Kriegsfolgen - Olga Baysha - E-Book

Kriegsfolgen E-Book

Olga Baysha

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Beschreibung

Die blau-gelbe Fahne steht für Freiheit, das ominöse russische Zeichen "Z" für Unterdrückung. So einfach ist der Krieg um die Ukraine nicht erklärbar, obwohl sich unter europäischen Staatskanzleien und Leitmedien nur diese eine Erzählung festgesetzt hat. Der Band "Kriegsfolgen" will jenseits von Propaganda die Motive und die Folgen dieser seit Generationen gefährlichsten Weltkrise durchleuchten. In mehreren Kapiteln werden die Vorgeschichte des Konflikts, der Kriegsgang selbst, die Beteiligung des westlichen Bündnisses über Waffenlieferungen für die Ukraine und Sanktionen gegen Russland, das Erstarken der politischen Rechten in Kiew und Moskau sowie die Rolle der Medien im transatlantischen Raum durchleuchtet. Dem Vormarsch der NATO und dem wirtschaftlichen Ausgriff der EU in Richtung Osten steht das Konzept "russki mir" gegenüber, das die Zusammenführung der "russischen Welt" betreibt. Die Ukraine ist zwischen Ost und West – nicht zum ersten Mal in der Geschichte – zum Spielball im geopolitischen Ringen geworden. Die von Brüssel ausgerufene Parteinahme für Kiew hat in Windeseile zu einer russophoben Stimmung im Westen geführt, die selbst vor verstorbenen russischen Künstlern – und erst recht vor lebenden – nicht Halt macht. Das Canceln russischer Kultur stellt der sogenannten "Werte­gemeinschaft" ein katastrophales Zeugnis aus und erinnert in Vielem an ein längst überwunden geglaubtes Feindbild Russland. Dem entgegenzutreten und die Hintergründe des Krieges vorurteilsfrei zu bewerten, haben sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes zur Aufgabe gemacht.

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Seitenzahl: 363

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Hannes Hofbauer/Stefan Kraft (Hg.)Kriegsfolgen

  

Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert

© 2023 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-904-6(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-511-6)

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Vorwort

Vom Konflikt zum Kriegsgang

Andrea Komlosy: Historische Momente der ukrainischen Staatsbildung (1917−1991)
Der Raum der Ukraine
Rada versus Sowjets: Der Kampf um die Staatsgründung
Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR)
Ein Staat im Windschatten des deutschen Russlandkrieges?
Konjunkturen ukrainischen Nationalbewusstseins
Thomas Fazi: Vom Krieg gegen Corona zum Krieg gegen Russland
Die neue Normalität der anhaltenden Krise
Verlorene Hegemonie
»Gesundheitsnotstand« und autoritäre Wende
»Handlanger des Kreml«
Soziale Medien zur Informationskriegsführung
Peter Wahl: Der Krieg, der vor dem Krieg begann
Relativierung der Kriegsschuld?
Der kurze Sommer der Pax Americana
Die Entwestlichung der Welt
Hilfsdienste der EU
Fazit
Hannes Hofbauer: Von Vilnius 2013 nach Minsk 2015: Wie sich Europa auf die Konfrontation mit Russland vorbereitete
Der Kampf um die Westorientierung der Ukraine
Das Assoziierungsabkommen 2013
Minsk II von 2015
Ralph Bosshard: Verlauf des Kriegs in der Ukraine – ein erstes Fazit
Minsker Abkommen
Kriegsausbruch
Erste Phase: Februar und März 2022
Luftkrieg
Ukrainische Raketenschläge
Einnahme von Mariupol
Stillstand Juni und Juli 2022
Herbstoffensive der Ukrainischen Armee (UAF)
Mobilmachung in Russland und Referenden im Osten der Ukraine
Russische Winteroffensive im Donbass
Vorläufiges Fazit der russischen Militär-Sonderoperation in der Ukraine
Jochen Scholz: Wer über die Weltinsel herrscht. Konsequenzen für Europa
Ein »neues amerikanisches Jahrhundert«
In fünf Minuten nach Moskau
Bevorstehender Angriff im Südosten
»Größte Sicherheitsbedrohung für diese Nation«
Amerika besiegt Deutschland
Zeitenwende? Ja, allerdings ganz anders, als von Berlin verkündet

Das Kriegsgeheul und der Vormarsch der politischen Rechten

Stefan Kraft: Luxemburg, Lenin und Putins »Russki Mir«
Produkt der Sowjetära
Dinge verändern sich
Lenin und die abgetretenen Fischgründe
Großrussischer und konservativer Antiimperialismus
Olga Baysha: Selenskyjs autoritärer Populismus: Vom Frieden zum Krieg
Der Aufstieg des Komödianten
Selenskyjs Kreuzzug gegen die oppositionellen Medien
Zum Schweigen gebracht
Selenskyjs populistischer Diskurs
Populismus und Frieden
Boris Kagarlitsky: Die Sackgasse des Krieges und die Bedrohung des Friedens
Die Entstehung eines unreformierbaren Systems
Opposition als Säule der Macht
Der »kleine, siegreiche Krieg«
Propagandahysterie
Stockende Mobilisierung
Kein Friede in Sicht
Putins Abgang?
Andrej Hunko: Kiews »Schwarze Listen«
Im Fegefeuer
»Völlig inakzeptabel« – und folgenlos
Immer mehr Listen
Erhard Crome: Deutsche Kriegspfade
Hintergründiges
Mediendarstellung in der Kritik
Gewendete Zeiten
Panzer gen Osten
Gleichschaltung
Eugen Drewermann: Ohne NATO leben – Ideen zum Frieden?
Wer bedroht denn da wen, ganz simpel?
… und was ist mit der Ukraine?
Die große Chance der Nicht-Gewalttätigkeit

Wirtschaftskrieg und Entwestlichung

Florian Warweg: Nord Stream als Kriegsgrund
»Gezielter Anschlag eines staatlichen Akteurs«
Eines der teuersten Energie-Infrastrukturprojekte aller Zeiten
Die Bedeutung der Ostseepipeline für Deutschland
Die Bedeutung von Nord Stream für Russland
Nord Stream steht vitalen US-Interessen im Wege
Polen als ewiger Gegner der Pipeline
Fazit
Werner Rügemer: Ukraine: Extremes Muster neoliberaler Neuordnung
Schlüsselstaat für die Eroberung Russlands
Europas Schmuggelzentrale für Zigaretten
Agrobusiness: US-Konzerne und einheimische Oligarchen
Zuliefer-Standort mit extremer Niedriglöhnerei
Millionenfache Arbeitsmigration
Hotspot der kommerziellen Leihmutterschaft
Finanziers und Förderer: USA, IWF, EU, US-Investoren
Briefkastenfirmen und schrumpfende Bevölkerung
Größte Armee in Europa
Ausverkauf für den »Wiederaufbau«
Hannes Hofbauer: Vom US-/EU-Sanktionsregime gegen Russland zur Entwestlichung Eurasiens
Sanktionsregime als Konstante westlicher Politik299
Der große Wirtschaftskrieg
Kultur, Sport, Kirche: ausgelöscht
Das westliche Sanktionsregime ist völkerrechtswidrig
Russlands Gegenmaßnahmen lähmen die Wirkung der Sanktionen
Kriegsfolge Entwestlichung. Ein Blick über den transatlantischen Tellerrand
Das Glasjew-Manifest
Die chinesisch-russisch-indische Achse

Die Medien als treibende Kraft

Sabine Schiffer: Das Narrativ von den Guten und den Bösen
Propaganda machen nur die anderen
Die Ukraine als doppeltes Opfer
Strategische Kommunikation für die neue Weltkriegsordnung
Schlechte Aussichten: das Doppelmaß ersetzt die Standards
Sabine Kebir
Sabine Kebir: Wording und Framing in Kriegszeiten
Tipps für Energieknappheit
Sündenfall der Grünen
Geframt: Putin-Versteherin Angela Merkel
News außer Kontrolle
Holocaust-Relativierung und ungleiche Maßstäbe
Sind in imperialistischer Nacht alle Katzen grau?
Zitate zum Krieg
AutorInnenbiographien

Vorwort

Als am 2. Mai 2014 Kampfhubschrauber der ukrainischen Armee mit ihren Luftangriffen auf Slowjansk, einer 100.000-Einwohnerstadt im Bezirk Donezk, begannen, war in keinem deutschsprachigen Medium von Krieg die Rede. Am selben 2. Mai trieben ukrainische Faschisten Menschen, die gegen den – verfassungswidrigen – Regimewechsel in Kiew protestierten, ins Gewerkschaftshaus von Odessa, zündeten es an und erschlugen jene, die sich aus dem brennenden Gebäude retten wollten. Fünf Tage später, am 9. Mai, dem Tag des Sieges über Hitlerdeutschland, rollten ukrainische Panzer durch Mariupol und sprengten eine antifaschistische Gedenkveranstaltung. Der 2. Mai 2014 fand im kollektiven Gedächtnis westlicher Wahrnehmung keinen Platz.

Als am 24. Februar 2022 die russische Armee in die Ukraine einfiel, begann für jene, die zuvor keinen militärischen Konflikt ausmachen konnten oder wollten, der Krieg. Manche verstiegen sich zur Behauptung, es wäre die erste Militärintervention in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen. In ihrer Geschichtsvergessenheit blendeten sie den Angriff der NATO auf Jugoslawien im Jahr 1999 aus.

Der russische Einmarsch in die Ukraine internationalisierte einen zuvor bereits acht Jahre andauernden Krieg, in dem Woche für Woche Soldaten auf dem Schlachtfeld und Zivilisten in Häusern, Parks und Geschäften starben. Seine Völkerrechtswidrigkeit steht für uns Herausgeber dieses Buches außer Frage. Der Einmarsch erwies sich zudem als Bärendienst an jedem Friedensbewegten, der in den Jahrzehnten zuvor gegen die USA und ihre jeweiligen Verbündeten als Kriegstreiber auf fast allen Kontinenten auf die Straße ging. Nun trat auch Russland in die Reihe dieser Schuldbeladenen ein. Das vom Kreml vorgebrachte Argument der Alternativlosigkeit hält nicht stand, wenn es um Menschenleben geht – und es sollten in der Folge Zigtausende, wenn nicht Hunderttausende werden, die vor allem im Osten der Ukraine zu Tode kamen. Weder der Bruch der Vereinbarung von Minsk II durch die Ukraine noch die offensichtlichen Vorbereitungen des Kiewer Regimes auf einen neuen Waffengang Anfang 2022 rechtfertigen die Toten.

Auch das Argument des Kreml, die Ukraine müsse ent-nazifiziert werden, macht den militärischen Vormarsch Russlands nicht völkerrechtskonform, zumal am Boden zwar rechtsradikale Truppen aufgerieben wurden, die Gesellschaft als Ganzes jedoch politisch nach rechts rückte – sowohl in der Ukraine und Russland als auch in westlichen Ländern wie Deutschland und Österreich. Allseitiges Kriegsgeheul ist unüberhörbar geworden.

Uns kritischen Geistern im Westen des europäischen Kontinents hat die Kriegsbegeisterung erschüttert; vor allem auch die Windeseile, in der sie um sich griff. Aufrüstung, Militärbudgets, Waffen-starrende Sprache … das alles kannten viele von uns nur aus den Geschichtsbüchern. Nun ereilte die große Mehrheit in den Parlamenten der EU-Länder, ganz zu schweigen von der Brüsseler Bürokratie, der Kriegsrausch. »Frieren für die Freiheit« lautet die Losung für uns im Westen, »sterben für die Freiheit« sollen dafür die Ukrainer. Politisch angetrieben wird diese Perspektive neben den sogenannten »Altparteien« vor allem von den deutschen Grünen, die das neu-rechte, menschenverachtende Gesicht abgeben. Und medial macht der transatlantische Mainstream Druck auf jeden Zauderer, der sich noch vereinzelt in der Sozialdemokratie finden lässt.

»Jeder Schuss – ein Russ«, lautete die Botschaft auf Bildpostkarten im Ersten Weltkrieg; und Intellektuelle wie Thomas Mann oder Robert Musil steuerten fein formulierte Kriegsbegeisterung bei. »Russland ruinieren« lautet über 100 Jahre später die Losung der deutschen Außenministerin; und wieder gibt es Intellektuelle wie den Philosophen Peter Sloterdijk, der Argumente für einen Krieg gegen Russland vorbringt, in dem er Putin einen Faschisten und Selenski einen freiheitskämpfenden »Garibaldi« nennt.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert war es die »Rasse«, mit der sich der rechte Deutsche – und zu ihm zählten sich nicht nur Monarchisten und Nazis – über andere Völkerschaften erhoben sah, insbesondere gegenüber Slawen, ganz besonders gegen die russische Spezies. Heute sind es die »Werte«, die den rechten Deutschen – insbesondere die Linksliberalen und Grünen – über andere Gesellschaften stehen lassen. Was genau aktuell unter diesen »Werten« zu verstehen ist, kann ebenso wenig erklärt werden, wie vor 100 Jahren die »Rasse« definiert werden konnte. Gerade in dieser Unklarheit besteht deren Nützlichkeit, um dafür Krieg führen zu können.

Als Verleger des Promedia Verlags haben wir die Fassungslosigkeit über den kriegslüsternen Zustand unserer Medienverantwortlichen und Politiker nach einem Schockmoment jedenfalls genutzt, um in die Tastatur zu greifen und eine kritische Autorenschaft zu versammeln.

Allen Beitragenden ist gemein, dass sie weder die offizielle westliche noch die russische Propaganda mittragen wollen, mit der Angriffe und Gegenangriffe legitimiert werden.

So untersuchen mehrere AutorInnen die Vorgeschichte des aktuellen Waffengangs, in dem sie etwa die Entstehung des ukrainischen Staats, die NATO-Osterweiterung, die Sanktionspolitik, den Kampf um den Donbass und das Ende des »amerikanischen Jahrhunderts« beschreiben. Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Rechtsruck in Russland, der Ukraine und den westlichen Staaten: Unter Putin erstarkt der großrussische Chauvinismus, unter Selenskyj die (neo)faschistischen Kräfte und eine deutsche Regierung schickt wieder Panzer gen Osten. Der Wirtschaftskrieg, die Sanktionen und Embargos gegen Russland und deren Auswirkungen werden ebenso thematisiert wie abschließend die Rolle der (deutschsprachigen) Medien, die sich – wie so oft in Kriegszeiten – als treibende Kraft erweisen.

In allen am Konflikt beteiligten Ländern hat die Friedensbewegung heutzutage einen schweren Stand. Doch nicht nur die Gefahr eines Atomkriegs, auch der permanente Krisenmodus in den neoliberalen Gesellschaften bringt immer mehr Menschen dazu, die angebliche Unvermeidlichkeit der Kriegspolitik zu hinterfragen. Unser Buch soll ihnen dazu Argumente liefern.

Wien, Anfang März 2023Hannes Hofbauer & Stefan Kraft

Vom Konflikt zum Kriegsgang

Andrea Komlosy

Historische Momente der ukrainischen Staatsbildung (1917−1991)

Als Tod, Nahrungsmittelknappheit und Hunger, Epidemien und Aufstände im Jahr 1917 die alten Mächte immer mehr unter Druck setzten, begannen sich die Verhältnisse zu ordnen – und zwar in sozialer, politischer und territorialer Hinsicht. Neben den Forderungen nach Brot und Frieden, die massenhaft und eruptiv zum Ausdruck kamen, wurden in den Imperien der Romanows, Habsburger und Hohenzollern konkrete Utopien greifbar: der Umsturz der alten Ordnung, die soziale Revolution, die nationale Befreiung und damit einher gehende Vorstellungen neuer politischer Verfasstheit. Gleichzeitig mobilisierten die kriegführenden Parteien alle Kräfte, um ihre Ziele zu erreichen und die aufbrechenden Bewegungen für ihre Interessen einzuspannen. Daraus ergaben sich seltsame Allianzen und unübliche »Bettgenossen«.

Das Generalität des Deutschen Reichs vereinbarte mit den russischen Revolutionären im Schweizer Exil, ihren Anführer Lenin im plombierten Zug nach Petrograd zu bringen, damit eine von diesen betriebene Revolution den Zusammenbruch des zaristischen Feindes bewirke. Die Verschwörung ging auf, und Deutschland und die bolschewistische Regierung vereinbarten am 15. Dezember 1917 einen Waffenstillstand. Am 3. März 1918 wurde in Brest-Litowsk der Friede zwischen den Mittelmächten und Russland geschlossen.

Deutsche und österreichisch-ungarische Truppen standen zu diesem Zeitpunkt in den baltischen und ukrainischen Gebieten Russlands. Diese Länder setzten auf ukrainische Getreidelieferungen als letzte Chance, angesichts der akuten Versorgungskrise die Menschen daheim ernähren und den Krieg gegen die Alliierten im Westen fortsetzen zu können. In Brest-Litowsk erhielten ihre Delegierten die Möglichkeit, direkte Verhandlungen mit der Delegation der Kiewer Zentralrada zu führen, die die Vertretung der ukrainischen Bevölkerung für sich reklamierte. Der russische Verhandlungsleiter Leo Trotzki gestand der aus Kiew angereisten ukrainischen Delegation selbstständigen Verhandlungsstatus zu.1

Tatsächlich erweisen sich die Jahre 1917 bis 1920 als Moment der Entstehung eines ukrainischen Staates, genauer: gleich mehrerer ukrainischer Staaten. Auf ehemals zaristischem Gebiet erstand die Ukrainische Volksrepublik mit Zentralrada in Kiew. Im mehrheitlich von Ukrainern – die in der Habsburgermonarchie als Ruthenen geführt wurden – bewohnten Ostgalizien entstand die Westukrainische Volksrepublik mit Sitz in Lwiw/Lwow/Lemberg. Unter dem Druck der polnischen Ansprüche auf ihr angestrebtes Staatsgebiet kam es trotz unterschiedlicher staatspolitischer Konzeptionen zur Vereinigung der Westukrainischen mit der Kiewer Volksrepublik. Obwohl die ukrainischen Volksrepubliken in den Folgejahren dem militärischen Druck Polens, der Roten und Weißen Armeen im Bürgerkrieg nicht standhielten, wird der 22. Jänner 1919 heute als Tag der Einheit gefeiert.

Unbestritten ist, dass bereits 1917 unter dem Eindruck der zerfallenden Reiche eine – von ihren Proponenten so bezeichnete – ukrainische Staatlichkeit Gestalt anzunehmen begann. Das geschah allerdings in einander überlagernden und bekämpfenden Formen, von bürgerlich-national, bäuerlich-sozialrevolutionär, in allen möglichen Schattierungen von sozialistisch, kommunistisch und anarchistisch geprägten Projekten ukrainischer Eigenstaatlichkeit auf der einen Seite, oder als (autonomer) Teil des aus der bürgerlichen Februarrevolution oder der bolschewistischen Oktoberrevolution hervorgegangenen zaristischen Nachfolgestaates auf der anderen Seite. Dieser Möglichkeitsmoment, in dem sich neue politische Projekte herauskristallisierten, war überschattet von Kämpfen, Erschöpfung, Desertion, Hunger und gewaltsamer Nahrungsmittelrequirierung. Er wurde weniger von Berufsrevolutionären, Nationalisten und Parteistrategen als von verzweifelten Massen geprägt, die ihren eigenen Widerstand lebten, dabei jedoch von den Kriegsparteien und den Truppen der sich formierenden neuen Armeen bzw. Verwaltungen in den Dienst genommen bzw. funktionalisiert wurden. Dass dies nur begrenzt funktionierte, zeigt die große Zahl von kleinen »Republiken«, die sich jeder Administration entzogen und in einer Mischung aus bäuerlichem Gemeindegeist, Bandenkommando und anarchistischer Freiheitsliebe selbstverwaltet wurden.

Dieser Beitrag will der Offenheit der Situation gerecht werden, von der sämtliche Bemühungen um politische, soziale und nationale Neuordnung geprägt waren. Dabei kann es nicht darum gehen, legitime von illegitimen Projekten zu unterscheiden. Das Handeln war sowohl von der Notwendigkeit geprägt, so rasch wie möglich das durch den Krieg in Frage gestellte Überleben der Menschen vor Ort zu sichern, als auch von dem Bestreben beflügelt, den allgemeinen Zusammenbruch zur Durchsetzung neuer politischer Projekte zu nutzen.

Der Raum der Ukraine

Eine politische Einheit namens Ukraine gab es bis 1917 nicht. Die heterogenen Gebiete mit mehr oder weniger starker ukrainischer Bevölkerung als solche zu bezeichnen, ergibt retrospektiv nur dann Sinn, wenn man sie einer Finalität eines ukrainischen Nationalstaates unterordnen will.

Die Nachbarschaft zu den Mongolen verlieh dem Gebiet im Osten der Kiewer Rus, der ersten ostslawisch-orthodoxen Reichsgründung (9.–13. Jahrhundert) mit Sitz in Kiew, damals die Bezeichnung ukraina (»Grenzland«). Mit der Zurückdrängung der Goldenen Horde und der Verlagerung des Reichszentrums nach Moskau entfiel die Aufgabe der Grenzsicherung. Das Gebiet blieb jedoch Grenzland zwischen dem polnischen Einfluss im Westen und dem russländischen Einfluss im Osten und als solches im Laufe der Geschichte zwischen den beiden Großmächten umkämpft und geteilt. Aber es war auch ein besonderer Zwischenraum mit Brückenfunktionen zwischen West und Ost. Das heutige Russland und die Ukraine teilen sich die Nachfolge der Kiewer Rus, auch wenn im Jahr 2022 die Staats- und Kirchenführung Russlands die Vorherrschaft beansprucht und jene der Ukraine alles nur Erdenkliche unternimmt, die daraus erwachsene kulturelle Verbundenheit zu zerstören.

Die Teilgebiete der späteren Ukraine weisen unterschiedliche Geschichte, ethno-kulturelle Bevölkerungszusammensetzung und staatliche Zugehörigkeit auf, insbesondere zum Königreich Polen-Litauen (bis zu den polnischen Teilungen ab 1772), zu Russland und zu Österreich-Ungarn.

Uns interessieren hier insbesondere die Umstände, wie sich in diesen Gebieten nach dem Zusammenbruch der Reiche der Wunsch nach politischer Neuordnung entwickelt hat und wie dieser mit der Etablierung ukrainischer Staatlichkeit verbunden war. Nach der Vorstellung der Staatsbildungsprojekte 1917−1920 folgt ein Ausblick auf die Nationalbewegungen in der Zwischenkriegszeit und ihre Bemühungen, den Russlandfeldzug der Wehrmacht 1941 erneut als Chance für die Erringung ukrainischer Eigenstaatlichkeit zu nutzen. Der Beitrag schließt mit der Auflösung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik im Jahr 1991.

Die Frage der ukrainischen Nationsbildung kann hier nur kurz angeschnitten werden. Da es keinen historischen Vorläuferstaat gab, kristallisierte sich die Vorstellung einer eigenen ukrainischen Nationalität erst im Zusammenhang mit dem »nationalen Erwachen« anderer Völker im 19. Jahrhundert heraus, insbesondere dem polnischen Nationalismus, von dem sich das Ukrainische abhob. Durch die Annexion des polnischen Teilungsgebiets am Ende des 18. Jahrhunderts herrschten die Habsburger im Kronland Galizien über eine multiethnische und multikonfessionelle Bevölkerung von katholischen Polen (im Westen), die den Adel und die Oberschicht stellten, griechisch-katholischen Ukrainern (in Ostgalizien) aus vorwiegend klein- und unterbäuerlicher Herkunft sowie jüdischen Stadtbewohnern. Im russischen Vielvölkerstaat stand der russische Nationalismus gegenüber der allrussischen Idee einer gemeinsamen ostslawischen Völkerfamilie zurück.

In Österreich-Ungarn wurde die Entwicklung der regionalen Variante des ostslawischen Sprachkontinuums zum Ukrainischen unter der Bezeichnung »Ruthenisch« nicht zuletzt deshalb unterstützt, weil es ein Gegengewicht zum dominanten Polentum im Kronland Galizien darstellte. Auch in Russland förderte man die ukrainische Sprache in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Gelehrten- und Literatengesellschaften, während der polnische Aufstand von 1863 den allrussischen Anspruch stärkte, Ukrainer ebenso wie Weißrussen als kleinrussische Spielart des Russischen zu sehen. Die Verwendung des Ukrainischen als Schriftsprache wurde seither im öffentlichen Leben stark zugunsten des Russischen eingeschränkt.2

Abgesehen von der Sprache zeichnet sich ukrainische Identität durch die Zugehörigkeit zu der mit Rom unierten Kirche aus, die auf die Union von Brest im Jahr 1596 zurückgeht und die Orthodoxen im Königreich Polen-Litauen dem Papst in Rom unterstellte. Im polnischen Teilungsgebiet Galizien blieben die Ruthenen unter Habsburg uniert, während in dem Teil Polens, der von Russland okkupiert wurde, die unierte zugunsten der russisch-orthodoxen Kirche zurückgedrängt wurde.

Trotz des unterschiedlichen Umgangs in der Sprachförderung in den beiden Reichen bildete sich im 19. Jahrhundert, vorangetrieben durch LiteratInnen, LehrerInnen und Geistlichkeit, dies- und jenseits der habsburgisch-zaristischen Grenze eine ukrainische Schriftsprache heraus. Die Masse der ländlichen Bevölkerung kann hier wie dort in nationaler Hinsicht als indifferent bezeichnet werden, wozu auch die Vielfalt der ostslawischen Sprachvarianten beitrug. Das Zarenreich bot Forderungen nach kollektiven Rechten für Ukrainischsprachige geschweige denn nach Autonomie keinen Raum, wenngleich diese unter Intellektuellen weit verbreitet waren. Angesichts der Dominanz des Polentums, dem 1868 von Wien die politische und kulturelle Vorherrschaft im Kronland Galizien zugebilligt wurde, kamen im ruthenisch geprägten Osten unter Intellektuellen und Politikern Vorstellungen einer ostgalizischen Autonomie auf. Sie wurden sogar im österreichischen Reichsrat und im galizischen Landtag präsentiert, allerdings ohne Erfolg.3 Unter dem Druck des Zusammenbruchs im Ersten Weltkrieg versprachen die Teilnehmer bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk den habsburgischen Ukrainern zwar die Teilung Galiziens und die Schaffung eines eigenen ukrainischen Kronlandes, der diesbezügliche Geheimvertrag wurde allerdings bald wieder aufgekündigt.4

Der Erste Weltkrieg überzog Galizien und die angrenzenden westlichen Gebiete im Zarenreich durch zahlreiche militärische Offensiven mit hohem Blutzoll, wechselnden Frontverläufen, Zerstörung, Nahrungsmittelrequirierung und Militärgerichtsbarkeit gegen alles, was als wehrkraftzersetzend angesehen wurde. Die vielen Bilder von Galgen mit Gehängten geben ein fotografisches Zeugnis des Kriegsrechts.5 Evakuierungen der Zivilbevölkerung, Fluchtwellen und Gefangennahme zaristischer Soldaten brachten Hunderttausende Menschen in die im Landesinneren Österreich-Ungarns und Deutschlands errichteten Lager für Ruthenen bzw. Ukrainer. Die verzweifelte, instabile Lage im letzten Kriegsjahr bildete aber auch den Hintergrund für die Herausbildung von Widerstand und Neuordnung.

Rada versus Sowjets: Der Kampf um die Staatsgründung

Im Jahr 1917 überschlugen sich die Ereignisse. Die Februarrevolution fegte die zaristische Herrschaft hinweg. Die provisorische Regierung teilte sich die Macht mit dem Petrograder Arbeiter- und Soldatensowjet. Auch in den Städten der ukrainischen Gouvernements entstanden lokale Komitees. Da diese dem Ideal des einen und ungeteilten Russlands verpflichtet waren, bildete sich noch im Februar in Kiew ein Zentralrat, die Zentralrada (mit dem Historiker Mychajlo Hruschewskyj als Präsident), loyal zur provisorischen Regierung, aber mit dem Anspruch auf territoriale Autonomie. Aus der Zentralrada ging im Juni 1917 die erste ukrainische Regierung unter dem Schriftsteller Wolodymyr Wynnytschenko hervor. In ihrem ersten »Universal« erklärte diese das »ganze ukrainische Volk« als »gleiches unter Gleichen«. Spontane Agrarrevolutionen, Bauernsowjets und Bauernkongresse setzten die Regierung mit nationalen und sozialen Forderungen unter Druck.6

Unterdessen schuf die Oktoberrevolution am 25. Oktober 19177 neue Tatsachen. Die Wahlen zu einer konstituierenden Versammlung, die noch von der provisorischen Regierung veranstaltet wurden, brachten in den ukrainischen Gouvernements nur 10 % der Stimmen für die Bolschewiki, dennoch kooperierte die Zentralrada mit diesen bei der Vertreibung der provisorischen Regierung aus Kiew. Diese Zentralrada verstand die Unabhängigkeit der Ukraine zunächst als Teil der Russländischen Föderation. Auch die in der Arbeiterhochburg Charkow/Charkiw am 12. Dezember 1917 ausgerufene Ukrainische Sowjetrepublik erhob Anspruch auf die Macht im sich herausbildenden Staat. Die Kiewer Zentralrada erklärte daraufhin am 12. Jänner 2018 die Ukrainische Volksrepublik zum unabhängigen, freien und souveränen Staat. Sowjetrepublik gegen Volksrepublik, Staat gegen Staat also, auch wenn beide Projekte keineswegs flächendeckend verankert waren. Der Osten und die städtische Bevölkerung sympathisierten eher mit der Sowjetrepublik, der Westen und die bäuerliche mit dem nationalen Projekt der Volksrepublik. Kiew zog zudem Adelige, Bürgerliche und Militärs an, die vor der bolschewistischen Revolution flohen.

Um sich gegen die Sowjetukraine und die Rote Armee zu behaupten, ließ sich die Vertretung der Ukrainischen Volksrepublik in Brest-Litowsk auf ein Bündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn ein. Diese beiden Monarchien standen Anfang 1918 arg unter innerem und äußerem Druck. Um den Krieg fortsetzen zu könnten, brauchten sie dringend Getreide. Sie schlossen am 27. Jänner 1918 in Brest-Litowsk einen Separatfrieden mit der Ukraine und erkannten die Ukrainische Volksrepublik an. Dieses Abkommen wurde Brotfriede genannt, denn im Gegenzug für die militärische Hilfe an die Ukrainische Volksrepublik erhielten Deutschland und Österreich-Ungarn Getreidelieferungen zugesagt. Zur Sicherung des Getreides marschierten deutsche und österreichisch-ungarische Truppen weiter in die Ukraine vor.

Die überwiegend russischsprachigen Industrieregionen im Osten und Südosten lehnten den Anschluss an die Ukrainische Volksrepublik ab. Sie proklamierten am 12. Februar 1918 die Sowjetrepublik Donezk-Kriwoi Rog (auf dem Gebiet der späteren Oblaste Sumy, Charkow, Donezk, Dnepropetrowsk, Cherson und Teilen von Rostow).8 Bereits im März 1918 wurde dieses Gebilde von den Sowjets in Moskau jedoch wieder aufgelöst, entsprach die Errichtung neuer Republiken doch nicht dem national-föderativen Verständnis des Unionsstaates von Wladimir I. Lenin. In der Folge rückten die Ostarmeen der Mittelmächte auch in den Donbass und nach Kriwoi Rog ein, im Mai stießen sie bis auf die Krim vor.

Die Ukraine wurde in zwei Besatzungszonen aufgeteilt: Österreich-Ungarn verwaltete die Nahrungsmittelaufbringung vom Oberkommando in Odessa, das Deutsche Reich von Kiew aus.9 Als sich gegen die militärischen Requirierungen in der Bevölkerung und im Kiewer Parlament Widerstand regte und die Getreidelieferungen hinter den Vereinbarungen zurückblieben, lösten die Mittelmächte die Zentralrada kurzerhand auf und verwandelten die Ukraine in ein Militärprotektorat.

Der von Deutschland am 29. April 1918 als »Hetman« installierte Pavlo Skoropadsky setzte die Vorstellungen der deutschen und österreichisch-ungarischen Besatzer um, insbesondere die Rückgabe von Land an den Großgrundbesitz. Opposition und Bauernaufstände schlugen ihn acht Monate später in die Flucht. Da hatten die Mittelmächte bereits kapituliert, und ein Direktorium unter dem Sozialrevolutionär Wolodymyr Wynnytschenko übernahm am 14. Dezember 1918 die Regierung. Drei Monate später, am 11. Februar 1919, folgte der Nationaldemokrat Symon Petljura. Zu diesem Zeitpunkt war das Staatsgebiet der Ukrainischen Volksrepublik aufgrund bolschewistischer Offensiven sowie unter dem Vormarsch Weißer, zaristischer Armeen bereits auf einen Gebietsstreifen im Südwesten geschrumpft.

Das Jahr 1919 stand im Zeichen des Bürgerkriegs zwischen Roten und Weißen und ihren wechselseitigen Vorstößen auf Kiew.10 Als externe Interventionsmacht hatten nun die Westalliierten – insbesondere das Vereinigte Königreich – die Mittelmächte abgelöst. Sie unterstützten die von den Weißen angestrebte Wiederherstellung des Zarenreiches. In Opposition dazu setzten Bauern verstärkt auf Kooperation mit den Roten, wandten sich allerdings oft enttäuscht wieder ab und gründeten eigene befreite Gebiete. Einen legendären Ruf erlangte die Volksbewegung des nach ihrem Anführer, dem neokosakisch auftretenden Anarchisten Nestor Machno, benannte Machnowschtschina, die sich auf einem Gebiet von bis zu 100.000 km² mit über sieben Millionen Einwohnern im Südosten der Ukraine bis 1921 halten konnte. Sie kann als eine befreite Zone oder auch als kurzfristiger Versuch einer Selbstverwaltung von unten gelesen werden, die soziale anstelle von nationalen Zielen in den Vordergrund stellte.11

Da mit den Weißen kein ukrainischer Staat zu machen war, setzte Petljura auf Polen unter Józef Piłsudski als Bündnispartner gegen die Rote Armee. Petljura gab im Dezember 1919 sogar den Anspruch auf die Westukraine auf, die auf dem Gebiet des habsburgischen Ostgalizien am 13. November 1918 als Westukrainische Volksrepublik ausgerufen worden war. Ihre Legislative, der Ukrainische Nationalrat, setzte sich aus ukrainischen Abgeordneten des österreichischen Reichsrats und des galizischen Landtags zusammen. Die Westukrainische Volksrepublik war der kurzlebigste Nachfolgestaat der Donaumonarchie, der seinen Anspruch auf die Regionen mit ukrainischsprachiger Bevölkerung weder gegenüber Rumänien (Nordbukowina) und der Tschechoslowakei (Karpatoukraine) noch gegenüber Ungarn (Transkarpatien) und Polen (Galizien) durchsetzen konnte.12 Auch die Vereinigung mit der Ukrainischen Volksrepublik am 22. Jänner 1919 konnte ihr Überleben nicht sichern.

Im Mai 1920 schloss sich Petljura im polnisch-russischen Krieg den Truppen Józef Piłsudskis an, um Kiew von der Roten Armee zurückzuerobern. Der erklärte Staat war im Chaos des Bürgerkrieges jedoch nicht zu retten. Als Piłsudski im Oktober 1920 die Sowjetregierung anerkannte, bedeutete dies das Aus für die Ukrainische Volksrepublik. Petljura fiel 1926 im französischen Exil einem Attentäter zum Opfer, der damit die Judenpogrome rächen wollte, denen im Machtvakuum des Direktoriums mindestens 30.000 Juden zum Opfer gefallen waren.13 Aus heutiger Perspektive mutet es verwunderlich an, dass der Täter freigesprochen wurde.

Im Juni 1920 übernahmen die Bolschewiki die Kontrolle über die ukrainische Sowjetrepublik, die sich 1922 der UdSSR anschloss. Die Hauptstadt blieb zunächst Charkow/Charkiw, 1934 verlieh man Kiew diesen Status.

Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR)

Das leninistische Verständnis des Unionsstaates in Nachfolge des Zarenreiches berief sich, ähnlich wie es der US-Präsident Wilson für den Westen proklamierte, auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Für die Einstellung zur ukrainischen Sprache und Kultur bedeutete das Bekenntnis zur nationalen Gleichberechtigung eine radikale Kehrtwendung. Die Politik der Korenisazija (wörtlich: Einwurzelung, auch: Indigenisierung) brachte UkrainerInnen und das Ukrainische in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens voran, im Schulunterricht, in der Kultur, im Verlagswesen und in der Presse sowie in der Besetzung politischer und wirtschaftlicher Posten.14 Gleichzeitig ermöglichte der Wiederaufbau nach Welt- und Bürgerkrieg die Urbanisierung und Industrialisierung des Landes, auch die bäuerliche Landwirtschaft konsolidierte sich unter der Neuen Ökonomischen Politik. Eine Wende trat ab 1929/30 mit der Zwangskollektivierung ein, die im Dienste einer forcierten Industrialisierung in der Sowjetunion stand und den erbitterten Widerstand der Bauern hervorrief. Die Auseinandersetzung endete nicht nur mit der Deportation hunderttausender Bauern, sondern in den Jahren 1932/33 auch in einer Hungersnot gewaltigen Ausmaßes. Aufgrund der Bedeutung der Landwirtschaft in den Schwarzerdegebieten der Ukraine forderte diese hier überproportional viele Todesopfer, nämlich vier bis sechs Millionen Menschen.15

Während die Sowjetregierung den Hungertod damals leugnete, wird er von der Kiewer Regierung als Holodomor bezeichnet.16 Seit Präsident Wiktor Juschtschenko, der in seiner Amtsperiode (2005−10) eine rigide Nationalisierungspolitik verfolgte, gilt die Sprachregelung, es handelte sich um einen beabsichtigten Genozid an den Ukrainern.

Zeitgleich mit dem Kurswechsel in der Stalin’schen Wirtschaftspolitik ab 1930 wurde die Ukrainisierung gestoppt und die eben gekürten sowjetukrainischen Eliten abgesetzt bzw. liquidiert. Ebenso wenig wie die Hungersnot machten die politischen Säuberungen, die mit der stalinistischen Auffassung des Sozialismus in einem Lande verbunden waren, allerdings vor Kadern und Menschen russischer und anderer Nationalitäten Halt.

Ein Staat im Windschatten des deutschen Russlandkrieges?

Mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939, abgeschlossen von den Außenministern Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, annektierte die Sowjetunion Ostgalizien, das 1920 an Polen gefallen war. Polen verfolgte in seinen südöstlichen Wojwodschaften – entgegen der Verpflichtung zum Minderheitenschutz – eine strenge, katholisch ausgerichtete Polonisierung, verbunden mit der Benachteiligung unierter und orthodoxer Gläubiger. Dies führte im Gegenzug zu Untergrundaktivitäten ukrainischer Nationalisten. Neben einer geheimen Universität und dem Boykott von Wahlen verübten Angehörige der »Ukrainischen Militärischen Organisation« Sabotageakte, Anschläge auf polnische Gutshöfe und Attentate auf Politiker. Der Anschlag auf Staatschef Józef Piłsudski (1921) scheiterte, jene auf Minderheitensprecher Tadeusz Hołówko (1931) und Innenminister Bronisław Pieracki (1934) gelangen. An der Spitze der »Organisation Ukrainischer Nationalisten« (OUN), die 1929 in Wien gegründet wurde und sich in den 1930er-Jahren dem Nationalsozialismus annäherte, stand unterdessen Stepan Bandera, der wegen der Beteiligung am Attentat auf Pieracki ins Gefängnis wanderte.17 Die ukrainische Nationalbewegung in Polen, mit Unterstützung aus der Emigration, verfolgte einen aggressiven Nationalismus, der auf Gewalt, bewaffneten Kampf und Hass auf Polen, Russen und gemäßigt-kooperierende Ukrainer beruhte. Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen im Sommer 1939 setzte es repressive Maßnahmen gegen polnische und ukrainische Nationalisten, die neuen Herrscher ließen aber auch ukrainische Sprache und Schulwesen wieder zu und verteilten Land polnischer Großgrundbesitzer an ukrainische Bauern, bis auch hier 1940 die Kollektivierung einsetzte.

Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde von der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) als Chance zur nationalen Befreiung und Erringung von Unabhängigkeit betrachtet. Am 30. Juni 1941 proklamierte die Bandera-Fraktion in Lemberg einen souveränen ukrainischen Staat, ihre militärischen Einheiten marschierten mit der Deutschen Wehrmacht ein und etablierten in deren Windschatten die eigene Kon­trolle über die besetzten ukrainischen Gebiete.18 Im ehemals polnischen Ostgalizien begünstigte die deutsche Militärverwaltung Ukrainer gegenüber Polen und nährte bei der OUN die Hoffnung, die Deutschen würden sie bei der Errichtung ihres Staates unterstützen. Deutsche Dokumente legen indes klares Zeugnis davon ab, dass Ukrainer als minderwertig betrachtet wurden und lediglich als Nahrungsmittel- und Rohstofflieferanten sowie als Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft interessant waren. Der Reichskommissar für die ukrainischen Gebiete, Erich Koch, vermerkte im August 1942: »Es gibt keine freie Ukraine. Das Ziel unserer Arbeit muss sein, dass die Ukrainer für Deutschland arbeiten […]. Die Ukraine hat das zu liefern, was Deutschland fehlt […]. Für die Haltung der Deutschen […] ist der Standpunkt massgebend, dass wir es mit einem Volk zu tun haben, das in jeder Hinsicht minderwertig ist.«19

Bandera und andere Kämpfer waren auf Berliner Geheiß unmittelbar nach der Souveränitätserklärung ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert worden. Dies hinderte ukrainische Nationalisten nicht daran, sich aus antijüdischem und antikommunistischem Engagement oder einfach aus Opportunismus als Hilfstruppen und zivile Handlanger bei der Judenvernichtung zu verdingen, die in Weißrussland und der Ukraine besonders zahlreich und brutal stattfand. Nach einer Phase des Gewährenlassens gingen SS-Truppen ab Ende 1941 hart gegen OUN und Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) vor.

Der ukrainische Anteil am antifaschistischen Partisanenkampf hingegen lag unter dem Durchschnitt, vielmehr waren Tausende ukrainische Freiwillige in der Waffen-SS-Division Galizien sowie in der Wlassow-Armee gegen die Rote Armee im Einsatz, und die UPA setzte ihre Untergrundaktionen auch in den ersten Jahren nach Kriegsende in der Sowjetunion und in Polen fort.20

Aus ukrainisch-nationaler Sicht war auf die NS-Deutschen 1941 ebenso wenig Verlass wie 1918 auf das Kaiserreich. Sie benutzten die nationalen Ambitionen der Ukrainer, um diese für ihre eigenen Kriegsziele – Nahrungsmittellieferung, Waffenbrüderschaft, Arbeitskräfte – einzusetzen, ohne deren Wunsch nach einem eigenen Staat nur im Mindesten ernst zu nehmen.

Die Wiedererrichtung der Sowjetukraine nach dem Krieg umschloss nunmehr auch das polnische Ostgalizien, die Nordbukowina und die Karpatenukraine, sodass nun erstmals sämtliche von ukrainischen Nationalisten beanspruchten Gebiete unter einer Verwaltung zusammengefasst waren. 1954 verfügte KPdSU-Zentralsekretär Nikita Chruschtschow, der seine Karriere als Parteichef der Ukraine begonnen hatte, zudem die Angliederung der Krim mit ihrer deutlichen russischen Bevölkerungsmehrheit an die Ukrainische Sowjetrepublik.

Die ethnisch-sprachliche Zusammensetzung der Bevölkerung hatte sich durch die Ausrottung der Juden unter der deutschen Besatzung sowie die Umsiedlung von Ukrainern, Polen und Deutschen im Zuge der neuen Nachkriegsgrenzen komplett verändert. Zahlreiche Ukrainer büßten noch jahrelang für die Kollaboration mit den Nationalsozialisten mit Lagerhaft und Deportation, während gleichzeitig versprengte Paramilitärs der Aufstandsarmee (OUN, UPA) Sabotageakte bis in die Mitte der 1950er-Jahre verübten. Nichtsdestotrotz kehrte mit dem Wiederaufbau auch eine neue Normalität in die Sowjetukraine ein. Zunächst wurde die Politik der Korenisazija fortgeführt und die ukrainische Sprache als Verkehrs-, Schul-, Wissenschafts- und Literatursprache gefördert. Nach dem Tod Stalins 1953 und dem 20. Parteitag (1956) kam dazu eine politische Liberalisierung. Ukrainer stiegen nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf Unionsebene in hohe politische Leitungsfunktionen auf; darüber hinaus entstanden unter Intellektuellen dissidentische Forderungen, die sich nicht zuletzt an der schleichenden Zurückdrängung des Ukrainischen durch Migration und Assimilierung im Gefolge von Urbanisierung und Industrialisierung entzündeten.21 In der Mitte der 1970er-Jahre wurde die Korenisazija zurückgenommen, die mit ihr verbundenen Kader degradiert und die sowjetische Identität mithilfe der Etablierung des Russischen als »zweite Muttersprache« propagiert. In der Folge nahm die Präsenz des Ukrainischen in allen öffentlichen Belangen rasch ab. Im Dorf, aber auch unter den in die Städte migrierenden Bauern blieb die ukrainische Sprache zentral und zog daher mitunter das Image des Rückständigen auf sich.

Der Weg in die Unabhängigkeit von 1991 verlief ebenso verwirrend wie nach 1917, zunächst allerdings nicht so blutig. Die Auflösungserscheinungen der Sowjetunion machten auch vor der Ukraine nicht halt. Die nationale Frage war dabei nur ein Mobilisierungsfaktor unter vielen. Als der Oberste Rat der Ukraine am 16. Juli 1990 die Souveränität der Ukrainischen Sowjetrepublik erklärte, wurde die Zugehörigkeit zur Union nicht in Frage gestellt, allerdings erhielten Gesetze der Republik Vorrang vor der Union. Wie offen und unbestimmt die Zukunft damals noch aussah, zeigen die Ergebnisse der beiden Referenden, die im März 1991 und im Dezember 1991 abgehalten wurden. Im Referendum von 17. März sprachen sich 70 Prozent der abstimmungsberechtigten UkrainerInnen auf der Basis der Souveränitätserklärung für den Erhalt der Sowjetunion aus. Ein dreiviertel Jahr später wurde die am 24. August durch die Werchowna Rada verkündete Unabhängigkeit dem Volk zur Bestätigung vorgelegt und mit 90 Prozent angenommen. Auch die Regionen mit hohen Anteilen Russischsprachiger teilten das Votum für den unabhängigen Nationalstaat. Selbst auf der Krim stimmten 54 Prozent der Bewohner zu. In einer ebendort bereits am 20. Januar 1991, also fast ein Jahr vor dem ukrainischen Unabhängigkeitsreferendum, durchgeführten Volksbefragung hatten sich 93 Prozent der Teilnehmer dafür ausgesprochen, eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Krim (ASSK) als ein eigenständiges Subjekt der Sozialistischen Sowjetunion zu realisieren.22

Konjunkturen ukrainischen Nationalbewusstseins

Während der heutige ukrainische Staat die Vorgeschichte der Region bis zurück in die Kiewer Rus, und insbesondere das autonome Kosaken-Hetmanat am Ostufer des Dnjepr, das im 17. Jahrhundert seine Hochblüte erlebte, als proto-ukrainische Anfänge deutet, hat in Russland die allrussische Vorstellung wieder an Bedeutung gewonnen, Ukrainern die Nationalität abzusprechen. Ukrainer und ihre Sprache wären demnach eine ostslawische Spielart, die zwar anerkannt, aber nicht staats- und nationsbildend sei.

Dem steht die Tatsache entgegen, dass die Frage des kleinrussischen Selbstverständnisses spätestens dann Gegenstand intellektueller Auseinandersetzung unter kirchlichen und adeligen Eliten wurde, als das Hetmanat – der gegenüber Polen-Litauen und Russland um Autonomie ringende Herrschaftsverband der Kosaken am Dnepr – in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert ins Zarenreich eingegliedert wurde. Der bis ins 19. Jahrhundert anerkannte Text aus der Feder eines Kiewer Mönchs, die Synopsis aus dem Jahr 1674, definierte »kleinrussisch« (russinisch, ruthenisch) als das ursprüngliche Kerngebiet des Reiches im Südwesten, während »großrussisch« für die späteren Erweiterungen nach Norden und Osten stand.23 Beide russischen Teilvölker galten als integrale Bestandteile des russländischen Staates.24

Eine ukrainische Identität wurde erst im 19. Jahrhundert von kleinrussischen Intellektuellen entwickelt, die dem polnischen sowie dem allrussischen Anspruch auf Inklusion (und gegebenenfalls Assimilation) eine ukrainisch-nationale Perspektive entgegensetzten. Die Unterstützung der habsburgischen Institutionen in Galizien bei der Kodifizierung der ukrainischen, dort ruthenisch genannten Sprache, strahlte auf die Nationalbewegung im Zarenreich aus. Die Zuordnung zu einer Nationalität besaß indes da und dort unter der breiten Bevölkerung keine Priorität. Als das nationale Bekenntnis unter dem Eindruck des ukrainischen, polnischen und russischen Nationalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts auf die Tagesordnung kam, waren die Auffassungen der ukrainischsprachigen literarisch-politischen Kreise geteilt: Während die einen auf einer eigenen Sprache und Nationalität beharrten, begriffen die Russophilen den südrussischen, russinischen Dialekt als Variante des Russischen, aufgrund der besonderen Phonetik oft auch – nicht nur abwertend – als Khokhly bezeichnet.25

Die offizielle Sprachenpolitik im Zarenreich folgte der allrussischen Inklusionsvorstellung gegenüber den Kleinrussen. Der ukrainische Nationalismus wurde als Bedrohung erachtet und die Verwendung des Ukrainischen als Verkehrs-, Schul- und Literatursprache durch Edikte von 1863 und 1876 massiv eingeschränkt. Dies war nicht dazu angetan, die ukrainisch-nationalen Ambitionen zu beruhigen; nicht unerwartet brachten sich deren Vertreter mit dem Untergang des Zaren- und des habsburgischen Kaiserreichs in Position für Nachfolgestaaten-Projekte, aus denen die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) mit Republikstatus innerhalb der UdSSR hervorging.

Präsident Putin hat vor dem Hintergrund der angespannten Frontstellung zwischen der Ukraine und der Russländischen Föderation 2021 darauf hingewiesen, die Ukraine wäre ein Produkt Lenin’scher Nationalitätenpolitik. Seine Aussage wurde im Westen als irrational bzw. verschwörungstheoretisch gebrandmarkt, obwohl sie doch lediglich die allrussische Perspektive widerspiegelt, die im Zarenreich vorherrschte.26

In der Ukrainischen SSR der 1920er-Jahre wurde die zaristisch-russische Perspektive verworfen, ihre Anhänger verfolgt, und eine Vielvölkerperspektive für die Nationalitätenfrage entwickelt, die sich in der Förderung des Ukrainischen niederschlug. Der Wiener Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler, dem man keine anti-ukrainische Einstellung nachsagen kann, schlug 2003 in dieselbe Kerbe: »Überhaupt könnte man behaupten, dass die heutige Staatlichkeit der Ukraine Lenin und Stalin zu verdanken ist.« Lenin, der die Sowjetunion nach dem Prinzip ethnisch-nationaler Territorialität aufbaute, und Stalin, der »den alten Traum ukrainischer Nationalisten erfüllte und der Ukrainischen SSR die bisher nicht zur Sowjetunion gehörenden westlichen Gebiete hinzufügte«.27 Kappeler spielt damit auf die Besetzung des 1920 Polen zugesprochenen Ostgaliziens aufgrund des Molotow-Ribbentrop-Paktes im August 1939 an, die allerdings nur bis zum deutschen Vormarsch im Juni 1941 Bestand hatte, und mehr noch auf die dauerhafte Einverleibung dieses Teils von Galizien in die USSR nach Kriegsende 1945, als das Territorium des polnischen Staates nach Westen verschoben wurde.

Putin spitzte seine Position kurz vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine zu, als er am 22. Februar 2022 die Bolschewiken als Urheber der ukrainischen Staatswerdung anklagte.28

Wörtlich sagte er:»Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917 und dem anschließenden Bürgerkrieg eine neue Staatlichkeit schaffen wollten. In diesem Punkt waren sie sich untereinander ziemlich uneinig. 1922 schlug Stalin […] vor, das Land nach den Autonomie-Prinzipien aufzubauen, d. h. den Republiken – den künftigen Verwaltungs- und Gebietseinheiten – bei ihrem Beitritt zu einem einheitlichen Staat weitreichende Befugnisse zu übertragen. Lenin kritisierte diesen Plan und schlug vor, den Nationalisten, die er damals ›Unabhängige‹ nannte, Zugeständnisse zu machen. Lenins Ideen, die im Wesentlichen auf eine konföderative Staatsordnung hinausliefen, und die Parole vom Recht der Nationen auf Selbstbestimmung bis hin zur Sezession waren die späteren Grundlagen der sowjetischen Staatlichkeit […] und nach Lenins Tod wurden sie 1924 in der sowjetischen Verfassung verankert. […] Die Sowjetukraine ist, wie gesagt, ein Ergebnis der bolschewistischen Politik und man kann sie heute mit Fug und Recht als Wladimir-Lenin-Ukraine bezeichnen. Er war ihr Schöpfer und Architekt. Dies wird durch Archivdokumente vollständig und umfassend bestätigt, einschließlich Lenins strenger Anweisungen bezüglich des Donbass, der de facto in die Ukraine hineingeschoben wurde.«

Was Putin beim Angriff auf ukrainisches Staatsgebiet ebenso wenig bedachte wie die zaristischen Anhänger der allrussischen Idee im 19. Jahrhundert, war sein Beitrag zur Verfestigung antirussischer Gefühle in der ukrainischen Gesellschaft, nun auch weit in die russischsprachige Ukraine hinein. Er stärkte damit den antirussischen Rassismus als Grundkonstante ukrainischen Nationalbewusstseins.

Literatur:

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Wemheuer Felix (2012): Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao. Berlin.

1 Oberreiter 2019, vgl. auch Hausmann 2019: 273.

2 Miller 2003: 28.

3 Maner 2007: 139.

4 Oberreiter 2019, vgl. auch Rasevyč 2011.

5 Vgl. Holzer 2014.

6 Die Chronologie und Datierung der politischen Ereignisse 1917−1920 folgt Kappeler 1994: 165−186. Vgl. auch Dornik/Lieb 2011.

7 Der 25. Oktober 1917 des julianischen Kalenders entspricht dem 7. November des neuen gregorianischen Kalenders, der in Sowjetrussland am 14. Februar 1918, in der Ukrainischen Volksrepublik am 1. März 1918 eingeführt wurde.

8 Vasyl 1984: 741f.

9 Dornik/Leeb 2011: 249ff.

10 Diese Zeit der Wirren, als Kiew zehn Mal und öfter den Machthaber wechselte, ist Gegenstand des Romans »Die Weiße Garde« von Michail Bugalkow (1923). Bugalkow vollzieht in der autobiographisch geprägten Schilderung die Abwendung von der zaristisch-weißen Perspektive hin zu der Einsicht, dass es gegenüber der Dynamik und Anziehungskraft der Revolution auf die bäuerlichen Massen keine Alternative gebe.

11 Pittler/Verdel 2010, S. 139, vgl. auch die Machno-Biographien von Arschinoff 2008 und Golowanow 2023.

12 Oberreiter 2017/18; vgl. auch Rasevyč 2011.

13 Kappeler 1994: 182.

14 Kappeler 1994: 187−195; Miller 2022: 106.

15 Nolte 2003: 230; vgl. auch Wemheuer 2012.

16 Zur Debatte über den Holodomor vgl. Graziosi 2004/05 und Wemheuer 2012: 94.

17 Hofbauer 2016: 167f; vgl. auch Rossolinski 2017: 19.

18 Rossolinski 2017: 20; vgl. auch Rossolinski 2014.

19 Zit.in: Kappeler 1994: 218f.

20 Kappeler 1994: 220f, 225f.

21 Kappeler 1994: 240.

22 Hofbauer 2016: 191.

23 Miller 2022: 95.

24 »Russländisch« bezeichnet die territoriale und nicht die nationale Identität, für die »russisch« steht.

25 Miller 2003: 25−27; vgl. auch Boeck 2004/05.

26 Putin 2021.

27 Kappeler 2003: 24f.

28 Putin 2022. Übersetzung ins Deutsche mit Hilfe von »DeepL«.

Thomas Fazi

Vom Krieg gegen Corona zum Krieg gegen Russland

Während der vergangenen zwanzig Jahre befand sich der Westen in einem quasi permanenten Krisenzustand: Auf die globale Terrorismuskrise nach dem 11. September 2001 folgten die Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008, die Pandemiekrise und, gerade als letztere abzuflauen schien, die militärische Krise in der Ukraine – und all dies vor dem Hintergrund einer sich abzeichnenden Klima- und Umweltkrise. Ich spreche ausdrücklich vom Westen und nicht von der Welt als Ganzes. Damit will ich nicht die Erfahrungen der nicht-westlichen Teile der Welt außer Acht lassen – die oft viel stärker unter diesen Krisen gelitten haben als ihre westlichen Pendants. Die offensichtlichsten Beispiele sind jene Länder, die im sogenannten »globalen Krieg gegen den Terror« des Westens ins Visier genommen wurden, und jetzt natürlich die Ukraine selbst. Aber die ErzählungvonderDauerkriseist eine spezifisch westliche Erfahrung. Zudem ereigneten sich viele der fraglichen Krisen viel weniger »global« als oft angenommen wird: China zum Beispiel ist weitgehend unbeschadet aus der Finanzkrise hervorgegangen.

Die neue Normalität der anhaltenden Krise

In der Tat ist »Krise« zu einem so allgegenwärtigen und allumfassenden Merkmal unseres Lebens geworden (wenn auch natürlich mit erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern), dass man sich zu Recht fragen kann, ob dies nur das Ergebnis einer Reihe unglücklicher Ereignisse darstellt oder ob hier mehr im Spiel ist. Pierre Dardot und Christian Laval haben beispielsweise argumentiert, dass die Krise im Neoliberalismus zu einer »Regierungsmethode« geworden ist, bei der »jede Naturkatastrophe, jede Wirtschaftskrise, jeder militärische Konflikt und jeder Terroranschlag von neoliberalen Regierungen systematisch ausgenutzt wird, um die Umgestaltung von Volkswirtschaften, Sozialsystemen und Staatsapparaten zu radikalisieren und zu beschleunigen«.29 Bekannter sind Naomi Kleins Worte, die in ihrem 2007 erschienenen Buch Die Schockdoktrin dieIdee des »Katastrophenkapitalismus« erforschte.30 Ihre zentrale These lautet, dass es in Momenten öffentlicher Angst und Orientierungslosigkeit leichter ist, Gesellschaften umzugestalten. Dramatische Veränderungen der bestehenden Wirtschaftsordnung, die normalerweise politisch nicht vertretbar wären, werden in rascher Folge durchgesetzt, bevor die Öffentlichkeit darauf reagieren kann.

Heute wäre es jedoch vielleicht treffender, von einem »Krisenkapitalismus« zu sprechen – wobei der westliche Kapitalismus nur funktionieren kann, indem er durch die Ausnutzung (oder Konstruktion) einer endlosen Reihe von »Krisen« einen permanenten Ausnahmezustand schafft. In einem solchen System stellt die »Krise« keine Abweichung von der Norm mehr dar; sie ist die Norm, der grundsätzliche Ausgangspunkt für jede Politik. Dies wirft natürlich ein Paradoxon auf. In ihrem Buch Anti-Crisis