Krähensommer - Brigitte Glaser - E-Book
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Krähensommer E-Book

Brigitte Glaser

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Beschreibung

Gleich am ersten Tag ihrer Ausbildung wird Inci in einen aufregenden Fall hineingezogen: Auf einem Fahndungsplakat erkennt sie ein Krähen-Tattoo wieder, das zu einem Verdächtigen in einem Raubüberfall führen soll. Doch genau dieses Tattoo trägt Mo auf dem Oberarm, früher mal Inçis bester Freund! Sie ist sich sicher, dass Mo nicht für die brutale Tat verantwortlich sein kann. Um seine Unschuld zu beweisen, muss sie jedoch dringend mehr herausfinden. Und so fängt sie an, heimlich und auf eigene Faust zu ermitteln... Band 1 einer neuen Serie.

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Brigitte Glaser

Krähensommer

Incis erster Fall

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2015: by Bastei Lübbe AG, Köln

Grafiker: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

unter Verwendung von Motiven © Marcin Perkowski/shutterstock; © Luria/shutterstock

E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-0618-7

Sie finden uns im Internet unter: www.one-verlag.de

Bitte beachten Sie auch: www.luebbe.de und www.lesejury.de

Für Angelika und unsere Freundschaft

Montag, 1. September

Inci liegt mit Mo und Falk im Gras, die Köpfe wie Kleeblätter zusammengesteckt, die Hände im Nacken verschränkt, die Augen zum Himmel gerichtet. Ein leichter Zischelwind streift durch das Gras, in der Luft hängt der satte, schläfrige Geruch des Sommers. Inci merkt, wie sich ihr Körper hebt, sieht, dass sie alle drei schwerelos ein paar Zentimeter über der Erde schweben. Spitze Halme kitzeln ihren Rücken, die Sonne lacht. Sie kichern über irgendwas, Spatzen lärmen am Himmel, Rosen schaukeln im Wind, helles Glück, wohin man schaut. Der Garten, erkennt Inci, ist der von Edith. Der verkrüppelte Apfelbaum, das Windspiel über der Laubentür, der wilde Wein, alles da. Aber die Zäune fehlen, der Garten wirkt weiter, größer, unendlich. Alles ist möglich, denkt Inci, alles. Sie will nach der Hand von Mo und nach der von Falk greifen, als plötzlich schwarze Projektile in die Luft schießen. Sie verdunkeln den Himmel, fallen wie Steine herab, direkt auf sie zu, bis ihnen über dem Apfelbaum unversehens Flügel wachsen und sie sich in lärmende Krähen verwandeln. Wie Wilddruden stürzen die Vögel auf sie.

Krähen! Inci kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal von Falk, Mo und den Krähen geträumt hat. Ihr Kreislauf rast, als sie aus dem Schlaf aufschreckt. Sie greift nach der Wasserflasche neben dem Bett und wartet, dass sich ihr Herz beruhigt. Ihre gemeinsame Zeit mit Mo und Falk ist lang vorbei. Dem Glückssommer folgte ein Horrorherbst. Nach dem Schmerzwinter endlich ein Frühling, in dem sie vergaß. Seit drei Jahren haben sie sich aus den Augen verloren, und ausgerechnet heute Nacht träumt sie von den beiden. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Ein Blick auf den Wecker, fünf Uhr in der Früh, noch zwei Stunden bis zum Aufstehen. »Schlaf wieder ein«, befiehlt Inci sich selbst. »Du willst doch nicht ausgerechnet heute mit Ringen unter den Augen aufkreuzen!«

Bleiern kommt der späte Schlaf, und Inci fällt es schwer, aus ihm aufzutauchen. Kurz kehrt die traumhafte Leichtigkeit mit Falk und Mo in ihren Kopf zurück. Dann wischt sie die Nacht weg, springt aus dem Bett und stürmt ins Bad.

Die kurzen Haare mit Gel in Form bringen oder föhnen? Lidstrich ja oder nein? Parfüm? – Auf keinen Fall.

»Inci, beeil dich, ich muss aufs Klo!« Selin hämmert gegen die Tür.

»Du kannst mich mal!« Lidstrich und geföhnt.

Zurück im Zimmer das nächste Problem. Jeans oder Leggins? Turnschuhe oder Ballerinas? Top oder Sweatshirt? Auffallen oder nicht auffallen? Inci reißt den Kleiderschrank auf, zerrt ein Kleidungsstück nach dem nächsten heraus, wirft alles aufs Bett. Wieso hat sie nicht schon gestern Abend überlegt, was sie anziehen will?

»Jeans und Gammel-Shirt!«, bestimmt Selin, die neugierig den Kopf durch die Tür steckt. »Bestimmt müsst ihr schon am ersten Tag durch den Dreck robben.«

Inci wirft eine Hose in ihre Richtung und knallt ihrer Schwester die Tür vor der Nase zu. Jeans, Top, kurze Jacke, Ballerinas. Von wegen durch den Dreck robben! Da verwechselt Selin was. Sie geht doch nicht zum Militär.

»Möchtest du noch einen Tee, canim?«, ruft Baba aus der Küche.

»Keine Zeit mehr, ich muss los.« Sie prüft ihre Tasche. Block, Stifte, Handy, Wasserflasche. Wo ist ihr nazar boncuğu? Die blaue Glaskugel muss sie heute auf jeden Fall mitnehmen. Als Schutz vor dem bösen Blick. Wann hat sie sie zum letzten Mal gebraucht? Beim Abi? Bei der Aufnahmeprüfung? Sie steigt auf den Schreibtischstuhl, holt ihre Schatzkiste vom Schrank. In dem wilden Sammelsurium kehrt sie das Unterste zuoberst, die Glaskugel findet sie ganz unten auf einem Foto liegend. Das Foto zeigt sie, Mo und Falk auf der Eisenbahnbrücke. Ein Bild aus dem Glückssommer, aus ihrem Traum. Schon zum zweiten Mal wird sie heute an die beiden erinnert. Sie schüttet das Bild mit alten Souvenirs zu und stellt die Kiste zurück auf den Schrank. Die türkisfarbene Glaskugel steckt sie ein, hängt sich die Tasche um und hastet aus dem Zimmer.

»Ich kann dich an der Universität vorbeifahren, der kleine Umweg macht mir nichts aus«, schlägt Baba vor.

»Nicht nötig, ich nehme das Rad.« Inci drückt ihrem Vater einen Kuss auf die Backe.

»Willst du dich wirklich nicht von Baba bei der juristischen Fakultät vorbeifahren lassen?«, bohrt Selin nach.

Die Worte »juristische Fakultät« dehnt sie bis zum Gehtnichtmehr. Kurz blitzt in ihren Augen Bösartigkeit auf, aber schnell ist sie wieder ganz Unschuldslamm.

»Ich nehme das Rad, Frühsport.« Hinter dem Rücken des Vaters streckt Inci Selin den Mittelfinger entgegen.

»Heute Abend, du weißt schon«, droht Selin.

Inci schaut sie nicht an. Sie schlüpft in die Schuhe, schultert ihr Rennrad und beeilt sich, die Wohnung zu verlassen.

Fünfzehn, zwanzig Minuten wird sie bis ins Kunibertsviertel brauchen. Wenn sie rechtzeitig da sein will, muss sie ein paar rote Ampeln ignorieren. Darf sich aber auf keinen Fall von einer Streife erwischen lassen, wäre kein gutes Omen für ihren ersten Tag als Polizistin. Immerhin, das Wegstück am Fluss entlang kann sie Tempo machen. Kein Gegenwind, achter Gang, sie tritt in die Pedale. Zehn Minuten später flitzt sie zum ersten Mal bei Rot über eine Kreuzung.

Im Mai, kurz nach den mündlichen Abi-Prüfungen, hat Inci heimlich den dreitägigen Einstellungstest für Polizisten in Nordrhein-Westfalen gemacht. Den ersten Tag hat sie am PC gesessen – Gedächtnisleistung, abstraktes Denken, Rechtschreibung und so weiter –, den zweiten Tag beim Polizeiarzt Untersuchungen und Leistungstests überstanden, am dritten Tag ist sie richtig ins Schwitzen gekommen. Zuerst ein Rollenspiel über durchgeknallte Fußballfans nach einem Bundesligaspiel. Gar nicht so einfach, Ruhe zu bewahren, wenn einen besoffene Ultras zum Teufel wünschen! Der fünfzehnminütige Vortrag danach war so lala, bei der »Postkorbübung« dann Multitasking: Telefonieren, Protokolle verfassen, Publikumsverkehr und so weiter. Hektik kann sie gut ab, da hat sie sich wacker geschlagen. – Die Stunde, bevor sie und die anderen Prüflinge die Ergebnisse erfuhren, war der pure Horror, dann riesige Erleichterung: Sie hat auf Anhieb bestanden.

Stolz und glücklich war sie, aber schon auf der Rückfahrt nach Köln trübten Wermutstropfen den Erfolg. Baba! Ihr Vater weiß bis heute nichts von ihrer Entscheidung. Immer noch lässt sie ihn in dem Glauben, sie habe sich für Jura eingeschrieben, damit sein Traum, endlich eine Anwältin in der Familie zu haben, wahr wird. Sie weiß einfach nicht, wie sie ihm beibringen soll, dass sie lieber zur Polizei geht. Sie hat Selin eingeweiht und mit der Schwester Strategien überlegt, wie sie dem Vater ihre Entscheidung am besten beibringt. Doch auch das hat nichts genutzt, immer hat sie gekniffen. »Toben wird er so oder so. Du weißt genau, was er von der deutschen Polizei hält!« Nicht gerade aufbauend, die große Schwester! Gestern Abend hat sie ihr die Pistole auf die Brust gesetzt. Wenn Inci ihrem Vater heute Abend nicht reinen Wein einschenkt, dann wird sie ihm die Wahrheit sagen. Selin lässt nicht mehr mit sich handeln, gewährt keinen weiteren Aufschub. Inci bleibt nur noch diese letzte Galgenfrist bis zum Abendessen.

Sie lässt den Fluss links liegen, biegt ins Kunibertsviertels ein, prüft die Uhrzeit – oh, das wird knapp! –, nimmt die zweite rote Ampel. Ein BMW-Fahrer hupt, Inci beachtet ihn nicht, sie schlängelt sich durch die schmalen Sträßchen in Richtung Thürmchenswall.

Am Montag gab es die Ernennungsurkunde durch den Polizeipräsidenten. – »Gratulation, Frau Yildiz. Ihr Vorname, wie spricht man den aus? Insi oder Inschi?« – »Inschi mit stimmhaftem sch.« Warum mussten ihr die Eltern ausgerechnet den altmodischen Namen der Istanbuler Großmutter geben? Einen Namen, den kein Mensch richtig aussprechen kann? Der zudem an den Spitznamen der Bundeskanzlerin erinnert? – Danach ein letzter Check beim PÄD, dem Polizeiärztlichen Dienst. Uniformen werden sie erst am Ende des Semesters bekommen, so lange bleiben sie in Zivil. Und heute also der erste Unterrichtstag an der Hochschule für öffentliche Verwaltung.

Inci schließt ihr Rad am Zaun des Gebäudes fest. Unauffällig ist es, viel kleiner als ihre alte Schule, schlicht und schmucklos. Nicht nur wegen des schnellen Fahrens klopft ihr Herz, als sie die Eingangstür öffnet.

Gewusel im Foyer, nur fremde Gesichter, sie kennt niemanden, der mit ihr die Polizeiausbildung beginnt. Von den Leuten, mit denen sie den Test gemacht hat, scheint keiner in Köln zu studieren. Kurz beneidet sie die zwei Mädchen, die eng beieinanderstehen, sich an den Schultern berühren, gegenseitig Halt geben. Sei’s, weil sie sich gerade gefunden haben, sei’s, weil sie alte Bekannte sind. Freundinnen vielleicht seit Jahren, gemeinsame Schulzeit, gleicher Berufswunsch, wollen sie immer weiter gemeinsam durch dick und dünn gehen. Dann fallen Inci die drei Kerle in engen Shirts auf, die sich mittig platziert haben. Groß, durchtrainiert, braun gebrannt. Teutonengrill an der Adria oder in Antalya, vielleicht lagen sie auch nur an irgendeinem Baggersee. Die drei klopfen sich auf die Schultern, lachen laut, sind aber gleichzeitig auf der Hut. Alphatierchen, von denen jeder die Nummer eins sein will, aber noch wissen sie nicht, wer von ihnen das Rennen macht.

Die meisten anderen um Inci herum sind Solotänzer wie sie selbst. Manche an die Wand gedrückt, andere im Raum herumirrend, nur das Handy als verlässlichen Gefährten zur Hand.

»Herrschaften, bitte alle in Raum 110«, dröhnt eine kräftige Stimme durch den Raum.

Den Mann dazu sieht Inci nicht, nur seinen Arm, der den Weg weist. Schnell formiert sich ein Tross und folgt dem Arm, Inci reiht sich ein. Neben ihr geht ein Mädchen, das nach Aprikosen riecht. Sie ist nicht sehr groß, hat blonde Haare, breite Hüften und einen gewaltigen Hintern. War bei den Tests und Untersuchungen bestimmt kein Zuckerschlecken für sie, die Ärzte von ihrer körperlichen Fitness zu überzeugen.

»Dreimal Halbmarathon, einmal Köln-Marathon in vier Stunden zwanzig«, antwortet das Mädchen, als könne sie Gedanken lesen. »Ich habe echt Ausdauer.«

»Boxen und Radfahren«, antwortet Inci, lächelt und reicht ihr die Hand. »Inci.«

»Jeanette. Ich komme aus dem Sauerland. Und du?«

»Von hier, aus Köln.«

Der Tross gerät an einer Tür ins Stocken, alle drängeln beim Stürmen des Klassenzimmers. Als Inci den Raum betritt, haben die drei Kerle Plätze in der letzten Reihe blockiert, das Mädchenpaar sitzt links außen neben einem Fenster. Wie bei der Reise nach Jerusalem suchen sich die meisten schnell einen Sitzplatz. Jeanette poltert in die dritte Reihe, plumpst auf einen Stuhl, winkt Inci, die am Eingang stehen geblieben ist, deutet auf den freien Platz neben sich. Mein rechter, rechter Platz ist leer … Dieses Kinderspiel kommt Inci auch in den Sinn. Sie nickt Jeanette zu, setzt sich aber in die zweite Reihe. Auf den Platz links von ihr lässt sich wenig später ein Junge mit Motorradjacke und Helm fallen, um den Hals einen graublau karierten Burberry-Schal.

»Jakob«, sagt er.

»Inci.«

»Inci? Türkisch, oder was?«

»Jakob? Jüdisch, oder was?« Inci rollt mit den Augen.

»Hallo, ich bin Yüksel.«

Ein Schrank von einem Kerl, rabenschwarze Haare, Kohleaugen, Schwarzmeer-Nase. Er gibt erst Inci und dann Jakob die Hand. Klar hat Inci im Foyer bemerkt, wie er mit den Augen Kontakt zu ihr suchte, von wegen Wir-müssen-doch-hier-unter-den-Deutschen-zusammenstehen. Aber auf so eine Türkennummer hat sie keinen Bock. Sie hasst es, schnell in eine Schublade gesteckt zu werden.

Yüksel setzt sich auf den Stuhl rechts von Inci, klappt seinen Aktenkoffer auf, holt einen Spiralblock heraus, legt einen Kuli und einen Bleistift exakt daneben. Himmel, denkt Inci, ein Korinthenkacker! Den Bleistift steckt er in einen silbernen Anspitzer, er dreht ihn, eine kleine Holzgirlande wellt sich. Plötzlich stockt er. Der Bleistift klemmt in dem silbernen Kegel fest, die Holzgirlande bleibt am Spitzer hängen. Jetzt starrt Yüksel auf die Tür, Inci folgt seinem Blick. Aber hallo, denkt Inci, als sie die Dunkelhaarige im Türrahmen sieht. Haare bis zum Hintern, enge Bluse, gut gefüllt, kurzer Rock, lange Beine in Leggins. Mit gelangweiltem Blick taxiert sie die Klasse, schlendert dann seelenruhig zu einem freien Platz in der ersten Reihe, dreht allen den Rücken zu. Der Po in ihrem engen Rock wirkt wie in Stein gemeißelt. Alle im Raum halten die Luft an, als die Dunkelhaarige ihn auf einem der freien Stühle parkt. Yüksels Holzspirale fällt sacht und lautlos auf den Tisch, im Raum dagegen entlädt sich die Spannung plötzlich in hektische Betriebsamkeit: Stühle werden gerückt, Plätze getauscht, Wasserflaschen aufgestellt. Inci wendet den Kopf und studiert die Gesichter der drei Jungen in der letzten Reihe. Als seien sie verhext, fixieren sie den Rücken der Dunkelhaarigen.

Für sie werden sie in den Ring steigen, da ist sich Inci sicher. Aber es wird nicht leicht sein, sie zu erobern, denn ihr erster Auftritt zeigt, dass sie ihren Marktwert kennt. Wen lässt sie abblitzen? Wem gibt sie eine Chance? Wenn Inci schon mit irgendeinem vertraut wäre, würde sie wetten, so wie sie es früher mit Mo und Falk gemacht hat. Sie würde auf den Blauäugigen mit dem Russell-Crowe-Kinn setzen. Aber für Wettrunden ist es zu früh, dazu muss man Leute besser kennen, wissen, wie sie ticken.

Das also ist ihr Jahrgang. Mit diesen Jungs und Mädchen wird sie die Polizeiausbildung machen. Mit wem wird sie sich anfreunden? Mit wem samstags auf die Piste gehen? Wer wird mit ihr den Stoff pauken, den sie nicht versteht? Wer hat ihre Art von Humor? Wem gibt sie ihre Handynummer? Mit wem befreundet sie sich auf Facebook? Wird es einen geben, der mit ihr durch dick und dünn geht? Wird sie hier ihren Partner finden? Nur den für die Arbeit oder auch den fürs Leben? Sie fühlt das nazar boncuğu in ihrer Tasche, löst den Blick von dem Trio, lässt ihn durch den Raum schweifen und schaut in fremde Gesichter.

Noch ist alles offen, noch kann sich der erste Eindruck als völlig falsch erweisen. Wer weiß? Vielleicht ist Yüksel kein Pedant, die Dunkelhaarige hochsensibel, Jakob ein echter Kumpel, Jeanette eine intrigante Zicke und das Trio nichts weiter als drei aufgeblasene Würstchen. Incis Ziel für die nächsten Tage: so unsichtbar wie möglich sein! In Deckung bleiben, weiter ungestört beobachten und Informationen sammeln.

»Guten Tag, meine Damen und Herren. Heute ist der erste Tag Ihrer Polizeiausbildung …«

Wieder schallt die kräftige Stimme durch den Raum, und jetzt sieht Inci auch den Mann, zu dem diese Stimme gehört. Ein Leichtgewicht, dürr, höchstens eins siebzig groß. Sein Aussehen passt nicht zu der Stimme und nicht zu Incis Bild von einem Polizeiausbilder. Sie muss an die Krähen denken. In allem kann man sich täuschen. In allem.

Nach dem Unterricht schwirrt Inci der Kopf, und sie will nur noch eines: schnell hier raus. Keinen Smalltalk halten, keine Kontakte knüpfen, allein sein. Sie schwingt sich aufs Rad, radelt zurück an den Fluss, diesmal, ohne eine rote Ampel zu überfahren. In ihrem Ohr hallt noch die Stimme des Ausbilders nach: »Sie repräsentieren jetzt den Staat. Als Polizisten sind Sie mehr als andere verpflichtet, sich an Recht und Gesetz zu halten!« Merkwürdige Vorstellung! Sie, Inci, repräsentiert jetzt den Staat. Britta wird sich schieflachen, wenn Inci ihr das erzählt. Via Skype leider nur, denn Britta macht ein Jahr Work and Travel in Australien.

Inci schickt der Freundin einen stillen Gruß ans andere Ende der Welt und tritt in die Pedale. Die Strecke am Fluss entlang ist eine der wenigen, auf der man in der Stadt Tempo machen kann. 8. Gang, 30 km/h, das pustet den Kopf durch. Auspowern tut ihr immer gut. Soll sie noch in den Boxclub fahren und eine Stunde den Sandsack bearbeiten? Geht nicht, heute ist Montag, da ist Profi-Training. Sie beugt sich tief über den Lenker, radelt schneller. Drei Rentner im Schneckentempo bremsen sie aus. Fahren nebeneinander, blockieren den kompletten Weg. Inci klingelt wie eine Blöde. Als die Männer nicht schnell genug reagieren, brüllt sie: »Polizei!«, und scheucht sie zur Seite. Geht doch. Recht und Gesetz haben freie Bahn.

Am Aufgang zur Brücke schultert sie das Rad und läuft die Treppen hoch. Sie überquert den Fluss und den Platz, will sich schon auf die Rechtsabbiegerspur in Richtung Zuhause einordnen, überlegt es sich dann aber anders, fährt weiter geradeaus. Sie kann noch nicht heim.

Das nächste Stück Weg ist die Hölle! Ampeln, Autos, Fußgänger, parkende Lkws, die die Straße verstopfen. Inci schlängelt sich durch den Verkehr, fährt weiter und weiter, bis die Straßen leerer werden. Rechts und links jetzt weniger Beton und mehr Grün, die Stadt verläuft sich in Schrebergärten, Hundeschulen und Kleingewerbe. Irgendwann ist da das rostzerfressene Schild mit dem Pfeil nach links: »Kleingartenanlage Olympia«. Nein! Das hat sie nicht geplant. Sie wusste nicht, dass sie hier landen wird.

Seit der Nacht damals am See mit Mo und Falk ist Inci nicht mehr in Ediths Garten gewesen. Eine Weile starrt sie das Schild an, dann gibt sie sich einen Ruck und schiebt ihr Rad auf die schmalen Wege, die zwischen den Schrebergärten hindurchführen. Der dritte Weg rechts, dann der vierte links, Ediths Garten liegt ganz am Ende der Anlage. Dahinter beginnt das Niemandsland, das sich bis zur Autobahnauffahrt erstreckt. Stille liegt über den Parzellen, die Bäume schlucken den Straßenlärm, über den Gärten hängt der fruchtigfaulige Geruch überreifer Zwetschgen, und die Luft ist erfüllt vom gierigen Summen der Wespen, die sich in Schwärmen auf den heruntergefallenen Früchten drängen.

Immer weiter schiebt sie das Rad über die moosbewachsenen Wege, sie kennt die Strecke noch genau. Da taucht endlich der Garten von Herrn Südermann auf, Ediths und Mos Nachbar. Akkurat geschnittener Kirschlorbeer, die Bohnenstangen in Reih und Glied, die Salatbeete abgezirkelt. Mit diebischer Freude haben sie, Mo und Falk vom Baumhaus aus Kirschkerne auf seinen englischen Rasen gespuckt und wild gekichert, wenn Südermann wie ein aufgescheuchter Gnom aus seiner Hütte stürzte und sie beschimpfte.

Hinter Südermanns Mustergarten macht sich Ediths Wildnis breit. Jetzt sieht Inci die rot gestrichene Laube und den verkrüppelten Apfelbaum. Auf der Wäscheleine zwischen Laube und Werkstatt flattern bunte Kleider und eine Batterie grüner Unterhosen. – Edith trug immer nur grüne Unterwäsche. Etwas, das Inci sehr faszinierend fand. – Auf den ersten Blick hat sich nichts verändert, alles ist wie früher. Als Edith aus der Werkstatt tritt, um die Wäsche abzuhängen, will Inci schon hinter der Ecke hervortreten und ihr winken, duckt sich dann aber wie ertappt und versteckt sich hinter Südermanns Kirschlorbeer. Was, wenn Mo da ist? Was, wenn er gleich aus der Laube tritt?

Sie will Mo nicht begegnen, merkt sie, deshalb ist sie nicht hier. Wieso dann? Wegen des Traumes? Oder will sie sich an diesem ersten Tag ihrer Berufsausbildung noch einmal in der trügerischen Sicherheit jenes Glückssommers wiegen? Vielleicht. Aber vor allem will sie ihre Galgenfrist verlängern. Das Gespräch mit Baba noch ein wenig hinauszögern.

Edith legt die Wäsche in einen Korb, dann blickt sie auf und schaut in ihre Richtung. Kann man sie durch den Kirschlorbeer sehen? Himmel, ja, Edith kommt genau auf sie zu! Inci stakst sich im Kopf ein Hallo-ich-bin-ganz-zufällig-in-der-Gegend zurecht, als Edith stoppt, einen Apfel vom Boden aufliest und in Richtung Gartentor abdreht. Vorsichtig schiebt Inci das Rad an der Kirschlorbeerhecke entlang, bis sie das Gartentor sehen kann. Dort steht Edith, schaut in ihre Richtung, beißt in den Apfel und lächelt. Der Garten hinter ihr scheint weit und unendlich, so wie in Incis Traum.

Fünf Minuten später steht Inci wieder auf der Straße und kommt sich bescheuert vor. Wieso hat sie sich wie eine Diebin davongeschlichen? Wieso hat sie Edith nicht wenigstens Guten Tag gesagt? Sie hat keine Ahnung, manchmal ist sie sich selbst das größte Rätsel. Fester als sonst krallt sie die Finger um den Lenker und schwingt sich in den Sattel. Im Schneckentempo der Rentner tritt sie den Heimweg an. Schon bei Gelb bremst sie an jeder Ampel und steigt ab. Dann macht sie bei dem Einkaufszentrum Halt, wo sie manchmal mit Britta oder Selin shoppen geht. Schlendert durch die überdachten Passagen, probiert lustlos zwei Hosen bei H&M, ein T-Shirt bei Zara, High Heels bei Goertz. Holt sich einen Kaffee im Pappbecher, setzt sich, starrt auf einen Monitor, der Werbejingles eines Reisebüros ausstrahlt. Traumhafte Strände, glückliche Menschen und so weiter. Als ob Urlaub glücklich macht! Ihr Handy meldet sich, Baba fragt per SMS, ob sie zum Abendessen lieber Königsberger Klopse oder Adana Kebab essen will. »Egal«, simst sie zurück. Sie kann sich heute nicht für eine ihrer Lieblingsspeisen entscheiden, weil sie sie mit Sicherheit nicht genießen wird.

Vielleicht geht sie einfach gar nicht nach Hause und lässt Selin petzen? Wenn sie dann irgendwann aufläuft, weiß Baba Bescheid und hat sich bestenfalls schon wieder abgeregt. Wie bescheuert ist das denn? Baba ist doch kein tyrannischer Vater, der Kindern seinen Willen aufzwingt, sie schlägt oder einsperrt oder so was, im Gegenteil. »Eine gute Ausbildung ist wichtig. Ihr sollt beide studieren«, hat er ihnen immer gepredigt. Deshalb musste er schon schlucken, als Selin nach dem Abi nicht Medizin studieren, sondern »nur« Krankenschwester werden wollte. Letztendlich leuchtete ihm ein, dass sie bei einem Notendurchschnitt von 3,1 bis zum Sankt Nimmerleinstag auf einen Studienplatz hätte warten müssen. Aber Inci hat einen guten Abi-Schnitt, 1,8, das reicht nicht sofort für Jura, aber doch in absehbarer Zeit. Klar hat sie in der ersten Begeisterung für »Suits« mal gesagt, dass sie Anwältin werden will, und Baba sah sie schon als eine Art türkische Danni Lowinski, eine Verteidigerin der Armen und Rechtlosen. Aber Jura, das weiß Inci inzwischen, ist Paragraphenochserei, Lernen bis zum Umfallen. Nichts für sie. Sie wird Polizistin. Ein guter Beruf, ein spannender Beruf. Die Bösen jagen, für Gerechtigkeit sorgen. Polizistin! Wenn Mo und Falk das wüssten, würden ihnen die Augen aus dem Kopf fallen. Aber jetzt kommt es darauf an, wie Baba reagiert.

Bring’s hinter dich, macht Inci sich Mut, als sie wieder aufs Rad steigt und endlich nach Hause fährt.

»Du wirst Polizistin?« Die Königsberger Klopse zittern gewaltig in der Schüssel, als Baba vom Tisch aufspringt. »Meine kluge, meine intelligente Tochter, der alle Türen offen stehen, will ausgerechnet Polizistin werden?«

Inci nickt und schiebt sich schnell einen Klops in den Mund, damit sie nicht antworten muss.

»Es ist eine gute Wahl«, springt ihr Selin bei. »Bachelor-Studiengang, Knete von Anfang an, sicherer Arbeitsplatz, abwechslungsreiche Tätigkeit.«

»Es ist eine Scheißwahl!«, brüllt Baba und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Klops-Soße schwappt über den Schüsselrand. Inci schluckt den Bissen in ihrem Mund hinunter, er bleibt ihr im Hals stecken. Sie hustet, bis ihr die Tränen in die Augen schießen, aber das juckt Baba nicht.

»Die deutsche Polizei ist ein reaktionärer Haufen. Alles Rassisten!«, tobt er weiter. »Ich habe es bei jeder Demo erlebt. Egal ob in Brokdorf, Bitburg oder an der Startbahn West, immer haben sie sich mich herausgepickt. Wasserwerfer genau auf mich, Gummiknüppel, nichts wie Hau drauf. Ich habe jedes Mal Prügel bezogen, Ausländer beziehen bei der deutschen Polizei immer Prügel.«

Selin verdreht die Augen, unter normalen Umständen täte Inci das auch, aber jetzt will sie Baba nicht noch mehr in Rage bringen. Natürlich kennen sie die Geschichten, Baba hat ihnen oft genug von seiner wilden Jugendzeit erzählt: Friedensdemos, Widerstand gegen Atomkraftwerke, Kampf gegen die Startbahn West, Stollwerck-Besetzung und so weiter. An der Pinnwand im Flur hängt ein Foto von ihm aus dieser Zeit: Vollbart, schulterlange Haare, Che-Guevara-Mütze mit rotem Stern, verwegener Blick.

»Jetzt reg dich ab, Baba. Für dich war das eine tolle Zeit, trotz der Bullen«, wirft Selin ein. »Immer on the road, Lagerfeuer, Nachtwachen, Kampfliedersingen und, nicht zu vergessen, die schönen Frauen, die auf dich standen. Kriegst jedes Mal leuchtende Augen, wenn du davon erzählst.«

Aber jetzt leuchten Babas Augen nicht der guten alten Zeiten wegen, jetzt leuchten sie vor Empörung und Wut.

»Ich soll mich nicht aufregen?« Er fuchtelt wild mit den Händen, dann beginnt er wie ein irrer Derwisch im Zimmer herumzulaufen. »Wenn das kein Grund ist, sich aufzuregen, was dann? Ich rege mich auf, weil meine Tochter bei einer Institution anheuert, der man nur mit tiefstem Misstrauen begegnen darf. Die Polizei, das ist der verlängerte Arm des Staates, der Erfüllungsgehilfe des Kapitals.«

Erfüllungsgehilfe des Kapitals? Was ist das denn für ein Schwachsinn? Inci holt tief Luft, denkt an den Vortrag des Polizeipräsidenten bei ihrer Ernennung und sagt so ruhig wie möglich: »Dein Bild der Polizei ist dreißig Jahre alt. In der Zeit hat sich viel verändert. Diese Hau-drauf-Bullen gibt es nicht mehr. Heute geht es bei Demos um Deeskalation anstelle von Konfrontation. Blinde Obrigkeitsgläubigkeit ist Schnee von gestern, bei der Polizei wird Teamarbeit großgeschrieben. Der Umgang mit den Bürgern ist respektvoll.«

»Respektvoll?« Wieder haut Baba mit der Faust auf den Tisch, diesmal springen die Klopse in die Höhe. »Etwa mit den Angehörigen der NSU-Opfer? Zehn Jahre lang hat man ihnen alles Mögliche unterstellt: Familiendramen, Mafiageschäfte, Bandenkriege, nur weil man auf dem rechten Auge blind war. Von wegen Vergangenheit. Von wegen Einzelfall. Zehn Morde quer über die Republik verteilt, und nicht in einem hat die Polizei in die richtige Richtung ermittelt, Fremdenfeindlichkeit als Motiv wurde teils von vornherein ausgeschlossen, Ermittlungen ins rechte Lager gab es nicht. Das ist Rassismus in Reinkultur! Und in dieses rassistische Lager begibt sich meine Tochter freiwillig.«

»Natürlich ist das ein Skandal«, stimmt ihm Selin zu und schaufelt sich schnell noch ein paar Klopse auf den Teller. Sie hat während des Streits als Einzige weitergegessen. »Umso wichtiger, dass Leute von uns« – für das »uns« macht sie zwei Anführungszeichen in der Luft – »zur Polizei gehen. Je mehr Nationen dort vertreten sind, desto weniger rassistisch können sie agieren.«

»Der berühmte Gang durch die Institutionen«, spottet Baba. »Damit ist schon meine Generation gescheitert. Du kannst das System nicht ändern, aber das System ändert dich!«

Inci weiß plötzlich, warum sie mit Baba nicht vorher reden konnte. Der Streit führt in eine Sackgasse, geht überhaupt in die falsche Richtung, denn er hat mit ihrer Entscheidung, Polizistin zu werden, nichts zu tun. Aber über die wahren Gründe für ihren Entschluss kann sie mit Baba nicht sprechen, denn dafür müsste sie über eine Sache reden, die drei Jahre zurückliegt. Zum Glück ist immer weiter Gras darüber gewachsen, vielleicht kann sie das Ganze irgendwann sogar endgültig begraben. Doch reden will sie nicht darüber, schon gar nicht mit Baba. Der würde deswegen heute noch im Viereck springen, dagegen ist das Theater gerade ein langweiliges Kammerspiel. Das einzig Gute damals war, dass sie dadurch die Hilgers kennenlernte. Und eigentlich war es die Hilgers, die Inci auf die Idee brachte, Polizistin zu werden. Baba hat natürlich auch keine Ahnung von der Hilgers. Aber vor drei Jahren bekam er so gut wie gar nichts aus Incis Leben mit und danach auch nicht mehr besonders viel.

Bevor Baba sich jetzt in Details über den Gang durch die Institutionen verrennt, macht Inci einen Vorstoß in eine andere Richtung. »Baba«, sagt sie. »Es ist mein Leben, meine Entscheidung. Selbstbestimmung, du hast immer gesagt, wie wichtig das ist. Dein Vater musste auch schlucken, als du Sozialarbeit studiert hast und nicht Ingenieur geworden bist.«

»Mein Vater wollte überhaupt nicht, dass ich studiere«, belfert er zurück. »Der hätte mich am liebsten zu Ford ans Fließband gestellt.«

»Aber du hast dich durchgesetzt, das gemacht, was du wolltest, und genau das will ich auch.«

Ein wütendes Schnauben ist die Antwort. Inci sieht ihren Vater an. Sein Blick ist unversöhnlich, verbohrt, verbissen, verbiestert, wie immer, wenn er sich wahnsinnig aufregt. Seit dem Verschwinden ihrer Mutter ist noch eine gewisse Leere hinzugekommen. Verlangt er das wirklich von ihr? Dass sie ihren Berufswunsch aufgibt, weil er ihn für falsch hält?

»Jeder ist seines Glückes Schmied, was?«, spottet er jetzt und schüttelt dabei den Kopf.

»Wenn’s der falsche Weg ist, werde ich es merken und einen anderen gehen«, schickt sie ihm als Friedensangebot.

Er schüttelt den Kopf heftiger, rammt die Hände um die Tischkante, beugt sich über die Klopse zu ihr hinüber und zischt: »Es ist der falsche Weg. Die Polizei wird dich mit Haut und Haaren fressen. Du machst dich, mich, die ganze Familie unglücklich. Aber mein Glück ist in dieser Familie ja nicht wichtig und meine Meinung schon gar nicht. Auf mir kann man ja herumtrampeln.«

»Jetzt wirst du weinerlich, Baba!« Hat sie das wirklich gesagt? Das wollte sie nicht, das ist ihr einfach so herausgerutscht, aber sie hasst es, wenn er ihr so kommt.

»Und du bist wie deine Mutter! Egoistisch und selbstsüchtig. Rücksichtslos und hinterhältig.«

Selins Stuhl rutscht zurück, sie springt auf. Als würde der Schock mit Zeitverzögerung arbeiten, braucht Inci ein paar Sekunden länger als die Schwester, bis sie die Worte des Vaters erreichen. Dann springt auch sie auf. Ihr Stuhl kippt nach hinten und geht krachend zu Boden. Sie stürzt aus dem Raum, krallt sich Tasche, Schuhe und Fahrrad und lässt die Haustür mit einem Knall zufallen, der im ganzen Haus zu hören ist.

Rücksichtslos und hinterhältig! Das hat er noch nie zu ihr gesagt. Das ist gemein, einfach nur gemein. Sie stolpert die Treppen hinunter. Erst im Erdgeschoss schlüpft sie in die Schuhe. Bis zu diesem Moment kann sie die Tränen zurückhalten, aber dann geht das nicht mehr.

Sie schluchzt, als sie sich aufs Fahrrad schwingt, in ihrem Kopf tobt das verfluchte Was-wäre-wenn-Spiel. Was wäre, wenn die Familie nicht zerstört wäre? Wie wäre das Gespräch verlaufen, wenn ihre Mutter als Vierte mit am Tisch gesessen hätte? Hätte Ane sie unterstützt? Oder beruhigend auf Baba eingewirkt?

Als sie noch da war, war es anders. Baba, der Ruhige, Ane, die Temperamentvolle. Wegen jeder Kleinigkeit ging sie an die Decke oder freute sich wie eine Schneekönigin. Sie kannte nur heiß oder kalt, etwas anderes gab es für sie nicht. »Dazwischenland« hat sie Deutschland immer genannt. Nicht Fisch, nicht Fleisch, lau und fad, alles war ihr hier zu viel einerseits und andererseits. Auch Baba. »Deutschländer« hat sie geschimpft, wenn sie wütend auf ihn war. »Kein Feuer im Herzen.«

Selin und sie haben sich in ihrer Wärme gebadet, ihre bedingungslose Liebe genossen. Abends beim Einschlafen, wenn sie traurige Geschichten aus Istanbul erzählte, morgens, wenn sie sie mit Küssen, Butterbrotdose und lautem Lachen auf den Schulweg schickte. »Redet ihr eure Mutter mit Vornamen an? Heißt deine Mutter Anne?«, fragte Sara Kleinkens aus ihrer Grundschulklasse. Dass man so blöd sein konnte! »Ane«, erklärte ihr Inci, »heißt auf Türkisch Mutter. Aber nicht Anne gesprochen, sondern Annä.« Ane. Ihre Ane! Keine andere Mutter nähte so schöne Karnevalskostüme oder deckte so zauberhafte Zuckerfest-Tische wie ihre Ane. Sie waren wahnsinnig stolz auf sie, wenn sie bei Schulfesten mit ihrer Schönheit und Istanbuler Eleganz alle anderen Mütter ausstach. Cigdem Birol, aufgewachsen in Eminönü im Herzen von Istanbul. Cigdem Birol, die Schöne. Cigdem Birol, die heiß Begehrte. Cigdem Birol, die sich für den Deutschländer Mehmet Yildiz entschied und Cigdem Yildiz wurde. Cigdem, die Mehmet aus Liebe nach Deutschland folgte. Cigdem, die Selin und Inci zur Welt brachte.

Eines Morgens war sie nicht mehr da. Baba sagte, dass sie wiederkomme, und schickte seine Töchter ohne Küsse und Butterbrote in die Schule. Aber als sie nach Hause kamen, fand Selin neben dem Mülleimer einen Zettel, den Baba vom Tisch gefegt hatte. »Beni aramayin. Ben yokken daha iyi gecinirsiniz.« Sucht mich nicht. Ihr kommt besser ohne mich klar. Cigdem schrieb nur auf Türkisch, Deutsch schreiben konnte sie nicht, Deutsch sprechen nach fünfzehn Jahren nur wenig, sie mochte die deutsche Sprache nicht. Englisch dagegen sprach sie fließend.

Anfangs war Inci so wütend auf Ane, dass sie sich die Mutter manchmal lieber tot wünschte, als anderswo ohne Baba, Selin und sie weiterlebend. Ane hat so viel kaputt gemacht. In der Zeit mit ihr empfand Inci die Familie als rund und vollkommen, danach als spitzes Dreieck aus drei Verletzten, von denen jeder für sich allein einen Weg aus dem Unglück suchen musste. Immer wieder will sie ihre Ane vergessen, aber eigentlich vermisst sie sie. Sie vermisst sie sogar sehr.

Wie ein alter Gaul, der den Weg im Schlaf kennt, lenkt das Fahrrad Inci jetzt zum Rhein auf ihre Lieblingsstrecke. Der Weg liegt schon im Dunkeln, Laternen markieren im Abstand von vielleicht hundert Metern seinen Verlauf. Kaum einer ist unterwegs, sie kann Tempo machen. Vom Fluss steigt Kühle auf, unter den Brücken lauern Nebelschwaden, hüllen sie für einen Moment in ihren feuchten Dunst und geben sie dann wieder frei. Am Himmel steht ein kalter Mond. Die Glocke von Sankt Kunibert am anderen Rheinufer schlägt die Stunde. 21 Uhr, und es ist schon dunkel, der Sommer vorbei. Inci zieht eine Rotznase hoch und wischt sich mit dem Ärmel über die feuchten Augen. Da wirft sie Baba Selbstmitleid vor und versinkt selbst darin. Hat irgendjemand gesagt, dass es ein Spaziergang ist, Polizistin zu werden? Nein. Hat irgendjemand gesagt, dass man dafür die Unterstützung seines Vaters braucht? Nein. Hat irgendjemand gesagt, dass deswegen die verschwundene Mutter zurückkommen muss? Nein. Wer ein Badehaus betritt, kommt ins Schwitzen, würde ihr Opa sagen, und Ediths Spruch wäre: Wer A sagt, muss auch B sagen. Also, Inci.

Über die Zoobrücke jagen zwei Polizeiwagen mit Blaulicht. Das Martinshorn zerreißt die Stille am Fluss. Einen Versuch ist es wert, denkt Inci, bremst ab und kehrt um. Eine Viertelstunde später betritt sie die hell erleuchtete Polizeiwache am Clevischen Ring. Der Typ am Empfang schaut kurz auf. Das Wort »Kollege« kommt ihr zwar in den Sinn, aber nicht über die Lippen. Zu früh, viel zu früh.

»Guten Abend. Ist Polizeihauptkommissarin Hilgers da?«

Er mustert sie eher misstrauisch als freundlich, bevor er Nein sagt.

»Hat sie heute keinen Dienst, oder ist sie im Einsatz?«, fragt Inci weiter.

»Einsatz.«

Will er oder kann er nicht mehr als Ein-Wort-Sätze bilden, überlegt Inci, bevor sie die nächste Frage stellt: »Kann ich auf sie warten?«

Er nickt und deutet auf die Reihe Plastikstühle, Ursprungsfarbe Tomatenrot, die aber kaum mehr zu erkennen ist bei all den Graffiti- und Filzstift-Hinterlassenschaften. Die Stühle sind auf einer breiten Metallstange festgeschweißt, wahrscheinlich damit man sie bei Randale nicht auseinandernehmen kann. Auf einem liegt eine zusammengeknüllte McDonald’s-Tüte, die Inci in den Mülleimer wirft, bevor sie sich setzt.

An der Wand hängen Aufrufe zu sachdienlichen Hinweisen: Da wird im Fall von Fahrerflucht nach dem Besitzer eines Schlüsselbundes mit einem auffälligen Pin-up-Girl-Anhänger gesucht oder mittels Phantombild nach einem Handtaschenräuber. Wer den Besitzer des protzigen Siegelrings kennt, gefunden nach einem Raubüberfall, soll sich bitte bei der Polizei melden.

Nach ihrer Ausbildung wird auch sie in so einer Wache arbeiten. Schichtdienst schieben, nachts auf Einsätze warten, die sie zu den Einsamen, Durchgeknallten, Tobsüchtigen, Vollgedröhnten, Verlassenen, manchmal Gefährlichen führen wird. In dunkle Löcher, versiffte Wohnungen, karge Behausungen. Selten woandershin als auf die Schattenseiten der Stadt. Inci stellt sich vor, dass die ehemals roten Sitze rosa seien. Sie hat mal im Radio gehört, dass die Farbe Rosa beruhigen soll. Da war von Untersuchungen in Gefängnissen die Rede, davon, dass Gefangene bei rosa Wänden gelassener würden. Ob das wohl stimmt?

Die Tür geht auf, ein Rentner schießt herein, einen Fahrradhelm unterm Arm, der Kopf so rot, wie die Stühle ehemals waren. Man hat ihm am Wiener Platz sein Fahrrad geklaut. Der Wortkarge nimmt den Diebstahl auf, fragt nach Rahmennummer und Rechnung, macht dem Alten wenig Hoffnung. »Melden Sie den Schaden bei Ihrer Versicherung.«

Inci blickt auf die Uhr hinter der Glaswand, zehn Uhr abends ist es jetzt. Ziemlich langweilig, so eine Nachtschicht, denkt sie und schließt für einen Moment die Augen. Wie ein kaputter Zahn pochen die Worte ihres Vaters in ihrem Kopf. Rücksichtslos und hinterhältig. Nein, das ist sie nicht. Müde und erschöpft ist sie und allein mit ihrem Kummer.

Sie schreckt hoch, als ein kalter Luftzug ihre Nase streift. Die Besatzung eines Mannschaftswagens stürmt in die Wache und bringt die herbstliche Kühle mit herein. Die Hilgers ist unter ihnen, aber sie sieht Inci nicht. Immer wieder ertönt der Türsummer, damit die Polizisten, einer nach dem anderen, hinter die Glaswand treten und in die Büros dahinter verschwinden können. Die Hilgers verschwindet nicht, sie redet mit dem wortkargen Wachhabenden und dreht Inci den Rücken zu. Als dieser auf Inci zeigt, wendet sie den Kopf, nickt Inci kurz zu und setzt ihr Gespräch mit ihm fort. Jemand reicht ihr einen Kaffee, von einer Bürotür aus signalisiert ein anderer Polizist, dass sie ans Telefon kommen soll. Sie schüttelt den Kopf, hebt eine Hand, zeigt zweimal die fünf. In zehn Minuten wird sie zurückrufen, versteht Inci. Der Wachhabende reicht der Hilgers Papiere, die sie überfliegt und unterschreibt.

Bei der Sache damals erwies sich die Hilgers mit ihrem Streifenwagen als ein Geschenk des Himmels, obwohl Inci in der Zeit Bullen auf den Tod nicht ausstehen konnte. Deshalb traf sie ein paar Monate später fast der Schlag, als ihr die Hilgers in der Boxschule wiederbegegnete. In Zivil natürlich, die schreckliche Geschichte erwähnte sie nie. Sie kommt in den Club, um zu boxen, genau wie Inci. Gelegentlich steigen sie gemeinsam in den Ring. Meist gewinnt die Hilgers, aber manchmal behält Inci die Oberhand.

»Inci! Willst du schon mal ein bisschen Arbeitsluft schnuppern, oder was treibt dich hierher?«, ruft die Hilgers, als sie den Empfang verlässt und auf sie zukommt.

Sie reicht ihr die Hand, den kräftigen Händedruck kennt Inci schon. In Uniform hat sie die Polizistin seit der Sache damals nie mehr gesehen. Jetzt blickt sie mit anderen Augen auf das hellblaue Hemd, die blaue Krawatte, die Jacke, dessen Klappe die drei silbernen Sterne einer Polizeihauptkommissarin zieren. Gott, die Hosen machen wirklich keine gute Figur, aber die hat die Hilgers eh nicht. Sie ist klein und stämmig, aber durchtrainiert bis zum letzten Muskel. Eine Kämpferin, wie Inci aus schmerzhafter Erfahrung weiß. In der Boxschule nennt man sie respektvoll »die Hilgers«, und Inci hat diesen Namen übernommen. Sie wunderte sich nicht, als die Hilgers ihr irgendwann erzählte, dass sie seit sechs Jahren die Polizeiwache am Clevischen Ring leitet.

»Na, wie war der erste Tag? Hat euch Kaspers begrüßt?«, will sie nun wissen.

Inci nickt, weiß nicht, wie sie anfangen soll.

»Irgendwas besonders?«, erkundigt sich die Hilgers. »Ansonsten, ich muss wieder. Einsatzberichte schreiben und so weiter.«

»Was ist passiert?«

»Bewaffneter Raubüberfall, üble Sache, ein junges Mädchen wurde angeschossen. Hoffentlich überlebt sie. Die Kripo hat übernommen. Sehen wir uns morgen beim Boxen?«

»Klar.« Inci nickt. »Mein Vater macht mir die Hölle heiß, weil ich Polizistin werde«, schiebt sie schnell hinterher.

Die Hilgers mustert sie von Kopf bis Fuß, bevor sie antwortet: »Nicht schön, aber was Besseres kann dir gar nicht passieren. Wenn alle nur Hurra und Halleluja schreien, kannst du dir nie sicher sein, ob das, was du tust, wirklich richtig ist. Aber wenn dir ein scharfer Wind entgegenbläst und du trotzdem vorwärtsgehst, dann weißt du es.«

Inci hat den unversöhnlichen Blick von Baba vor Augen und seine schlimmen Worte im Ohr. Eher ein Orkan als ein scharfer Wind, denkt sie.

Dienstag, 2. September

»Wow! Ein rotes Pinarello! Ist das ein Montello?« Jakob schleicht um Incis Rad herum und macht Augen wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum. »Wunderschön! Kostest doch ein Vermögen, nicht unter zweitausend zu kriegen, schätze ich.«

Gebraucht und deutlich billiger, weiß Inci, aber das muss sie Jakob nicht auf die Nase binden. »Geschenk zum Abi«, sagt sie und sichert ihr Rad an einem Laternenpfahl vor der Hochschule.

»Echt? Ich kenn nur Mädchen, die sich zum Abi Taschen von Louis Vuitton oder Schuhe von Manolo wünschen.« Jakob streicht über den weißen Sattel, wirft einen Blick auf die Gangschaltung.

»Du fährst eher eine schwere Maschine, oder?«

»Eine BMW R 1100 RT. Hat schon ein paar Jährchen auf dem Buckel, fährt aber noch wie eine Eins. Habe sie heute aber zu Hause gelassen und bin damit da.« Er deutet auf ein Rad, das am nächsten Laternenpfahl gesichert ist.

»Ein Scott Speedster«, stellt Inci fest. »Auch nicht schlecht.«

»Hör mal, ist das hier immer so schlimm mit Parkplätzen?«

Inci nickt.

»Ist also keine Ausnahme, dass man eine halbe Stunde nach einem freien Platz sucht?«

»Halbe Stunde und kein Knöllchen ist Spitze.«

»Knöllchen?«

»Na, Strafzettel. Die kriegst du hier schnell. Und die, die sie verteilen, nennt man Knöllchentanten, auch wenn’s Kerle sind.«

»Woher weißt du das?«

»Bin hier aufgewachsen. Und du?«

»Münsterland. Schnurgerade Straßen, plattes Land, hie und da ein Bauernhof, sehr viele Kühe, noch mehr Schweine. Keine Parkplatzprobleme.«

Sie lachen beide und schlendern jetzt auf den Eingang zu. Jakobs Hugo-Boss-T-Shirt passt farblich exakt zu seinen graublauen Augen, der Junge weiß sich anzuziehen. Nur die roten Apfelbäckchen verraten, dass er vom Land kommt. Gestern Sauerland, heute Münsterland. Gibt es nur Landeier, die mit ihr die Ausbildung machen, fragt Inci sich, und an Jakob gerichtet: »Hast du schon eine Wohnung?«

»Zum Glück. Soll ja sauschwer sein hier in Köln. Noch schwieriger zu finden als Parkplätze. In der WG von ’nem Kumpel meines Bruders ist ein Platz frei geworden. Krahnenstraße, weißt du, wo das ist?«

»Andere Rheinseite, Köln-Mülheim.« Inci liegt es auf der Zunge zu sagen, dass sie auch in Mülheim wohnt, dann lässt sie es. In Deckung bleiben. Beim Boxen ihre Schwachstelle, im wirklichen Leben aber hat ihr diese Haltung schon oft geholfen.

Als wäre es ein ungeschriebenes Gesetz, sitzen im Klassenzimmer alle auf denselben Plätzen wie gestern. Auch Jakob steuert die zweite Reihe an, Yüksel sitzt schon auf seinem Platz. Inci setzt sich wieder zwischen die beiden und nimmt Block und Stift aus ihrer Tasche.

»Du boxt?« Jakobs Augen vergrößern sich auf das Doppelte, als er den Boxclub-Aufkleber auf ihrer Tasche entdeckt. »Mannomann! Eine Türkin, die das schönste Rad fährt, die kürzesten Haare trägt und boxt!«

»Denkst du, wir rennen alle mit Kopftuch herum?«, fragt Inci und sieht, wie Yüksel neben ihr grinst. »Außerdem, ich bin Deutsche mit türkischen Wurzeln oder …«

»Türke mit deutschem Pass«, ergänzt Yüksel.

»Türkin«, korrigiert ihn Inci und grinst ihrerseits. »Wo kommst du her?«

»Dortmund.«

Na, immerhin. Doch nicht alle Landeier, denkt sie.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren, meine Name ist Krams. Ich möchte Ihnen einen Überblick über die Fächer des ersten Semesters geben.«

Krams, der jetzt vorne ans Pult tritt, ist ein völlig anderer Typ als Kaspers. Er erinnert Inci an die Feldherren aus Hollywoodfilmen. Groß gewachsen, graues Kurzhaar, asketischer Körper, Adleraugen. Einer, der Rekruten erbarmungslos durch den Dreck robben lässt, sie durch die Wüste jagt oder sie zwingt, dreckiges Wasser zu trinken. Keiner, mit dem gut Kirschen essen ist. Zackig packt er seinen Laptop aus und schließt ihn an den Beamer an.