Kramp - María José Ferrada - E-Book

Kramp E-Book

María José Ferrada

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Beschreibung

Mit Entschlusskraft und dem richtigen Anzug ist alles möglich – selbst als Vertreter für Eisenwaren (Marke Kramp !) in Chile Anfang der 80er Jahre. Und weil Kinderaugen auch Schraubenhändlerherzen schmelzen lassen, nimmt der Vater kurzerhand seine siebenjährige Tochter auf Verkaufstour mit. Die Kleine genießt ihre "Parallelerziehung" auf der Straße, und alles könnte für immer so weitergehen, wenn, ja wenn diese Geschichte nicht zu Chiles schlimmsten Zeiten spielte. So aber findet dieses Vater-Tochter-Roadmovie à la "Paper Moon" ein jähes Ende – und damit auch eine Kindheit, die doch so munter glänzen sollte wie ein Fuchsschwanz der Marke Kramp. "Eine einzige Schraube, die nicht ordentlich festsitzt, kann das Ende der Welt herbeiführen." "Herausragend." The New York Times Book Review

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María José Ferrada

KRAMP

Roman

Aus dem Spanischenvon Peter Kultzen

Für D.

»Du schuldest mir immer noch zweihundert Dollar!«

Addie zu ihrem Vater in Paper Moon

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

Kapitel XL

Kapitel XLI

Anmerkungen

I

D. begann seine Laufbahn als Eisenwarenvertreter – Nägel, Fuchsschwänze, Hämmer, Türklinken und Türspione, alles von der Firma Kramp.

Als er zum ersten Mal mit seinem Köfferchen in der Hand die Pension verlassen hatte, in der er wohnte, ging er achtunddreißig Mal an der Tür der größten Eisenwarenhandlung der Stadt vorbei, die damals noch ein Dorf war, wagte aber nicht, einzutreten.

Dieser erste Verkaufsversuch fand genau an dem Tag statt, an dem zum ersten Mal ein Mensch den Mond betrat. Die Bewohner der Stadt konnten das Ereignis dank eines Projektors mitverfolgen, den der Bürgermeister auf dem Balkon seines Büros aufgestellt hatte. Als Leinwand diente ein aufgespanntes Laken. Den nicht vorhandenen Ton ersetzte die Feuerwehrkapelle.

Als D. sah, wie Neil Armstrong auf den Mond trat, sagte er sich, dass mit Entschlusskraft und dem richtigen Anzug alles möglich war.

Darum gab er sich, als er am nächsten Tag zum neununddreißigsten Mal mit den blitzendsten Schuhen, die die Stadt je gesehen hatte, an der Tür der Eisenwarenhandlung vorbeikam, einen Ruck, ging hinein und präsentierte dem Verkäufer seine Waren – Nägel, Fuchsschwänze, Hämmer, Türklinken und Türspione, alles von der Firma Kramp.

Er verkaufte nichts, man sagte ihm aber, er solle in der nächsten Woche wiederkommen.

D. ging einen Kaffee trinken und notierte sich auf einer Papierserviette: »In jedem Leben kommt es irgendwann zur Mondlandung.«

Als D. seinem Vater später erzählte, dass der Mensch auf dem Mond gelandet sei, sagte der bloß, das sei pure Augenwischerei, Gott habe dem Menschen zwei Beine gegeben, damit er auf der Erde umhergehen könne, aber keine Flügel. Alles andere seien Lügengeschichten des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.

Wie dem auch sei, in der nächsten Woche machte D. einen Riesenschritt im Namen seiner eigenen Menschlichkeit – er verkaufte ein halbes Dutzend Fuchsschwänze und ein ganzes Dutzend Türspione. Als er, die Bestellliste in seinem Köfferchen, aus der Eisenwarenhandlung trat, sagte er sich, jedes Glück, ob groß oder klein, habe es verdient, auf dem Hauptplatz einer Stadt auf eine Leinwand projiziert zu werden.

II

In den folgenden Wochen legte D. beim Reisevertreterregister drei Fotos und vier gestempelte Bescheinigungen vor. Zwei Wochen später konnte er seinen Ausweis mit der Nummer 13709 in Empfang nehmen.

Mit diesem Ausweis in der Tasche und der Provision, die er für den Verkauf von 2356 Fuchsschwänzen, 10.567 Nägeln, 3456 Hämmern und 1534 Türspionen erhalten hatte, erwarb er einen R4, mit dem er fortan die umliegenden Dörfer bereiste. Dabei folgte er den Ratschlägen eines alterfahrenen Vertreters. Genau genommen handelte es sich um einen Ratschlag und eine Feststellung.

Der Ratschlag lautete:

»Sowie du in ein Dorf kommst, musst du herausfinden, was das beliebteste Café ist und in welchem Hotel die anderen Vertreter absteigen. Normalerweise liegt beides nicht mehr als eine Querstraße von der Plaza und der beliebtesten Bar entfernt.«

(So sollte D. bald Mitglied einer mal größeren, mal kleineren Familie werden. Worin genau die Verwandtschaft zwischen ihren Angehörigen bestand, ließ sich nie ermitteln, eben deshalb war sie jedoch um einiges erträglicher als alle herkömmlichen Familien. Zu ihr gehörten:

Der Vertreter für chinesische Plastikbehälter.

Der Vertreter für Parker-Füller und -Kugelschreiber.

Der Vertreter für englische Duftwässer.

Sowie alle übrigen Vertreter.)

Die Feststellung besagte:

»Alle Dörfer sind gleichermaßen beschissen.«

Das liegt in ihrer Natur, und gegen die Natur der Dinge lässt sich nichts ausrichten.

III

Nach und nach formulierte D. seine eigene Erkenntnislehre. Dabei teilte er in einem ersten Schritt sämtliche Ereignisse des menschlichen Lebens in zwei Gruppen auf, die wahrscheinlichen und die unwahrscheinlichen.

Wahrscheinlich war, dass er in dieser Woche siebzehn Kundenbesuche absolvieren würde. Wahrscheinlich war auch, dass zehn Kunden ihm etwas abkaufen würden. Und es war wahrscheinlich, dass es regnen würde, denn es war Winter.

Unwahrscheinlich war – und das rief D. sich, vor dem Spiegel stehend, immer wieder ins Gedächtnis –, dass ein zu achtzig Prozent aus Kramp-Produkten errichtetes Haus bei einem Erdbeben oder Wirbelsturm einstürzte.

Unwahrscheinlich war auch, dass eine Frau, die wegen eines Busstreiks zur Universität trampen musste, genau an der Ecke den Daumen heraushielt, an der D. in seinem R4 vorbeikam.

Genau dies geschah jedoch am 13. November 1973.

D. fand, diese Frau sei die schönste Frau der Welt. Und die Frau, die schon seit längerem nicht mehr gelacht hatte, fand D. unterhaltsam und amüsant.

Ein Jahr später, am 13. November 1974, heirateten die beiden.

Als sie aus dem Standesamt kamen, bat D. seine Frau, einen Augenblick zu warten. Er besorgte sich eine Serviette und notierte darauf, dass das soeben Geschehene (die Hochzeit) einer Untergruppe seiner Aufteilung sämtlicher möglicher Ereignisse des menschlichen Lebens zuzuordnen sei, und zwar den »wirklich unwahrscheinlichen«. (Beziehungsweise »den Ereignissen, die den Gedanken nahelegen, dass es eine Art Gott gibt«.)

IV

D. und die schöne Frau bauten ein Haus aus lauter Kramp-Produkten und bekamen wenig später eine Tochter, die sie M. nannten. M. bin ich.

Schon bald hatten meine Eltern einen Lehrplan zusammengestellt, der es mir ermöglichte, alles zu lernen, was ein Kind braucht, um auf dieser Welt zu leben.

So fing ich früh an, die Dinge in unterschiedliche Gruppen aufzuteilen.

Im ersten Lebensjahr lernte ich zum Beispiel, dass es etwas gibt, was man Tag nennt, und etwas, was man Nacht nennt, und dass alles, was einem im Leben passiert, in einer der beiden Gruppen Platz findet.

Im zweiten Jahr lernte ich, zum Fenster hinauszusehen. Meine Eltern sagten mir dazu, dass ich im Laufe meines Lebens viele Dinge hinzugewinnen und viele verlieren würde. Ich solle mir deshalb aber keine Sorgen machen – die Welt jenseits des Fensters werde stets vorhanden sein.

Im dritten Jahr lernte ich, dass es Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten gibt. Wiederum mithilfe des Fensters erklärten meine Eltern mir, dass es Sommer- und Wintermenschen gebe. Was genau das heißen sollte, weiß ich bis heute nicht.

Im vierten Lebensjahr trat ich auf den Hof unseres Hauses hinaus und entdeckte die Glühwürmchen. Ich beschloss, dies als ein einzigartiges Ereignis zu betrachten, das sich keiner Gruppe zuordnen ließ. Die Glühwürmchen, die leuchteten und leuchteten.

V

Mit sieben (und zwar an einem Frühlingstag, das weiß ich noch, weil diese Erinnerung, sobald sie in mir aufsteigt, unweigerlich in warmes Gelb getaucht ist) hörte ich zum ersten Mal die Geschichte von der Mondlandung und die Lehre, die daraus zu ziehen war: Mit blankgeputzten Schuhen und dem richtigen Anzug kann man alles erreichen. Um mich über den wahren Charakter des Lebens aufzuklären, fügte D. allerdings hinzu, ein bisschen Glück brauche es dafür schon auch.

Noch am selben Tag brachte ich meine Lackschuhe mit einer Bürste auf Hochglanz, zog mir ein grünes Kleid und dazu passende grüne Strümpfe an und erklärte mich mit sofortiger Wirkung zu D.s Reisevertretergehilfin.

Ich betrat den Hof, zündete mir eine Zigarette an und zog langsam daran. Die Zigarette hatte ich D. geklaut, er schlief regelmäßig ein, wenn er abends vor dem Fernseher saß und rauchte.

VI

Von D. hatte ich die Eigenschaft geerbt, unglaublich hartnäckig sein zu können. Weshalb ich schon eine Woche später mit in den R4 stieg, der inzwischen auf beiden Seiten das Markenzeichen der Firma Kramp zur Schau stellte. Anschließend machten wir uns auf den Weg in ein nahegelegenes Dorf.

Dort angekommen, parkten wir an der Plaza, und D. gab mir folgende Anweisungen:

1. Ich solle stets lächeln.

2. Falls mir langweilig werde, könne ich ein bisschen umherspazieren, ich dürfe mich aber nicht weiter als eine Querstraße von der Plaza entfernen.

3. Falls die Verkäufer mir eine Schokolade oder was auch immer schenkten, solle ich mich höflich bedanken.

Außerdem versprach er mir, dass wir, falls wir gut verkauften oder die Rechnung vom Vormonat bezahlt bekämen, anschließend ins Café gehen würden.

Wir suchten drei Läden auf, die Kramp-Produkte, aber auch Süßigkeiten, Spielzeug, Knöpfe, Zeitschriften, Duftwässer und Küchentücher verkauften.

Schon nach wenigen gemeinsamen Fahrten hatte ich gelernt, dass in einem Dorfladen die unterschiedlichsten Dinge eine Art Bruderschaft eingehen können. Seitdem halte ich beim Blick in ein Schaufenster jedes Mal unweigerlich nach Dingen Ausschau, die scheinbar nicht das Geringste miteinander zu tun haben, und versuche, eine Beziehung zwischen ihnen herzustellen. Falls mir das gelingt, heißt das, dass ich einen Glückstag haben werde. (Ein Bleistift – aus Holz – und ein Metallgriff sind deshalb miteinander verbunden, weil der Griff eines Tages an einer Tür angebracht werden wird. Einer Tür aus Holz. Bleistift – Holz, Holz – Tür. Bingo!)

An diesem Tag verkauften wir dreihundert Fuchsschwänze und bekamen zwei Rechnungen vom Vormonat bezahlt.

Außerdem schenkte man mir eine Rätselzeitschrift und eine Dose Ananas, wofür ich mich höflich bedankte.

Anschließend gingen wir ins Café. So wurden wir zu Gesellschaftern.

VII

Alles, was danach geschah, war möglich, weil meine Mutter nicht da war. Was nicht heißen soll, dass sie oft nicht zu Hause war, vielmehr hatte ein Teil von ihr ihren Körper verlassen und weigerte sich, zurückzukehren.

Dieser Teil meiner Mutter war womöglich eine Astronautin, die, unterwegs im Weltall, D. begegnet war (der sich seit der Mondlandung angewöhnt hatte, in regelmäßigen Abständen zum Himmel aufzusehen). Die Astronautin hatte daraufhin beschlossen, wenn sie schon zur Erde zurückkehre, dann bei D. unterzuschlüpfen. Beziehungsweise bei D. und mir.

So eine Erdlandung ist aber gar nicht so einfach – meine Mutter hatte davon auf dem linken Auge einen blinden Fleck zurückbehalten.

Und dieser blinde Fleck blendete alles aus, was mit meinem »Doppelleben«, wie ich selbst es nannte, zu tun hatte.

Einer vollständigen Mutter wäre das nicht passiert.

War meine Mutter deshalb verantwortungslos?

Ich glaube nicht, ich glaube vielmehr, dass das Leben ein wenig verantwortungslos mit ihr umgegangen war.

VIII

Schon bald sagte ich mir, dass meine Fahrten mit D., die normalerweise einen Tag dauerten, so etwas wie Praxisstunden waren und damit Teil des Schulunterrichts.