Krisenregion Sahel - Christoph Gütermann - E-Book

Krisenregion Sahel E-Book

Christoph Gütermann

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Beschreibung

Mit Beiträgen von Elisabeth Förg, Christoph Gütermann, Georges Hallermayer, Ishraga Mustafa Hamid, Günther Lanier, Birgit Mayerhofer, Tobias Orischnig, Werner Ruf, Markus Schauta, Franz Schmidjell, Mariam Wagialla und Charlotte Wiedemann. "Sahel" bedeutet auf Arabisch "Ufer" oder "Küste" – gemeint ist das Südufer der Sahara, des großen Sand- und Steinmeeres. Dieses Sahara-"Ufer" erstreckt sich vom Atlantik im Westen bis zum Roten Meer im Osten. Anteil am Sahel haben die Staaten Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Nigeria, Tschad, Sudan und Eritrea. Einst lebte im Sahel der reichste Mann der Welt. Als Mansa Mussa im Jahr 1324 auf seinem Weg vom antiken Mali nach Mekka dem ägyptischen Sultan seine Aufwartung machte, gab er dabei so viel aus, dass er den Goldpreis zum Absturz brachte und mit ihm die ans Gold gebundene ägyptische Währung. Von solchen Glanzzeiten ist die Region heute weit entfernt. Vor fünfzig Jahren brachten Dürren, die sich ausbreitende Wüste und die daraus resultierenden Hungersnöte den Sahel weltweit in Verruf. Immer wieder taucht diese Gegend seither in den Schlagzeilen auf. Berichtet wird von den katastrophalen Folgen des Klimawandels, von ethnischen Konflikten, Staatsstreichen und islamistischem Terror der Gruppen Boko Haram, Al-Qaida und Islamischer Staat. Die Sahel-Zone ist drauf und dran, weltweit zum Krisenherd Nummer 1 zu werden. Versuche, mittels engerer innerafrikanischer Zusammenarbeit größeren politischen und ökonomischen Handlungsspielraum zu erlangen, sind bislang gescheitert. Überall bestehen post- und neokoloniale Abhängigkeiten, in erster Linie von Frankreich, das bis in die 1960er-Jahre als Kolonialmacht und "Zivilisationsbringer" agierte. Mittlerweile mischen auch die USA und die Europäische Union mit. Ein Ereignis, das sich auf den Sahel verheerend auswirkte, war die westliche Intervention im Oktober 2011 am nördlichen Rand der Wüste, die zum Sturz von Muammar Gaddafi in Libyen führte. Die AutorInnen analysieren die Situation in den neun Sahel-Staaten. Zudem werden das regionale Umfeld betrachtet und die wichtigsten internen Faktoren wie die Rolle des Islam, die Stellung der Frau, die unterschiedlichen Ethnien sowie Probleme der Migration und der Umwelt.

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Seitenzahl: 384

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Fritz Edlinger/Günther LanierKrisenregion Sahel

© 2022 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

978-3-85371-898-8(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-501-7)

Covergestaltung: Thomas Lehmann Coverfoto: Petra Radeschnig

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Vorwort: Der Sahel in der Krise?
Der Sahel. Einleitung
Felix Senegal?
Mauretanien. Wunderrezept oder Pakt mit dem Teufel?
Mali. Wie konnte es so weit kommen?
Burkina Faso. Hintergründiges, Widerständiges, Staatsstreich
Niger: ein Blick von außen
Nigeria. Riese auf Öl-Füßen
Tschad. Dynastische Erbfolge als Garant für Stabilität?
Sudan: Herausforderungen auf dem Weg zur Demokratie
Eritrea – terra incognita. Eine solidarische Annäherung
Länderdaten Sahel
Der Islam im Sahel
Um Weide und Feld
Unter Generalverdacht. Die Fremden in unserem Inneren
Wie umgehen mit Terrorismus?
Migration Afrika – Europa
Der Sahel und seine Wirtschaft
Klimawandel, Wüstenbildung und die Große Grüne Mauer
Französischer Neokolonialismus
Entwicklungszusammenarbeit? Die Krise in der Krise im Sahel
Französische Militärinterventionen und die »Gefahr, dass sie die Gewalt mehren, statt sie zu beseitigen«
Frauen im Sahel
AutorInnenbiographien

Vorwort: Der Sahel in der Krise?

Auf den ersten Blick sieht es ganz nach Krise aus. Assoziieren wir EuropäerInnen mit der Region schon seit jeher Dürre-Hunger-Not, so sind in den vergangenen Jahren vielerorts politische Konflikte und Risiken dazugekommen.

Lassen wir die Länder des Sahel im Schnelldurchlauf Revue passieren, eins nach dem anderen, von Ost nach West:

Eritrea befindet sich seit der Jahrtausendwende und dem damaligen verheerenden Grenzkrieg mit Äthiopien in einer Art innerem Ausnahmezustandes, als führte es nach wie vor Krieg. Das Land schottet sich weitgehend von der Welt ab, während das Nationaldienst genannte staatliche Zwangsarbeitssystem Flüchtlingsströme alimentiert. Im September 2018 ließ das überraschend mit Äthiopien unterzeichnete Friedensabkommen Hoffnung aufkeimen. Doch bevor es zu einem Aufbrechen der Isolation hätte kommen können, machte der im November 2020 begonnene Tigray-Bürgerkrieg, in den Asmara aufseiten von Addis Abeba involviert ist, diese Hoffnung wieder zunichte.

Auch der Sudan war lange Zeit international ein absoluter Paria, galt er unter Omar Al-Bashir, der sich 1989 an die Macht geputscht hatte, doch als Hort des Terrorismus. Die Abspaltung des erdölreichen Südsudan im Jahr 2011 bedeutete für das Land empfindliche ökonomische Einbußen. Das Streichen der Subventionen für Getreide und Elektrizität und die Abwertung der Landeswährung führten zu Preissteigerungen. Insbesondere die erhöhten Brotpreise lösten 2018 Proteste aus, die sich zu einer Massenbewegung ausweiteten und am 11. April 2019 zu einem Militärputsch gegen Al-Bashir führten. Das in der Folge mit der Protestbewegung ausgehandelte Abkommen zur Machtteilung zwischen Militärs und ZivilistInnen für eine mehrjährige Übergangszeit wurde allerdings durch einen abermaligen Militärputsch im Oktober 2021 außer Kraft gesetzt. Nunmehr ist der Sudan, der seit 2019 wieder zu einem Vollmitglied der internationalen Staatengemeinschaft geworden war, genauso geächtet wie unter Al-Bashir.

Diese Ächtung durch das Ausland hat der Tschad nie erfahren, obwohl er – trotz regelmäßig abgehaltener Wahlen – ohne Umschweife als Diktatur bezeichnet werden kann. Idriss Déby Itno war seit 1990 an der Macht. Wenn es unter ihm auch nicht zu den Exzessen seines Vorgängers Hissène Habré gekommen ist, so hat er Oppositionelle beileibe nicht mit Samthandschuhen angefasst. Von der Macht getrennt hat ihn erst sein Tod im April 2021, als er sich an die Front gegen eine Rebellenbewegung begab und einen Schuss abbekam. Was seine Nachfolge betrifft, wurde die Verfassung ignoriert: Es herrscht ein militärischer Übergangsrat unter dem Diktatorensohn Mahamat Idriss Déby Itno. Dass der Tschad es trotz dieses Putsches vermied, von der Afrikanischen Union suspendiert zu werden, war ein Kunststück, dessen Gelingen besonderen Umständen zu verdanken ist: Er ist seit der Unabhängigkeit ein treuer Partner Frankreichs, der Ex-Kolonialmacht, und spielt bei der Bekämpfung des Terrorismus über seine Grenzen hinaus eine wichtige Rolle.

Nigeria hebt sich von den anderen Sahel-Staaten ab: Es ist bevölkerungsmäßig viel größer und aufgrund seiner Erdöl-Produktion in Afrika eine Wirtschaftsmacht. Die Hauptstadt Abuja und die Wirtschaftsmetropole Lagos legen davon beredtes Zeugnis ab. Landesweit könnten aber die sozialen und ökonomischen Verhältnisse unterschiedlicher kaum sein und Nigeria leidet seit langem an Kriminalität und Unsicherheit. Das hat sich im letzten Jahrzehnt insbesondere im Norden (wo Nigeria am Sahel teilhat) verschärft – im Nordosten durch Boko Haram und im Nordwesten durch die sogenannten Banditen: Banden von Kriminellen, die sich durch brutale Überfälle auszeichnen und insbesondere durch Massenentführungen von SchülerInnen aufgefallen sind. Politische AnalytikerInnen malen mitunter die Möglichkeit einer Implosion Nigerias an die Wand, also eines völligen Zusammenbruchs von Recht und Ordnung. Das dürfte übertrieben sein, obschon zweifellos beträchtliche Teile des Staatsgebietes der staatlichen Kontrolle entglitten sind.

Der Niger hat sich über die letzten Jahre zum Liebkind der »satten Welt« und insbesondere Frankreichs entwickelt. Seit dem Militärputsch von 2010 – dem letzten einer ganzen Reihe von Staatsstreichen – hat das Land offenbar auf den demokratischen Weg zurückgefunden, auch wenn der Umgang mit der parlamentarischen und noch mehr mit der außerparlamentarischen Opposition teils sehr bedenklich ist. 2021 hat Mohamed Bazoum nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen die Macht übernommen und setzt scheint’s nahtlos die Politik Mahamadou Issoufous fort. Der hatte sich brav in die von Paris geführte Anti-Terrorismus-Front eingereiht und das Land zudem zu einem Bollwerk gegen die Migration Richtung Europa aufgerüstet, was ihm insbesondere aus Berlin und Brüssel viel Lob und auch Unterstützung einbrachte. Nichtsdestotrotz leidet der Niger doppelt am Terrorismus: in seinem Südosten ist Boko Haram aktiv, im Westen hat er Teil an der von Islamischem Staat und al-Qaida heimgesuchten Zone der Drei Grenzen.

Die Attacken von Islamischem Staat und al-Qaida sind auch Burkina Fasos größtes Problem. Sie haben sich seit 2016 vom äußersten Norden (der sogenannten Region Sahel) in den Osten, den zentralen Norden und Nordwesten des Landes ausgeweitet. Eine immer weiter anschwellende Zahl von Binnenflüchtlingen – mittlerweile mehr als 7 % der Gesamtbevölkerung, deutlich über eineinhalb Millionen – stellt das Land vor erhebliche Herausforderungen. Weite Landstriche unterstehen de facto nicht mehr der Autorität der Zentralregierung. Dass er gegen den Terrorismus kein Mittel fand, zudem auch nicht besonders interessiert schien, eines zu finden, hat Roch Kaboré Anfang 2022 seinen Präsidententhron gekostet – auf den er gut sechs Jahre zuvor nach einem Volksaufstand gegen Langzeit-Diktator Blaise Compaoré und einem erfolgreich abgewehrten Putschversuch der alten Präsidialgarde gelangt war. Damals waren sehr viele voll der Hoffnung, dass sich alles zum Besseren wenden würde – und heute sehen sich die Militärs an der Spitze des Staates mit ähnlichen Hoffnungen konfrontiert, die angesichts der katastrophalen Sicherheitslage allerdings um vieles dringender geworden sind.

Mali leidet schon länger als Niger und Burkina am Terrorismus. Zehn Jahre ist es her, dass dort im Gefolge des durch NATO-Bombardements induzierten Zusammenbruchs Libyens islamistische Gruppen – zunächst an der Seite der um Autonomie kämpfenden Tuareg – ins Land drangen. Anfang 2013 wurde die Ex-Kolonialmacht Frankreich um militärische Hilfe ersucht. Deren Truppen gelang es, den islamistischen Vormarsch zu stoppen und den Westen und Süden des Landes inklusive der Hauptstadt Bamako für den malischen Staat zu bewahren. Doch gelang auch den exzellent ausgerüsteten Militärs der Ex-Kolonialmacht im inzwischen vergangenen Jahrzehnt kein entscheidender Sieg, stattdessen hat sich der Terrorismus (und mit ihm die französische Militärintervention) in die Nachbarländer Niger und Burkina ausgeweitet. Wie jüngst Afghanistan gezeigt hat, ist Terrorismus militärisch nicht zu besiegen. Zwei Staatsstreiche später – im August 2020 und im Mai 2021 – ist Bamako mit einem Großteil der Welt zerstritten – mit der regionalen ECOWAS-Gemeinschaft, weil die Militärs die zunächst versprochene Übergangszeit verlängert haben und mit Frankreich und Europa, weil russische Söldner an der Seite der malischen Militärs wirken und die französischen Truppen mehr oder weniger hinauskomplimentiert wurden. Die von der ECOWAS Mitte Jänner 2022 verhängten Wirtschaftssanktionen bringen für die malische Bevölkerung erhebliche Erschwernisse mit sich.

Früher als Mali war Mauretanien vom al-Aqmi-Terror betroffen. Das war in den späten 2000er Jahren. Doch seit 2011 ist es zu keiner Attacke mehr gekommen. Nouakchott verfolgt eine holistische, nicht nur auf das Militärische fokussierende Strategie, die auch anderswo nachzuahmen wäre. Allerdings könnte es sein, dass der durchschlagende Erfolg auf ein vor gut zehn Jahren geschlossenes Abkommen mit den islamistischen Gruppen zurückzuführen ist. Im Land herrscht politisch weitgehend Stabilität – der letzte Staatsstreich fand 2008 statt, der daraus hervorgegangene Staatschef Mohamed Ould Abdel Aziz ließ sich 2009 und 2014 durch Wahlen als Präsident bestätigen und übergab nach abermaligen Wahlen 2019 an Mohamed Ould Ghazouani. Mauretanien leidet aber an argen sozialen Problemen: Betroffen sind einerseits Frauen (die z. B. im Fall einer Vergewaltigung von offizieller Seite Schwierigkeiten bekommen, statt dass sie unterstützt würden), andererseits schwarze MauretanierInnen (vor allem im Süden des Landes) und SklavInnen – Mauretanien hat zwar als letztes Land der Welt die Sklaverei abgeschafft, bestraft werden staatlicherseits aber nicht diejenigen, die weiterhin Sklaverei betreiben, sondern AktivistInnen, die gegen den Fortbestand der Sklaverei agitieren.

Senegal ist neben Eritrea das einzige Sahel-Land, das nie einen Putsch erlebt hat. Im vom Kolonialismus deutlich früher als die meisten anderen Teile Afrikas betroffenen Land herrschen seit der Unabhängigkeit demokratische Verhältnisse. Zunächst unter dem frankophilen Dichterfürsten Senghor, dann unter Abdou Diouf und Abdoulaye Wade, nunmehr unter Macky Sall wurde stets ein Kurs gefahren, der Frankreich und anderen europäischen Mächten und den USA mehr oder weniger genehm war bzw. ist. Dass politische Widersacher unsanft von der Macht entfernt werden, hat ebenso Tradition. Unter dem gegenwärtigen Präsidenten scheint dafür vorzugsweise die Justiz eingespannt zu werden – Wade-Sohn wurde so ins Exil abgeschoben, der frühere Bürgermeister von Dakar, Khalifa Sall, von der Macht entfernt und den beiden derzeit wichtigsten Oppositionspolitikern, dem kürzlich zum Bürgermeister von Dakar gewählten Barthélémy Dias und dem bei denselben Lokalwahlen zum Bürgermeister von Ziguinchor (in der Casamance im Süden des Landes) gewählten Ousmane Sonko, hängen Prozesse an. Bei der Verhaftung von Letzterem kam es im März 2021 zu Meutereien mit 13 Toten – keine Zustände, wie wir sie uns in Friedenszeiten vorstellen oder wünschen.

* * *

Einst lebte im Sahel der reichste Mann seiner Zeit. Als Mansa Mussa 1324/25 auf seinem Pilgerweg vom antiken Mali nach Mekka dem ägyptischen Sultan seine Aufwartung machte, gab er dort so viel aus, dass er den Goldpreis zum Absturz brachte und mit ihm die ans Gold gebundene ägyptische Währung.

Von solchen Glanzzeiten sind wir heute meilenweit entfernt. Doch auch für die Gegenwart lohnt es sich, genau hinzusehen. Unser Blick wird zumindest schärfer werden. Was den Sahel betrifft, entsteht der Eindruck, dass die Sahara als Barriere fungiert – was von Europa aus gesehen vor ihr liegt, das kennen wir noch, der Südrand des Mittelmeeres, der gehört zu unserer Welt – dahinter hingegen beginnt das Terrain des Ungefähren mit Tendenz zu Pauschalurteilen und Verallgemeinerungen.

Dieses Sahel-Buch sieht genauer hin. Es hofft, über die vermittelten Informationen hinaus in mancher Hinsicht eine Blickumkehr zu bewirken. Nicht immer sind die Krisen dort, wo wir sie vermuten.

Bevor es in medias res geht und ich Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre wünsche, im Namen der Herausgeber und der AutorInnen ein generelles Wort des Dankes an alle diejenigen, die bei der Produktion von Texten und Büchern allzu oft im Schatten bleiben: Ohne die LektorInnen, das Verlagspersonal, die Musen, LayouterInnen, PartnerInnen, DiskussionspartnerInnen … käme manch’ Werk nie zustande. Ihnen allen herzlichen Dank.

Günther Lanier Ougadougou, im April 2022

Der Sahel. Einleitung

Günther Lanier1

Für den Sahel gibt es mehr als eine Definition. Manchmal werden die Kapverdischen Inseln dazugezählt, manchmal auch die Südspitze Algeriens. Wir folgen der auf der Karte bildlich wiedergegebenen Definition: Der Sahel ist die im Süden an die Sahara anschließende Zone mit jährlichen Niederschlägen zwischen 100 und 600 Millimetern.

Die Welt ist restlos in Staaten unterteilt. Ihrer behandeln wir im vorliegenden Buch neun. Von Ost nach West sind das Eritrea, Sudan, Tschad, Niger, Nigeria, Burkina Faso, Mali, Mauretanien und Senegal. Im höchsten Norden Kameruns gehört eigentlich ein kleines Stück dazu, ebenso im äußersten Nordosten des Südsudan, die beiden betroffenen Gebiete sind aber so klein, sodass wir diese Länder vernachlässigen.

Isohyeten (Linien gleichen Niederschlags) auf einer politischer Afrika-Karte zwischen 5° und 25°N; von Nord nach Süd zeigen die Linien 50, 100, 150, 200, 300, 400, 500, 600 und 700 mm/Niederschlag pro Jahr, wobei die Intervalle unter 100/über 600 mm/Jahr nicht schattiert sind2

Der Sahel ist also geographisch über seine relative Trockenheit definiert. Nördlich von ihm die Wüste. Südlich nässere Gefilde. Von einem Ozean zum anderen reicht das Südufer der Sahara – »Sahel« bedeutet auf Arabisch »Küste«, eben das (vergleichsweise) grüne Ufer der Wüste –, vom Roten Meer im Osten, Nebenmeer des Indischen Ozeans, vor vielen Jahrhunderten Schauplatz einer ersten, bis heute anhaltenden Globalisierung,3 bis zum Atlantik im Westen, Medium einer späteren, von Europa ausgehenden Globalisierung, die mit Versklavungen in Afrika und dem Dreieckshandel begann, die Abolition überdauerte und nunmehr weltweit wirkt.

Lang streckt sich der Sahel von Ost nach West, über circa 5.900 km. Die Nord-Süd-Ausdehnung ist bescheidener, sie liegt bei durchschnittlich etwa 600 km. Das macht eine Fläche von 3,54 Millionen km2 – fast so groß wie die EU (4,23 Mio. km2).

Überwiegend ist der Sahel flach.4 Nur ganz im Osten erheben sich die schönen Berge Eritreas. Wie wir sehen werden, hebt sich dieser Ostteil nicht nur diesbezüglich vom Rest des Sahel ab.

»(…) beseelt von der Thematik des Samens, der auf trostlosen Boden fällt und sich dann bemüht, Lichtstrahlen aufzufangen, um in dieser feindlichen Umwelt zu überleben. In der Tat: In eine unbekannte Welt geworfen und angesichts solcher Extreme, wie kann dieses Samenkorn es schaffen zu keimen, da, wo es es so wenig gibt und wo alles zum Vertrocknen drängt? Welches Wurzelsystem muss es entwickeln und welche unterirdischen Teile soll es pflegen?«5

Nein, Achille Mbembe schreibt hier nicht vom Sahel. Die Thematik des Samens beseelt seiner Ansicht nach Afropessimismus, Afrofuturismus und Afropolitanismus. Mit solch heeren Themen werden wir uns in diesem Buch nur am Rand beschäftigen. Doch schreibt Mbembe – Politologe, Historiker und Theoretiker der Postkolonie – in diesem Zusammenhang auch von der Idee eines generischen Bruchs; von der Erfindung einer neuen Welt, geboren aus einer radikalen Fantasie.6 Das könnte der Sahel gebrauchen – und die Alte & Satte Welt sowieso.7

In der Geschichte hat sich die relative Unwirtlichkeit, haben sich die eher ungünstigen natürlichen Voraussetzungen – will heißen der wenige Regen – jedoch kaum niedergeschlagen, auch wenn sie die modernen Staaten, was die Durchdringung ihrer Territorien betrifft, vor besondere Herausforderungen stellen, an denen mancher scheitert. Fürs kapitalistische Weltsystem stellt der Sahel zweifellos eine der letzten Grenzen dar, wo das von ihm betriebene Projekt einer Welt ohne unaneigenbares Draußen8 noch heute auf dem Prüfstein steht.

Durchschnittstemperaturen im Sahel 1991-20209

Eritrea

Sudan

Tschad

Niger

Nigeria

Burkina Faso

Mali

Maure-tanien

Senegal

Italien

Öster-reich

Durchschnitts-temperatur (°C)

26,92

27,74

27,37

27,83

27,24

28,71

28,83

28,34

28,65

12,81

7,25

Rang weltweit (von 196)

33

15

28

13

30

2

1

6

3

141

177

Die Geographie, die den Sahel definiert, bestimmt sein Klima und insbesondere die Niederschlagsmengen und die Durchschnittstemperaturen. Gehörten die Sahel-Länder seit jeher zu den heißesten auf unserer Erde, so bedeutet eine klimawandelbedingte weitere Erwärmung eine erhebliche Gefahr, zumal meist die materiellen Voraussetzungen fehlen, um solchen Risken vorzubeugen oder gegenzusteuern (siehe dazu insbesondere das Kapitel zu Ökologie und Green Belt von Tobias Orischnig). Extreme Temperaturen sind ab einem bestimmten Punkt lebensgefährlich. Dabei schützt sich der Körper durch Schwitzen vor Überhitzung, was er umso besser kann, je trockener es ist. Ab einem gewissen Punkt nimmt der Körper, statt Wärme an die Umgebung abzugeben, Wärme von ihr auf.10

Kühlgrenztemperatur, gemessen als Feuchtkugeltemperatur ist die tiefste Temperatur, die sich durch direkte Verdunstungskühlung erreichen lässt. Die Temperaturabsenkung ist umso größer, je trockener die umgebende Luft ist. Ab einer Kühlgrenztemperatur von 35°C kann der Körper keine Wärme mehr an die Umwelt abgeben, nimmt stattdessen Wärme auf. Da hilft keine Gewohnheit mehr.

Temperaturextreme bedrohen bestimmte Bevölkerungsgruppen mehr als andere. Kinder und ältere Menschen sind exponiert, dazu noch Schwangere und Babies.11 Vor allem aber sind es Marginalisierte, deren Morbidität und Mortalität steigen. Ihnen mangelt es von vornherein an Zugang zu Gesundheitsdiensten, sie leben beengt, oft unter schlechteren hygienischen Bedingungen. Die weitverbreiteten und beliebten Wellblechdächer lassen zudem die Innenraumtemperaturen unverhältnismäßig steigen.12

Ökologische Veränderungen werden sich im Sahel direkt auf die Lebensumstände auswirken und diesbezügliche Verschlechterungen werden vielfach Abwanderung verursachen, wobei nur ein Teil dieser Migration Grenzen überschreiten und nur ein sehr bescheidener Teil Europa erreichen wird. Eine weitere Auswirkung der veränderten ökologischen Bedingungen dürfte ein Anstieg des Hungers sein.

Hunger im Sahel13

Unterernährte in % der Bevölkerung

wachstumsverzögerte Kinder < 5 in % aller Kinder < 5

Kinder < 5 mit Auszehrung in % aller Kinder < 5

Sterblichkeitsrate unter Kindern < 5 in %

Burkina Faso

14,4

23,8

8,1

8,8

Eritrea

61,3

52,5

14,6

4,0

Mali

10,4

26,4

9,3

9,4

Mauretanien

9,1

22,8

11,5

7,3

Niger

13,9

47,1

9,8

8,0

Nigeria

14,6

31,5

6,5

11,7

Senegal

7,5

18,3

8,1

4,5

Sudan

12,3

31,4

12,6

5,8

Tschad

31,7

35,1

13,0

11,4

China

< 2,5

4,8

1,9

0,8

Indien

15,3

34,7

17,3

3,4

Kroatien

< 2,5

0,9

1,2

0,5

Slowakei

4,0

3,8

1,8

0,6

Das Bild, das die Tabelle »Hunger im Sahel« bietet, ist alles andere als erfreulich. Es sei in Erinnerung gerufen, dass die allererste Zeit auf Erden14für die menschliche Gesundheit für den Rest dieses Lebens determinierend ist. Die hohen Raten für stunting (Wachstumsverzögerung/Kinder sind zu klein für ihr Alter, ein Zeichen chronischer Unterernährung) und wasting (Auszehrung/Kinder sind zu leicht für ihr Alter, ein Zeichen akuter Unterernährung) sind somit eine schwere Hypothek für die Zukunft. Dazu kommt noch, dass die letztverfügbaren Daten aus 2019 sind, die Covid-19-Pandemie inzwischen noch viele mehr unter die Hungerschwelle gedrückt hat.

In absoluten Zahlen gab es in den neun Sahel-Ländern 2019 fast 53 Millionen Unterernährte (davon 30 Millionen im bevölkerungsreichen Nigeria). Bei einer Gesamtbevölkerung von 356 (ohne Nigeria 150) Millionen macht das eine Unterernährtenquote von 14,8 % (ohne Nigeria 15,1 %).15

Gemeinsam fließen die angegebenen vier Faktoren der Tabelle in den Welthungerindex der Welthungerhilfe. Unter den neun Sahel-Ländern ist laut der deutschen NGO die Situation im Tschad als »sehr ernst« einzustufen. Eritrea hat keinen Index-Wert zugeordnet bekommen, die Lage dort ist aber sicher zumindest »sehr ernst«.16 Die Situation in sieben weiteren Sahel-Staaten ist »ernst«, einzig in Senegal ist die Ausprägung von Hunger und Unterernährung »mäßig«. Unter den angeführten Vergleichsländern bietet Indien ein ähnliches Bild wie der Sahel, China steht sehr viel besser da. Länder der »Satten Welt« werden im Welthungerindex nicht geführt – die Slowakei und Kroatien sind die österreichnächsten Staaten, für die der Index Vergleichswerte anbietet.

An den Rand gerückt

Es liegt nicht an der Ungunstlage, nicht am Klima. Einst war der Sahel seinen BewohnerInnen genauso Zentrum und Mittelpunkt wie Staaten und Gemeinschaften es ihren Angehörigen anderswo auf der Welt waren, er bot teilweise Lebensbedingungen, die den europäischen ebenbürtig, ja manchmal überlegen waren. Ibn Battuta berichtet zum Beispiel von seiner Reise 1352−54 ins heutige Mali, wie damals im Land Sicherheit herrschte und er für eine 24-tägige Reise keineswegs des Schutzes einer Karawane bedurfte, er nur mit drei Begleitern reiste. Er berichtet auch von der relativ guten (in seinen Augen unislamisch guten) Stellung der Frauen im historischen Mali. Sehr viel später betonten dann Berichte präkolonialer Reisender aus dem Reich der Mossi im heutigen Burkina Faso, wie wohlgeregelt und sicher es dort zuging.

Einst lebte im historischen Mali auch der vielleicht reichste Mann der Welt. Als Mansa Mussa 1324/25 auf seinem Weg nach Mekka dem ägyptischen Sultan seine Aufwartung machte, gab er so viel aus, dass er den Goldpreis zum Absturz brachte und die ans Gold gebundene ägyptische Währung gleich mit.

Dass der Sahel an den Rand gerückt wurde, ist dem Kolonialismus zu danken. Die Eingliederung in die jeweiligen Kolonialreiche erfolgte an untergeordneter, ja unterstgeordneter Stelle. Am anderen Ende unseres Weltsystems, im Zentrum, finden wir Multis und die ökonomisch-militärischen Mächte, Speerspitze der weltweiten kapitalistischen Entwicklung. Das war am Ende des 19. Jahrhunderts, als der Sahel ins französische und britische Weltreich und, im untypischen Fall Eritreas, ins kleine italienische Kolonialreich eingegliedert wurde, nicht viel anders als heute, auch wenn sich die Schwergewichte verlagert haben, von London nach Washington und Beijing. Funktion der Peripherie ist das Bedienen des jeweiligen Zentrums17 (siehe auch das Ökonomie-Kapitel von Günther Lanier). In Zeiten von Zwangsarbeit und Eingeborenen-Ordnung war das offensichtlicher, aber an der Unterordnung und der Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Zentren hat sich auch in den Ex-, Post- oder Neo-Kolonien nicht viel geändert. Seinem heißen Klima zum Trotz ist der Platz des Sahel am Rand der Peripherie des Weltsystems keiner an der Sonne.

Mit der Unabhängigkeit afrikanischer Staaten wird generell die Idee der Selbstbestimmung verbunden. Um aus globalen Ordnungen und Hierarchien auszubrechen, hätte es allerdings konzertierter Anstrengungen und eines nachhaltigen Widerstands bedurft. In den allermeisten Fällen wurde stattdessen die Machtübergabe von den Kolonialherren von langer Hand vorbereitet. Die meist aus dem kolonialen Verwaltungsapparat hervorgegangenen nationalen Bourgeoisien, die dann bereitstanden, ja ungeduldig darauf warteten, den Fremden an der Staatsspitze nachzufolgen, erbten die bestehenden Strukturen der Dominanz und Ausbeutung und nutzten sie meist und mit frischem Appetit18 zum eigenen Vorteil, als wären »ihre« Länder nichts anderes als Unternehmen und es gälte, sie zum eigenen Profit auszuschlachten.

So verkamen die Unabhängigkeiten in vieler Hinsicht zum Nichtereignis und außer der Farbe der Haut unterschied die neuen Herrschenden wenig von den alten.

Für eine radikale Neuausrichtung hätte es vielerorts Traditionen politischer Hierarchielosigkeit gegeben – siehe die akephalen oder segmentären Gesellschaften,19 die schon den Kolonialherren das Herrschen mancherorts schwer gemacht hatten. Diese hätten einer Ordnung der Nichtdominanz als Basis dienen können. Doch freilich lief das den Grundprinzipien der geltenden Weltordnung zuwider. Versuchen, alternative Herrschafts- und Wirtschaftsmodelle zu verwirklichen und der Entfremdung entgegenzuwirken,20 wurde meist ein schnelles Ende bereitet. Im Sahel-Raum sind dafür der unsanft von der Macht entfernte Modibo Keita in Mali 1968 und der in Burkina Faso 1987 ermordete Thomas Sankara die bekanntesten Beispiele. Sehr viel rezenter, hat 2011 der Sturz des unbotmäßigen libyschen Staatschefs Gaddafi, der von Sarkozy & Co aus dem Amt gebombt wurde, desaströse Auswirkungen auf den Sahel gehabt.

Das koloniale In-Wert-Setzen wird durch die Unabhängigkeiten zur Entwicklungshilfe und die wird später zur politisch korrekteren Entwicklungszusammenarbeit. Und man muss sie sich ansehen, auch heute noch, die kleinen Gesandten der »Satten Welt«, wie sie in ihren Büros in den Botschaften oder Kooperationsbüros thronen, kleine KönigInnen,21 DiktatorInnen gleich, und das aufgrund der paar Millionen, die sie zu verwalten haben. Schließlich hat nur das, was vor ihren Augen Gnade findet, die Chance, finanziert zu werden.

Was die Wiener Entwicklungszusammenarbeit (EZA) betrifft, befindet sich nur ein Sahel-Land unter ihren Schwerpunktländern, nämlich Burkina Faso.22 Es ist jedoch ein anderes, nämlich der Sudan, der jetzt Österreich die unerhörte Möglichkeit eröffnet, in den hehren und sehr beschränkten Kreis der Länder vorzustoßen, die das Versprechen wahrmachen, 0,7 % des BIP für EZA aufzuwenden. 2022 und 2023 soll das sein. Und ein Schuldennachlass eines Kredites aus den 1970ern soll es möglich machen. Der Kredit war damals wahrscheinlich circa 75 Mio. USD wert, jetzt aber soll 2022 und 2023 jeweils mehr als 1 Mrd. USD abgeschrieben werden. Einziger Haken: Der Pariser Club muss noch zustimmen und der Putsch al-Burhans vom Oktober 2021 lässt das wenig wahrscheinlich erscheinen.23

Grenzen vom Reißbrett und nicht-besetzte Territorien

Bezüglich der politischen und gesellschaftlichen Verfasstheit des Sahel dürfen wir nicht vergessen, dass Staaten hier Gebilde kolonialer Provenienz und relativ geringer historischer Tiefe sind. Eigentlich ist ihr Überleben (das gilt für ganz Afrika) eher überraschend. Aber sie bleiben fragil und die Herrschaft des jeweiligen nationalen Zentrums über die Peripherie kann keineswegs als gesichert angesehen werden. Dabei spielt die Geographie der sauberen Einteilung der Welt in nationale Einheiten einen Streich, ist der Sahel doch dünn besiedelt, somit auch nur mit großem Aufwand zu »okkupieren«, vom jeweiligen Staat schwer zu kontrollieren. Gerade in solchen staatlich kaum besetzten, ja vernachlässigten Gebieten, haben sich im Sahel terroristische Gruppen breitmachen können. Während sich Mauretanien, das erste, schon in den 2000er Jahren von Terrorismus betroffene Sahel-Land dieses Problems inzwischen entledigen hat können, sind heute vor allem Nordost-Nigeria mitsamt dem Tschadsee-Gebiet und die Zone der drei Grenzen (Mali-Niger-Burkina Faso) betroffen (siehe dazu den Beitrag zum Terrorismus von Günther Lanier). In diesem Zusammenhang kann es auch zu einer Verschärfung ethnischer Konflikte kommen. Dass Ethnien zum Beispiel von PolitikerInnen aus wahltaktischen Gründen funktionalisiert werden, ist ja weder ein neues, noch auf den Sahel beschränktes Phänomen.

Im Zuge des Kampfes gegen den Terror ist es jedenfalls gelungen, die Militärpräsenz Frankreichs in der Region zu konsolidieren und auszuweiten. Dabei urgiert Paris – immer erfolgreicher – eine konsequente Unterstützung durch seine EU-Partnerländer. Deutschland und vermehrt auch Österreich u. a. m. entlasten die Ex-Kolonialmacht finanziell und militärisch. Dabei kann, was den Terrorismus betrifft, keineswegs von einem Erfolg die Rede sein – alle wissen eigentlich auch, dass seine Bekämpfung anderes braucht, dass das Militärische nur eine Komponente unter vielen sein sollte.

Dass auch jenseits des Terrorismus in Sachen Politik im Sahel nicht alles so läuft, wie es sollte, lässt sich schon daran erkennen, dass sich drei der dortigen neun Staaten derzeit in Transition befinden: Im Sudan, in Mali und Tschad hat das Militär geputscht.

Dass die Sahel-Staaten sich auch in einem übertragenen Sinn schwertun, ihnen anvertrautes »Gelände« tatsächlich zu besetzen, ist im Bildungssektor, der vielfach im Argen liegt, und vor allem im sozialen Bereich besonders offensichtlich. Von einem Sozial- oder Wohlfahrtsstaat ist nirgends viel zu merken. Krankenversicherung gibt es zum Beispiel jenseits der internationalen NGOs oder mancher Großunternehmen nur, wenn einer privat dafür zahlt. Im Zuge der dauerhaften Entwicklungsziele der UNO ist mehr und mehr von der universellen Krankenversicherung die Rede,24 doch wird sich diese ganz überwiegend selbst aus privaten Beitragszahlungen finanzieren müssen. Arbeitslosengeld gibt es nirgends, Pensionen freilich nur im formellen Sektor und auch dort sind sie so niedrig, dass das traditionelle Vorsorgesystem weiterbesteht: Wenn sie klein sind, bringst du die Kinder durch, wenn du alt bist, bringen die Kinder dich durch.

Was die Gesundheit betrifft, haben die Staatschefs der Afrikanischen Union im April 2001 in der sogenannten Abuja-Erklärung zwar versprochen, den Anteil des Gesundheitssektors auf 15 % der gesamten Budgetausgaben aufzustocken, dieses hehre Ziel bleibt jedoch völlig außer Reichweite. Im Sahel lagen die Werte zuletzt zwischen 2,4 % (Eritrea) und 8,8 % (Burkina Faso).25 Pro Kopf der Bevölkerung liegen die absoluten Beträge der Gesundheitsausgaben aus dem Regierungsbudget zwischen 3,70 USD (Eritrea) und 19,55 USD (Mauretanien) jährlich26 – deutlich unter dem Durchschnittswert von 30,44 USD für ganz Subsahara-Afrika.

Angesichts dessen, was diese Zahlen für die medizinische Wirklichkeit bedeuten – nämlich zum Beispiel, dass es kaum Beatmungsgeräte gibt – brach, als die Covid-19-Pandemie um sich griff, zunächst einmal Panik aus, war doch klar, dass die Gesundheitssysteme im Sahel beim absehbaren Anstieg der IntensivstationspatientInnen sehr schnell völlig überfordert wären. Meist wurde daher in vorbildhafter Manier vorgebeugt – sehr viel schneller als in Europa wurden Maßnahmen zum Schutz vor »der Krankheit«27 ergriffen, Grenzen wurden geschlossen, partielle Lockdowns lähmten die Wirtschaft und erschwerten den »von der Hand in den Mund« lebenden Bevölkerungsteilen das alltägliche Überleben. Gegenüber Europa zeitverzögert kam es dann zu ersten Infektionen – und interessanterweise fand die Ansteckung ganz überwiegend aus Europa statt und nicht aus China, ganz so, als wolle die »chinesische Krankheit« beweisen, dass die vielbeschworene Verdrängung der Ex- und Neo-Kolonialherren durch China noch bei weitem nicht so weit gediehen ist, wie es gerne an die Wand gemalt wird. Weiter stimmt: Alles Gute kommt aus Europa: Auf die Kolonisierung Ende des 19. folgte Anfang des 21. Jahrhunderts die Coronisierung.

Falscher Alarm

Doch die anfängliche Angst hat sich mittlerweile in Gleichgültigkeit gewandelt. Die prognostizierte Katastrophe trat nicht ein. Zwar ist im Sahel noch heute manche Landgrenze geschlossen und für den Zutritt zu mehreren, vor allem staatlichen Institutionen ist eine Maske erforderlich. Und Covid-19 hat im Sahel schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen gehabt, insbesondere wegen der Schutzmaßnahmen, der teilweisen Lockdowns, der Störungen im internationalen Handel, dem weitgehenden Ausbleiben der TouristInnen. Doch bleiben die Zahlen, ob es um Infizierte oder um Tote geht, im Vergleich zu Europa bisher fast lächerlich niedrig.

Covid-19 im Sahel Mitte November 202128

Eritrea

Sudan

Tschad

Niger

Nigeria

Burkina Faso

Mali

Maure-tanien

Senegal

Gesamtzahl der Infizierten

7 055

41 093

5 107

6 592

213 147

15 281

16 666

38 133

73 954

Gesamtzahl der Covid-Toten

51

3 099

175

232

2 968

234

585

807

1 881

Gesamtzahl der Geimpften

0

2,1 Mio

234000

1,1 Mio

9,1 Mio

415000

389000

1,7 Mio

1,3 Mio

Geimpfte in % der Bevölkerung

0,0

4,8

1,4

4,5

4,4

2,0

1,9

36,3

7,8

Dass die ausgewiesenen Zahlen für Covid-Infizierte niedrig sind, liegt vor allem daran, dass sich kaum wer testen lässt, außer Kranke mit Verdacht erregenden Symptomen sowie Reisenden, die ins Flugzeug steigen wollen. Auch Covid-Tote gibt es »in Wirklichkeit« wohl mehr als ausgewiesen werden, doch dürfte hier die Untererfassung nicht so bedeutend sein. Im Sahel ist es den Großteil des Jahres heiß und zumindest die frühen Varianten des Coronavirus waren hitzeempfindlich. Zudem findet ein größerer Teil des Lebens im Freien statt und selbst Innenräume werden selten luftdicht verschlossen. Die Bevölkerung ist im Schnitt auch sehr viel jünger als in der »Satten Welt«, wobei betagte Infizierte ja generell die gefährdetsten sind. Vor allem aber dürften im Sahel Residierende – diejenigen, die das Stadium der frühen Kindheit überstehen – im Lauf ihres Lebens Widerstandskräfte gegen alle Arten von Keimen entwickeln und sich daher auch des Coronavirus besser erwehren können als BewohnerInnen des Globalen Nordens, die unter »besseren«, hygienischeren, sterileren Bedingungen aufwachsen und leben.

Möge der Sahel in Zukunft anderen Krisen trotzen und widerstehen, wie er es gegen Covid geschafft hat!

1 Petra Radeschnig gilt mein herzlicher Dank für Kommentare und Lektorieren! Das gilt auch für meine weiteren Beiträge in diesem Buch.

2 Karte erstellt von Rainald62 am 4. 1. 2020, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sahel_rain.svg, Ländernamen hinzugefügt und in schwarz-weiß transformiert von GL.

3 In den letzten Jahren wiederbelebt im Rahmen der Neuen Seidenstraße.

4 Es gibt eine zweite, weniger oft anzutreffende Hypothese, den Namen »Sahel« betreffend, dass der nicht vom arabischen al-sāḥil (Küste, Ufer), sondern vom arabischen sahl (Ebene) käme.

5 Achille Mbembe, Brutalisme, Paris (La Découverte) 2020, S. 24, Übersetzung GL.

6 Ebd., S. 23f.

7 Den Ausdruck »Satte Welt« prägte Nazi Boni im ersten je geschriebenen burkinischen (obervoltaischen) Roman »Crépuscule des temps anciens. Chronique du Bwamu«, Paris (Présence africaine) 1962, S. 16. Im Original: »Tiers-Monde« (= Dritte Welt) und »Monde-Repu«.

8 »Der Kapitalismus wird einer der Ansporne dieses Projekts einer Welt ohne unaneigenbares Draußen gewesen sein.« Achille Mbembe, Brutalisme, Paris (La Découverte) 2020, S. 36. Siehe aber auch die Anmerkungen im Ökonomie-Kapitel zur anhaltenden ursprünglichen Akkumulation.

9 Quelle: Weltbank (World Bank Group, Climate Change Knowledge Portal – da die Webseite »under re-construction« ist, sind die Daten https://listfist.com/list-of-countries-by-average-temperature entnommen – dort ist ebendiese Weltbank-Webseite die Quelle). Zugriff 14. 11. 2021.

10 Diese »Kühlgrenztemperatur« hängt von der Luftfeuchtigkeit ab. Die sogenannte »Feuchtkugeltemperatur« ist die tiefste Temperatur, die sich durch direkte Verdunstungskühlung erreichen lässt. Der Körper schafft es nicht mehr, Wärme an die Umgebung abzugeben, wenn die Feuchtkugeltemperatur 35°C oder mehr beträgt, Menschen sollen das nur sechs Stunden überleben können. 25° Feuchtkugeltemperatur entsprechen zum Beispiel sowohl 40° Lufttemperatur bei 30 %iger Luftfeuchtigkeit als auch 30° Lufttemperatur bei 70 %iger Luftfeuchtigkeit. 30 % Luftfeuchtigkeit hat es im Sahel in der Trockenzeit, 70 % zum Höhepunkt der Regenzeit. Fürs Umrechnen siehe die Grafik auf https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%BChlgrenztemperatur.

11 Dieser und die beiden vorangehenden Absätze stützen sich auf Abdu Mohiddin, Christopher Jack, Evans Kituyi, Kristie Ebi, Matthew Chersich, Stanley Luchters, Extreme heat hurts human health. Its effects must be mitigated – urgently, The Conversation 10. 11. 2021, https://theconversation.com/extreme-heat-hurts-human-health-its-effects-must-be-mitigated-urgently-171327/.

12 Ebd. verweist auf eine Studie, die das für Dar es Salaam nachgewiesen hat, deren Resultate aber zweifellos für den Sahel verwendbar sind – die Beengtheit vor allem im urbanen Kontext: Lorena Pasquini, Lisa van Aardenne, Christie Nicole Godsmark, Jessica Lee, Christopher Jack, Emerging climate change-related public health challenges in Africa: A case study of the heat-health vulnerability of informal settlement residents in Dar es Salaam, Tanzania, Science of The Total Environment, Bd. 747, 10. 12. 2020, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0048969720348841?via%3Dihub.

13 Quelle: interaktive Karte des Welthunger-Indexes, https://www.welthungerhilfe.de/hunger/welthunger-index/, Zugriff 15. 11. 2021, alle Werte für 2019 außer für Eritrea/Auszehrung sowie Wachstumsverzögerung, diese für 2012. Für Unterernährte in % der Bevölkerung gibt der Welthungerindex für Eritrea und Niger keine Werte an – die in der Tabelle sind von der FAO und für 2011−13, s. FAO, IFAD, WFP, The State of Food Insecurity in the World 2013. The multiple dimensions of food security, Rom (FAO) 2013. Der aktuelle FAO-Bericht (FAO, IFAD, UNICEF, WFP, WHO, The State of Food Security and Nutrition in the World 2021. Transforming food systems for food security, improved nutrition and affordable healthy diets for all, Rom (FAO) 2021, https://doi.org/10.4060/cb4474en) gibt für Eritrea und Niger diesbezüglich keine Werte an.

14 Insbesondere die Zeit im Bauch der Mutter und die ersten beiden Jahre nach der Geburt.

15 Für die Bevölkerungszahlen s. die Tabelle zu Beginn des Ökonomie-Kapitels.

16 Es geht noch schlimmer: Die Lage in Somalia wird als »gravierend« bewertet. Außer im Tschad ist die Situation laut Welthungerhilfe in Afrika noch in der Zentralafrikanische Republik, im Südsudan, in Kongo-Kinshasa, Burundi und Madagaskar »sehr ernst«, in Asien in Syrien und Jemen. In Indien sei sie »ernst«. Für China, Kroatien, Slowakei sei die Ausprägung von Hunger und Unterernährung »niedrig«, die beste Kategorie.

17 Es gibt nicht nur ein Zentrum, sondern mehrere. Ebenso gibt es nicht nur eine Peripherie, sondern mehrere. Jedes Zentrum hat seine eigene Peripherie: die bidonvilles rund um Paris, das niederösterreichische Waldviertel, von US-Betrieben zugunsten von Billiglohnländern aufgegebene Industriestandorte in den USA, usw. Ebenso gibt es in jeder Peripherie ein Zentrum, meist in den jeweiligen Hauptstädten, die Viertel mit den Reichen und Orte relevanter Produktion. Spätestens an den Rändern dieser Städte beginnt dann »der Busch« und der vertieft sich mit der Distanz zur Großstadt. Auch gibt es zwischen Welt-Zentrum und Welt-Peripherie eine ganze Palette von Zwischenmächten. So rangieren zwischen der selbst nur mehr in der zweiten Reihe agierenden Pariser Neokolonialmacht und ihren KompradorInnen (im Auftrag des Auslandskapitals tätige MittlerInnen) in der malischen Hauptstadt Bamako jedenfalls noch Kleinmächte wie Marokko und, abermals eine Stufe unterhalb, die Côte d’Ivoire.

18 Frantz Fanon schrieb 1960: »Nach ersten zögerlichen Schritten in der internationalen Arena offenbaren die nationalen Bourgeoisien (…) ihren großen Appetit. Noch ohne politische Praxis, wollen sie ihr Amt wie ihr Geschäft betreiben.« Frantz Fanon, Œuvres, Paris (La Découverte) 2011, S. 868. Übersetzung GL.

19 Akephal heißt »kopflos« und bezieht sich auf die Abwesenheit von politischer Autorität jenseits des Clans oder Dorfes. Dieses Gesellschaftsmodell soll aber keineswegs idealisiert werden. Nach innen bestehen sehr wohl strenge Hiearchien, insbesondere nach Alter und Geschlecht.

20 Auf Französisch oder Englisch leichter zu sagen: »désaliénation« bzw. »disalienation«.

21 Ein einstiger Gouverneur der Côte d’Ivoire betitelt sein Buch über die Kolonialadministration »König des Busches«: Hubert Deschamps, Roi de la brousse, Paris (Berger-Levrault) 1975.

22 Drei weitere befinden sich in Afrika: Äthiopien, Mosambik, Uganda.

23 Siehe hierzu Petra Bayr, Sprecherin der SPÖ für Themen der globalen Entwicklung und auch Vorsitzende des parlamentarischen Unterausschusses für Entwicklungspolitik, am 12. 11. 2021 in »EZA: Österreich bleibt knausrig« im International-Youtube-Video auf https://www.youtube.com/watch?vyl6-wlb-MMo.

24 Siehe die interaktive Karte auf https://www.who.int/data/gho/data/themes/topics/service-coverage.

25 Die letztverfügbaren Daten der Weltbank sind für 2018. Die Werte für die anderen Sahel-Länder sind: Senegal 4,3 %, Nigeria 4,4 %, Tschad 5,2 %, Mali 5,4 %, Mauretanien 6,1 %, Sudan 6,8 %, Niger 8,4 %. Zugriff 16. 11. 2021. Siehe https://data.worldbank.org/indicator/SH.XPD.GHED.GE.ZS?locationsZG-BF-TD-ER-ML-MR-NE-NG-SN-SD.

26 Abermals Weltbankdaten für 2018. Die Werte für die anderen Sahel-Länder sind: Tschad 4,97 USD, Mali 9,86 USD, Niger 10,08 USD, Nigeria 12,45, Sudan 13,75 USD, Senegal 14,00 USD, Burkina Faso 17,11 USD; siehe https://data.worldbank.org/indicator/SH.XPD.GHED.PC.CD?locationsZG-BF-TD-ER-ML-MR-NE-NG-SN-SD.

27 Dieser Ausdruck war davor für HIV-Aids reserviert gewesen.

28 Quellen: für Impfungen und Impfraten (zuletzt upgedated am 14. 11. 2021) https://theconversation.com/want-to-know-about-vaccine-rollouts-in-africa-click-on-a-country-here-and-find-out-168621; für Infizierte und Tote (Daten für 15. 11. 2021) https://www.jeuneafrique.com/910230/societe/coronavirus-en-afrique-une-carte-pour-suivre-au-jour-le-jour-lavancee-de-lepidemie/; Zugriff 16. 11. 2021.

Felix Senegal?

Georges Hallermayer

Senegal wird gerne als positive Ausnahme in Afrika gesehen. Trotz katastrophaler Auswirkungen der klimatischen Veränderungen (Küstenerosion, Verlängerung der Trockenzeit, Ausbreitung der Sahelzone etc.) kam das Land einigermaßen gut über die jüngsten Krisen: Keine djihadistischen Terrorattacken bislang29 entlang der 480 km langen Grenze mit Mali und von Covid-19 lange verschont. Überdurchschnittlich hohe wirtschaftliche Zuwachsraten in den letzten zehn Jahren30 mit guten Prognosen für die nächsten Jahre, eine der niedrigsten Armutsraten in der Region und eine stabile breite »große Koalition« auf reformfreudigem Entwicklungsweg sind durchaus bemerkenswert. Sollte das Land nicht zwischen die Mahlsteine imperialistischer Hegemonie geraten, sollten sich die gesellschaftlichen Widersprüche nicht verschärfen, sollte die junge Bevölkerung die Geduld nicht verlieren, sind die Zukunftsprognosen nicht allzu schlecht.

Zweifelhafter Export: freedom & democracy

US-Präsident Joseph Biden lud am 9. Dezember 2021 zu einem »Demokratie-Gipfel« nach Washington, darunter 17 afrikanische Staaten.31 Zur Erinnerung: Am 20. Juni 1990 rief der französische Präsident François Mitterand noch 37 afrikanische Länder ins Seebad La Baule-Escoublac in die »Schule der Demokratisierung«,32 um seinen »Discours« (kein Putsch bzw. Intervention, freie Wahlen im Mehrparteien-System) zur Kenntnis zu nehmen. Bröckelt die neokoloniale, formalistisch-demokratische Fassade seit dem »Marsch aufs Weiße Haus«, dem blutigen Rassismus in den USA, dem Unvermögen, in Afghanistan während 20 Jahren Besatzung ein demokratisches Staatswesen aufzubauen? Nimmt es da Wunder, dass die »westliche Demokratie« immer weniger geschätzt wird, je jünger die Afrikaner sind?33 Sollte militärische Hegomonie vermittels AFRICOM demonstriert werden oder sollte das US-amerikanische Füllhorn verschiedener Programme – USAID, Power Africa (Stromversorgung), Access Africa (Informationstechnologie) und Prosper Africa – Handel und Investitionen voranbringen?

Unter den 17 afrikanischen Ländern, von Präsident Joseph Biden als »continent democratic standard-bearer« (demokratische Vorreiter) bezeichnet, befand sich auch Senegal,34 obwohl (oder gerade weil) das panafrikanische überparteiliche Meinungsforschungsinstitut »Afrobarometer«35 in einer Umfrage herausgefunden hatte, dass sich im Senegal die USA und die VR China als Entwicklungsmodell die Waage halten. Seit der diplomatischen Anerkennung Chinas 2005 sei die Zusammenarbeit »ein Modell der nachhaltigen Partnerschaft für eine inklusive und solidarische Entwicklung … nicht nur pragmatisch, sondern sehr effektiv, weil sie mit gegenseitigem Respekt an Prioritäten, die von Afrikanern selbst definiert werden, orientiert ist«, so Präsident Macky Sall im Juni 2018.36

Die Deutsche Afrika-Stiftung bemängelte den »undeutlichen Maßstab«, nach dem die Länder eingeladen wurden.37 Joseph Biden hatte sich weder an die von der neoliberalen Washingtoner NGO Freedom House herausgegebenen »Freedom in the world«-Länderliste noch an den »Index of Governance« der Stiftung des anglo-sudanesischen Milliardärs Mo Ibrahim gehalten (wie OECD, Weltbank und Kreditrating-Agenturen). Auf jeden Fall wird der Senegal bei beiden geschätzt. Im Ranking der Mo Ibrahim Foundation hat sich das Land sogar um drei Plätze verbessert und befindet sich nunmehr im »inner circle« der TOP 10 Afrikas ob seines »sehr guten Managements der Covid 19-Pandemie« und des guten Investitions- und Geschäftsklimas.38

Senegal: Leuchtturm der Demokratie oder vorauseilender Gehorsam?

Der Senegal gilt den USA seit der Unabhängigkeit als »Leuchtturm der Demokratie«. Im philosophischen Selbstverständnis der »Negritude« suchte der sozialistische Dichter-Präsident Leopold Sedar Senghor39 20 Jahre lang mit der Neo-Kolonialmacht Frankreich auszukommen, entsprechend den Verträgen zur Unabhängigkeit, welche die Dominanz Frankreichs, den militärischer »Beistand«, abzuzahlende Investitionen aus der Kolonialzeit und einbehaltene Gold- und Devisenreserven mit dem Franc CFA inklusive regelten. Das panafrikanische Experiment einer föderativen Vereinigung mit Mali gab Senghor 1960 bereits nach wenigen Monaten auf – aufgrund inkompatibler französischer Interessen und frankophob-sozialistischer Positionen von Malis Präsident Mobido Keita, der wie Abdel Nasser in Ägypten, Kwame Nkrumah in Ghana, Sekou Toure in Guinea, Ben Bella in Algerien einen sozialistischen Entwicklungsweg40 oder wie Julius Nyerere in Tansania oder Kenneth Kaunda in Sambia einen mit afrikanischen Charakteristika eingeschlagen hatte.41 Damit die »Freundschaft« mit Frankreich nicht nachließ, gab es Budgethilfen der französischen Entwicklungsagentur AFD, Kredite der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds mit ihren Anpassungsreformen, die verstärkt ab den 1980er Jahren eine neoliberale Orientierung bewirkten.

Erst 1997 wurden Oppositionsparteien zugelassen. Vor dem Ende seiner vierten Legislaturperiode übernahm »übergangsweise« sein sozialdemokratischer Erbe Abdou Diouf die Regierungsgeschäfte, 1983 wurde er gewählt, 1988 wiedergewählt und 1993 für eine um zwei Jahre verlängerte Amtszeit erneut gewählt. An der politisch-ökonomischen Kandare des Franc CFA und den von den Kreditgebern Weltbank und IWF aufgezwungenen neoliberalen »Anpassungsreformen« hielt er fest.

Im Jahr 2000 fand zum ersten Mal ein »friedlicher« Wechsel per Wahl im Präsidentenamt statt: Abdoulaye Wade brachte zur Freude seiner neokolonialen Partner in Paris und Washington 2001 eine demokratische Verfassungsreform auf den Weg: Wie der französische Präsident Jacques Chirac ließ er das Mandat wieder auf fünf Jahre verkürzen und eine Neuheit in die Verfassung einfügen: nur eine Wiederwahl! (Fast ein Viertel der Staatschefs Afrikas – zwölf von 54 – sind länger als 20 Jahre an der Macht.42) Abdoulaye Wade – 2007 wiedergewählt für verlängerte sieben Jahre – strebte eine dritte Amtszeit an, wurde aber nach blutig niedergeschlagenen Protesten in einer Stichwahl im Jahr 2012 von Macky Sall geschlagen. Dieser änderte zum fünften Mal seit 1960 die Dauer der Präsidentschaft auf fünf Jahre.

Macky Sall schaffte den von Präsident Abdou Diouf geschaffenen Senat als zweite Kammer zum zweiten Mal ab. Die 119 Parlamentsabgeordneten stecken mit 2.300 Dollar im Monat43 das 30fache des senegalesischen Durchschnittseinkommens ein und sind dazu von Steuern befreit. Die Versorgung der politischen Seilschaft mit Posten im öffentlichen Dienst setzt sich wie in den meisten afrikanischen Staaten bis in die unterste Ebene der Verwaltungshierarchie fort.

Opposition gegen Entwicklung?

Die Streitfrage, ein Präsidenten-Nachfolger oder verfassungsgeändertes 3. Mandat für Macky Sall, wurde innerhalb der Koalition (noch) nicht gestellt. Macky Sall selbst schweigt dazu. Die breite Koalition des Präsidenten – von nationalpatriotisch bis ex-kommunistisch – wirkt stabil und will die drei Achsen des Entwicklungsprogramms (PSE)44 umsetzen. Der ehrgeizige Plan umfasst den Zeitraum 2014−23, soll sich aber bis 2035 erstrecken. Die mit Guinea-Bissau ausgehandelte Ausbeutung der Offshore-Ölvorkommen45 soll zur Finanzierung beitragen. Der PSE beinhaltet einen »Prioritären Aktionsplan« (PAP) mit 27 Großprojekten und 17 Reformen 2014−18, der zweite Fünfjahrplan betont die Förderung des privaten Sektors auf drei Entwicklungsachsen:

Die ökonomische Restrukturierung der Wirtschaft: Infrastruktur, Energieversorgung, Landwirtschaft. Die Eisenbahn zwischen Dakar und Bamako soll erneut in Angriff genommen werden, nachdem Mali das 2013 beschlossene chinesische Projekt nach der französischen Militärintervention annullierte. Mali ist Hauptabnehmer des Exports (21 %).46

Soziale Reformen: Bei einer Alphabetisierungsrate von 43 %47 für Bildung sowie Gesundheitsversorgung wird die Hälfte des Staatshaushalts eingesetzt.48 Die Armutsrate ist von 2011 bis 2019 von 42,8 auf 37,8 % gesunken, in der Hauptstadt Dakar von 14,2 % auf 8,7 %.49

Frieden & Sicherheit: In der Casamance besteht seit 2004 mit der separatistischen Bewegung MFDC ein Friedensabkommen, im Februar 2021 startete das senegalesische Militär eine Offensive gegen abgesplitterte Rebellengruppen.50 Im Südosten des Landes, an der Grenzlinie zu Mali, drohen sich djihadistische Gruppen einzunisten. Auch wenn bislang mit (sozial-)politischen Mitteln djihadistische Attacken, Geiselnahmen in der Goldzone und blutige Fehden vermieden werden konnten,51 so gilt es, präventiv die Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung in diesen ländlichen Gebieten zu verbessern und in den städtischen Randgebieten auch der Jugend eine Perspektive zu bieten.

Mit der VR China sind in diesem Entwicklungsprogramm PSE verschiedene Projekte vereinbart, die im Rahmen der »comprehensive strategic cooperative partnership« (umfassende strategische Kooperationspartnerschaft) realisiert wurden.52 Um nur einige Beispiele zu nennen: die die Regionalstädte Thies, Touba und Mbour mit der Hauptstadt verbindenden Autobahnen, das Museum der schwarzen Zivilisation, Sportstadien und Krankenhäuser. Das Vorzeigeprojekt Diamniadio-Industriepark zieht in der zweiten Ausbaustufe nicht nur chinesische Investitionen an, sondern soll bis 2022 23.000 Arbeitsplätze bieten.53 Der im Vergleich zu Frankreich unentwickelte Handel – 2020 Export nach China 6,7 %, Import 9,25 % – soll über das China-Africa cross-border RMB Center gesteigert werden. Das im Dezember unter dem Co-Vorsitz Senegals abgehaltene 8. Forum der afrikanisch-chinesischen Zusammenarbeit FOCAC markierte einen neuen Meilenstein.

Oder patriotisch-antiimperialistischer Widerstand?

Der bürgerliche Patriotismus der Regierung unterscheidet sich fundamental vom Patriotismus der radikal-linken Opposition. Macky Sall sucht die beschränkte politische Souveränität ökonomisch zu untermauern, ohne die Währungssouveränität anzustreben, was einen Bruch mit Frankreich bedeuten würde. Im Dezember 2010 forderte er, einen Agrar-Industriekomplex zu entwickeln. Um nicht in die Schuldenfalle der Weltbank und des IWF mit ihren politischen Bedingungen zu geraten, forderte er im Dezember 2019 den Washington Consensus durch einen Dakar-Consensus abzulösen.

Die radikal-linke Opposition strebt darüber hinaus die volle nationale Souveränität an, allerdings ist die ökonomische Souveränität dafür Bedingung. Zu erreichen sei dies nur in einem panafrikanisch »vereinten Afrika« – gegen Imperialismus und gegen die herrschenden »bürokratisch-bourgeoisen Statthalter«.

Die anti-imperialistische Opposition im Senegal hat zwei führende Köpfe: in außerparlamentarischer Hinsicht den Aktivisten und Sprecher der Bewegung »FRAPP-France degage« (Front pour une Révolution Anti-impérialiste Populaire et Panafricain) Guy Marius Sagna, und im Parlament den Vorsitzenden der Partei »PASTEF-LESPATRIOTES« Ousmane Sonko. Nach dem Aufruhr im Frühjahr 2021 festigten die beiden Organisationen ihre Zusammenarbeit.

Guy Marius Sagna ist der bei der Jugend des Landes populäre »Mann des Jahres 2021« der sozialen Medien. Mehrere Gefängnisaufenthalte wegen angeblicher Unbotmäßigkeit und fake news konnten ihn nicht davon abhalten, mit seinen Genossen Korruptionsskandale aufzudecken und die Bevölkerung zu mobilisieren, für ihre Interessen einzutreten. Während des Sommers organisierte die FRAPP eine Kampagne in der Casamance, um über Skandale in der Landvergabe aufzuklären und Widerstand zu aktivieren. Nicht zuletzt deswegen setzte Präsident Macky Sall eine »Gendarmerie-Brigade« zur Kontrolle der Landvergabe ein.54

Der gelernte Steuerinspekteur Ousmane Sonko hatte sich im letzten Jahrzehnt einen Ruf geschaffen, die ausbeuterischen und umweltschädigenden Aktivitäten multinationaler Konzerne wie Eiffage oder Vinci und Bergbau-Unternehmen anzuprangern.55 2020 war die Regierung nach der Veröffentlichung von Dokumenten von Ousmane Sonko gezwungen, die Konzessionsabgabe des französischen Baumultis Eiffage für den Autobahn-Betrieb nachzuverhandeln und von jährlich eineinhalb Euro (!) auf 1,2 Mio. Euro zu erhöhen. 2019 erreichte Ousmane Sonko zwar nicht die Stichwahl gegen Macky Sall, aber bemerkenswerte 15,6 %. Seit dem Frühjahr 2021 steht er unter Anklage wegen Vergewaltigung einer Masseuse. Er und seine Partei prangern dies als »politische Verschwörung« an, um ihn als Kandidaten zur Präsidentschaftswahl 2024 auszuschalten. Seine Vorladung am 3. März 2021 löste eine antifranzösische Revolte aus. Im Februar 2022 wurde Macky Sall zum Vorsitzenden der Afrikanischen Union gewählt.

Dieser über mehrere Tage andauernde, von der Jugend befeuerte Aufruhr, »Revolte, nicht Revolution« (Guy Marius Sagna)56