Krieg und Frieden - Lew Tolstoi - E-Book
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Lew Tolstoi

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Beschreibung

„Ohne falsche Bescheidenheit: Es ist etwas wie die Ilias.“ Lew Tolstoi.

Das Schicksal der russischen Adelsfamilien Rostow und Bolkonski zu Beginn des 19. Jahrhunderts, des gutmütigen, steinreichen Pierre Besuchow und der intriganten Kuragins, Familienfeiern, Empfänge, Abendgesellschaften, Duelle, Niederkunfts- und Sterbeszenen, Jagden, Reisen, Bälle in Petersburg und Moskau, Theatervorstellungen, weihnachtliche Schlittenfahrten – an all dem lässt Tolstoi seinen Leser Anteil nehmen. Ihr aller Leben ist eng verwoben mit einem umfassenden, beeindruckenden Geschichtsbild Europas während der Napoleonischen Kriege, in dem der Autor die bedeutendsten Persönlichkeiten jener Zeit porträtiert.

„Die erzählerische Macht seines Werkes ist ohnegleichen.“ Thomas Mann.

„Der Mann ist Gott gleich.“ Maxim Gorki.

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Seitenzahl: 1836

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Lew Tolstoi

Krieg und Frieden

Roman

Aus dem Russischen von H. Röhl

Impressum

Titel der Originalausgabe

Война и Мир

Textgrundlage:Krieg und Frieden, Roman in fünfzehn Teilen mit einem Epilog von L.N. Tolstoi, übertragen von H. Röhl,Insel-Verlag zu Leipzig 1923Neu durchgesehen und gekürzt von Margit Bräuer

ISBN 978-3-8412-0069-3

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, August 2010© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Einbandgestaltung morgen, unter Verwendung eines Fotosvon Kai Dieterich/bobsairport

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Innentitel

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Inhaltsübersicht

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Lew Tolstoi

ERSTER BAND

ERSTER TEIL

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»Nun, sehen Sie wohl, Fürst: Genua und Lucca sind weiter nichts mehr als Apanagen der Familie Bonaparte. Nein, das erkläre ich Ihnen auf das bestimmteste: wenn Sie mir nicht sagen, daß der Krieg eine Notwendigkeit ist, wenn Sie sich noch länger erlauben, all die Schändlichkeiten und Gewalttaten dieses Antichrists in Schutz zu nehmen (wirklich, ich glaube, daß er der Antichrist ist), so kenne ich Sie nicht mehr, so sind Sie nicht mehr mein Freund, nicht mehr, wie Sie sich ausdrücken, mein treuer Sklave. Jetzt aber guten Tag, guten Tag! Ich sehe, daß ich Sie verschüchtere; setzen Sie sich und erzählen Sie!«

So sprach im Juni 1805 Anna Pawlowna Scherer, die hochangesehene Hofdame und Vertraute der Zarin Marija Fjodorowna, als sie den durch Rang und Einfluß hervorragenden Fürsten Wassili begrüßte, der sich als erster zu ihrer Soiree einstellte. Anna Pawlowna hustete seit einigen Tagen; sie hatte, wie sie sagte, die Grippe (»Grippe« war damals ein neues Wort, dessen sich nur einige wenige feine Leute bedienten). Die Einladungsschreiben, die sie am Vormittag durch einen Lakaien in roter Livree versandt hatte, hatten alle ohne Abweichungen folgendermaßen gelautet:

»Wenn Sie, Graf (oder Fürst), nichts Besseres vorhaben und die Aussicht, den Abend bei einer armen Patientin zu verbringen, Sie nicht zu sehr erschreckt, so werde ich mich sehr freuen, Sie heute zwischen sieben und neun Uhr bei mir zu sehen. Anna Scherer.«

»Mein Gott, was für eine hitzige Attacke!« antwortete der soeben eingetretene Fürst, ohne über einen derartigen Empfang im geringsten in Aufregung zu geraten, mit einem heiteren Ausdruck auf seinem flachen Gesicht.

Er trug die gestickte Hofuniform, Schnallenschuhe, Strümpfe und mehrere Orden, und sprach jenes auserlesene Französisch, das unsere Großväter nicht nur redeten, sondern in dem sie auch dachten, und zwar mit dem ruhigen, gönnerhaften Ton, wie er einem hochgestellten, im Verkehr mit der besten Gesellschaft und in der Hofluft alt gewordenen Mann eigen ist. Er trat zu Anna Pawlowna, küßte ihr die Hand, wobei er ihr den Anblick seiner parfümierten, schimmernden Glatze darbot, und setzte sich dann in aller Seelenruhe in einen Lehnsessel.

»Vor allen Dingen, liebe Freundin, verraten Sie mir, wie es mit Ihrer Gesundheit steht, und beruhigen Sie Ihren Freund«, sagte er, ohne seine Stimme zu verändern, und in einem Ton, bei dem man durch alle Höflichkeit und Anteilnahme doch seine innere Gleichgültigkeit und sogar ein wenig Spott hindurchhörte.

»Wie kann ich körperlich gesund sein, wenn ich seelisch leide? Wer, der überhaupt Gefühl in der Brust hat, kann denn in unserer Zeit seine seelische Ruhe bewahren?« sagte Anna Pawlowna. »Ich hoffe, Sie bleiben den ganzen Abend bei mir?«

»Und das Fest beim englischen Gesandten? Heute ist Mittwoch; ich muß mich dort zeigen«, erwiderte der Fürst. »Meine Tochter wird herkommen und mich dorthin abholen.«

»Ich glaubte, das heutige Fest sei abgesagt worden. Ich muß gestehen, alle diese Feste und Feuerwerke werden einem allmählich unerträglich.«

»Wenn der Gesandte geahnt hätte, daß dies Ihr Wunsch sei, so hätte er gewiß das Fest absagen lassen«, antwortete der Fürst; er redete eben gewohnheitsmäßig, wie ein aufgezogenes Uhrwerk, etwas hin, wovon er selbst nicht erwartete, daß es jemand glauben werde.

»Spannen Sie mich nicht auf die Folter. Welcher Beschluß ist denn nun infolge von Nowossilzews Depesche gefaßt worden? Sie wissen doch alles.«

»Wie soll ich Ihnen darauf antworten?« erwiderte der Fürst in kühlem, gelangweiltem Ton. »Sie wollen wissen, wie man die Sachlage auffaßt? Man ist der Ansicht, daß Bonaparte seine Schiffe hinter sich verbrannt hat, und es hat den Anschein, daß wir uns anschicken, mit den unsrigen das gleiche zu tun.«

Fürst Wassili sprach immer in trägem, lässigem Ton, etwa wie ein Schauspieler eine schon oft von ihm gespielte Rolle spricht. Dagegen sprühte Anna Pawlowna Scherer trotz ihrer vierzig Jahre vor Lebhaftigkeit und Leidenschaftlichkeit.

Als das Gespräch über die politische Lage einige Zeit gedauert hatte, wurde Anna Pawlowna hitzig.

»Ach, reden Sie mir nicht von Österreich! Mag sein, daß ich nichts davon verstehe, aber Österreich hat den Krieg nie gewollt und will ihn auch jetzt nicht. Österreich verrät uns. Rußland muß allein der Retter Europas werden. Unser Wohltäter auf dem Thron kennt seinen hohen Beruf und wird ihm treu bleiben. Das ist das einzige, worauf ich mich verlasse. Unserm guten, herrlichen Zaren ist die größte Aufgabe in der Welt zugefallen, und er ist so reich an trefflichen Eigenschaften und Tugenden, daß Gott ihn nicht verlassen wird. Unser Zar wird seinen hohen Beruf erfüllen, die Hydra der Revolution zu erwürgen, die jetzt in der Gestalt dieses Mörders und Bösewichtes noch entsetzlicher erscheint als vorher. Wir allein müssen das Blut des Gerechten sühnen. Auf wen könnten wir denn auch rechnen, frage ich Sie? England mit seinem Krämergeist hat kein Verständnis für die ganze Seelengröße Zar Alexanders und kann ein solches Verständnis nicht haben. Es hat sich geweigert, Malta zu räumen. Es will erst noch sehen und findet in allem, was wir tun, einen Hintergedanken. Was haben die Engländer auf Nowossilzews Anfrage geantwortet? Nichts. Sie haben kein Verständnis gehabt für die Selbstverleugnung unseres Zaren, der nichts für sich selbst will und in allem nur auf das Wohl der ganzen Welt bedacht ist. Und was haben sie versprochen? Nichts. Und was sie versprochen haben, selbst das werden sie nicht zur Ausführung bringen! Preußen hat bereits erklärt, Bonaparte sei unüberwindlich und ganz Europa vermöge nichts gegen ihn. Und ich glaube diesen beiden, Hardenberg und Haugwitz, kein Wort. Diese vielgerühmte Neutralität Preußens ist weiter nichts als eine Falle. Ich glaube nur an Gott und an die hohe Bestimmung unseres geliebten Zaren. Er wird Europa retten!«

»Ich glaube«, erwiderte der Fürst gleichfalls lächelnd, »hätte man Sie an Stelle unseres lieben Wintzingerode hingeschickt, Sie hätten die Zustimmung des Königs von Preußen im Sturm errungen. Sie besitzen eine erstaunliche Beredsamkeit. Darf ich Sie um eine Tasse Tee bitten?«

»Sogleich. Apropos«, fügte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, hinzu, »es werden heute zwei sehr interessante Persönlichkeiten bei mir sein: der Vicomte Mortemart (er ist durch die Rohans mit den Montmorencys verwandt; die Mortemarts sind eine der ersten Familien Frankreichs; das ist einer der wirklich achtungswerten Emigranten, einer von der echten Art) und dann der Abbé Morio. Kennen Sie diesen tiefen Geist? Er ist vom Zaren empfangen worden; Sie wissen wohl?«

»Ah! Das wird mich außerordentlich freuen«, antwortete der Fürst. »Sagen Sie«, fügte er, als ob ihm soeben etwas einfiele, in besonders lässigem Ton hinzu, obgleich das, wonach er fragen wollte, der Hauptzweck seines Besuches war, »ist es richtig, daß die Zarin die Ernennung des Baron Funke zum ersten Sekretär in Wien wünscht? Dieser Baron ist doch allem Anschein nach ein wertloses Subjekt.« Fürst Wassili hegte den Wunsch, daß sein eigener Sohn diese Stelle erhalten möge, die andere Leute über die Zarin Marija Fjodorowna dem Baron zu verschaffen suchten.

Anna Pawlowna schloß die Augen beinahe vollständig, um zu verstehen zu geben, daß weder sie noch sonst jemand sich ein Urteil über das erlauben dürfe, was der Zarin beliebe oder genehm sei.

»Baron Funke ist der Zarin durch ihre Schwester empfohlen worden«, begnügte sie sich in melancholischem, trockenem Ton zu erwidern.

Der Fürst machte ein Gesicht, als ob ihm die Sache gleichgültig sei, und schwieg. Anna Pawlowna hatte dem Fürsten etwas dafür auswischen wollen, daß er sich erdreistet hatte, über eine von der Zarin protegierte Persönlichkeit so abfällig zu urteilen; nun aber wollte sie ihn doch auch wieder trösten.

»Um auf Ihre Familie zu kommen«, sagte sie, »wissen Sie, daß Ihre Tochter, seit sie Gesellschaften besucht, das Entzücken der gesamten höheren Kreise bildet? Man findet sie schön wie den Tag.«

Der Fürst verneigte sich zum Zeichen der Verehrung und Dankbarkeit.

»Ich denke oft«, fuhr Anna Pawlowna nach einem kurzen Schweigen fort, »ich denke oft, wie ungerecht manchmal das Glück im Leben verteilt ist. Warum hat Ihnen das Schicksal zwei so prächtige Kinder gegeben (Anatol, Ihren jüngeren Sohn, schließe ich dabei aus; ich mag ihn nicht«, schaltete sie in einem Ton ein, als dulde sie keinen Widerspruch, und zog dabei die Augenbrauen in die Höhe), »so entzückende Kinder? Wahrhaftig, Sie wissen deren Wert weniger zu schätzen als alle anderen Leute, und daher verdienen Sie nicht, solche Kinder zu haben.«

Ihr Gesicht war wieder von dem ihr eigenen enthusiastischen Lächeln verklärt.

»Was ist da zu machen? Lavater würde sagen, daß mir der Kopfhöcker der elterlichen Liebe fehlt«, erwiderte der Fürst.

»Scherzen Sie nicht darüber. Ich wollte ernsthaft mit Ihnen reden. Wissen Sie, ich bin mit Ihrem jüngeren Sohn nicht zufrieden. Unter uns gesagt« (hier nahm ihr Gesicht wieder einen trüben Ausdruck an), »es wurde bei Ihrer Majestät von ihm gesprochen, und Sie wurden bedauert.«

Der Fürst antwortete nicht und runzelte die Stirn.

»Was soll ich denn machen?« sagte er endlich. »Sie wissen, ich habe für die Erziehung meiner Söhne alles getan, was ein Vater nur tun kann, und doch haben sie sich beide schlecht entwickelt. Ippolit ist wenigstens nur ein ruhiger Narr, aber Anatol ein unruhiger. Das ist der einzige Unterschied«, sagte er und lächelte dabei gekünstelter und lebhafter als gewöhnlich, wobei mit besonderer Schärfe in den um seinen Mund liegenden Falten ein überraschend roher, unangenehmer Zug hervortrat.

»Warum werden solchen Männern wie Ihnen Kinder geboren? Wenn Sie nicht Vater wären, hätte ich gar nichts an Ihnen zu tadeln«, sagte Anna Pawlowna, nachdenklich aufblickend.

»Ich bin Ihr treuer Sklave, und Ihnen allein kann ich es gestehen: meine Kinder sind die Fesseln meines Daseins. Das ist eben mein Kreuz. So fasse ich es auf. Was soll ich tun?«

»Haben Sie nie daran gedacht, Ihrem Anatol, diesem verlorenen Sohn, eine Frau zu geben?« sagte sie dann. »Es heißt immer, alte Jungfern hätten eine Manie für das Ehestiften. Ich verspüre diese Schwäche noch nicht an mir; aber ich habe da ein junges Mädchen, das sich bei ihrem Vater sehr unglücklich fühlt, eine Verwandte von uns, eine Tochter des Fürsten Bolkonski.«

Fürst Wassili antwortete nicht, gab jedoch mit jener schnellen Auffassungsgabe, wie sie Leuten von Welt eigen ist, durch eine Kopfbewegung zu verstehen, daß er diese Mitteilungen zum Gegenstand seines Nachdenkens mache.

»Wissen Sie, daß mich dieser Anatol jährlich vierzigtausend Rubel kostet?« sagte er dann, anscheinend nicht imstande, von seinem trüben Gedankengang loszukommen. Dann schwieg er wieder eine Weile.

»Was soll daraus werden, wenn es noch fünf Jahre so weitergeht? Das ist der Segen davon, wenn man Vater ist. Ist sie reich, Ihre junge Prinzessin?«

»Der Vater ist sehr reich und geizig. Er lebt auf dem Land. Wissen Sie, es ist der bekannte Fürst Bolkonski, der noch unter dem hochseligen Zaren den Abschied erhielt; er hatte den Spitznamen ›der König von Preußen‹. Er ist ein sehr kluger Mensch, hat aber seine Absonderlichkeiten und ist schwer zu behandeln. Das arme Kind ist kreuzunglücklich. Sie hat noch einen Bruder, der bei Kutusow Adjutant ist; er hat vor einiger Zeit Lisa Meynen geheiratet. Er wird heute bei mir sein.«

»Hören Sie, liebe Annette«, sagte der Fürst, indem er plötzlich die Hand der Hofdame ergriff und in etwas wunderlicher Weise nach unten zog. »Arrangieren Sie mir diese Sache, und ich werde für alle Zeit Ihr treuester Sklave sein. Sie ist von guter Familie und reich. Das ist alles, was ich brauche.«

Und mit jenen ungezwungenen, familiären, graziösen Bewegungen, die ihn auszeichneten, ergriff er die Hand der Hofdame, küßte sie und schwenkte sie dann hin und her, während er sich in den Sessel zurücksinken ließ und zur Seite blickte.

»Warten Sie«, sagte Anna Pawlowna überlegend. »Ja, ich will gleich heute mit Lisa, der Frau des jungen Bolkonski, reden. Vielleicht läßt sich die Sache arrangieren. Ich werde bei Ihrer Familie anfangen, das übliche Gewerbe der alten Jungfern zu erlernen.«

2

Anna Pawlownas Salon begann sich allmählich zu füllen. Die höchste Noblesse Petersburgs fand sich ein, Menschen, die an Lebensalter und Charakter höchst verschieden waren, aber doch etwas Gleichartiges hatten durch die gesellschaftliche Sphäre, in der sie alle lebten. Da kam die Tochter des Fürsten Wassili, die schöne Hélène, die ihren Vater abholen wollte, um mit ihm zusammen zu dem Fest des Gesandten zu fahren; sie war in Balltoilette und trug als Abiturientin des Fräuleinstiftes eine Brosche mit dem Namenszug der Zarin. Dann kam die als »die reizendste Frau Petersburgs« bekannte, junge, kleine Fürstin Bolkonskaja, die sich im letzten Winter verheiratet hatte und, weil sie sich in anderen Umständen befand, größere Festlichkeiten nicht mehr besuchte, während sie an kleinen Abendgesellschaften noch teilnahm. Es erschien Fürst Ippolit, der Sohn des Fürsten Wassili, zusammen mit dem Vicomte Mortemart, den er vorstellte; auch der Abbé Morio fand sich ein, und viele andere.

Die junge Fürstin Bolkonskaja hatte sich in einem samtenen, goldgestickten Beutelchen eine Handarbeit mitgebracht. Ihre hübsche Oberlippe mit dem leisen Schatten eines schwärzlichen Schnurrbärtchens war etwas zu kurz für die Zähne; aber um so reizender sah es aus, wenn sie sich öffnete, und noch mehr, wenn sie sich manchmal ausstreckte und zur Unterlippe hinabsenkte. Wie das immer bei äußerst reizenden Frauen der Fall ist, erschien ihr Mangel, die Kürze der Lippe und der halbgeöffnete Mund, als eine besondere, ihr speziell eigene Schönheit. Es war für alle ein herzliches Vergnügen, diese hübsche, von Gesundheit und Lebenslust erfüllte Frau anzusehen, die bald Mutter werden sollte und ihren Zustand so leicht ertrug. Die alten Herren und die blasierten, finster blickenden jungen Leute hatten die Empfindung, als würden sie selbst ihr ähnlich, wenn sie ein Weilchen in ihrer Nähe geweilt und sich mit ihr unterhalten hatten. Wer mit ihr sprach und bei jedem Wort, das er sagte, ihr strahlendes Lächeln und die glänzend weißen Zähne sah, die fortwährend sichtbar wurden, der konnte glauben, daß er heute ganz besonders liebenswürdig sei. Und das glaubte auch jeder.

Die kleine Fürstin ging mit schaukelndem Gang, mit kleinen, schnellen Schritten, den Arbeitsbeutel in der Hand, um den Tisch herum, setzte sich auf das Sofa, nicht weit von dem silbernen Samowar, und brachte vergnügt ihr Kleid in Ordnung, als ob alles, was sie nur tun mochte, eine Erheiterung für sie selbst und für ihre gesamte Umgebung sei.

»Ich habe mir eine Handarbeit mitgebracht«, sagte sie, sich an alle zugleich wendend, während sie ihr Ridikül auseinanderzog.

»Aber hören Sie mal, Annette«, wandte sie sich an die Hausherrin, »solche häßlichen Streiche dürfen Sie mir nicht spielen. Sie haben mir geschrieben, es wäre bei Ihnen nur eine ganz kleine Abendgesellschaft. Und nun sehen Sie, in was für einem Aufzug ich hergekommen bin.«

Sie breitete die Arme auseinander, um ihr elegantes graues, mit Spitzen besetztes Kleid zu zeigen, um das sich ein wenig unterhalb der Brust an Stelle eines Gürtels ein breites Band schlang.

»Seien Sie unbesorgt, Lisa, Sie sind doch immer die Hübscheste von allen«, antwortete Anna Pawlowna.

»Sie wissen, daß mein Mann mich verlassen wird«, fuhr sie, zu einem General gewandt, in demselben Ton fort. »Er will sich totschießen lassen. Sagen Sie mir, wozu nur dieser abscheuliche Krieg?« sagte sie zu dem Fürsten Wassili und wandte sich dann, ohne dessen Antwort abzuwarten, zu seiner Tochter, der schönen Hélène.

»Was ist diese kleine Fürstin für ein allerliebstes Wesen!« sagte Fürst Wassili leise zu Anna Pawlowna.

Bald nach der kleinen Fürstin trat ein plumpgebauter, dicker junger Mann ein, mit kurzgeschorenem Kopf, einer Brille, hellen Beinkleidern nach der damaligen Mode, hohem Jabot und braunem Frack. Er war ein unehelicher Sohn des Grafen Besuchow, der einst unter der Zarin Katharina einer der höchsten Würdenträger gewesen war und jetzt in Moskau im Sterben lag. Dieser dicke junge Mann war noch nie im Staatsdienst tätig gewesen, war soeben erst aus dem Ausland, wo er erzogen worden war, zurückgekehrt und befand sich heute zum erstenmal in Gesellschaft. Anna Pawlowna begrüßte ihn mit derjenigen Art von Verbeugung, mit der sich die auf der hierarchischen Stufenleiter am niedrigsten stehenden Besucher ihres Salons zu begnügen hatten. Aber trotz dieses niedrigsten Grades von Begrüßung prägte sich beim Anblick des eintretenden Pierre auf Anna Pawlownas Gesicht eine Unruhe und Furcht aus, wie man sie etwa beim Anblick eines übergroßen Gegenstandes empfindet, der nicht an seinem richtigen Platz ist. Obwohl aber Pierre tatsächlich etwas größer war als die andern im Zimmer befindlichen Männer, so konnte doch diese Furcht nur durch den klugen und zugleich schüchternen, beobachtenden und ungekünstelten Blick seiner Augen veranlaßt sein, durch den er sich von allen anderen in diesem Salon Anwesenden unterschied.

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Monsieur Pierre, daß Sie eine arme Patientin besuchen«, sagte Anna Pawlowna zu ihm, während sie mit ihrer Tante, zu der sie ihn hinführte, einen ängstlichen Blick wechselte. Pierre murmelte Unverständliches und fuhr fort, etwas mit den Augen zu suchen. Mit frohem, vergnügtem Lächeln verbeugte er sich vor der kleinen Fürstin wie vor einer guten Bekannten und trat dann zu der Tante hin.

Anna Pawlownas Furcht erwies sich als nicht unbegründet, da Pierre, ohne die Äußerungen der Tante über das Befinden Ihrer Majestät zu Ende zu hören, von ihr zurücktrat. Erschrocken hielt ihn Anna Pawlowna mit den Worten auf: »Sie kennen den Abbé Morio wohl noch nicht? Er ist ein sehr interessanter Mann …«

»Ja, ich habe von seinem Plan gehört, einen ewigen Frieden herzustellen, und das ist ja auch sehr interessant, aber wohl schwerlich ausführbar.«

»Meinen Sie?« erwiderte Anna Pawlowna, um überhaupt etwas zu sagen und sich dann wieder ihren Aufgaben als Dame des Hauses zuzuwenden; aber Pierre beging nun die umgekehrte Unhöflichkeit. Vorher war er von einer Dame weggegangen, ohne das, was sie zu ihm sagte, bis zu Ende anzuhören, und jetzt hielt er eine Dame, die von ihm fortgehen wollte, durch sein Gespräch zurück. Den Kopf herabbeugend, die dicken Beine breit auseinanderstellend, begann er der Hofdame zu beweisen, warum er den Plan des Abbé für eine Schimäre halte.

»Wir wollen das nachher weiter besprechen«, sagte Anna Pawlowna lächelnd.

Damit verließ sie den jungen Mann, der so gar keine Lebensart hatte, und nahm ihre Tätigkeit als Dame des Hauses wieder auf. Sie hörte aufmerksam zu und ließ ihre Augen überall umherschweifen, bereit, an demjenigen Punkt einzuspringen, wo etwa das Gespräch ermattete. Aber mitten in dieser geschäftigen Tätigkeit konnte man ihr immer eine gewisse Furcht betreffs Pierre anmerken. Besorgt beobachtete sie ihn, als er herantrat, um zu hören, was in der Gruppe um Mortemart geredet wurde, und dann zu einer anderen Gruppe hinging, wo der Abbé das Wort führte. Für Pierre, der im Ausland erzogen worden war, war diese Soiree bei Anna Pawlowna die erste, die er in Rußland mitmachte. Er wußte, daß hier die Vertreter der Intelligenz von ganz Petersburg versammelt waren, und seine Augen liefen, wie die Augen eines Kindes im Spielzeugladen, bald hierhin, bald dorthin. Immer fürchtete er, es werde ihm irgendein kluges Gespräch entgehen, das er mit anhören könnte. Wenn er die selbstbewußten, vornehmen Gesichter der hier Versammelten betrachtete, erwartete er stets etwas besonders Kluges zu hören. Endlich trat er zu Morio. Das Gespräch interessierte ihn, er blieb stehen und wartete auf eine Gelegenheit, seine eigenen Gedanken auszusprechen, wie das junge Leute so gern tun.

3

Die Unterhaltung auf Anna Pawlownas Soiree war in vollem Gange. Abgesehen von der Tante, neben der nur eine bejahrte Dame mit vergrämtem, magerem Gesicht saß, die sich in dieser glänzenden Gesellschaft etwas sonderbar ausnahm, hatte sich die ganze Gesellschaft in drei Gruppen geteilt. In der einen, die vorwiegend aus Herren bestand, bildete der Abbé den Mittelpunkt; in der zweiten, wo namentlich die Jugend vertreten war, dominierten die schöne Prinzessin Hélène, die Tochter des Fürsten Wassili, und die hübsche, rotwangige, aber für ihr jugendliches Alter etwas zu volle, kleine Fürstin Bolkonskaja. In der dritten Gruppe waren Mortemart und Anna Pawlowna das belebende Element.

Der Vicomte war ein gutaussehender junger Mann mit weichen Gesichtszügen und angenehmen Umgangsformen, der sich offenbar für etwas Bedeutendes hielt, aber infolge seiner Wohlerzogenheit der Gesellschaft, in der er sich befand, bescheiden anheimstellte, seine Persönlichkeit zu genießen, soweit es ihr beliebe. Anna Pawlowna betrachtete ihn augenscheinlich als eine Art von Extragericht, das sie ihren Gästen anbot. Wie ein geschickter maître d’hôtel dasselbe Stück Rindfleisch, das niemand essen möchte, der es in der schmutzigen Küche sähe, als etwas ganz außergewöhnlich Schönes präsentiert, so servierte bei der heutigen Abendgesellschaft Anna Pawlowna ihren Gästen zuerst den Vicomte und dann den Abbé als etwas ganz besonders Feines. In der Gruppe um Mortemart drehte sich das Gespräch sogleich um die Ermordung des Herzogs von Enghien. Der Vicomte bemerkte, der Herzog von Enghien habe seinen Tod seiner eigenen Großmut zu verdanken und der Ingrimm Bonapartes gegen ihn habe seine besonderen Gründe gehabt.

»Ach, bitte, erzählen Sie uns das, Vicomte!« sagte Anna Pawlowna erfreut; sie hatte dabei das Gefühl, daß der Ausdruck: »Erzählen Sie uns das, Vicomte!« wie eine Reminiszenz an Ludwig XV. klang.

Der Vicomte verbeugte sich zum Zeichen des Gehorsams und lächelte höflich. Anna Pawlowna wirkte darauf hin, daß sich ein Kreis um den Vicomte bildete, und forderte alle auf, seine Erzählung anzuhören.

»Der Vicomte ist mit dem Herzog persönlich bekannt gewesen«, flüsterte Anna Pawlowna dem einen zu. »Der Vicomte besitzt ein bewundernswürdiges Talent zum Erzählen«, sagte sie zu einem andern. »Wie man doch sofort einen Mann aus der guten Gesellschaft erkennt!« äußerte sie gegenüber einem Dritten, und so wurde der Vicomte in der besten und für ihn vorteilhaftesten Beleuchtung der Gesellschaft präsentiert wie ein mit allerlei Gemüse garniertes Roastbeef auf einer heißen Schüssel.

Der Vicomte wollte nun seine Erzählung beginnen und lächelte höflich.

»Kommen Sie doch hierher zu uns, liebe Hélène«, sagte Anna Pawlowna zu der schönen Prinzessin, welche etwas entfernt saß und den Mittelpunkt einer anderen Gruppe bildete.

Die Prinzessin lächelte; sie erhob sich mit demselben unveränderlichen Lächeln des vollkommen schönen Weibes, mit dem sie in den Salon eingetreten war. Mit ihrem weißen Ballkleid, das mit Efeu und Moos garniert war, leise raschelnd und von dem weißen Schimmer ihrer Schultern und dem Glanz ihres Haares und ihrer Brillanten umstrahlt, ging sie zwischen den auseinandertretenden Herren hindurch. Sie blickte dabei keinen einzelnen an, lächelte aber allen zu und schien in liebenswürdiger Weise einem jeden das Recht zuzuerkennen, die Schönheit ihrer Gestalt, der vollen Schultern, des nach damaliger Mode sehr tief entblößten Busens und Rückens zu bewundern; es war, als ob sie in ihrer Person den vollen Glanz eines Balles in diesen Salon hineingetragen hätte. So schritt sie geradewegs zu Anna Pawlowna hin. Hélène war so schön, daß an ihr auch nicht die leiseste Spur von Koketterie wahrzunehmen war; im Gegenteil, sie schien sich vielmehr ihrer unbestreitbaren und allzu stark und siegreich wirkenden Schönheit zu schämen. Es war, als ob sie den Eindruck ihrer Schönheit abzuschwächen wünschte, es aber nicht vermochte.

»Welch ein schönes Weib!« sagte jeder, der sie sah. Gleichsam überrascht von etwas Ungewöhnlichem, zuckte der Vicomte mit den Schultern zusammen und schlug die Augen nieder, als sie sich ihm gegenüber niederließ und auch ihn mit demselben unveränderlichen Lächeln anstrahlte.

»Ich fürchte wirklich, daß einer solchen Zuhörerschaft gegenüber mich meine Fähigkeit im Stich läßt«, sagte er und neigte lächelnd den Kopf.

Die Prinzessin legte ihren entblößten vollen Arm auf ein Tischchen und fand es nicht nötig, etwas zu erwidern. Sie wartete lächelnd. Während der ganzen Erzählung saß sie aufrecht da und blickte ab und zu bald auf ihren vollen, runden Arm, der von dem Druck auf den Tisch seine Form veränderte, bald auf den noch schöneren Busen, an dem sie den Brillantschmuck zurechtschob; einige Male ordnete sie die Falten ihres Kleides, und sooft die Erzählung eindrucksvoll wurde, schaute sie zu Anna Pawlowna hinüber und nahm sofort den Ausdruck an, den das Gesicht der Hofdame zeigte, um gleich darauf wieder zu ihrem ruhigen, strahlenden Lächeln überzugehen. Nach Hélène kam auch die kleine Fürstin vom Teetisch herüber.

»Warten Sie noch einen Augenblick, ich möchte meine Handarbeit vornehmen«, sagte sie. »Nun? Wo haben Sie denn Ihre Gedanken?« wandte sie sich an den Fürsten Ippolit. »Bringen Sie mir mein Ridikül.«

So führte die Fürstin, lächelnd und zu allen redend, auf einmal einen Aufenthalt herbei und ordnete, als sie nun zum Sitzen gekommen war, vergnügt ihre Kleidung.

»Jetzt habe ich alles nach Wunsch«, sagte sie, bat, mit der Erzählung zu beginnen, und griff nach ihrer Arbeit. Fürst Ippolit hatte ihr das Ridikül geholt, war hinter sie getreten, hatte sich einen Sessel dicht neben sie gerückt und sich zu ihr gesetzt.

Der »scharmante« Ippolit überraschte jeden durch die auffällige Ähnlichkeit mit seiner schönen Schwester und noch mehr dadurch, daß er trotz dieser Ähnlichkeit in hohem Grade häßlich war. Die Gesichtszüge waren bei ihm die gleichen wie bei seiner Schwester; aber bei ihr glänzte das ganze Gesicht von einem lebensfrohen, glücklichen, jugendlichen, unveränderlichen Lächeln, und die außerordentliche, wahrhaft antike Schönheit des Körpers steigerte diese Wirkung noch; bei dem Bruder dagegen war das gleiche Gesicht von einem trüben Stumpfsinn wie von einem Nebel umschleiert und zeigte unveränderlich einen Ausdruck selbstgefälliger Verdrossenheit, dazu kam ein dürftiger, schwächlicher Körper. Augen, Nase und Mund, alles war gleichsam zu einer verschwommenen, mürrischen Grimasse zusammengedrückt, und seine Hände und Füße nahmen stets eine absonderliche Haltung ein.

»Es wird doch keine Gespenstergeschichte sein?« sagte er, während er sich neben die Fürstin setzte und eilig seine Lorgnette vor die Augen hielt, als ob er ohne dieses Instrument nicht reden könnte.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte erstaunt der Erzähler mit einem Achselzucken.

»Ich frage nämlich deswegen, weil ich Gespenstergeschichten nicht leiden mag«, sagte Fürst Ippolit in einem Ton, aus dem man merken konnte, daß er sich erst nachträglich, nachdem er jene Worte gesprochen hatte, über ihren Sinn klargeworden war.

Aber infolge der Selbstgefälligkeit, mit der er sprach, kam es niemandem recht zu Bewußtsein, ob das, was er gesagt hatte, etwas sehr Kluges oder etwas sehr Dummes war. Er trug einen dunkelgrünen Frack, Beinkleider, deren Farbe er selbst als »Lende einer erschreckten Nymphe« bezeichnete, sowie Strümpfe und Schnallenschuhe.

Der Vicomte erzählte auf allerliebste Weise eine damals kursierende Anekdote: Der Herzog von Enghien sei heimlich nach Paris gereist, um dort ein Rendezvous mit der Schauspielerin Georges zu haben, und sei dabei mit Bonaparte zusammengetroffen, der sich gleichfalls der Gunst der berühmten Schauspielerin erfreut habe. Bei dieser Begegnung mit dem Herzog habe Napoleon einen Ohnmachtsanfall gehabt, ein bei ihm nicht selten auftretendes Leiden, und sich auf diese Art in der Gewalt des Herzogs befunden. Der Herzog habe diesen günstigen Umstand nicht genutzt; Bonaparte aber habe sich später für diese Großmut durch die Ermordung des Herzogs gerächt.

Die Erzählung war sehr hübsch und interessant; besonders bei der Stelle, wo die beiden Rivalen einander plötzlich erkannten, schienen auch die Damen in Aufregung zu geraten.

»Reizend!« sagte Anna Pawlowna und blickte dabei die kleine Fürstin fragend an.

»Reizend!« flüsterte die kleine Fürstin und steckte ihre Nadel in die Handarbeit, wie um damit anzudeuten, daß ihr lebhaftes Interesse für die reizende Erzählung sie daran hindere, weiterzuarbeiten.

Der Vicomte wußte dieses stillschweigende Lob zu schätzen, lächelte dankbar und sprach dann weiter. Aber in diesem Augenblick bemerkte Anna Pawlowna, die die ganze Zeit über ab und zu einen Blick zu dem ihr so fürchterlichen jungen Menschen geworfen hatte, daß er zu laut und hitzig mit dem Abbé sprach, und eilte, um Hilfe zu bringen, zu dem gefährdeten Punkt. Pierre hatte es wirklich zustande gebracht, mit dem Abbé ein Gespräch über das politische Gleichgewicht anzuknüpfen, und der Abbé, dessen Interesse der junge Mann durch seinen treuherzigen Eifer erweckt zu haben schien, entwickelte ihm seine Lieblingsidee. Beide benahmen sich beim Reden und Zuhören gar zu lebhaft und ungezwungen, und eben dies fand nicht Anna Pawlownas Beifall.

»Das Mittel dazu ist das europäische Gleichgewicht und das Völkerrecht«, sagte der Abbé. »Es braucht nur ein mächtiges Reich, zum Beispiel das als barbarisch verschriene Rußland, in uneigennütziger Weise an die Spitze eines Staatenbundes zu treten, der sich das Gleichgewicht Europas zum Ziel gesetzt hat, und dieses Reich wird der Retter der Welt sein.«

»Aber wie wollen Sie denn ein solches Gleichgewicht zustande bringen?« begann Pierre; jedoch in diesem Augenblick trat Anna Pawlowna hinzu, und mit einem strengen Blick auf Pierre fragte sie den Italiener, wie ihm das hiesige Klima bekomme. Das Gesicht des Italieners veränderte sich mit einem Schlag und nahm den geradezu beleidigend heuchlerischen, süßlichen Ausdruck an, der ihm anscheinend im Gespräch mit Frauen zur Gewohnheit geworden war.

»Ich bin von dem glänzenden Verstand und der hohen Bildung der Gesellschaft, in die ich das Glück hatte, aufgenommen zu werden, namentlich auch der weiblichen Gesellschaft, dermaßen bezaubert, daß ich noch keine Zeit hatte, an das Klima zu denken«, erwiderte er. Anna Pawlownn ließ jedoch den Abbé und Pierre nicht mehr los, sondern nahm sie zwecks bequemerer Beaufsichtigung mit in den allgemeinen Kreis.

4

In diesem Augenblick trat eine neue Person in den Salon. Es war der junge Fürst Andrej Bolkonski, der Gatte der kleinen Fürstin. Fürst Bolkonski war ein sehr hübscher junger Mann, von kleiner Statur, mit scharf geschnittenem, magerem Gesicht. Alles an seiner Figur, von dem müden, gelangweilten Blick bis zu dem ruhigen, gemessenen Gang, bildete den entschiedensten Gegensatz zu seiner kleinen, lebhaften Frau. Er schien alle Anwesenden nicht nur zu kennen, sondern ihrer so überdrüssig zu sein, daß es ihm höchst widerwärtig war, sie auch nur zu sehen und reden zu hören. Unter allen Gesichtern aber, die ihn so langweilten, war ihm das Gesicht seiner hübschen Frau anscheinend am meisten zuwider. Mit einer Grimasse, die sein hübsches Gesicht entstellte, wandte er sich von ihr ab. Er küßte der Hausherrin die Hand und musterte mit halb zugekniffenen Augen die ganze Gesellschaft.

»Sie bereiten sich darauf vor, in den Krieg zu ziehen, Fürst?« fragte Anna Pawlowna.

»General Kutusow hat mich zu seinem Adjutanten bestimmt«, antwortete Bolkonski.

»Und Lisa, Ihre Frau?«

»Sie geht aufs Land.«

»Aber machen Sie sich denn gar kein Gewissen daraus, uns Ihrer reizenden Gattin zu berauben?«

»Andrej«, sagte seine Frau, indem sie zu ihrem Manne in demselben koketten Ton sprach, dessen sie sich auch Fremden gegenüber bediente, »was für eine reizende Geschichte uns da eben der Vicomte von Mademoiselle Georges und Bonaparte erzählt hat!«

Fürst Andrej kniff die Augen zusammen und wandte sich ab. Pierre, der, seit Fürst Andrej in den Salon getreten war, ihn unverwandt mit frohen, freundlichen Blicken angesehen hatte, trat zu ihm und ergriff seine Hand. Fürst Andrej verzog, ohne sich umzusehen, sein Gesicht zu einer Grimasse, die seinen Ärger darüber zum Ausdruck brachte, daß jemand seine Hand berührte; aber sobald er Pierres lächelndes Gesicht erblickte, breitete sich über sein eigenes ein gutmütiges, freundliches Lächeln, wie man es ihm gar nicht zugetraut hätte.

»Nun sieh mal an! Auch du in der vornehmen Welt?« sagte er zu Pierre.

»Ich wußte, daß Sie hier sein würden«, antwortete Pierre. »Ich werde zum Abendessen zu Ihnen kommen«, fügte er leise hinzu, um den Vicomte nicht zu stören, der in seinen Erzählungen fortfuhr. »Ist es gestattet?«

»Nein, es ist nicht gestattet«, antwortete Fürst Andrej lachend und gab ihm durch einen Händedruck zu verstehen, daß er danach doch nicht erst zu fragen brauchte. Er wollte noch etwas sagen; aber in diesem Augenblick erhob sich Fürst Wassili nebst seiner Tochter, und die Herren standen auf, um ihnen Platz zu machen.

»Entschuldigen Sie mich, mein lieber Vicomte«, sagte Fürst Wassili zu dem Franzosen, den er gleichzeitig freundlich am Ärmel auf den Stuhl niederzog, damit er nicht aufstünde. »Dieses unselige Fest bei dem Gesandten beraubt mich eines großen Vergnügens und schafft Ihnen eine unangenehme Unterbrechung. Es ist mir äußerst schmerzlich, Ihre entzückende Soiree verlassen zu müssen«, sagte er dann zu Anna Pawlowna.

Seine Tochter, Prinzessin Hélène, ging, den Rock ihres Kleides ein wenig zusammenraffend, zwischen den Stühlen hindurch, und das Lächeln erstrahlte noch heller auf ihrem schönen Gesicht. Mit ganz entzückten Augen, ja beinahe erschrocken, sah Pierre das schöne Mädchen an, als es an ihm vorbeischritt.

»Sehr schön«, sagte Fürst Andrej.

»Ja, sehr schön«, antwortete Pierre.

Als Fürst Wassili an Pierre vorbeikam, ergriff er dessen Hand und wandte sich an Anna Pawlowna: »Machen Sie mir diesen Bären zu einem gebildeten Menschen«, sagte er. »Da wohnt er nun schon einen Monat lang bei mir, und heute sehe ich ihn zum erstenmal in Gesellschaft. Nichts ist einem jungen Mann so nötig wie der Umgang mit klugen Frauen.«

Anna Pawlowna lächelte und versprach, sich mit Pierre alle Mühe geben zu wollen, der, wie sie wußte, väterlicherseits mit dem Fürsten Wassili verwandt war. Die bejahrte Dame, die bisher bei der Tante gesessen hatte, stand eilig auf und holte den Fürsten Wassili im Vorzimmer ein. Der bisher erheuchelte Schein eines Interesses an den Vorgängen im Salon war vollständig von ihrem Gesicht verschwunden. Dieses gute, vergrämte Gesicht drückte jetzt nur Unruhe und Angst aus.

»Nun, was können Sie mir wegen meines Boris sagen, Fürst?« fragte sie, sobald sie ihn im Vorzimmer eingeholt hatte. »Ich kann nicht länger in Petersburg bleiben. Sagen Sie mir, welchen Bescheid darf ich meinem armen Jungen bringen?«

Obgleich Fürst Wassili die ältliche Dame nur sichtlich ungern und beinahe unhöflich anhörte und sogar seine Ungeduld nicht verbarg, blickte sie ihn mit freundlichem, rührendem Lächeln an und faßte ihn bei der Hand, damit er nicht fortgehe.

»Sie brauchen ja nur dem Zaren ein Wort zu sagen, und mein Sohn wird ohne weiteres zur Garde versetzt«, bat sie.

»Seien Sie überzeugt, Fürstin, daß ich alles tun werde, was ich kann«, erwiderte Fürst Wassili. »Aber es ist für mich nicht so leicht, dem Zaren eine solche Bitte vorzutragen. Ich würde Ihnen raten, sich durch Vermittlung des Fürsten Golizyn an Rumjanzew zu wenden; das wäre das klügste.«

Die ältliche Dame war eine Fürstin Drubezkaja und gehörte somit zu einer der ersten Familien Rußlands; aber sie war arm, hatte sich schon lange von der vornehmen Welt zurückgezogen und so ihre früheren Verbindungen verloren. Jetzt war sie nach Petersburg gekommen, um für ihren einzigen Sohn die Versetzung zur Garde zu erwirken. Lediglich um den Fürsten Wassili zu treffen, hatte sie sich der Hofdame Anna Pawlowna aufgedrängt und war zu ihrer Soiree gekommen; lediglich zu diesem Zweck hatte sie die Erzählung des Vicomte mit angehört. Über die Worte des Fürsten erschrak sie heftig, und auf ihrem ehemals schönen Gesicht prägte sich das Gefühl schmerzlicher Kränkung aus; aber das dauerte nur einen Augenblick. Sie lächelte wieder und faßte die Hand des Fürsten Wassili mit festerem Griff.

»Hören Sie mich an, Fürst«, sagte sie. »Ich habe Sie nie um etwas gebeten und werde Sie nie wieder um etwas bitten; ich habe Sie nie an die Freundschaft erinnert, die zwischen meinem Vater und Ihnen bestand. Aber jetzt beschwöre ich Sie bei Gott, tun Sie dies für meinen Sohn, und ich werde Sie für unsern Wohltäter halten«, fügte sie hastig hinzu. »Nein, werden Sie nicht zornig, sondern versprechen Sie es mir. Golizyn habe ich schon gebeten; aber er hat es mir abgeschlagen. Seien Sie der gute, liebe Mensch, der Sie früher waren«, sagte sie mit einem Versuch zu lächeln, obgleich ihr die Tränen in den Augen standen.

»Papa, wir werden zu spät kommen«, sagte die Prinzessin Hélène, die an der Tür wartete, und wandte ihren schönen Kopf auf den antiken Schultern zurück.

Aber der Einfluß ist in den vornehmen Kreisen ein Kapital, mit dem man haushälterisch umgehen muß, damit es einem nicht unter den Händen verschwindet. Fürst Wassili wußte das, und da er sich ein für allemal gesagt hatte, daß, wenn er für alle diejenigen bitten wollte, die ihn darum bäten, es ihm bald unmöglich sein würde, für sich selbst zu bitten, so machte er von seinem Einfluß nur selten Gebrauch. In der Angelegenheit der Fürstin Drubezkaja fühlte er jedoch nach diesem erneuten Appell etwas wie Gewissensbisse. Woran sie ihn erinnert hatte, war die Wahrheit: daß ihm die ersten Schritte auf seiner dienstlichen Laufbahn leicht geworden waren, hatte er ihrem Vater zu verdanken gehabt. Außerdem ersah er aus ihrem ganzen Benehmen, daß sie eine von den Frauen und speziell von den Müttern war, die, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, nicht ablassen, ehe man ihnen ihren Wunsch erfüllt, und im entgegengesetzten Fall es fertigbringen, einem täglich, ja stündlich zuzusetzen und einem sogar ärgerliche Szenen zu bereiten. Diese letzte Erwägung ließ ihn doch schwankend werden.

»Liebe Anna Michailowna«, sagte er in dem Ton, in dem er fast immer sprach, einer Mischung von Vertraulichkeit und Mißmut, »es ist mir beinahe unmöglich, das zu tun, was Sie wünschen; aber um Ihnen zu zeigen, wie hoch ich Sie schätze und wie sehr ich das Andenken an Ihren seligen Vater in Ehren halte, werde ich das Unmögliche tun: Ihr Sohn soll zur Garde versetzt werden; hier, meine Hand darauf! Sind Sie nun zufrieden?«

»Liebster Freund, Sie sind unser Wohltäter! Ich habe auch nichts anderes von Ihnen erwartet; ich wußte ja, was Sie für ein gutes Herz haben.«

Er wollte nun gehen.

»Warten Sie, nur noch ganz wenige Worte! Wenn er dann aber zur Garde versetzt ist …« Sie stockte … »Sie sind ja mit Michail Ilarionowitsch Kutusow gut bekannt … Empfehlen Sie ihm doch Boris zum Adjutanten. Dann würde ich beruhigt sein, und dann würde …«

Fürst Wassili lächelte.

»Nein, das verspreche ich nicht. Sie haben keine Ahnung, wie Kutusow von allen Seiten bestürmt wird, seit er zum Oberkommandierenden ernannt ist. Er hat selbst zu mir gesagt, alle Moskauer Damen hätten sich verabredet, ihm ihre sämtlichen Söhne zu Adjutanten zu geben.«

»Nein, versprechen Sie es mir doch! Ich lasse Sie nicht los, mein teurer Wohltäter!«

»Papa«, sagte die schöne Hélène noch einmal in demselben Ton, »wir werden zu spät kommen.«

»Nun, also auf Wiedersehen, leben Sie wohl. Sie sehen, ich muß fort.«

»Also morgen werden Sie mit dem Zaren darüber reden?«

»Ganz bestimmt; aber mit Kutusow zu reden, das verspreche ich nicht.«

5

»Wie finden Sie diese ganze letzte Krönungskomödie in Mailand?« fragte Anna Pawlowna. »Und nun ist eine neue Komödie gefolgt: die Bevölkerung von Genua und Lucca trägt Herrn Bonaparte ihre Wünsche vor. Und Herr Bonaparte sitzt auf dem Thron und erfüllt die Wünsche der Völker! Oh, das ist ein entzückendes Schauspiel! Nein, man könnte den Verstand darüber verlieren. Man möchte glauben, daß die ganze Welt den Kopf verloren hat.«

Fürst Andrej blickte der Sprechenden gerade ins Gesicht und lächelte.

»Gott gibt mir diese Krone; wehe dem, der sie antastet!« sagte er (die Worte, die Bonaparte beim Aufsetzen der Krone gesprochen hatte). »Es heißt, er soll einen schönen Anblick geboten haben, als er diese Worte sprach«, fügte er hinzu und wiederholte sie noch einmal auf italienisch: »Dio mi la dona, guaia chi la tocca!«

»Ich hoffe«, fuhr Anna Pawlowna fort, »daß dies endlich der Tropfen ist, der das Faß zum Überlaufen bringt. Die Souveräne können diesen Menschen, der alles Bestehende bedroht, nicht länger dulden.«

»Die Souveräne! Ich rede nicht von Rußland«, sagte der Vicomte in artigem, aber hoffnungslosem Ton. »Die Souveräne! Aber was haben sie für Ludwig XVI., für die Königin und für Madame Elisabeth getan? Nichts!« fuhr er, lebhafter werdend, fort. »Und glauben Sie mir, sie werden ihre Strafe dafür erleiden, daß sie die Sache der Bourbonen im Stich gelassen haben. Die Souveräne! Sie schicken Gesandte hin, um den Thronräuber zu beglückwünschen!«

Mit einem Seufzer der Geringschätzung änderte er seine Körperhaltung. Fürst Ippolit, der den Vicomte lange durch seine Lorgnette betrachtet hatte, drehte sich plötzlich bei diesen Worten mit dem ganzen Körper zu der kleinen Fürstin um, erbat sich von ihr eine Nadel und begann, indem er mit der Nadel auf dem Tisch zeichnete, ihr das Wappen der Condés darzustellen. Er erläuterte ihr dieses Wappen mit so wichtiger Miene, als ob die Fürstin ihn darum gebeten hätte,

»Ein Schild mit schmalen, roten und blauen gezähnten Streifen, das ist das Haus Condé«, sagte er. Die Fürstin hörte lächelnd zu.

»Wenn Bonaparte noch ein Jahr auf dem französischen Thron bleibt«, fuhr der Vicomte fort, »so wird ein nie wieder gutzumachendes Unheil angerichtet sein. Durch Intrigen, Gewalttaten, Verbannungen und Hinrichtungen wird die Gesellschaft, ich meine die gute französische Gesellschaft, für immer vernichtet sein, und dann …«

Er zuckte die Achseln und breitete die Arme aus. Pierre setzte gerade an, um etwas zu sagen, da ihn das Gespräch interessierte; aber Anna Pawlowna, die ihn überwachte, ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Zar Alexander«, sagte sie in dem wehmütigen Ton, dessen sie sich stets bediente, wenn sie von der kaiserlichen Familie sprach, »hat erklärt, daß er es den Franzosen selbst anheimstelle, sich die Form ihrer Regierung zu wählen. Und ich meine, es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß die ganze Nation sich von dem Usurpator befreien und sich ihrem legitimen König in die Arme werfen wird.« Anna Pawlowna beabsichtigte, mit diesen Worten dem Emigranten und Royalisten eine Liebenswürdigkeit zu erweisen.

»Das dürfte denn doch zweifelhaft sein«, bemerkte Fürst Andrej. »Der Herr Vicomte hat durchaus recht mit seiner Ansicht, daß die Sache sich schon zu weit entwickelt hat. Ich glaube, es wird schwer sein, zu den alten Zuständen zurückzukehren.«

»Soviel ich gehört habe«, mischte sich Pierre, seinen Versuch erneuernd, mit lebhaftem Erröten in das Gespräch, »ist fast der ganze Adel bereits auf Bonapartes Seite getreten.«

»Das sagen die Bonapartisten«, entgegnete der Vicomte, ohne Pierre anzusehen. »Es ist jetzt schwer, über die Ansichten der besseren Kreise Frankreichs Klarheit zu bekommen.«

»Bonaparte selbst hat das gesagt«, warf Fürst Andrej lächelnd ein. (Es war deutlich, daß ihm der Vicomte nicht gefiel und daß seine Bemerkung, obwohl er den Vicomte dabei nicht anblickte, gegen diesen gerichtet war.)

»Ich habe ihnen den Weg des Ruhmes gezeigt«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen, wieder Napoleons Worte zitierend, fort, »aber sie haben ihn nicht gehen wollen; ich habe ihnen meine Vorzimmer geöffnet, und sie sind in Scharen herbeigeeilt … Ich weiß nicht, bis zu welchem Grade er ein Recht hatte, so zu sprechen.«

»Gar kein Recht hatte er dazu«, entgegnete der Vicomte. »Nach der Ermordung des Herzogs haben selbst seine leidenschaftlichsten Anhänger aufgehört, einen Helden in ihm zu sehen. Und wenn er wirklich für manche Leute ein Held war«, fuhr der Vicomte, an Anna Pawlowna gewendet, fort, »so kann man doch sagen: nach der Ermordung des Herzogs gibt es im Himmel einen Märtyrer mehr und auf Erden einen Helden weniger.«

Anna Pawlowna und manche ihrer Gäste hatten noch nicht Zeit gefunden, ihre Bewunderung für diese Worte des Vicomtes durch ein Lächeln zu dokumentieren, da stürzte sich schon Pierre von neuem in das Gespräch, und obgleich Anna Pawlowna ahnte, daß er etwas Unpassendes vorbringen werde, war sie doch nicht mehr imstande, ihn zurückzuhalten.

»Die Hinrichtung des Herzogs von Enghien«, sagte Pierre, »war eine politische Notwendigkeit, und ich betrachte es geradezu als ein Zeichen von Seelengröße, daß Napoleon sich nicht gescheut hat, die Verantwortung für diese Tat ganz allein auf sich zu nehmen.«

»Mein Gott!« flüsterte Anna Pawlowna ganz entsetzt.

»Sie billigen einen Mord? … Wie, Monsieur Pierre, Sie sehen in einem Mord ein Zeichen von Seelengröße?« sagte die kleine Fürstin, indem sie ihre Handarbeit lächelnd näher an ihre Brust hielt.

»Ah! Ah!« riefen verschiedene Stimmen.

»Vorzüglich!« sagte Fürst Ippolit auf englisch und schlug sich ein paarmal mit der flachen Hand aufs Knie. Der Vicomte zuckte nur mit den Achseln.

Pierre blickte triumphierend über seine Brille hinweg die Zuhörer an.

»Ich spreche so«, fuhr er mutig fort, »weil die Bourbonen vor der Revolution davongelaufen sind und das Volk der Anarchie preisgegeben haben; Napoleon war der einzige, der es verstand, die Revolution richtig zu beurteilen und sie zu besiegen, und deshalb durfte er, wo es sich um das allgemeine Wohl handelte, nicht vor dem Leben eines einzelnen haltmachen.«

»Mögen Sie nicht an den Tisch dort drüben mit herüberkommen?« sagte Anna Pawlowna. Aber Pierre fuhr, ohne ihr zu antworten, in seiner Meinungsäußerung fort.

»Nein«, sagte er, immer lebhafter werdend, »Napoleon ist ein großer Geist, weil er sich über die Revolution gestellt und ihre Auswüchse vertilgt hat, während er alles Gute, das sie gebracht hatte, beibehielt: die Gleichheit aller Bürger und die Freiheit des Wortes und der Presse; nur durch dieses Verfahren hat er die Macht erlangt.«

»Ja, wenn er die Macht, nachdem er sie erlangt hatte, nicht zum Mord mißbraucht, sondern in die Hände des legitimen Königs gelegt hätte«, entgegnete der Vicomte, »dann würde ich ihn einen großen Mann nennen.«

»Das hätte er gar nicht tun können. Das Volk hatte ihm die Macht nur zu dem Zweck gegeben, damit er es von den Bourbonen befreien sollte und weil es in ihm einen großen Mann sah. Die Revolution ist eine große Tat gewesen«, fuhr Monsieur Pierre fort und bekundete durch die unnötige Hinzufügung dieser verwegenen, herausfordernden These seine Jugendlichkeit und seinen Eifer, alles möglichst schnell herauszusagen.

»Revolution und Königsmord eine große Tat! Wenn jemand so redet … Aber wollen Sie nicht an den Tisch dort drüben mit herüberkommen?« wiederholte Anna Pawlowna ihre Aufforderung.

»Rousseaus Gesellschaftsvertrag«, sagte der Vicomte mit sanftem Lächeln.

»Ich spreche nicht vom Königsmord; ich spreche von den Ideen.«

»Jawohl, von den Ideen des Raubs, des Mords und des Königsmords«, unterbrach ihn wieder eine ironische Stimme.

»Das waren tadelnswerte Ausschreitungen, versteht sich. Aber nicht darin liegt die eigentliche Bedeutung der Revolution; sondern ihre Bedeutung liegt in der Anerkennung der Menschenrechte, in der Ablegung von Vorurteilen, in der Gleichstellung aller Bürger. Und alle diese Ideen hat Napoleon in ihrer ganzen Kraft beibehalten.«

»Freiheit und Gleichheit«, entgegnete der Vicomte geringschätzig, als ob er sich endlich entschlossen hätte, diesem jungen Menschen ernsthaft die ganze Torheit seines Geredes zu beweisen. »Das sind hochtönende Worte, die schon längst in Verruf gekommen sind. Wer sollte nicht Freiheit und Gleichheit lieben? Schon unser Heiland hat Freiheit und Gleichheit gepredigt. Sind denn etwa die Menschen nach der Revolution glücklicher geworden? Im Gegenteil. Wir wollten die Freiheit; aber Bonaparte hat sie vernichtet.«

Fürst Andrej sah lächelnd bald Pierre, bald den Vicomte, bald die Hausherrin an. Bei Pierres exzentrischen Reden hatte Anna Pawlowna im ersten Augenblick trotz ihrer gesellschaftlichen Routine einen gewaltigen Schreck bekommen; aber als sie sah, daß trotz der von Pierre geäußerten gotteslästerlichen Reden der Vicomte nicht außer sich geriet, und als sie ferner sah, daß ein Vertuschen dieser Reden nicht mehr möglich war, da nahm sie ihren Mut zusammen, ergriff die Partei des Vicomtes und machte einen Angriff auf den dreisten Redner.

»Aber mein lieber Monsieur Pierre«, sagte Anna Pawlowna, »wie können Sie nur jemanden für einen großen Mann erklären, der den Herzog – oder sagen wir überhaupt schlechthin einen Menschen – ohne ordentliches Gericht schuldlos hat hinrichten lassen?«

»Ich möchte fragen«, sagte der Vicomte, »wie man den achtzehnten Brumaire auffassen soll. War das etwa kein Betrug? Das war eine Gaunerei, die mit der Handlungsweise eines großen Mannes ganz und gar nichts gemein hat.«

»Und die Gefangenen in Afrika, die er ermorden ließ?« fügte die kleine Fürstin hinzu. »Das ist doch entsetzlich!« Sie zuckte mit den Schultern.

»Er ist ein Emporkömmling; da kann man nun sagen, was man will«, bemerkte Fürst Ippolit.

Monsieur Pierre wußte nicht, wem er antworten sollte, sah ringsumher alle an und lächelte. Sein Lächeln war von anderer Art als bei anderen Menschen; es war nicht eine Verschmelzung von Ernst und Heiterkeit, sondern, sobald sich bei ihm ein Lächeln einstellte, verschwand sofort, im gleichen Augenblick, das ernste und sogar etwas mürrische Gesicht vollständig, und es erschien ein anderes, kindliches, gutmütiges, etwas einfältiges Gesicht, das gewissermaßen um Verzeihung bat.

Dem Vicomte, der ihn zum erstenmal sah, wurde klar, daß dieser Jakobiner durchaus nicht so fürchterlich war wie seine Reden. Alle schwiegen.

»Wie soll er es denn anfangen, allen auf einmal zu antworten?« sagte dann Fürst Andrej. »Übrigens muß man, wo es sich um Taten eines Staatsmannes handelt, unterscheiden, was er als Mensch und was er als Heerführer oder Kaiser getan hat. Das scheint mir notwendig.«

»Ja, ja, selbstverständlich!« rief Pierre schnell, erfreut über die Hilfe, die er plötzlich bekam.

»Es läßt sich nicht leugnen«, fuhr Fürst Andrej fort, »daß Napoleon als Mensch sich bei manchen Anlässen groß gezeigt hat: auf der Brücke von Arcole, in den Lazaretten von Jaffa, wo er den Pestkranken die Hand gab; aber freilich … andere seiner Taten sind schwer zu rechtfertigen.«

Fürst Andrej, der offenbar beabsichtigt hatte, den unangenehmen Eindruck von Pierres ungeschickten Reden zu mildern, stand auf, um wegzufahren, und gab seiner Frau ein Zeichen.

Plötzlich sprang Fürst Ippolit auf, hielt durch Fuchteln mit den Armen alle zurück und bat sie, sich noch einmal hinzusetzen; dann begann er: »Ach, heute habe ich eine reizende Geschichte aus Moskau erzählen hören; die muß ich Ihnen zum besten geben. Verzeihen Sie, Vicomte, daß ich sie auf russisch erzähle; sie würde sonst den richtigen Geschmack verlieren.« Und nun fing Fürst Ippolit an, russisch zu reden, mit einer Aussprache und Grammatik, die an einen Franzosen erinnerte, der sich etwa ein Jahr lang in Rußland aufgehalten hat. Alle waren dageblieben; so eifrig und dringend hatte Fürst Ippolit um Aufmerksamkeit für seine Geschichte gebeten.

»In Moskau ist eine Dame. Und sie ist sehr geizig. Sie mußte zwei Lakaien für ihre Kutsche haben. Und sehr groß gewachsene. Das war ihr Geschmack. Und sie hatte ein Dienstmädchen, das noch größer war. Da sagte sie …«

Hier dachte Fürst Ippolit nach; augenscheinlich überlegte er angestrengt, wie die Geschichte weiterging.

»Sie sagte … ja, sie sagte: ›Mädchen, zieh die Livree an und fahr mit mir aus, hinten auf dem Wagen, Besuche machen.‹«

Hier prustete Fürst Ippolit los und lachte viel früher als seine Zuhörer, was einen unvorteilhaften Eindruck machte. Viele lächelten jedoch, darunter die ältliche Dame und Anna Pawlowna.

»Die Dame fuhr. Auf einmal kam ein starker Wind. Das Mädchen verlor den Hut, und die langen Haare wurden los …«

Hier konnte er nicht mehr an sich halten, begann stoßweise zu lachen und sagte zwischen diesen Lachanfällen nur noch: »Und alle Leute merkten …«

Damit war die Geschichte zu Ende. Obgleich nicht zu verstehen war, wozu er sie eigentlich erzählt hatte und weshalb es unbedingt notwendig gewesen war, sie russisch zu erzählen, so waren doch Anna Pawlowna und andere dem Fürsten Ippolit dankbar für die weltmännische Liebenswürdigkeit, mit der er die unerfreulichen, schroffen Meinungsäußerungen dieses Monsieur Pierre in so hübscher Weise abgeschnitten hatte. Nach dem Vortrag dieser Anekdote zersplitterte sich die Unterhaltung in kleine, unbedeutende Plaudereien über den letzten Ball und über den demnächst bevorstehenden und über das Theater und darüber, wann und wo man sich wieder treffen werde.

6

Die Gäste bedankten sich bei Anna Pawlowna für den »entzückenden Abend« und begannen sich zu entfernen.

Pierre zeigte sich recht unbeholfen. Von ungewöhnlicher Körpergröße, dick und breit gebaut, mit mächtig großen, roten Händen, verstand er sozusagen nicht, einen Salon zu betreten, und noch weniger verstand er, einen Salon zu verlassen, das heißt, vor dem Hinausgehen etwas besonders Liebenswürdiges zu sagen. Außerdem war er augenblicklich auch noch zerstreut. Beim Aufstehen ergriff er statt seines Hutes einen Dreispitz mit Generalsfederbusch und hielt ihn, an den Federn zupfend, so lange in der Hand, bis der General ihn sich zurückerbat. Aber seine Zerstreutheit und seine Unkenntnis der Art, wie man einen Salon zu betreten, darin zu reden und schließlich wegzugehen hat, dies alles wurde durch den gutmütigen, einfachen, bescheidenen Ausdruck seines Gesichts wieder wettgemacht, so daß man ihm nicht böse sein konnte. Anna Pawlowna wandte sich zu ihm, nickte ihm mit christlicher Sanftmut zum Zeichen der Verzeihung für seine Hitzköpfigkeit zu und sagte: »Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen; aber ich hoffe auch, daß Sie Ihre Ansichten ändern werden, mein lieber Monsieur Pierre.«

Als sie dies zu ihm gesagt hatte, antwortete er mit keiner Silbe; er verbeugte sich nur und ließ alle Anwesenden noch einmal sein Lächeln sehen, das nichts weiter besagte als etwa nur dies: »Meinungen sind eben Meinungen; aber seht nur, was für ein gutmütiger, prächtiger Bursche ich bin.« Und Anna Pawlowna sowie alle ihre Gäste empfanden das unwillkürlich.

Fürst Andrej trat in das Vorzimmer hinaus, und während er seine Schultern dem Diener hinhielt, der ihm den Mantel umlegte, hörte er gleichgültig dem Geplauder seiner Frau mit dem Fürsten Ippolit zu, der ebenfalls in das Vorzimmer gekommen war. Fürst Ippolit stand bei der hübschen, schwangeren Fürstin und blickte sie starr und unverwandt durch seine Lorgnette an.

»Gehen Sie wieder hinein, Annette, Sie werden sich noch erkälten«, sagte die kleine Fürstin, sich von Anna Pawlowna verabschiedend. »Also abgemacht!« fügte sie leise hinzu.

Anna Pawlowna hatte bereits Zeit gefunden, mit Lisa über die Heirat zu sprechen, die sie zwischen Anatol und der Schwägerin der kleinen Fürstin zustande bringen wollte.

»Ich rechne auf Sie, liebe Freundin«, sagte Anna Pawlowna gleichfalls leise. »Schreiben Sie also an sie, und teilen Sie mir dann mit, wie der Vater über die Sache denkt. Auf Wiedersehen!« Damit ging sie aus dem Vorzimmer hinaus.

Fürst Ippolit trat zu der kleinen Fürstin, beugte sein Gesicht nahe zu ihr herab und begann ihr etwas beinahe im Flüsterton zu sagen.

Zwei Diener, von denen der eine der Fürstin, der andre ihm gehörte, standen mit dem Schal der Fürstin und der Redingote Ippolits hinter ihnen, warteten, bis sie aufhören würden zu reden, und lauschten dem ihnen unverständlichen französischen Gespräch mit einer Miene, als ob sie alles, was da geredet wurde, verstünden und dies nur nicht zeigen wollten. Die Fürstin sprach, wie immer, lächelnd und hörte lachend zu.

»Ich bin sehr froh, daß ich nicht zu dem Gesandten gefahren bin«, sagte Fürst Ippolit. »Furchtbar langweilig da … War ein sehr netter Abend hier, nicht wahr, ein sehr netter Abend?«

»Es heißt, der Ball werde heute dort ganz prächtig sein«, antwortete die Fürstin und zog die kleine Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen in die Höhe. »Alle schönen Frauen aus der guten Gesellschaft werden dasein.«

»Nicht alle, da Sie nicht dasein werden; nicht alle!« sagte Fürst Ippolit vergnügt lachend. Dann nahm er dem Diener das Schaltuch ab, stieß ihn energisch beiseite und legte der Fürstin das Tuch um. Aus Unbeholfenheit oder absichtlich (das hätte niemand entscheiden können) ließ er längere Zeit die Arme nicht wieder sinken, als der Schal bereits umgelegt war, und umarmte auf diese Art die junge Frau gewissermaßen.

Mit einer anmutigen Bewegung machte sie sich frei, behielt aber ihre lächelnde Miene bei; dann drehte sie sich um und blickte nach ihrem Mann. Fürst Andrej hielt die Augen geschlossen; er schien müde und schläfrig zu sein.

»Sind Sie fertig?« fragte er seine Frau, an ihr vorbeisehend. Fürst Ippolit zog eilig seine Redingote an, die ihm nach der neuesten Mode bis an die Hacken reichte, und sich mit den Füßen darin verwickelnd, lief er die Stufen vor der Haustür hinab der Fürstin nach, der ihr Diener beim Einsteigen in den Wagen behilflich war.

»Auf Wiedersehen, Fürstin!« rief er und verhaspelte sich dabei mit der Zunge ebenso wie mit den Beinen.

Die Fürstin raffte ihr Kleid zusammen und setzte sich in dem dunklen Wagen zurecht; ihr Mann brachte seinen Säbel in Ordnung, um auch einzusteigen; Fürst Ippolit gab sich den Anschein, als wolle er behilflich sein, war aber nur hinderlich.

»Erlauben Sie, mein Herr«, sagte Fürst Andrej auf russisch trocken und unfreundlich zu Fürst Ippolit, der ihn behinderte, vorbeizukommen.

»Ich erwarte dich, Pierre!« rief dann dieselbe Stimme des Fürsten Andrej in freundlichem, herzlichem Ton aus dem Wagen heraus.

Der Vorreiter setzte sich in Bewegung, und der Wagen donnerte davon. Fürst Ippolit brach in sein stoßweises Lachen aus, während er auf den Stufen vor der Haustür stand und auf den Vicomte wartete, dem er versprochen hatte, ihn nach Hause zu bringen.

»Nun, mein Teuerster«, sagte der Vicomte, nachdem er sich mit Ippolit in den Wagen gesetzt hatte, »Ihre kleine Fürstin ist ja allerliebst! Ganz allerliebst!« Er küßte seine Fingerspitzen. »Und vollständig, vollständig wie eine Französin!«

Ippolit prustete und lachte laut los.

»Und wissen Sie, Sie sind ja ein ganz gefährlicher Mensch mit Ihrer Unschuldsmiene«, fuhr der Vicomte fort. »Ich bedaure den armen Ehemann, diesen kleinen Wicht von Offizier, der sich den Anschein gibt, als wäre er ein regierender Herr.«

Ippolit prustete immer noch und sagte mühsam während des Lachens: »Und da haben Sie gesagt, die russischen Damen seien im Vergleich mit den Französinnen rückständig. Aber man muß die Sache nur richtig anzupacken wissen.«

Pierre, der den Wagen des Fürsten Andrej überholt hatte, ging als Freund des Hauses in das Arbeitszimmer des Fürsten, legte sich dort sofort seiner Gewohnheit nach auf das Sofa, nahm aus einem Regal das erste beste Buch, das ihm in die Hände kam (es waren die Kommentare Cäsars), stützte sich auf den Ellbogen und begann irgendwo in der Mitte zu lesen.

»Wie hast du nur der armen Anna Pawlowna mitgespielt? Sie wird jetzt gewiß ganz krank davon sein!« sagte Fürst Andrej, ins Zimmer tretend, und rieb sich die kleinen, weißen Hände.

Pierre wälzte sich mit dem ganzen Körper herum, so daß das Sofa knarrte, wandte sein lebhaft erregtes Gesicht dem Fürsten Andrej zu, lächelte und machte eine Handbewegung, die ungefähr besagte: »Ach Gott, Anna Pawlowna!«

»Nein«, sagte er, »dieser Abbé ist wirklich ein sehr interessanter Mann; nur hat er eine falsche Auffassung von der Sache, mit der er sich beschäftigt … Möglich ist meiner Ansicht nach der ewige Friede; aber ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll … jedoch gewiß nicht durch das politische Gleichgewicht.«

Fürst Andrej schien sich für derartige abstrakte Gespräche nicht zu interessieren.

»Man darf nicht an jedem Ort alles sagen, was man denkt, mein Lieber. Nun, wie ist’s?« fragte er nach einem kurzen Stillschweigen. »Hast du dich endlich für einen Beruf entschieden? Willst du zur Gardekavallerie gehen oder Diplomat werden?«

Pierre setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin, indem er die Beine unter den Körper schob.

»Können Sie sich das vorstellen? Ich weiß es immer noch nicht. Von diesen beiden Berufen gefällt mir der eine so wenig wie der andre.«

»Aber du mußt dich doch für irgend etwas entscheiden. Dein Vater wartet darauf.«