, keine Hirnaktivität während des Eingriffs, kein Blut mehr im Gehirn – absoluter Stillstand. Nur unter diesen extremen Bedingungen könnte eine Operation gelingen. Pam Reynolds sollte sich also in den klinischen Tod versetzen lassen, um zu überleben – sofern man es denn schaffen würde, sie auch wieder ins Leben zurückzuholen. Falls ja, und falls die Operation gelingen sollte, gab es Hoffnung, wieder ein normales Leben führen zu können.

Das war 1991. Pam Reynolds hat sich an diesem Blatt festgehalten, und sie ging nicht unter. Ihr Fall machte noch aus einem anderen Grund weltweit Schlagzeilen. Nach der Operation berichtete sie von einer Nahtoderfahrung. Sie konnte zahlreiche Details von der Operation, von den Gesprächen im OP-Saal wahrheitsgetreu wiedergeben; sie konnte einzelne Instrumente beschreiben, die zum Einsatz gekommen waren. Doch all das hatte sich ereignet, als sie, permanent überwacht, ohne jegliche Hirnaktivität auf dem OP-Tisch lag – die Ohren verschlossen, die Augen abgedeckt. Eine spektakuläre, schier unglaubliche Geschichte, die die Frage, ob es so etwas wie eine Seele gibt, weiter befeuert hat. Eine schlüssige Erklärung für Reynolds’ Berichte gibt es bis heute nicht. Reynolds hat diesen Eingriff 20 Jahre ohne große Beeinträchtigungen überlebt.

Robert F. Spetzler hieß der Neurochirurg, der sich an diese Operation gewagt hatte. Es war nicht seine erste dieser Art. Als junger Neurochirurg las ich ein Buch über seine Arbeit am Barrow Neurological Institute in Phoenix, The Healing Blade hieß es, die heilende Klinge, und ich war absolut fasziniert. Das liegt nun deutlich mehr als 20 Jahre zurück. Damals gab es weltweit kaum eine Handvoll Ärzte, die diesen Eingriff wagten, und Spetzler war einer der Pioniere. Er hat die meisten Operationen dieser Art durchgeführt – mit den geringsten Todesraten. Spetzler wurde in einem Dorf bei Würzburg geboren und ist im Alter von elf Jahren Anfang der 1950er-Jahre mit seiner Familie in die USA ausgewandert. Er war ein guter Freund meines inzwischen verstorbenen früheren Chefs am Universitätsklinikum Mannheim. Über diesen Kontakt habe auch ich ihn später kennengelernt und einige Male in Phoenix besucht. Dort leitete er lange Zeit die Neurochirurgie am Barrow Neurological Institute, das als eine der weltweit größten Einrichtungen zur Erforschung und Behandlung neurologischer Krankheiten gilt. Mit den Jahren ist er auch für mich ein Freund und Mentor geworden, und wir halten noch immer Kontakt.

Heute werden keine Standstill-Operationen mehr durchgeführt. So hilfreich der Zustand bei der Operation sein mag, so schwierig ist er danach zu beherrschen. Die Aufwärm- und Aufwachphase war jedes Mal ein hochriskantes Vabanquespiel, das oft irreparable Schäden bei den Betroffenen hinterließ.

Wir verfügen in unseren modernen Operationssälen inzwischen über so ausgefeilte bildgebende Verfahren, computergesteuerte Techniken und neue, minimalinvasive Operationstechniken, dass wir ganz andere Möglichkeiten haben und auch ohne völligen Stillstand in Regionen operieren können, die lange als inoperabel galten. Die Suche nach neuen Methoden und das Bangen nach jeder Operation, ob auch keine Folgeschäden bleiben, hat sich freilich nicht geändert. Auch heute noch warten wir Neurochirurgen nach jeder Operation beim Patienten und zählen die zähen Minuten bis zum Erwachen, bis wir prüfen können, ob sie sich noch bewegen und ob sie sprechen können.

Doch was mich vor allem an der Lektüre des Buchs von Robert Spetzler in Aufruhr versetzte, war seine Haltung – sein Mut, nichts unversucht zu lassen, solange für seine Patienten noch der Hauch einer Chance bestand. Und sein Wille, die Grenzen unseres Wissens ständig zu erweitern, aus jedem Rückschlag zu lernen. Auch wenn ich damals noch nicht im gleichen Umfang nachempfinden konnte wie heute, wie sehr einen jeder Fall mitnimmt, der nicht glücklich ausgeht, der mit schweren Schäden oder gar dem Tod endet, so war mir doch bewusst, dass hier jemand war, der das in Kauf nahm, um vielleicht anderen zu helfen. Diese Haltung wollte ich mir zum Vorbild nehmen, sie prägt mich bis heute.

»Die Neurochirurgie ist ein Pakt zwischen dem Allerschönsten und dem Allerschrecklichsten«, so drückt es der Neurochirurg Aaron A. Cohen-Gadol von der Indiana University School of Medicine aus. Ich werde diesen Satz in diesem Buch noch einige Male zitieren müssen, denn ich werde bewusst auch von Operationen berichten, die nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben, von Patientinnen und Patienten, denen wir nicht helfen konnten, oder solchen, die nach dem Eingriff mit schwersten Beeinträchtigungen zurechtkommen müssen. Manchmal liegen nur ein paar Minuten oder Sekunden zwischen der Freude über eine gelungene Operation und dem Entsetzen, wenn es plötzlich zu einer Nachblutung kommt. Es wird schnellstmöglich nachoperiert, aber der Patient stirbt trotzdem, oder er ist am Ende behindert. Keine noch so große Routine führt je dazu, solche Vorfälle leicht wegzustecken. Sorgen, Ängste und Zweifel sind in unserem Beruf ständige Begleiter.

Doch zugleich ist die Neurochirurgie eben auch der Pakt mit dem Allerschönsten. Die zahlreichen Fälle, in denen es gelingt, Tumore oder gefährliche Gefäßveränderungen zu entfernen oder Betroffenen mit Erkrankungen, die noch vor Kurzem zu komplex erschienen, um operiert zu werden, doch noch ihre Lebensqualität zurückgeben zu können, sind ein Geschenk und zugleich Ansporn für das gesamte neurochirurgische Team. So oft werde ich nach meiner Arbeit gefragt, wie man als Neurochirurg solche Operationen erlebt, aber auch wie man als Mensch mit den Herausforderungen und Niederlagen zurechtkommt, wie sehr einen die Schicksale der Patientinnen und Patienten persönlich treffen. Anhand ausgewählter Fälle, die jeweils besondere Aspekte berühren, will ich Ihnen in diesem Buch eine Antwort geben.

Und dann ist da noch das menschliche Gehirn selbst, das uns Bewunderung abringt – seine Fragilität und Verletzbarkeit, aber auch seine verblüffende Fähigkeit zu regenerieren. Wer immer zum ersten Mal während einer Operation einen Blick auf das menschliche Gehirn werfen darf, reagiert bei seinem Anblick mit Bewunderung. Das weiß-rosa-grau schimmernde Organ mit seiner komplexen Anatomie bietet ein höchst ästhetisches, völlig unblutiges und friedliches Bild. Unser Gehirn ist das Ergebnis der Evolution von Millionen von Jahren. Hundert Milliarden winziger Zellen, die in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenwirken die Schaltzentrale eines Menschen ergeben, das Headquarter seiner Persönlichkeit. In gesundem Zustand sieht das Gehirn bei jedem ähnlich aus, und doch ist es wie ein Fingerabdruck stets einzigartig. Die Strukturen des Gewebes, die feinen und feinsten Gefäße, ihre Verzweigungen, und wie alles zusammenspielt, einen Sinn ergibt. Man empfindet unwillkürlich und jedes Mal neu Respekt vor diesem erhabensten Ergebnis der Schöpfung, das da vor einem pulsiert. Und in einem bin ich mir sicher: Im neurochirurgischen OP-Saal wird man nicht eine Person finden, die diese Begeisterung nicht teilt und es nicht als Privileg empfinden würde, hier arbeiten zu dürfen.

Diese faszinierende Struktur mit all ihren Funktionen, von denen so viele noch nicht ergründet sind, ist unser tägliches Arbeitsfeld, so spannend wie herausfordernd. Sie umfasst, was uns als Menschen ausmacht, das zentrale Nervensystem – das Gehirn und seine »Verlängerung«, das Rückenmark, das periphere Nervensystem, alle Nervenfasern, die sich außerhalb davon netzartig durch den gesamten Körper ziehen. Das eine könnte ohne das andere nicht existieren. Das Nervensystem bestimmt unser Sein und Dasein. Seine Intaktheit ist Voraussetzung dafür, dass wir Arme und Beine bewegen, sprechen und kommunizieren können, emotional, aber doch beherrscht sind, denken, fühlen, Informationen speichern oder vergessen, lieben und Glück empfinden, oder auch das Gegenteil.

Und damit ist das wichtigste Ziel, das ich mit diesem Buch verfolge, umrissen: die Faszination für all dies weiterzugeben, die Leidenschaft für ein Fach, in dem noch so viele Fragen offen, so viele Zusammenhänge ungeklärt sind, das sich zugleich aber mit einer schier unglaublichen Rasanz weiterentwickelt, mit immer noch eindrucksvolleren Möglichkeiten. Ich möchte von den innovativen technischen Mitteln berichten, die wir heute haben, und möglichst viele Menschen dafür begeistern. Sie werden miterleben, wie Wach-OPs ablaufen und welche Chancen sie bieten, Sie werden die Möglichkeiten der digitalen Neurochirurgie, Operationen in Multifunktions-OP-Sälen mit High-Performance-Teams und vielfältiger Bildunterstützung kennenlernen, Sie werden von seltenen Erkrankungen erfahren, die lange als unbeherrschbar galten, von Erfolgen und Komplikationen. Und vor welchen Aufgaben und Herausforderungen wir dabei als Forschende, Lehrende und Mentoren in diesem dynamischen Feld stehen. Aber auch, wie die Covid-19-Pandemie sich auf unsere Arbeit und die Operation einer jungen Patientin ausgewirkt hat.

Hirnoperationen sind hochkomplex; man erfährt dabei eine Menge darüber, wie das Gehirn funktioniert, welche Prozesse darin ablaufen. Zahlreiche Wissenschaftler nutzen bei uns im OP-Saal die Chance, ihre Erkenntnisse zu erweitern – in Zukunft wird der OP-Saal zu einem zentralen Ort neurowissenschaftlicher Forschung werden. Viele Menschen interessieren sich dafür, und ich finde, es ist ein Teil unserer Aufgabe, ihnen das verständlich zu erklären.

Und nicht zuletzt gehöre ich zu einer Generation von Neurochirurginnen und Neurochirurgen, die, im Gegensatz zu unseren Vorvätern, die Rolle des Chirurgen entmystifizieren wollen und zeigen, wie unendlich viel Teamarbeit hinter jeder Hirn-OP steht, wie viele hoch spezialisierte Menschen Hand in Hand arbeiten und wie viel ausgereifte Technik daran beteiligt ist. Manche sagen, die Neurochirurgie sei das Wunder der Medizin. Das stimmt genauso wenig, wie einzelne Neurochirurgen Zauberer sind. Oder um es mit den Worten des Neurochirurgen Karl Schaller von den Hôpitaux Universitaires de Genève zu sagen: »Auch wenn das neurochirurgische Zielorgan noch immer etwas Geheimnisvolles an sich haben mag: Die Arbeit daran und darum herum folgt den Gesetzen der Physik und nicht der Aura des Chirurgen. Dass Letztere einen Einfluss auf das Verhältnis zu den Patienten und den Heilungsverlauf haben mag, ist wiederum unbestritten und macht einen guten Teil des ärztlichen Erfolges und der Freude daran aus, diesen Beruf ausüben zu dürfen.«

Wir sind in einer Spezialdisziplin unterwegs, die von allen medizinischen Disziplinen wahrscheinlich am stärksten auf modernster Technologie basiert und durchweg von hoch qualifiziertem Personal betrieben wird, und ja, Mikrochirurgie bedarf absoluter Präzision. Aber das zeichnet nicht uns allein aus. Letztlich sind wir Handwerker. Vielleicht kann man die Arbeit der Neurochirurgie aber auch gut mit der von Tänzern vergleichen, denn auch da kommen mehrere Dinge zusammen: Tänzer müssen nicht nur körperlich fit sein und die komplette Choreografie im Kopf haben, sie müssen die einzelnen Sprünge und Figuren wieder und wieder und wieder üben, allein sowie im Zusammenspiel mit der Musik und den Partnern auf der Bühne. Tänzer müssen mit absoluter Präzision arbeiten, und sie müssen einander vertrauen können und dabei ständig auf die Musik und das Orchester achten. Auch Tänzer treibt der Wille zur Perfektion an, die unbedingte Liebe zu ihrer Kunst und das Gefühl einer Verantwortung, das persönliche Talent zu seiner vollen Entfaltung zu bringen, um Menschen damit zu beglücken. Aus alldem speist sich die nicht nachlassende Energie, täglich stundenlang zu üben und sich nicht zufriedenzugeben, solange es nicht perfekt ist – und das ist es nie.

Eine solche Liebe zu ihrem Fach, die Faszination des menschlichen Gehirns mit seinen grandiosen Fähigkeiten, treibt auch Neurochirurginnen und -chirurgen und neurochirurgische Teams an. Vor allem anderen aber wollen sie sich der Verantwortung nicht entziehen, mit ihren spezifischen Fähigkeiten Leben retten zu können.

Ich persönlich glaube, dass es einiger vielleicht altmodisch anmutender Tugenden bedarf, um ein guter Neurochirurg zu sein; Starallüren passen da sicher nicht dazu. Für mich sind Demut und Verantwortungsbewusstsein, Dankbarkeit und Vertrauen, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit, Disziplin, Durchhaltevermögen und wissenschaftliche Neugier das Fundament, auf dem unsere Arbeit aufbaut.

Die Behandlung all dieser Patienten mit ihren individuellen Krankheitsgeschichten und Lebensumständen ist aber auch mit einem hohen Maß an Emotionalität verbunden. Viele Menschen fragen sich, was in den Köpfen von Neurochirurginnen und Neurochirurgen vorgeht, wenn sie sich den Herausforderungen stellen oder Fehlschläge verarbeiten müssen. Hier in diesem Buch kann ich nur für mich sprechen. Ich bin mir aber sicher, dass sich viele, die sich diesen Aufgaben täglich stellen, wiedererkennen werden und ähnliche Emotionen kennen. Eine ganze Reihe von Kollegen aus aller Welt, die ich um ihr Statement gebeten habe, werden in diesem Buch zu Wort kommen, diese Aspekte untermauern und zeigen, wie eng wir über sämtliche Grenzen hinweg zusammenarbeiten, voneinander lernen und uns gegenseitig über die neuesten Entwicklungen informieren.

Aber auch die so schwierigen wie spannenden ethischen Fragen, die sich stellen, wenn man im Gehirn operiert, möchte ich in diesem Buch zumindest anklingen lassen. Ich will nicht pathetisch wirken, aber es sind nun einmal Fragen, die an unser Menschsein als solches rühren.

Sollte sich jemand erhoffen, ich würde die Frage beantworten, ob die Seele im Gehirn zu finden ist – und falls ja, wo dort –, dann muss ich ihn enttäuschen. Daran haben sich bereits etliche Wissenschaftler und Philosophen abgearbeitet, ohne den letzten Beweis zu erbringen. Ich glaube, dass jeder Mensch eine Seele hat. Und ich glaube, dass sie im Gehirn sitzt. Sie macht unsere Identität aus, auch wenn es schwierig ist, sie zu definieren. Wir wissen nicht, was mit ihr geschieht, wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert. Für Operationen wäre es überaus interessant zu erfahren, wo man die Seele finden kann, ob sie sich überhaupt irgendwo lokalisieren lässt. Mein Gefühl sagt mir, dass Seele am ehesten mit Emotionalität zu tun hat. Dann wäre sie im limbischen System zu verorten, dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns, dort, wo unter anderem Lust, Antrieb und unsere Triebe ihren Ursprungsort haben. Wer weiß. Die Suche geht weiter.

 

1Gefahr im Kopf

Die Psychologie der schwierigen Entscheidung

An einem Donnerstag Anfang März, vormittags gegen zehn Uhr, saß Marie Gilbert am Schreibtisch und korrigierte Klassenarbeiten. Die 32-Jährige lebt in einer Kleinstadt, sie ist Lehrerin an einem Gymnasium, neben Deutsch unterrichtet sie Spanisch. In der Stille ihrer Wohnung konnte sie sich gut konzentrieren und kam zügig voran. Bis ihr mit einem Mal ein Schmerz in den Kopf schoss, wie sie zuvor nie einen gespürt hatte. Es war, als wäre auf der rechten Seite, am Ohr, etwas explodiert, so beschrieb sie mir später diesen Moment.

Der Schmerz hatte sich nicht angekündigt; es gab keine Vorboten, sie hatte sich blendend gefühlt. Er kam urplötzlich, von einer Sekunde auf die andere. Und mit einer solchen Heftigkeit, dass sie nicht einmal imstande war, ihr Leid herauszuschreien oder zu weinen. So ist es also, wenn man schlimme Kopfschmerzen hat, dachte sie, legte sich auf die Couch und hoffte, dass der Tornado in ihrem Schädel bald aufhören oder wenigstens in seiner Intensität nachlassen würde. Marie Gilbert hatte in ihrem Leben nie starke Kopfschmerzen gehabt, sie war überhaupt nie ernsthaft krank gewesen.

Etwa zwei Stunden vergingen, in denen die junge Frau tapfer versuchte, den Zustand zu ertragen, ohne dass sich Besserung einstellte. Dann rief sie ihre Mutter an, die im Nachbarort wohnt und ihr sofort Schmerztabletten brachte. Aber die halfen nicht; sie führten lediglich dazu, dass sie sich übergeben musste. Mittlerweile hatten sich die Schmerzen auf ihren Nackenbereich und die Schultern ausgeweitet. Sie überlegte, einen Physiotherapeuten aufzusuchen. Zwei, drei geschickte Handgriffe, dachte sie, und die Beschwerden würden sicher verschwinden. So absurd dieser Gedanke im Nachhinein erscheine, er sei ihr damals tatsächlich gekommen, erzählt sie. Offenbar in dem dringenden Wunsch, es würde schon nichts Schlimmes sein. Solche Verdrängungsleistungen sind übrigens gar nicht so ungewöhnlich. Möglicherweise braucht die Psyche ein wenig Zeit, sich dem Schrecken zu stellen und angemessen zu reagieren.

Sie entschied sich dann doch für ihren Hausarzt, der sie mit diesen Symptomen umgehend ins nächstgelegene Krankenhaus überwies. Von dort brachte man sie noch am selben Abend per Rettungswagen in eine größere, für Fälle wie den ihren besser ausgestattete Klinik – eine knappe Fahrstunde entfernt, mit Blaulicht und Sirene –, so schildert sie es mir ziemlich genau ein Jahr danach.

Die Ärzte hatten zunächst eine Hirnhautentzündung vermutet, durch eine Computertomografie jedoch festgestellt, dass die Ursache der Kopfschmerzen eine Hirnblutung war. Dann gingen sie der Ursache der Hirnblutung auf den Grund. Unter anderem wurde eine Angiografie durchgeführt, bei der ein Kontrastmittel in die Gefäße injiziert wird, um die Blutgefäße radiologisch sichtbar zu machen. So wurde der Auslöser für die schwere Schmerzattacke entdeckt: eine arteriovenöse Malformation in der rechten Hälfte ihres Gehirns, im Bereich des Schläfenlappens – nahe dem Ohr, dort, wo die Schmerzen begonnen hatten.

Eine arteriovenöse Malformation ist eine Gefäßmissbildung, die in aller Regel ihren Ursprung früh in der Entwicklung des Gehirns nimmt, mit der Zeit wachsen und eine Größe von mehreren Zentimetern erreichen kann. Normalerweise fließt das sauerstoffreiche Blut vom Herz beziehungsweise von der Lunge kommend durch Arterien, die sich in Kapillaren verzweigen, um anschließend in Venen überzugehen, die das »verbrauchte« Blut wieder Richtung Herz befördern. Durch das enge Netzwerk dieser Kapillaren wird das aus den Arterien einschießende Blut abgebremst, damit Nährstoffe aus dem Blut an das angrenzende Gehirn abgegeben und Abfallprodukte aus dem Gehirn abtransportiert werden können. Bei einer arteriovenösen Malformation fehlen die Kapillaren, das heißt, die Arterien sind in dem betreffenden Bereich direkt mit den Venen verkoppelt und bilden ein Gefäßsystem, durch das das Blut ungenutzt am Gehirngewebe vorbeigeschleust wird, weshalb diese Areale nicht oder nur vermindert versorgt werden.

Was die Sache aber noch tückischer macht: Auf diese Weise entstehen Hochgeschwindigkeitsstrecken, durch die das Blut ungebremst hindurchschießt. Allerdings darf man sie sich nicht als gerade Strecken vorstellen, nicht wie einen Highway im endlosen Outback Australiens, sondern eher wie die unübersichtlichsten Autobahnknotenpunkte im Ruhrgebiet. Die Gefäße sind auf kleinstem Raum verschlungen und verworren und ähneln einem Wollknäuel. Durch die vielen Kurven und Richtungsänderungen, die das Blut auf seinem Weg nehmen muss, ist der Druck auf die Gefäßwände extrem hoch. Und die sind zu allem Überfluss nicht sonderlich strapazierfähig, sie platzen relativ leicht oder reißen ein.

Gefäßwände bestehen aus verschiedenen Schichten. Im Falle einer Malformation werden diese Schichten meist nicht vollständig ausgebildet, fehlen entweder ganz oder sind nur hauchdünn. So ein Wollknäuel ist also ein überaus fragiles Gebilde, höchst anfällig für Risse, sogenannte Rupturen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt, liegt statistisch gesehen bei zwei bis vier Prozent – pro Jahr. Das Risiko im Lauf des Lebens steigt also, anders ausgedrückt: Arteriovenöse Malformationen sind wie tickende Zeitbomben.

Kommt es zu einer Blutung, liegt das Risiko, an ihren Folgen zu sterben, bei etwa 20 Prozent. Für die restlichen 80 Prozent wiederum, die eine solche Blutung möglicherweise mit einer permanenten Schädigung des Gehirns überstehen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass erneut eine Blutung auftritt, um ungefähr 15 Prozent. Auch das sind rein statistische Werte; sie machen aber deutlich, dass Betroffene wie Marie Gilbert mit einer permanenten Angst leben müssen, wenn sie erst einmal davon erfahren haben.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Zeitbombe zu entschärfen – oder es zumindest zu versuchen, denn es ist leider nicht immer möglich. Das Ziel dabei ist, das Wollknäuel entweder zu entfernen oder es zu verschließen. Für welchen Weg man sich auch entscheidet, beides muss komplett geschehen. Nur die Hälfte oder selbst 90 Prozent sind keine sichere Lösung. Solange weiterhin Blut durch den Bereich fließt, bleibt die Gefahr einer Blutung, und das Risiko könnte sich sogar erhöhen.

Eine Behandlungsvariante kann die Bestrahlung sein, die dazu führt, dass die Zellen der Blutgefäße mutieren. Ihre Wände werden so dick, dass sich das Lumen, der Innenraum der Röhre, irgendwann verschließt. Allerdings geschieht das äußerst langsam. Es kann mehrere Jahre dauern. Das Blutungsrisiko bleibt über den gesamten Zeitraum bestehen. Und am Ende ist nicht einmal sicher, dass die Gefäße vollständig verschlossen sind. Eine zweite Bestrahlung wäre notwendig; das Risiko, dass gefährliche Nebenwirkungen eintreten, würde erheblich steigen.

Es ist eine Abwägungsfrage je nach den Gegebenheiten des individuellen Falles und je nachdem, welche Art der Therapie sich die Betroffenen vorstellen können. Schließlich hängt es auch von der wohl erwogenen Philosophie und den Präferenzen des jeweiligen Arztes ab. Jede Methode birgt ihre eigenen Chancen und Risiken. Solche Entscheidungen trifft man daher heutzutage in einem interdisziplinären Team von Spezialisten, einem sogenannten Board, das in diesem Fall aus Neuroradiologen, Strahlentherapeuten und Neurochirurgen besteht. Die Ärzte in diesen Boards gründen ihre Entscheidung zunächst natürlich auf wissenschaftliche Evidenz und ziehen Untersuchungen heran, die versucht haben, die Überlegenheit bestimmter Behandlungsstrategien herauszuarbeiten. Daneben spielen aber auch viele Aspekte eine Rolle, die jeden Fall sehr individuell betrachten lassen und Raum für Diskussion zwischen den Ärzten geben.

In Marie Gilberts Fall entschied man sich für die sogenannte Embolisation. Dabei führt der Neuroradiologe einen sehr feinen Katheter durch die Leiste ein, hinauf in den Kopf, direkt bis zum Wollknäuel. Damit wird eine kleisterähnliche, zähflüssige Masse in die missgebildeten Gefäße gespritzt, um sie auf diese Weise zu verschließen. Es ist letztlich das gleiche Prinzip wie bei Bauarbeiten, wenn Hohlräume mit Dichtungsmasse ausgeschäumt werden, nur dass die Größenverhältnisse andere sind. Bei dieser Variante besteht das Risiko darin, dass der Kleber in eines der ausfließenden Blutgefäße gerät und es verstopft. Dadurch entstünde ein Blutstau, der Druck würde sich weiter erhöhen, das Gefäß könnte platzen, eine Hirnblutung wäre die Folge. Oder der Kleber könnte durch den schnellen Blutstrom davongetragen werden, bevor er aushärtet, und Gefäße verschließen, die das umliegende Gehirn versorgen – ein Schlaganfall wäre die Folge.

Die Aufklärungsgespräche vor Eingriffen am Gehirn erfordern viel Einfühlungsvermögen vonseiten der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, denn Komplikationen bei diesen Eingriffen können so verheerende Folgen für das Leben der Betroffenen haben wie kaum anderswo. Für Marie Gilbert hieß das, sie könnte nach dem Eingriff linksseitig gelähmt sein, falls etwas schiefging. Sie könnte auch ihr Sprachvermögen verlieren. Schlimmstenfalls würde sie aus der Narkose nicht mehr erwachen. Jedes dieser Risiken wurde mit etwa 30 Prozent veranschlagt. Fünfzehn solcher Embolisationen hatten die Neuroradiologen geplant, um der Malformation in ihrem Kopf den Garaus zu machen. Sie sollten im Abstand von jeweils sechs Wochen durchgeführt werden.

Marie Gilbert ist eher optimistisch veranlagt und von zupackender Art, zumindest war sie das zu diesem Zeitpunkt. Als sie nach der ersten Embolisation in der Leistengegend Schmerzen hatte, die ihr das Laufen schwer machten, scherte sie sich nicht groß darum; die würden schon vergehen. Sie war froh, das Krankenhaus schnell verlassen zu dürfen, freute sich auf den Besuch einer Freundin, die sich fürs Wochenende angekündigt hatte. Als sie an dem Wochenende plötzlich wieder Schmerzen am Nacken bekam, ging sie von Verspannungen aus. Erst als die Schmerzen nicht abebbten, sondern so stark wurden, dass sie kaum zu ertragen waren, ließ sie den Gedanken zu, es könnte eine weitere Blutung sein.

Noch am gleichen Tag musste sie wieder ins Krankenhaus. Der Verdacht bestätigte sich. Intensivstation. Nach einigen Tagen wurde die zweite Embolisation durchgeführt, kurz darauf eine dritte. Vor der dritten kam es erneut zu einer Blutung. Anscheinend war das schlummernde Ungeheuer in ihrem Kopf aufgeschreckt worden, nun gab es keine Ruhe mehr.

Trotz ihrer geradezu überbordenden Zuversicht kamen der jungen Frau Zweifel. War es in ihrem Fall richtig, auf die Embolisationen zu setzen? Sollte man die Behandlungsmethode ändern? Gab es eine andere Möglichkeit, ihr zu helfen? Später sollte ich erfahren, dass ihr Vater die gleiche Krankheit hatte, bei ihm war die Malformation ein Jahr zuvor diagnostiziert worden. Doch anders als in ihrem Fall hatte man bei ihm, wohl aufgrund des höheren Alters, entschieden, das Ungeheuer schlafen zu lassen, es lediglich zu beobachten und ihn einmal im Jahr einer MRT-Untersuchung zu unterziehen.

Sie konfrontierte den Neuroradiologen, der die Embolisationen durchführte, mit ihren Bedenken. Und eines Morgens bei der Visite fragte sie den leitenden Neurochirurgen der Klinik, der Teil des medizinischen Teams war, ob es keine Alternative gäbe.

Er brachte die dritte Möglichkeit ins Spiel, einer Malformation zu Leibe zu rücken, nämlich sie operativ zu entfernen. Genau davon jedoch rieten ihr sämtliche Ärzte ab, die sie kontaktierte. Das Wollknäuel sei zu groß, vor allem läge es zu dicht an einem sprachrelevanten Bereich. Mit etwas mehr als sechs mal vier mal zwei Zentimetern zählte es nach der Spetzler-Martin-Skala, die herangezogen wird, um die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen und somit die Operierbarkeit von Malformationen einzuschätzen, zu den mittelgroßen Exemplaren, rangierte dort aber im oberen Bereich. Schon ab einer Größe von drei Zentimetern nehmen die Schwierigkeiten zu, und man muss mit starken Blutungen und zusätzlichen Komplikationen rechnen, die durch den hohen Blutverlust entstehen. Oder durch Nachblutungen, die im Operationsgebiet einsetzen, wenn der Patient wieder auf der Station liegt. Die Risiken bei dieser Methode waren also nicht minder groß.

Und dann die Nähe zur Sprachregion. Im Gehirn unterscheidet man zwischen eloquenten und nicht eloquenten Arealen. Die eloquenten sind die, in denen bestimmte Funktionen angesiedelt sind, etwa das Sehen, die Motorik, die Gefühle oder eben die Sprache. Für jede dieser Funktionen existieren meist mehrere Bereiche. Für die Sprache sind wir Neurochirurgen lange Zeit von zwei relevanten Arealen ausgegangen. Sie befinden sich in der Regel, und hiermit meine ich bei Rechtshändern, in der linken Gehirnhälfte. Das motorische Sprachzentrum, das fürs eigentliche Sprechen verantwortlich, aber auch an der Sprachwahrnehmung beteiligt ist, liegt im Frontallappen. Das sensorische, maßgeblich für das Verständnis von Sprache, im Schläfenlappen. Vereinfacht dargestellt, funktioniert es so: Was man hört, kommt ins sensorische Sprachzentrum. Von dort wird das, was man vom Gehörten entschlüsselt und verstanden hat, zum motorischen Sprachzentrum weitergeleitet. Zum Beispiel über den Fasciculus arcuatus, einem dicken Faserbündel, das man sich wie ein Telefonkabel vorstellen kann. Im motorischen Sprachareal wird schließlich die Antwort organisiert, bis hin zu den Impulsen, die die Zunge aktivieren, sich so zu bewegen, dass genau die Wörter entstehen, die man sagen will.

In aktuellen Diskussionen, z.B. mit meinem Kollegen Thomas Picht aus unserer Klinik, der seine vielfältigen Forschungsaktivitäten auf die Entschlüsselung der Codierung der Sprachsymbolik konzentriert, wird klar, dass die Sprachorganisation im Gehirn mehr denn je eine offene Diskussion ist. Grundlegende Sprachverarbeitungswege gibt es, aber mehr und mehr herrscht Einigkeit darüber, dass das Konzept der zwei Sprachareale nicht mehr zeitgemäß ist, sondern dass je nach Semantik und Syntax verschiedene, parallele Zentren und Netzwerke beteiligt sind. Die einzelnen Bereiche sind durch Faserbahnen verbunden und funktionieren nur im Zusammenspiel, sowohl miteinander als auch mit anderen, wie etwa den Seh- oder Hörzentren.

Bevor Marie Gilbert sich an uns wandte, wurden bei ihr zwei weitere Embolisationen durchgeführt, Nummer vier und fünf. Während der fünften kam es noch einmal zu einer Blutung. Sie erlitt einen kleinen Schlaganfall, der gut ausging, ohne bleibende Schäden. Einige Tage danach, Marie Gilbert hatte sich einigermaßen erholt und war von der Intensiv- auf die Normalstation verlegt worden, teilte ihr der behandelnde Arzt mit, er werde die Therapie nicht fortsetzen, er schätze das Risiko als zu hoch ein. Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile hielt er es für sicherer, keine weiteren Versuche zu unternehmen. Bei den abschließenden Untersuchungen, die kurz darauf durchgeführt wurden, zeigte sich, dass nur etwa 60 Prozent der betroffenen Gefäße verklebt worden waren. Das Ungeheuer lebte also noch. Das Verfahren war den Versuch wert gewesen, aber in Marie Gilberts Fall hatte es nicht die ersehnte Entwarnung gebracht. Das Risiko einer Operation als allerletztes Mittel sei eine sehr schwierige Abwägungsfrage für sie als Patientin, aber auch für ihren behandelnden Arzt. Er persönlich gehöre zu der Fraktion unter den Kollegen, die von einer Operation eher Abstand nehmen würde.

 

Wenige Monate später hörte ich das erste Mal von Marie Gilberts Fall. Sie hatte sich telefonisch bei uns gemeldet und eine Mail folgen lassen, in der sie die letzten CT- und MRT-Aufnahmen ihres Kopfes schickte. Ich bat sie für weitere Untersuchungen zu uns in die Klinik. Das Wollknäuel auf den Bildern, die sie mitgeschickt hatte, sah recht kompakt aus, gut abgegrenzt vom umliegenden Gewebe. Der Blutfluss in dem Bereich schien durch die Vorbehandlungen nicht mehr so stark zu sein. Wichtig war nun, insbesondere die Lage der Malformation zum Sprachareal so exakt wie möglich zu lokalisieren. Ich hielt eine Operation nach diesen ersten Befunden zumindest nicht für völlig ausgeschlossen.

Nun sitzt sie hier bei mir im Büro, im sechsten Stock des Bettenhochhauses, dem Hauptgebäude der Charité in Berlin-Mitte. Sie wirkt gesund. Man sieht ihr nicht an, was sie in der Zwischenzeit durchgemacht hat. Im Verlauf unseres Gesprächs freilich ist zu spüren, wie verunsichert, wie verzweifelt sie ist angesichts der ausweglos erscheinenden Situation.

Die meisten Patienten, die zu uns kommen, haben eine Vorgeschichte; sie waren bei anderen Ärzten und haben unterschiedliche Meinungen zu ihrer Diagnose gehört. Sie haben Angst um ihr Leben und können nicht akzeptieren, dass man nichts – oder nichts mehr – tun kann. Sie sehnen sich nach einer positiven Botschaft und sind zugleich skeptisch und voller Sorge.

Das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Krankheit und dem Behandlungsteam gegenüber, ist eine existenzielle Grenzerfahrung. Einem Menschen in einer solchen Situation kann man nur mit höchstem Respekt begegnen. Es gilt, im Gespräch herauszufinden, was am Ende wirklich im Sinne des Patienten ist – denn eine Operation am Gehirn kann zwar Hoffnung bergen, aber ihr Ausgang ist ungewiss. Immer. Ohne Ausnahme. Die Argumente der Kolleginnen und Kollegen in Marie Gilberts Fall stehen weiterhin im Raum, sie müssen mit abgewogen werden. Falls sie zu einem anderen Ergebnis kamen, geschah das schließlich nicht ohne Grund. Die Situation ist für alle Seiten schwierig, als hätte man Treibsand unter den Füßen.

Wenn ich in dieser Phase mit einem Patienten spreche, lege ich ihm noch mal genau den Ist-Zustand dar, erkläre, was wir durch eine Operation erreichen können, was dabei schiefgehen kann und welche Folgen das hätte. Dagegen stelle ich, womit man zu rechnen hätte, würde nichts unternommen. Da weder ich noch sonst jemand wissen kann, ob diese Prognose tatsächlich eintritt, muss man sich dabei mit der Statistik behelfen. Angenommen, der Patient ist 30 Jahre alt, dann liegt die Wahrscheinlichkeit einer Blutung bei soundso viel Prozent. Um das Risiko aus ihrer Perspektive wirklich abwägen zu können, darf nichts unerwähnt bleiben, denn am Ende müssen die Betroffenen die Entscheidung fällen, indem sie ihre Unterschrift auf das entsprechende Formular setzen.

Während ich das Für und Wider erläutere, versuche ich, ein Gespür dafür zu bekommen, was für ein Mensch vor mir sitzt, welche Ängste ihm besonders zu schaffen machen und welche Art Risiko er tolerieren möchte. Akzeptiert er die drohende Gefahr in seinem Kopf? Kann er damit halbwegs unbeschwert leben? Oder würde ihm die ständige Angst, dass jederzeit etwas passieren kann, ein normales Leben unmöglich machen? Meine ärztliche Entscheidung muss die operativen und therapeutischen Möglichkeiten ausloten und dem Fall angemessen sein, das versteht sich von selbst, aber sie muss darüber hinaus auch der jeweiligen Persönlichkeit der Betroffenen, ja deren gesamter Lebenssituation entsprechen.

Hier gilt bis heute der Satz des großartigen Neurochirurgen und Medizinpioniers Harvey Cushing, der Anfang des 20. Jahrhunderts tätig war: »Als Arzt ist man verpflichtet, sehr viel mehr zu betrachten als nur das erkrankte Organ und mehr als den Menschen als Ganzes – man muss den Menschen in seinem Umfeld sehen.«

Die endgültige Entscheidung kann ich niemandem abnehmen, aber ich lasse meine Patienten auf dem Weg dorthin nicht allein. Und wenn mir die Frage gestellt wird: »Was würden Sie tun, wenn Sie an meiner Stelle wären?« Oder: »Würden Sie mir zu der Operation auch raten, wenn ich Ihre Mutter wäre?«, so beantworte ich sie immer ehrlich und im vollen Bewusstsein meiner Verantwortung.

Mit der Erfahrung von Tausenden von Operationen versuche ich, nach bestem Wissen und Gewissen einzuschätzen, ob ein Eingriff realisierbar ist oder nicht, ob ich eine gewisse Hoffnung nähren kann. Eine Garantie freilich gibt es in der Neurochirurgie nicht. Immer können Komplikationen und böse Überraschungen eintreten – im individuellen Fall nützt keine Statistik. Es ist also auch eine Frage des Charakters und der persönlichen Abwägung, ob man mit der permanenten Angst, dass jederzeit eine Hirnblutung auftreten kann, weiterleben kann und möchte, oder ob die Hoffnung auf ein normales Leben alles andere überwiegt und man dafür das Risiko einer Operation eingeht. Wie viel Mut und Zuversicht manche Patienten mitbringen, ringt mir immer wieder Hochachtung ab.

 

Neurochirurginnen und -chirurgen an großen, auf diese Erkrankungen spezialisierten Zentren verfügen über einen großen Erfahrungsschatz, der es erlaubt, Eingriffe vorzunehmen, die traditionell als hochriskant gelten und nicht überall angeboten werden können. Besonders komplexe, verhältnismäßig seltene Fälle häufen sich hier, sodass auch in Nischen genügend Erfahrungen gesammelt werden kann, um solchen Patienten zu helfen. Das eröffnet etwas andere Möglichkeiten, und so fällt auch die Risikoabwägung in manchen Fällen anders aus als in Häusern, die ihren Schwerpunkt auf andere Erkrankungen gelegt haben.

Ich behaupte aber dennoch, dass der stärkste Faktor bei der ärztlichen Entscheidungsfindung die Persönlichkeit ist, vor allem in schwierigen Situationen, wenn keine der Alternativen ohne relevantes Risiko ist. So gibt es auf der einen Seite Kolleginnen und Kollegen aus der globalen Neurochirurgen-Gemeinschaft, die grundsätzlich eine zurückhaltende Auffassung vertreten, wenn es um die Risikobewertung von neurochirurgischen Eingriffen geht. Ihr Ansatz lautet, die Patienten nicht aktiv zu verletzen, lieber nichts zu tun, als zu riskieren, ihnen zu schaden. Sie berufen sich dabei auf den hippokratischen Eid, insbesondere auf den Passus primum non nocere (erstens: nicht schaden), als dem obersten Gebot unseres ärztlichen Tuns.

Das kann ein sehr vernünftiger Ansatz sein, solange man sich einig ist, dass der Patient von einer Operation nicht profitieren würde. Allerdings ist diese Einschätzung oft subjektiv. Wann ist etwas inoperabel? Wenn es zu riskant ist? Wenn ich die Verantwortung nicht übernehmen kann, weil ich Sorge um die Folgen habe? Wenn das Gleichgewicht stimmt, kann diese Haltung ein sehr guter Ansatz für die Entscheidungsfindung sein; wenn das Gleichgewicht nicht stimmt, versteckt man sich als Chirurg hinter Statistiken und verpasst die Chance, mitunter Leben zu retten. Denn die Crux bei dieser Art Entscheidungen ist: Man kann Patienten auch schaden, indem man nichts tut. In manchen Ländern ist diese Art Zurückhaltung übrigens keine Persönlichkeitsfrage wie hierzulande, sondern die vorherrschende Philosophie in der Gesundheitspolitik. Dort wird dieser Passus des hippokratischen Eides geradezu kompromisslos wörtlich genommen. Präventive oder vermeintlich zu risikoreiche neurochirurgische Operationen werden dort weitgehend abgelehnt.

Es gibt aber auch diejenigen, die bereit sind, Grenzen zu überschreiten, Normen abzulehnen und Herausforderungen anzunehmen. Robert Spetzler aus Phoenix, der bereit war, seine Patienten auf 28 Grad Celsius abzukühlen und in einen Herzstillstand zu versetzen und gemeinsam mit ihnen ein hohes Risiko einzugehen, um ihnen eine Zukunft zu geben, ist ein Prototyp dieser Neurochirurginnen und Neurochirurgen. Mit dieser Persönlichkeit ist man ständig auf der Suche nach einer neuen Lösung für die Probleme von Patienten. Man wird vom Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten angetrieben, schwierige Fälle übernehmen zu können. Für Patienten in verzweifelten Situationen ist diese Haltung natürlich gut. Als Chirurg begibt man sich damit freilich in eine heikle Situation, denn die Erwartungen sind groß, und man braucht Erfahrung und die psychische Stärke, ihnen entsprechen zu können.

Welche Haltung ist nun die bessere? Sind die Risikobereiten nur Spieler mit einem großen Ego, die das Leben ihrer Patienten riskieren? Oder aber scheuen die Zurückhaltenden die Verantwortung und weigern sich, das volle Potenzial zu nutzen, um Leben zu retten?

Mein bereits zitierter Neurochirurgenfreund aus Genf, Karl Schaller, bringt es so auf den Punkt:

Bei näherer Betrachtung gibt es überhaupt keine atraumatische Chirurgie. Nicht einmal Nichtstun ist atraumatisch! Es geht nur darum, zwischen den am wenigsten traumatischen und traumatisierenden therapeutischen Methoden und einem möglicherweise ebenfalls gefährlichen Spontanverlauf abzuwägen. Judgement nennt man das, und das hat nicht nur mit der Geschicklichkeit des Chirurgen zu tun, sondern auch mit seiner Persönlichkeit.

Beide Persönlichkeitstypen nehmen Verantwortung durch ihre Entscheidungen auf sich. Wenn es aber darum geht, schwer kranken Patienten zu helfen, scheint mir der Ansatz der risikobereiten Persönlichkeit der vernünftigere. Es braucht Mut, diesen Weg zu gehen, weil wir unsere natürliche, bequeme Art zu denken und zu handeln überwinden müssen. Denn unser Gehirn schätzt es nicht, wenn wir mutig sind, darauf ist es nicht programmiert. Das hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass wir darunter leiden, wenn wir den Zustand eines Patienten verschlechtert haben, statt zu helfen. Empathie lässt sich nicht durch Professionalität wegdrücken. Darauf werden wir noch zurückkommen.

Ein weiterer Grund, der im Weg stehen kann, ist der Perfektionismus, und der ist geradezu eine Berufskrankheit von Neurochirurginnen und -chirurgen. Sie streben immer nach dem Besten. Das ist gut für den Patienten, aber schwierig für den Chirurgen. Der Neurochirurg Jacques Morcos von der University of Miami sagte kürzlich in einem Podcast: »Keine Aufgabe ist zu klein für Selbstkritik. Wir sind nie zufrieden mit dem, was wir tun, und die Angst zu versagen, begleitet uns Tag und Nacht.« Grenzen zu überschreiten aber bedeutet, unerforschte Gebiete betreten und nach neuen Lösungen suchen zu müssen. Das birgt das Risiko, zu scheitern und kritisiert zu werden. Ein weiterer nicht unerheblicher Grund ist die Angst, wegen einer Entscheidung im klinischen Kontext gerichtlich belangt zu werden. Diese Angst nimmt leider immer stärker zu.

Aber wie fasst man Mut und findet dabei die richtige Balance? Diese Frage beschäftigt mich schon lange und hat zu Antworten geführt, die sicherlich nicht nur in der Neurochirurgie gültig sind, sondern im Grunde in allen Bereichen, in denen mutige Entscheidungen zu treffen sind. Für mich haben sich fünf Dinge herauskristallisiert, die mir helfen und die ein solides Fundament für meine Entscheidungen bilden.

Zunächst sind ganz grundsätzliche Fragen zu beantworten: Was verstehe ich als den Zweck meiner Existenz, und wie kann ich meinen Talenten gerecht werden? Habe ich den richtigen Beruf? Die Antworten auf diese Fragen können es leichter machen, mutig zu sein.

An zweiter Stelle steht die Frage, welche Werte die Grundlage für meine Entscheidungen bilden. Sie einmal tatsächlich explizit zu formulieren und dann für meine Mitmenschen und mein Team sichtbar zu machen, sie vorzuleben, schenkt Klarheit und ethische Stabilität. Ich habe im Vorwort schon aufgeführt, welche Werte für mich dazugehören – Demut, Verantwortungsbewusstsein, Verlässlichkeit, Durchhaltevermögen, aber auch Disziplin und Ehrlichkeit.

Drittens schafft couragiertes Handeln Vertrauen – nicht nur in mich selbst, sondern auch in mein Team und mein Umfeld. Und Vertrauen führt zu Optimismus, der Stressresistenz verleiht.

Viertens gilt es auch, die eigenen inneren Antreiber, die einen quälen können, zu verstehen und gegebenenfalls gegenzusteuern.

Und nicht zuletzt ist da die besondere Herausforderung, nicht nur respektvoll und ehrlich zu den Menschen zu sein, die ich behandele – das ist selbstverständlich –, sondern mich auch dann nicht zu verstecken und aufrichtig zu sein, wenn es Komplikationen gibt. Daran muss man wohl ein ganzes Leben lang arbeiten.

Mit diesen Strategien ist es dann leichter, auch eine gewisse Verantwortung im Sinne des wissenschaftlichen Fortschritts und der Innovation wahrzunehmen, ein starker Antrieb, sobald ich eine Chance auf Verbesserung oder gar Heilung sehe. Wenn man nie etwas wagt und im Rahmen der eigenen Erfahrung verantwortungsbewusst nicht auch einmal an seine Grenzen geht, entwickeln sich auch das Fach, die Wissenschaft und die Möglichkeiten zu helfen nicht weiter. Immer vorausgesetzt natürlich, man schätzt die eigenen Fähigkeiten realistisch ein und sieht sich in der Lage, die Aufgabe zu bewältigen. Michael Lawton, Robert Spetzlers Nachfolger am Barrow Neurological Institute in Phoenix, hat meinen Leitsatz in dieser Frage geprägt: Push limits, take nothing for granted, accept challenges – Grenzen ausloten, nichts als selbstverständlich erachten und Herausforderungen annehmen. Denn am Ende geht nichts darüber, einem Menschen aus einer verzweifelten Lage helfen zu können.

 

Marie Gilbert muss nun eine Entscheidung treffen. Im Moment beeinträchtigt sie die Gefahr im Kopf nicht. Sie hat keine Ausfälle zu beklagen. Wie es scheint, war das Ungeheuer nach der letzten Blutung eingeschlummert. Sie hat sich bereits in ihrer Schule zurückgemeldet, um wieder zu unterrichten. Die Operation wäre eine Präventivmaßnahme. Zugleich spüre ich, wie die Ungewissheit an ihr nagt und die Angst vor einer erneuten Blutung ihren Alltag überschattet. Bisher hat sie alle Blutungen unbeschadet überstanden. Aber ist es nicht gerade deshalb umso wahrscheinlicher, dass sie bei der nächsten nicht noch einmal so glimpflich davonkommt?

Drei Wochen nach unserem ersten Gespräch wird Marie Gilbert stationär aufgenommen. Ich halte die Operation für möglich, und sie zieht das Risiko der Operation mit der Hoffnung auf Heilung dem permanenten Risiko einer wieder und wieder auftretenden Blutung vor.

Die Malformation bei ihr sitzt im Schläfenlappen, wobei das deutlich zu harmlos klingt; vielmehr nimmt sie nahezu den gesamten Schläfenlappen über eine Distanz von mehr als sechs Zentimetern ein, allerdings im rechten Teil des Gehirns. Bei etwa der Hälfte der Linkshänder, und Marie Gilbert ist Linkshänderin, befinden sich die Sprachareale auf der rechten Seite. Nun müssen wir herausfinden, wie ihre Sprache im räumlichen Verhältnis zur Malformation organisiert ist. Dass sie nah am sensorischen Sprachareal liegt, ist aus dem bisherigen Krankheitsverlauf bekannt. Doch wie nah genau? Und wo laufen die Sprachfasern entlang, die die Areale miteinander verbinden? Würde der Eingriff möglich sein, ohne größere Schäden anzurichten? Ohne sie ihrer besonderen Sensibilität für Sprache zu berauben?

Gewöhnliche MRT-Aufnahmen, die uns die Anatomie des Gehirns zeigen, sind keine ausreichende Basis für diese Diagnose. Darauf kann man nur erahnen, wo die Sprache lokalisiert ist, als grobe Orientierung. Wenn man es exakter wissen will – und das sollte man unbedingt, bevor man eine Operation wie diese empfiehlt und in Angriff nimmt –, muss man zusätzliche Untersuchungen anstellen.

Eine Möglichkeit ist die funktionelle Magnetresonanztomografie. Die Patientin liegt im Kernspintomografen, man sagt Worte und bittet sie, diese nachzusprechen. Oder man zeigt ihr Bilder, und sie muss die Dinge benennen, die sie sieht. Nachsprechen und Benennen sind verschiedene Funktionen. Gleichzeitig wird der Sauerstoffverbrauch im Gehirn gemessen. Der Bereich, der gerade am meisten Sauerstoff verbraucht, gehört zum Sprachareal; er leuchtet auf dem Bildschirm gelb auf.

Ein Problem dabei ist, dass die Patientin, während sie zum Beispiel ein Wort wie Banane nachspricht, zugleich daran denken könnte, wie sie eine isst und wie das schmeckt, sodass auch die Bereiche, die diese Gedanken ankurbeln, aufleuchten würden. Ideal wären Wörter, die möglichst keine Assoziationen hervorrufen, die gibt es aber nicht. Daher versucht man, sich mit alternativen Strategien zu behelfen. Zum Beispiel nennt man der Patientin einen Buchstaben und bittet sie, mit diesem Anfangsbuchstaben Worte zu bilden. Läuft es wie gewünscht, lässt sich der Sprachbereich auf wenige Millimeter genau eruieren.

Doch leider funktioniert diese Methode bei arteriovenösen Malformationen nicht gut, weil in dem Wollknäuel und dem umliegenden, vermeintlich eloquenten Gehirngewebe durch den hohen Blutfluss das Konzept vom Sauerstoffverbrauch in eloquenten Bereichen nicht mehr exakt stimmt. Deshalb nutzen wir in solchen Fällen die transkranielle Magnetstimulation. Ursprünglich wurde diese Technologie in der Neurologie und Psychiatrie angewendet. Wir waren weltweit mit der Technischen Universität München und der Aalto-Universität Helsinki die Ersten, die diese Methode für den diagnostischen Einsatz in der Neurochirurgie entdeckt haben. Darauf sind wir durchaus ein wenig stolz.

Bei diesem Verfahren wird über dem Kopf des Patienten mittels einer Magnetspule ein schwaches elektrisches Feld erzeugt, das durch den Schädelknochen bis zum Hirngewebe vordringt. Man kann das so präzise machen, dass gezielt nur einzelne Nervenzellgruppen stimuliert werden. Der Patient spürt nichts, höchstens ein leichtes Kribbeln auf der Kopfhaut. So lässt sich zum Beispiel exakt jener Punkt im Motorcortex, dem Steuerzentrum der Bewegungen, ausfindig machen, der dafür verantwortlich ist, dass sich ein bestimmter Finger oder Zeh bewegt. Die Sprachfunktionen sind im Vergleich zur Motorik freilich um ein Vielfaches komplexer gestaltet, flächiger angeordnet und weiter verteilt. Aber auch dafür funktioniert die Methode, nur die Anwendung ist etwas schwieriger.

Ähnlich dem Effekt, der bei epileptischen Anfällen im Gehirn zu beobachten ist, werden einzelne Neuronen mit erhöhter Elektrizität stimuliert, was sie für einen Moment lahmlegt. Gleichzeitig hält man den Patienten an, Wörter nachzusprechen. Gelingt ihm das nicht, weiß man, dass man ein sprachwichtiges Areal erwischt hat. Nimmt man den elektrischen Impuls wieder weg und wartet einige Sekunden, kehrt die gewohnte Sprachfähigkeit zurück. So navigiert man sich Zentimeter um Zentimeter über die Hirnoberfläche mit seinen Bergen und Tälern und Windungen und erstellt eine Art Landkarte der Bereiche, die besser nicht angetastet werden sollten, das sogenannte Mapping.

Was rasch in wenigen Sätzen beschrieben ist, nimmt in Wirklichkeit viel Zeit in Anspruch, erfordert Fingerspitzengefühl, Ausdauer und Geduld. Und, besonders wichtig, die Erfahrung der speziell ausgebildeten Technischen Assistenz, die diese Untersuchung durchführt. Doch der Aufwand lohnt sich, für die Patientin und für uns. Jedes Gehirn ist anders. Je mehr wir vorher über die individuelle Struktur des Gehirns wissen, das operiert werden soll, umso besser können wir einen Plan schmieden, wie wir vorgehen. Wir können die Risiken genauer abschätzen und uns auf alle möglichen Eventualitäten vorbereiten. Überraschungen gibt es immer noch genug.

Das Ergebnis der Untersuchung bringt mich nicht um den Schlaf. Ich hatte Ähnliches vermutet, aber zu meiner Entspannung trägt es auch nicht gerade bei. Das sensorische Sprachareal und die entsprechenden Faserbahnen beginnen bei Marie Gilbert unmittelbar hinter der Malformation, auf wenige Millimeter in den hinteren, noch gesunden Schläfenlappen zusammengepfercht, nur wenige Millimeter liegen dazwischen, der Sicherheitsabstand ist denkbar gering.

Doch das ändert nichts an meiner Einschätzung, ich halte die Operation weiterhin für machbar. Mein Antrieb bei Marie Gilbert? Ich möchte dieser jungen Frau helfen und ihr ein normales Leben ermöglichen – das ist mein wichtigster Ansporn. Wir planen die Operation für den nächsten Tag.

Als ich am Morgen ins Auto steige, um in die Klinik zu fahren, ist es noch dunkel. Über Nacht hat es Frost gegeben, obwohl schon Frühling ist. Der Boden vor unserem Haus ist mit einer dünnen Schicht Raureif überzogen. Im Radio kündigen sie einen kühlen, aber sonnigen Tag an, wenige Wolken, kaum Wind.

Ich hatte den Wecker auf fünf Uhr gestellt, um genügend Zeit zu haben, die Operation noch einmal durchzugehen. Ich visualisiere die einzelnen Schritte wie die zitierten Tänzer ihre Schrittfolge. An der Stelle muss man mit dem rechten Bein abspringen, dort nach einer tückischen Drehung im richtigen Winkel zur Bühne landen und da die Armbewegung so ausführen, dass man den Partner stützen kann – das alles in der richtigen Atemtechnik, und im Kopf ist jede Bewegung zu jedem Takt präsent. Es ist ein Mechanismus, der vor komplexen Operationen verlässlich einsetzt. Begleitet von einer gewissen Anspannung, die den Konzentrationspegel zusätzlich nach oben treibt. Auch das vergleichbar mit dem Zustand von Tänzern vor ihrem Auftritt oder von Sportlern vor wichtigen Wettkämpfen. Der berühmte Tunnel. Die Gedanken fokussieren sich.

Neurochirurgie erfordert jahrelanges Training und viel Übung, damit sich die nötige Routine einstellt – und die nötige Erfahrung, um auf die vielen Überraschungen, die bei neurochirurgischen Eingriffen nie ausbleiben, kreativ reagieren zu können. Man tastet sich langsam heran, die ersten Operationen sind leichtere Eingriffe und immer in Begleitung. Nach und nach erhöht sich der Schwierigkeitsgrad. Später trägt permanentes Training dazu bei, das Niveau zu halten und irgendwann vielleicht zu einer gewissen Meisterschaft zu gelangen, nicht anders als bei Sportlern, Tänzern oder Klavierspielern. Bestimmte Abläufe wiederholen sich. Und oft sind es die gleichen Handgriffe. Manchmal auch die gleichen Komplikationen, auf die man reagieren und kreative Antworten finden muss.

Doch selbst bei der hohen Anzahl an Operationen, die ich bereits durchgeführt habe, wird eines nie zur Routine: die emotionale Beteiligung an jedem Fall. Man könnte meinen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich eine gewisse Abstumpfung bemerkbar macht, doch das ist nicht so. Wenn es bei einer Operation Komplikationen gab, die für den Patienten schwere Folgen haben, und ich deshalb frustriert bin, oder wenn mich das Ergebnis nicht ganz zufriedenstellt, weil es nicht perfekt war, dann wünschte ich manchmal, wenn ich ehrlich bin, es würde mich eines Tages weniger berühren. Aber diesen Effekt gibt es nicht, zumindest nicht bei normal konditionierten Menschen. Studien zeigen, dass die Hirnareale, in denen Emotionen entstehen und gesteuert werden, auf äußere Reize reagieren, ob man sich das wünscht oder nicht. Und zwar jedes Mal, unermüdlich. Das lässt sich auch nicht auf Knopfdruck abstellen, wenn ich die Klinik verlasse. Inzwischen versuche ich das auch gar nicht mehr, weil es sich falsch anfühlt, so als wollte ich die Realität ausblenden.

 

In meinem Büro angekommen, beantworte ich einige E-Mails. Danach geht es noch zu einer kurzen Besprechung mit Kollegen aus anderen Fachbereichen. Solche Unterbrechungen sind in dieser Phase gar nicht so verkehrt. Mal kurz die Konzentration runterfahren, um sie schließlich punktgenau auf das erforderliche Niveau zu bringen. Wenn man eine Operation wie diese vor sich hat, nimmt man sich für den Rest des Tages besser nichts vor, was nicht kurzfristig verschoben werden kann. Auf fünf bis sechs Stunden Operieren – und das möglicherweise ohne Pause – muss man sich einstellen. Geduld, Ruhe und Ausdauer sind hier gefragt und die Bereitschaft, dass es ebenso gut zehn Stunden werden können oder elf, das weiß man vorher nie.

Im Vorfeld einer Operation gibt es viele Dinge, auf die man achten muss. Abgesehen von den technischen, logistischen und allen anderen Vorbereitungen, die wir in unserem optimal aufeinander eingespielten OP-Team besprechen, bis hin zur Bestellung von Blutkonserven, um diese bei Bedarf blitzschnell von der klinikeigenen Blutbank abrufen zu können. Auch die mentale Vorbereitung ist bei neurochirurgischen Operationen, wenn man bei winzigsten Gefäßen in einem hochsensiblen Areal unter dem Mikroskop stets eine ruhige Hand braucht, von entscheidender Bedeutung.

Jetzt würde ich gerne behaupten, dass wir Neurochirurgen es bei solchen Operationen ausnahmslos schaffen, gelassen zu sein, und uns immer im seelischen Gleichgewicht befinden. Aber mal ganz ehrlich, wer ist das schon? Die Kunst liegt vielmehr darin, sich für den Patienten von allem, was einen belasten könnte, frei zu machen, um sich für die Dauer der Operation in den Zustand des seelischen Gleichgewichts zu versetzen.

Kurz nach acht Uhr betrete ich den OP-Bereich im vierten Stock. Marie Gilbert liegt bereits auf dem OP-Tisch in Saal 1, unserem Gefäßsaal, der Saal für die komplexen Fälle. Wie bei allen OP-Sälen ist außen neben der Tür ein kleines Schild mit der Nummer angebracht. Im Unterschied zu den anderen steht hier der Zusatz: »Mit besonderer Ausstattung«. Gemeint ist, dass es sich um einen sogenannten Hybrid-OP handelt, digital vernetzt und mit modernster Technik ausgestattet, sowohl für die eigentliche Operation als auch für intraoperative diagnostische Untersuchungen, also während des Eingriffs. Zum Beispiel ist in Reichweite des OP-Tischs eine roboterbasierte Angiografie-Anlage installiert, mit der Blutgefäße radiologisch dargestellt werden können. Der dazugehörige C-Bogen, der die entsprechenden Röntgenbilder liefert, ist auf einen Roboterarm montiert und lässt sich schnell, flexibel und präzise in allen Ebenen um den Patienten herummanövrieren, ohne dessen Lage verändern zu müssen. Mittels Angiografie können wir das Ergebnis der Operation überprüfen, bevor der geöffnete Schädel wieder verschlossen wird – und gegebenenfalls sofort nachoperieren.

Die Patientin liegt auf dem Rücken, Oberkörper und Kopf leicht erhöht. Sie steht unter Narkose. Ihr Kopf ist nach links zur Seite gedreht, etwa 60 Grad zur Normalposition, und mit einer Art »Schraubzwinge« fixiert, der Mayfield-Klemme, die nach ihrem Erfinder, einem amerikanischen Neurochirurgen, benannt ist. Diese Klemme verfügt über drei Dorne, zwei nebeneinander auf einer Seite, ein Dorn gegenüber. Alle drei werden durch die Kopfhaut fest an den Schädelknochen geschraubt, sodass sich der Kopf keinen Millimeter bewegen lässt. Im wachen Zustand wäre das ziemlich schmerzhaft, so aber spürt Marie Gilbert nichts davon.

Auf der rechten Schädelseite, im Bereich der Schläfe und oberhalb des Ohres, sind ihre Haare abrasiert. Auf der Kopfhaut, die nach der Rasur steril gemacht wurde, ist mit schwarzem Faserstift ein Halbkreis aufgezeichnet, der den geplanten Hautschnitt markiert.

Im OP-Saal befinden sich jetzt sieben Personen. Um mich herum steht eine hoch spezialisierte Crew. Wir sind perfekt aufeinander eingestimmt, nur so können wir uns an einen solchen Eingriff wagen und das Risiko auf ein vernünftiges Maß reduzieren. Modernste Technik, das Aufeinander-eingespielt-Sein des OP-Teams und die fundierte Erfahrung des Operateurs sind die Grundbedingungen einer erfolgreichen Operation. Ein kurzer bestätigender Blickkontakt mit dem Team. Die OP beginnt.

Katharina Faust, die Oberärztin, die mir bei der Operation zur Seite steht, schneidet mit einem Skalpell entlang der Linie die Kopfhaut und die darunterliegenden Schichten der Kopfschwarte ein, um anschließend einen etwa zwölf Zentimeter langen und fast genauso breiten Hautlappen, in der Form wie ein breit geratenes Fragezeichen, beiseitezuklappen und mit an Gummizügen fixierten Haken zu befestigen. An den Wundrändern wird das Blut gestillt. Normalerweise versucht man, die Schädelöffnung möglichst klein zu halten, auch aus ästhetischen Gründen, im Interesse des Patienten. Bei einer arteriovenösen Malformation hingegen ist es zielführender, sich für einen verhältnismäßig großen Zugang zu entscheiden, damit man an das Wollknäuel, das zumeist an der Gehirnoberfläche sitzt, gut herankommt und um sich einen besseren Überblick über die Gefäße in seinem Umfeld verschaffen zu können. Welche sind zuführende Arterien? Und welche gehen nicht in die Malformation hinein, sondern daran vorbei? Letztere müssen unbedingt geschont werden.

Katharina Faust postiert sich links neben mich, die OP-Pflegefachkraft Susanne Leber nimmt ihren Platz wie üblich rechts von mir ein. Auch wenn man sich während der Operation beim Blick durch das Mikroskop als Operateur in manchen Phasen wie der einsame Solist im Scheinwerferlicht auf der Bühne fühlt, so ist man doch in jedem Moment ein Teamplayer. Auch der »solistische« Part funktioniert nur, wenn jeder an seinem Platz und im Zusammenspiel Höchstleistung bringt. Die Oberärztin vollzieht jeden Schritt mit. Den Sauger so zu führen, dass man dem Operateur nie den Weg verbaut, ist auf den winzigen Arealen, in denen wir arbeiten, alles andere als trivial. Dazu muss man genau wissen, was der andere gleich tun wird, und stets synchron arbeiten. Zudem werden die einzelnen Operationsschritte ständig kommentiert und besprochen.

Auch die OP-Pflegefachkraft arbeitet unter äußerster Konzentration, auch sie muss den nächsten Schritt vorausahnen und wissen, was zu tun ist, andererseits blitzschnell auf Anweisungen reagieren; jedes Instrument liegt bereit, jeder Handgriff sitzt. Nicht weniger zentral ist die Rolle der Anästhesistin oder des Anästhesisten, die auch bei schwierigen Verläufen der Operation unter anderem die Herz-Kreislauf-Situation, die Beatmung und die Versorgung des Gehirns des Patienten mit Sauerstoff sicherstellen müssen. Jeder Einzelne von uns weiß die Reaktionen der anderen zu deuten; wir haben eine klare, unmissverständliche Kommunikation trainiert und können uns absolut aufeinander verlassen.

 

Im nächsten Schritt bohre ich ein Loch in die Schädeldecke, das als Zugang für die Knochensäge dient. Mit der Säge schneidet man einen Knochendeckel von etwa zehn Zentimetern Durchmesser heraus, den die OP-Pflegefachkraft in einem sterilen Metallschälchen lagert. Nun liegt die Hirnhaut vor uns, genauer gesagt, die Dura mater, die äußere von drei Schichten. Sie ist weißlich, halb durchsichtig, ähnlich einem Milchglasfenster, und äußerst schmerzempfindlich, dabei aber relativ hart, fast lederartig.

Inzwischen habe ich das OP-Mikroskop vor den Augen, durch das ich das Operationsfeld bis zu vierzigfach vergrößert sehen kann. Das Wollknäuel ist trotz der Hirnhaut bereits deutlich erkennbar. Noch nicht in seinen Details, aber farblich als dunklerer Punkt in der ansonsten weiß-gräulichen Gehirnmasse.

Unter der Dura folgt die bläulich schimmernde Arachnoidea oder auch Spinnengewebshaut, eine hauchdünne weiche Membran, weißlich und von feinen Fasern kollagenen Bindegewebes durchzogen, daher das spinnengewebsartige Aussehen. Hier verlaufen Hirnnerven und zahlreiche Gefäße.

Dann kommt die letzte Schicht der Hirnhaut, die Pia mater. Auch sie ist weich, besteht aus feinem Bindegewebe, auch sie enthält Blutgefäße. Die Pia liegt eng am Gehirn mit all seinen Furchen an. Hier sind die kleinen peripheren Blutgefäße zu finden, bevor sie ins Gehirn eintreten.

Da ich besonders vorsichtig sein muss, um keines der großen Gefäße zu beschädigen, die das Blut abtransportieren, verwende ich nicht wie üblich eine Schere, sondern eine feine Nadel, um die ein bis drei Millimeter dicken Gefäße aus der Arachnoidea zu skelettieren, bis ich den oberen Teil der Malformation freigelegt vor mir habe und beginne, die Architektur des Wollknäuels zu verstehen. Alles läuft gut.

 

Der Anfang ist geschafft, es war noch der leichtere Teil. Denn wir haben uns an der Oberfläche bewegt – dort, wo der Rand des Wollknäuels gut auszumachen ist. Jetzt geht es darum, in die Tiefe vorzudringen, um es von allen Seiten frei zu präparieren. Auch die Crew signalisiert, dass alles in Ordnung ist. Eine Etappe haben wir erfolgreich hinter uns gebracht. Daraus lässt sich neue Energie schöpfen, und es hält die Motivation und Konzentration hoch.

Auf dem Weg zur Basis des Wollknäuels müssen bis zu 200 kleine Gefäße verödet und verschlossen werden, und zwar jedes einzeln. Das dauert Stunden. Für die anderen im OP-Saal kann das eine ziemlich monotone Angelegenheit sein. Ständig das schlürfende Geräusch des Saugers, dazu die üblichen Kontrolltöne von Herzfrequenz und Puls, und auf dem OP-Bildschirm ist praktisch immer die gleiche Szene zu sehen, nur dass die Gefäße wechseln, mal einen Hauch dünner oder dicker sind.

Blick in einen Neurochirurgischen Operationssaal während eines Eingriffs am Gehirn. Der Operateur sitzt am Kopf des Patienten und blickt durch das Mikroskop, das auf einen Schwenkarm montiert ist, auf das Gehirn. Um ihn herum das Team, bestehend aus Oberärztin, Anästhesistin, Pflegefachkräften und technischer Assistentin, das die Operation unter dem Mikroskop direkt oder über zahlreiche Bildschirme für alle Blickwinkel konzentriert verfolgt.

 

Ich hingegen erlebe es vollkommen anders. Als wäre ich mit einem Boot zum Hochseefischen aufs Meer hinausgefahren, Hemingway-like sozusagen. Es ist, als wirft man eine Angel aus, ein Fisch beißt an – ein großer Brocken –, und dann beginnt das Ringen: Man zieht einen richtig großen Fisch ein Stück aus dem Wasser. Man ist optimistisch. Auf einmal wehrt er sich, taucht zurück in die Tiefe, zieht einen hinterher, dass man beinahe über Bord geht. Doch man mobilisiert alle Reserven, gewinnt wieder die Oberhand, der Riesenfisch ist zum Greifen nah. Schon macht er erneut einen Satz, taucht ab, zerrt an der Schnur; man muss nachgeben. So geht es ständig hin und her. Und genauso fühlt es sich oft bei der Operation sehr großer arteriovenöser Malformationen an. Wer am Ende der Sieger sein wird, scheint ungewiss. Natürlich will man selbst der Sieger sein – unbedingt –, also ringt man weiter.

Im OP