Kulturschock NVA - Eckhard Ullrich - E-Book

Kulturschock NVA E-Book

Eckhard Ullrich

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Beschreibung

Einen ungewöhnlich offenen Einblick in den Alltag der Nationalen Volksarmee bieten die hier versammelten Briefe eines Wehrpflichtigen aus seiner 18-monatigen Dienstzeit an der Wende der Ulbricht-Ära zur Honecker-Zeit. Ohne Rücksicht auf eine mögliche Zensur wird darin nicht nur von stumpfsinnigem Drill, willkürlichen Bestrafungen, Inkompetenz beim Personal und störanfälliger Technik berichtet, sondern auch von der Ausbildung für einen Angriff auf die Bundesrepublik. Die authentischen Texte zeigen symptomatisch, dass der Dienst in einer Mot.-Schützen-Einheit für manchen Abiturienten einen Kulturschock bedeutete, da er eine Seite der DDR offenbarte, die viele bis dahin nicht für möglich gehalten hatten. Eine vorbehaltlose Identifikation mit der DDR und ihrem politischen System war danach kaum noch möglich.

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Seitenzahl: 315

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Eckhard UllrichKulturschock NVA

Eckhard Ullrich

Kulturschock NVA

Briefe eines Wehrpflichtigen 1971 – 1973

In Kooperation mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von Februar 2013) © Christoph Links Verlag GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung unter Verwendung der NVA-Erkennungsmarke des Autors Satz: nrm – Nadja Rein Mediengestaltung, Dresden

ISBN 978-3-86284-238-4

Inhalt

Briefe als Einschnitt in die BiografieEin Vorwort

1. Diensthalbjahr November 1971 bis April 1972

2. Diensthalbjahr Mai 1972 bis Oktober 1972

3. Diensthalbjahr November 1972 bis April 1973

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Angaben zum Autor

Briefe als Einschnitt in die Biografie Ein Vorwort

Am 23. Oktober 1970 teilt mir das Wehrkreiskommando Ilmenau mit, dass ich gemäß Paragraph 21 und 22 des Wehrpflichtgesetzes vom 24. Januar 1962 im November 1971 zum Grundwehrdienst einberufen werde. Der letzte Satz des Schreibens lautet: »Die Karl-Marx-Universität Leipzig wurde darüber in Kenntnis gesetzt.« Er zerstörte meine bisher euphorische Sicht in die persönliche Zukunft. Ich hatte die Aufnahmeprüfung für das Zeitungsvolontariat bei der Bezirksredaktion in Suhl mit Leistungen abgeschlossen, die die Prüfer veranlassten, mir ein Journalistikstudium ohne das normalerweise vorher unvermeidliche Volontariat in Aussicht zu stellen. Im September 1971 sollte ich zu studieren beginnen. Aber wie beinahe alle 18-Jährigen musste ich für eineinhalb Jahre zur Nationalen Volksarmee.

Meine Redaktion bot mir an, die zwei Monate zwischen Schulabschluss und Beginn des Wehrdienstes sowie die vier Monate zwischen Entlassung und Studienstart mit einem Volontariat zu füllen. Was ich nicht ahnen konnte: Gerade die Briefe, die ich an die Kollegen sandte, um ihnen meine Eindrücke vom Soldatenleben zu vermitteln, führten dazu, dass ich nach der Entlassung im April 1973 wie ein anderer Mensch behandelt wurde. Aus dem fast übergroßen Vertrauen zuvor wurde nun geduldete Anwesenheit. Man gab mir keine Aufträge mehr, ich musste um sinnvolle Aufgaben geradezu betteln. Keiner sagte mir, was eigentlich los war. Das begriff ich erst, als per Post die Aufforderung kam, meine Studienzulassung nach Leipzig zurückzusenden.

Die 18 Monate Wehrdienst hatten in den Augen der Verantwortlichen in Suhl dazu geführt, bei mir eine, so hieß das damals, ideologische Rückentwicklung zu konstatieren. Es sei keine Bereitschaft zu erkennen, in die SED einzutreten und ihre Politik offensiv zu vertreten. Die Briefe, die zu diesem Urteil geführt hatten, bekam ich nicht mehr zu sehen, nur ein Kollege wies mich darauf hin, dass ich dort die Frage aufgeworfen hatte, warum ich mit dem Erlebnis NVA bestraft worden sei. Mit dem parteioffiziellen Begriff »Ehrendienst« hatte das in der Tat wenig zu tun.

Nach meiner Entlassung Ende April 1973 bemühte ich mich, meine zahlreichen Briefe, die ich an verschiedene Adressaten geschickt hatte, wenigstens leihweise zurückzubekommen. Ich wollte ein Tagebuch nachträglich verfassen, auf das ich während der Dienstzeit verzichten musste, weil alle äußeren Umstände es verhinderten. Doch meine Freunde und ehemaligen Mitschüler hatten meine Briefe in der Regel nicht aufgehoben oder fanden sie nicht mehr. Erhalten geblieben sind lediglich die sehr zahlreichen Briefe an meine Eltern und das Konvolut an meine frühere Mitschülerin Regina Schöps. Da sich die Tagebuchidee zerschlug und ich dann zum Philosophiestudium nach Berlin ging, blieben die Briefe viele Jahre unbeachtet in meinem Schreibtisch liegen.

Eines Tages wurde dann in einer großen überregionalen Tageszeitung die Frage aufgeworfen, warum es eigentlich angesichts der Millionen junger Männer, die mehr oder minder freiwillig ihren Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee der DDR absolviert hatten, so wenig Literatur darüber gebe. Ein paar wenige belletristische Bücher wurden aufgezählt, darunter »Fassonschnitt« von Jürgen Fuchs, vermisst wurden aber ausdrücklich Dokumente und authentische Zeugnisse. Mich veranlasste der Artikel zum Griff in die untere Schublade meines inzwischen dritten Schreibtisches. Sorgfältig sortiert und gebündelt lagen dort die alten Briefschaften. Bei nochmaligem Lesen stellte sich das Gefühl ein, dass diese Briefe vielleicht genau jenen Einblick in den Alltag der DDR-Armee liefern könnten, der von den Zeithistorikern als Mangel beklagt wurde. Von der Idee bis zur Kontaktaufnahme mit Verleger Christoph Links war es kein langer Weg, länger dann der bis zum Abschreiben aller Texte und zur Aufbereitung für ein Buch.

Die vorliegende Edition enthält die Brieftexte durchweg im originalen Wortlaut. Ausgelassen sind lediglich – durch Punkte markierte – allzu private Stellen in den Briefen an Regina Schöps oder solche, die möglicherweise Interessen Dritter berühren könnten. Eine Reihe von Namen in den Briefen sind belassen worden. Es handelt sich um Mitschüler, mit denen ich in Gehren (Thüringen) acht Jahre die Polytechnische Oberschule (POS) »Thomas Müntzer« besucht hatte (Helmut Escher und Bernd Juffa). Helmut Escher traf ich in Rostock wieder. Er hatte für mich schmächtiges 51-Kilo-Kerlchen am ersten Tag im Regiment den viel zu schweren Sack geschleppt, in den meine gesamte empfangene Ausrüstung gestopft worden war. Er war mein Stück Heimat in der Ferne und der, der mir seine Erfahrungen aus einem bereits absolvierten Halbjahr Dienst im Mot.-Schützenregiment 28 vermitteln konnte.

Es handelt sich weiter um Mitschüler, mit denen ich vier Jahre die Erweiterte Oberschule (EOS) »Goethe-Schule« in Ilmenau besucht hatte: Werner Dreßel, Ulrich Förster, Frank Müller, Wolfram Lipfert, Steffi Weiß, Regina Schöps. Mit den drei Erstgenannten, die zeitgleich mit mir eingezogen worden waren, wechselte ich unterschiedlich intensiv Briefe, sie dienten an anderen Standorten (Grenze, Prora auf Rügen). Die beiden ehemaligen Mitschülerinnen studierten bereits (Medizin und Chemie). Ich war in beide gleichzeitig, abwechselnd, zutiefst, zutiefst illusorisch und letztlich perspektivlos verliebt. Die damalige Medizinstudentin lebt leider nicht mehr, der mir bis heute wohlgesonnenen und längst promovierten Chemiestudentin Regina Schöps verdanke ich unter anderem die Erlaubnis, die Briefe für das Buch zu verwenden.

Erwähnt sind der Schriftsteller Walter Werner, den ich wohl meinen frühen Förderer nennen darf, er war lange Bezirksvorsitzender des DDR-Schriftstellerverbandes Suhl, in dem ich eine Zeit lang Gasthörer war und 1989 noch Kandidat wurde, der Journalist Hannes Würtz, der in der Tageszeitung »Junge Welt« die Reihe »Poetensprechstunde« betreute und sich unendlich aufwendig und intensiv um junge Leute bemühte, die er für talentiert hielt. Erwähnt sind zwei Deutschlehrer, Heiner Krannich aus Gehren und Helmut Oehler aus Friedersdorf. Beiden verdanke ich, dass sie mich frühzeitig auf Literatur lenkten, die nicht Gegenstand des Deutschunterrichtes war. Der eine im Unterricht selbst, der andere als Freund meines Vaters und Gesprächspartner in literarischen Dingen. Meine unausrottbare Vorliebe für Günter Kunert stammt aus genau diesen Quellen.

Die Namen jener schlimmen Schinder, die in meinen Originalbriefen teilweise genannt sind, wurden für dieses Buch getilgt, ich habe keinen von ihnen leibhaftig je wieder gesehen, meinen Hauptfeldwebel einmal im Fernsehen als Betreiber einer Kneipe in Leipzig. Nicht getilgt habe ich den Namen von Leutnant Sakowski, obwohl er scheinbar besonders schlecht in meinen Briefen wegkommt. In Wahrheit war er die wandelnde Ausnahme, unmilitärisch im profanen Sinn von gänzlich unpreußisch, er putzte seine Stiefel selbst und ließ dies nicht, wie andere seines Dienstranges, von Soldaten tun. Als Sohn eines in der DDR sehr bekannten Schriftstellers ging ihm der Ruf voraus, er sei aus Protest gegen seinen Vater, der wohl anderes für ihn vorgesehen hatte, zur Offiziersschule gegangen. Ich habe das nicht nachgeprüft, erinnere mich aber an etliche gute Gespräche mit ihm, das letzte vor mittlerweile 35 Jahren, als wir uns auf einem Bahnhof zufällig trafen.

Beim heutigen Lesen der Briefe fiel mir auf, dass ich mir damals offenbar überhaupt keine Gedanken darüber gemacht hatte, ob ein möglicher geheimer Mitleser, Kontrolleur oder Zensor daran Anstoß nehmen könnte, dass ich dieses oder jenes Dienstgeheimnis munter ausplauderte, oder er sich an dieser oder jener Wertung stoßen könnte, die ich ohne Mäßigung und bisweilen auch schnoddrig zu Papier brachte. Was ich wirklich bedauere, ist der Verlust jener Briefe an meine männlichen ehemaligen Mitschüler, die manche Details enthielten, die ich meinen Eltern nicht zumuten, meinen Freundinnen aber nicht mitteilen wollte. Meinen Arbeitskollegen in Suhl beschrieb ich nicht nur – wie gewünscht – meine »gesellschaftliche Arbeit«, was also auf FDJ-Versammlungen in Kompanie und Bataillon diskutiert wurde, sondern auch ziemlich naiv das Unsozialistische an unserer sozialistischen Armee.

Das Regiment, in das ich am 1. November 1971 einrücken musste, hatte für die Außenwelt das Postfach 1208, es hieß MSR 28 und stand damals im Ruf, das mieseste Mot.-Schützenregiment der NVA zu sein. Wobei andere Rekruten einander dies möglicherweise auch über andere Regimenter erzählten. Was ich tatsächlich erlebte, war ein haarsträubender Personalmangel auf allen Kommandoebenen. Regimentskommandeur war bisweilen ein einfacher Major, ein Hauptmann führte ein Bataillon, ein Oberleutnant eine Kompanie – alles unter dem üblichen Standard. Schon für die Positionen der Zugführer reichten die vorhandenen Offiziersdienstgrade nicht aus, ebenso mangelte es an Unteroffizieren, die normalerweise Gruppenführer zu sein hatten. Es gab degradierte Offiziere bei uns und aus anderen Truppenteilen Strafversetzte. Während meiner Dienstzeit erlebte ich ein größeres Strafverfahren wegen Unterschlagungen, es wurden uns Nahrungsmittel vorenthalten, insbesondere das, was man nach DDR-Sprechart Edelobst nannte.

Ich erlebte, dass Männer mit Körperschäden nicht vorzeitig entlassen wurden, obwohl sie teilweise die Krankschreibung »Innendienst II« hatten, was sie selbst von kleinen Arbeiten befreite. Ein Mann mit zu kurzem Bein schaufelte Kohlen im Heizungskeller, ein Mann mit zwei schweren Knieoperationen, den ich heute noch bisweilen treffe, kochte, als wir uns im Walde von Hinrichshagen selbst zu versorgen hatten, freiwillig für uns alle, weil er den Fraß aus der Küche als echter Thüringer für weitestgehend ungenießbar befand. Wir hatten einen gelernten Koch, der nicht in der Küche eingesetzt wurde, dort kochte ein gelernter Elektriker.

Fast elf der achtzehn Monate als Mot.-Schütze verbrachte ich auf einem Schießplatz an der Schmalspurbahnstrecke zwischen Hinrichshagen und Rövershagen. Das waren die Zeiten, da unser Bataillonsgebäude an der Kopernikusstraße schräg gegenüber dem Ostseestadion saniert und renoviert wurde. Der aus der Zeit vor 1945 stammende gelbe gerillte Fliesenfußboden blieb uns erhalten. Jeder schwarze Stiefel hinterließ auf ihm die Spuren, die beim sogenannten Revierreinigen der Alptraum aller Reiniger waren. Unzählige Tage und Nächte stand ich Wache, ich bewachte das Regiment, die Munitionsdepots weit außerhalb des Regiments, das durch eine Schranke simulierte Tor an einem Schießplatz, und ich begleitete Munitionstransporte.

Im November eingezogene Wehrpflichtige hatten damals einen deutlich höheren Bildungsgrad als die im April eingezogenen. Während in meiner Kompanie der Abiturient sehr häufig, vereinzelt sogar der Diplom-Ingenieur vorkam, waren ein halbes Jahr vor uns und dann auch ein halbes Jahr nach uns Absolventen der zehnten Klasse eher die Ausnahme. Die meisten hatten die Schule nach der achten Klasse verlassen. Dass als Gruppenführer verwendete Gefreite wie auch Unteroffiziere nach abgebrochener Schuhmacherlehre ihr Mütchen besonders gern an den schlappen Abiturienten kühlten, war Alltag. Dass mein Hauptfeldwebel, als ich für einige Zeit Schreiber wurde, mir ganz schnell sämtliche Schreibarbeiten überließ, weil er größte Probleme mit Orthographie und Grammatik hatte, gehört zu meinen schwer vergesslichen Erfahrungen. Ebenso ein Hauptmann, den wir Stahlwade nannten. Er war im Regiment für Kultur zuständig, und wir fanden nie heraus, welche Eigenschaften und Kenntnisse ihn in diese Position gebracht hatten. In meiner Kompanie gab es einen Polit.-Offizier, dessen Namen Bernd Melzer ich überliefere, weil er der Typ Offizier war (er schrieb auch selbst), wie man sich allenfalls einen sozialistischen Offizier hätte vorstellen müssen. Leider hatte er nur in Ausnahmefällen stellvertretende Befehlsgewalt.

Ich erlebte noch etwa eine Hälfte meiner Dienstzeit unter dem Verbot eines Radios auf der Stube, es gab keine Tageszeitung, die Dekoration des Zimmertisches mit einer Tischdecke war verboten. Strengstens geregelt war der berühmt-berüchtigte Fassonschnitt, jeder Gang zum Frisör in Zeiten, da weltweit Bärte und lange Haare Mode waren, kam einer Demütigung gleich. Wie auch der morgendliche Kontrollgriff ans Kinn beim Appell, der je nach Laune des Kontrolleurs gegebenenfalls den Laufschritt zu einer zweiten Rasur nach sich zog. Diese Art der Schikane empfand ich als pure Verletzung von Menschenwürde, die freilich in der sozialistischen Verfassung nicht ganz vorn und oben stand.

In meine Dienstzeit fiel der Übergang der Ära Ulbricht in die Ära Honecker. Und das war am spürbarsten für uns in der Amnestie im Sommer 1972, die eben auch die Häftlinge im Armeegefängnisses Schwedt einbezog. Für eine gewisse Zeit war die Gefahr groß, wegen eines vergleichsweise geringen Deliktes in Schwedt zu landen. Bei uns machte die Erklärung die Runde, man müsse den Knast schnell wieder füllen, weil die Arbeitskräfte im Zementwerk fehlten. Was in meinen Briefen an Eltern und Freundin nur andeutungsweise vorkommt, war die größte Angst meiner Armeezeit: Mehrfach wurde ich mit der Drohung konfrontiert, vor dem Militärstaatsanwalt zu landen. Alle Vorbereitungen waren getroffen, für den Fall der Fälle aktiv zu werden, um das Schlimmste zu verhindern. Ich bin meinem 2004 verstorbenen Vater noch heute dankbar, dass er damals bereit war, für mich bis zu höchsten Stellen zu gehen.

Im Rückblick muss ich sagen: Ich war ein dummer Soldat. Ich brauchte viel zu lange, um zu begreifen, dass es ein Riesenunterschied ist, einen Befehl zu verweigern oder ihn nicht auszuführen. Ich musste unendlich oft den Fahneneid mit Hand abschreiben, ich musste umgekippte Schränke neu einräumen, auf dem gelben Flur mit vorgehaltener Waffe in Hocke hüpfen. Ich hatte Ausgangssperren, Urlaubssperren, eine vorgesehene Beförderung wurde wieder rückgängig gemacht. Ganze neunmal in achtzehn Monaten war ich zu Hause. Wenn ich von Rostock aus am Morgen um sieben Uhr im thüringischen Gehren ankommen wollte, musste ich an der Küste am Nachmittag zuvor um 15 Uhr abfahren, was bei offiziellem Urlaubsbeginn um 18 Uhr ein ziemliches Problem darstellte. Einer der Züge hatte zudem immer Verspätung, so dass ich einen Anschluss in Halle und / oder Erfurt verpasste. Unendliche Stunden saß ich in Wartehallen und zugigen Mitropa-Gaststätten.

Nach meiner Rückkehr im Mai 1973 wurde in der Redaktion in Suhl gefragt, warum ich mir denn jetzt einen Bart wachsen ließe, worauf ich ehrlich antwortete: um mich möglichst rasch von einem Armeeangehörigen zu unterscheiden. Dies notierte ein Kollege heimlich und gab es weiter. Es brachte das Fass zum Überlaufen, das durch meine Armeebriefe schon reichlich gefüllt war. Die bereits erteilte Studienzulassung wurde mir wieder aberkannt. Nach dem Ende der DDR bin ich dann doch noch zum Journalismus gekommen. Aber das wäre eine neue Geschichte.

Eckhard Ullrich, Ilmenau im November 2012

1. Diensthalbjahr November 1971 bis April 1972

Rostock, 3. November 1971

Liebe Eltern!

Heute am Mittwoch finde ich Zeit, Euch ein paar Zeilen zu schreiben. Ich bin nun doch nicht zur Artillerie gekommen, ich bin im besten Motschützenregiment der Republik »Wilhelm Florin«, was für mich sehr viel Dampfbedeuten wird. Ich liege mit sieben Norddeutschen auf einer Stube, Escher liegt schräg gegenüber in einem anderen Zimmer. Juffa ist bei der Ari geblieben. Mein Schrank ist schon gebaut, mehr schlecht als recht. Die Essenszeiten sind sehr kurz, so kurz, daß ich den kochenden Kaffee bzw. Tee nicht trinken kann. Ich muß mir anders behelfen. Am Montag kam ich zunächst in die Ari-Kaserne, dann hierher. Nach 39 Stunden ohne Schlaf ging es gestern erstmals ins NVA-Bett. Wir sind eingekleidet nach dem Motto »Paßt!«. Meine Ausgangsstiefel passen, die anderen sind zu klein. Ich wirke recht verloren in der Uniform. Heute beim Morgenappell erfuhren wir, daß wir »Überstruktur« sind, d. h. nach der morgen beginnenden Grundausbildung werden wir versetzt, in irgendeine Spezialtruppe. Wenn Ihr mir etwas schicken wollt, ich würde eine Schere brauchen und eine Abwaschbürste. Die Atmosphäre in unserer Stube ist noch nicht ganz aufgetaut, wir sind noch im Kennenlernen, mehrere sind verheiratet. Leider kann ich mich mit niemandem unterhalten, die anderen kennen sich schon, ich kenne noch niemanden, Escher sehe ich nur zu den Mahlzeiten von fern. Helmut Escher ist auch hier, er hat mir schon ein paar Tips gegeben. Unsere Chefs kenne ich noch nicht, das kommt heute nachmittag. Hoffentlich wird es nicht allzu schlimm, denn diese(r) Verein strebt nach Höchstleistungen. Gestern gab es zwei Spritzen, mein linker Arm schmerzt unheimlich, aber es scheint besser zu werden. Für(s) erste nun genug. Schickt mir bitte das Zeug umgehend, ich brauche es dringend.

Viele Grüße sendet Euch Eckhard

Rostock, 6. November 1971

Liebe Eltern!

Heute habe ich etwas mehr Zeit, Euch zu schreiben. Nun sind schon sechs Tage vergangen, es sind bloß noch 540 Tage, bis ich entlassen werde. Kurz etwas zu meiner Stellung. Ich gehöre zur »Überstruktur«, bin also zuviel hier. Das ist der beste Posten, den es im Moment hier gibt, wir haben weder Waffe noch Atomausrüstung. Das erleichtert unheimlich. Wir sind noch umbesetzt worden, so daß meine Truppe jetzt aus

2 Rostockern

1 Berliner

1 Magdeburger

1 Döbelner

1 Großbreitenbacher

+ ich (besteht).

Die Woche ist sehr schnell und sehr gut vergangen. Zumindest bisher entgegen allen miesen Vorhersagen. Auch die halbe nächste Woche bis zum 10. ist ruhig, am 8. u. 9. jeweils 7 Stunden (!) Polit. Bisher hatten wir schon

1 × Sport

1 × Sani

1 × Schießlehre

1 × Alarmübung.

Wir rennen hier pausenlos und ziehen uns x-mal am Tag um, Dienstuniform, Sportzeug, Drillich, Parade. Zweimal habe ich schon Kragenbinden gewaschen. Liebe Mutti! Besorge bitte von Jahns oder sonstwem Kragenbinden, wasche sie, wenn sie nicht sauber sind, und hebe sie auf, bis ich im Januar mal nach Hause komme. Wir bekommen insgesamt 3 mal Kompanieurlaub und 3 mal verlängertes Wochenende. Die Uniformen passen mehr oder minder, nur die Hosen sind ekelhaft weit und die Dienststiefel zu klein. Bisher ist mein Spind noch nicht kontrolliert worden, mein Bett wurde heute eingerissen. Den Flur mußte ich einmal scheuern mit noch zwei Mann, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie man schwitzt in voller Uniform bis oben zu. Esserei und Trinken ist miserabel, sanitäre Anlagen saumäßig, man hängt buchstäblich mit dem Hintern in der Scheiße, die Klos sind ständig besetzt und verstopft. 4 Klos für 90 Mann. Die Essenszeiten sind unmöglich kurz. Ich brauche unbedingt Klopapier.

Wir sieben Mann sind eine lustige Truppe, wir haben sagenhaft Spaß und lachen über die, die sich abstrampeln. Es gibt viele Streber und Anscheißer, bei uns jedoch nicht. Unser Kompaniechef ist in Ordnung, die Unteroffiziere zu 80% blöde Schreier, zwei gute sind aber auch dabei.

Ich lerne hier allerhand, Bohnern, Scheuern, Fensterputzen, Schrank und Päckchen bauen, außerdem verblöden wir hier wohl, wir brüllen schon aus geringstem Anlaß. Ich rauche knapp die Hälfte von zu Hause und habe noch 142,50 M.

Tschüß bis bald E.

P.S.: Wir leben völlig hinterm Mond, ohne Radio, TV, Zeitung.

Rostock, 7. November 1971

Liebe Regina!

Für den Fall, daß Du in der Chemie noch nicht erstunken oder vergiftet bist, schickt Dir die allerliebsten Grüße Schütze Arsch im letzten Glied, Soldat Ullrich, kurz »Ecki«, der Mann, der Dir immer auf die Nerven ging. Ich bin froh, daß im Moment mal ein wenig Ruhe ist und ich unter anderem auch mal an Dich denken kann. Mit Besuch ist es ja leider nichts mehr geworden, und daß ich Dir nicht einmal geschrieben habe, ist meine Schuld und Blödheit, ich war einfach zu faul. Hier nun bin ich nicht mehr faul, habe allerdings kaum Zeit, fleißig in dem zu sein, was nicht den Dienst betrifft. Briefeschreiben ist hier die einzige Verbindung zur Außenwelt, da wir ohne Funk, Fernsehen und Zeitung leben. Außerdem sind wir geschoren und beginnen zu verblöden. Wir sind pausenlos im Laufschritt, müssen uns alleweil umziehen und haben zu allem kaum Zeit.

Das Wasser hier stinkt meilenweit nach Chlor und das Essen ist mies höchsten Grades. Unsere Vorgesetzten sind großenteils verdammte Schreier, die nicht viel mehr im Kopf haben, als uns beizubringen, wie kleine Lichter wir sind. Gestern 23.30 hatte ich die erstmalige und wahrscheinlich nicht einmalige Gelegenheit, mit auf meinen Bauch geworfenen Stiefeln geweckt zu werden, grundlos übrigens und ohne anschließende Rechtfertigung. Wahrscheinlich werden wir in 4 Wochen irgendwohin versetzt, wir sind nämlich zuviel in der Truppe. Wir, das sind 2 Mann aus Rostock, einer aus Berlin, ein Magdeburger, ein Großbreitenbacher, ein waschechter Sachse aus Roßwein und meine ausgezeichnete Persönlichkeit. Wenn ich mir vorstelle, daß ich (von) 546 Tagen erst schäbige 7 Tage hinter mir habe, wird mir ganz mulmig. Schreib mir doch bitte, wenn es Dir nicht gar zu schwer fällt, etwas Liebes. Beachte bitte die Absenderadresse:

Soldat E. …

25 Rostock

PSF 1208/F 7     Das ist wichtig.

(…)

Tschüß

Dein Eckhard

11. November 1971

Liebe Eltern!

Eure beiden Briefe sind bei mir eingetroffen, der erste am Montag, der zweite am Mittwoch. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Gestern, am 10., war unsere feierliche Vereidigung, wir haben im Chor unser Sprüchlein heruntergebrüllt, und »Hurra« haben wir auch geschrien. Eine Unterschrift besiegelte alles. Unsere Chefs waren sehr freundlich und das Essen erstmals annehmbar. Sonst ist unser Essen unwahrscheinlich knapp bemessen, vor allem Wurst. Mein Schinken ist aufgegessen, er hatte in den paar Tagen schon Schinken, pardon, Schimmel, angesetzt, war aber noch genießbar.

Jetzt zeigt sich erst mal richtig der Vorteil der Überstruktur. Sonst hätte ich nie über Mittag schreiben können wie jetzt, den(n) die anderen hüpfen in ihren SPW herum. Heute hatten wir zum zweiten Male Schießlehre theoretisch. Ich habe eine MPi. Beschissen sind die Leute mit Panzerbüchse und LMG dran, die haben zu schleppen. Wir haben keinerlei Schutzausrüstung, die anderen waren teilweise schon in der Gaskammer. Wir gehen hier immer ins Kino, egal welcher Film kommt. Die Idee mit der Zeitung ist übrigens fein. Da ich meine Wünsche äußern soll, tue ich es auch unverdrossen, es sind nur Kleinigkeiten: 4 Paar Hosenträger, 1 kleines Schloß, Papiertaschentücher, Klopapier.

Mit der Kackerei steht es bei mir recht komisch, ich war in den zehn Tagen erst einmal. Jetzt ist übrigens der Bock total fett, ein Klo (!) für 90 Mann, dazu zwei Pinkelstellen. Heute morgen war Alarm, auch da blieben wir verschont, allerdings sind wir morgen auch dran, das hat uns einer schon verraten. Liebe Mutti! Mach Dir keine Sorgen, im Moment geht alles seinen Gang, obwohl hier mächtig kriegerische Reden gehalten werden. In Polit bin ich schon positiv notiert worden, die monatlichen 2 Polittage waren Montag und Dienstag. Das sind schön ruhige Stunden. Überhaupt ist unser Grundsatz hier: »Jeder Schritt und jede Minute läuft für uns« und danach handeln wir. Wenn ein Bett eingerissen wird oder ein Schrank ausgeräumt, machen wir es wieder, und werfen sie noch einmal, machen wir es wieder, ohne aus der Ruhe zu kommen. Falls Ihr mir zu essen schicken wollt, Knackwürste im Schäldarm, abgelagert, sind das beste. Nichts ist hier so wichtig wie Ruhe.

Meine Stiefel sind auch schon zur Tür hinausgeflogen, da steht man eben auf und putzt sie, und der Fall ist erledigt. Macht Euch bloß keine Sorgen, zumindest bis jetzt.

Tschüß, Euch alles Gute E.

13. November 1971

Hallo, Ihr lieben Leute zu Hause!

Der Sonnabend hat sich nun endlich beruhigt, das große Reinigen ist zu Ende. Zehn Minuten, nachdem ich meinen letzten Brief an Euch abgegeben hatte, kam das Paket. Ich habe mich sehr gefreut, auch die Zusammenstellung war gut. Das Schnit(t)chen ist bereits gegessen und eine Wurst ebenfalls, die Büchsen sind noch zu. Man muß hier seine Pakete vor den Augen des UvD öffnen und auspacken. Schickt also keinen Schnaps oder so etwas. Das ist streng verboten. Wie es die Umstände so wollen, am Donnerstag, als ich den Brief schrieb und sagte, es sei alles noch ziemlich ruhig, war das der Moment, wo die Ruhe aufhörte. Es folgte MKE (Militärische Körperertüchtigung), wo uns das Lachen verging, und anschließend Alarmübung. Abends dann noch ein 3000-m-Tempo-Lauf mit anschließendem Krafttraining. Das Krafttraining wird mit einem viehisch schweren Panzerkettenglied durchgeführt. Vor der Nachtruhe noch Klimmzüge und dann ins Bett. Ich vermute, daß ich nach den 18 Monaten ganz schön in Kondition bin, ich mache jetzt schon so viel Klimmzüge, wie ich in der Schule nie geschafft habe, noch dazu in einer Griffart, die mir nicht liegt.

Gestern früh um 5 Uhr Alarm. Der mit einem von uns befreundete UvD hatte uns den Termin schon verraten. Wir sind 4.30 Uhr bereits aufgestanden und haben uns bis auf die Ausrüstung angezogen. Als der Alarmton kam, standen wir bereits in Dienstuniform, Stiefeln, Stahlhelm da und mußten bloß noch Drillich überziehen, Teil 1 aufhängen, Koppel mit Feldflasche und Magazintasche um, dann Knarre holen, und ab ging es zu einem 15-km-Marsch. Dieser Marsch ging so vor sich: 1,8 km zum Sammelpunkt; 2,4 km zur Muckerwiese; 3. Frühstück dort; 4. Gefechtsausbildung mit Hinlegen, Aufspringen usw.; 5,3 km zur Kaserne zu 80 % im Laufschritt (volle Ausrüstung) mit Gefechtseinlagen und Schießen. 14 Uhr war dann Mittag, ein Sparfraß, dann Fotografieren, dann FDJ-Wahl, dann Waffenreinigen, dann Essen, dann 1200 m Tempo. Wir waren kaputt nach allen Regeln der Kunst, aber wie Ihr sicher merkt, geht alles seinen Gang und ist schon wieder fast vergessen. Ich merke es noch im Kreuz, aber das wird wohl auch vergehen. Was das wichtigst(e) ist, ich habe keine Blasen, und der Stahlhelm drückt auch nicht mehr.

Heute war wie jeden Sonnabend großes Reinigen, und ich habe die Toilette erwischt. Auch das ist vergessen, die Kacke steht auch schon wieder bis zur Brille hoch. Ich weiß nicht, was ich Euch schon geschrieben habe, aber mir ist eine Zahnbürste geklaut worden, die brauche ich dringend. Ebenfalls einen Becher dazu. Weiterhin Abtrockentücher, Äpfel sind gefragt und Schokolade. Ich kaufe mir bald jeden Tag eine »Nugana«.

Bis zum nächsten Male, Euer Eckhard

P. S.: Ach, was ich noch vergessen habe »Linda Neutral« und denkt bitte an das Schloß.

20. November 1971

Liebe Eltern!

Nun komme ich endlich wieder zum Schreiben. Zuerst vielen Dank für Briefe und das Paket, ich habe mich sehr gefreut. Schokolade und Stollen sind schon weg, Hosenträger gut zu gebrauchen und Linda schon verwendet, und was das wichtigste ist, endlich wieder Zähneputzen. Seid bitte nicht böse, daß ich nicht gleich geschrieben habe, aber diese Woche war buchstäblich Stimmung.

Man hat uns den »A …  warm gemacht«, wie man so schön sagt. Am 13. und 14. war ich »Mode«, mußte einen längeren Satz aus DV 10 / 3 50 mal abschreiben, abends flog mein ganzer Schrank raus und dann noch 00 reinigen. Zum Glück bin ich aus der Strähne raus, obwohl unser Oberfeld ein Auge auf mich hat. Diese Woche war sagenhaft, alles, was ich von ruhig usw. schrieb, ist hinfällig. Kurz den ungefähren Ablauf: 15. 11. Maskenball 16. 11. Muckerwiese 17. 11. Muckerwiese 18. 11. Muckerwiese 19. 11. Muckerwiese. Am 16. Gefechtsdienst mit Robben, Kriechen und ähnlicher Scheiße, übrigens stets den ganzen schweren Kram auf dem Ast. Am 17. Schießen und Gas. Am 18. Marsch Orientierung 8 km Sturmbahn, dann Alarm 3 km im Laufschritt mit voller Montur, Gas natürlich oft und lange. Am 19. Gasmarsch insgesamt ca. 6 km unter Gasmaske im Laufschritt, abends Schutznorm 1, Gasmaske einmal um den Explatz.

Ihr könnt Euch vorstellen, wie fertig man da ist, aber restlos. Laufschritt unter Gasmaske ist grausam, gestern bin ich zweimal in die Knie gegangen, habe allerdings den Fehler gemacht, daß ich nicht darauf achtete, wie die Atomhandschuhe das Luftloch versperrten. Als ich das abstellte, ging es tadellos. Mist ist bloß die Maskenbrille, sie beschlägt, und dann läuft man blind. Wenn wir immer mittags in die Bude kamen, verdreckt wie die Schweine, denn hier herrschte 3 Tage lang strömender Regen, dann Robben, Kriechen, Marschieren und Laufschritt z. B. über umgepflügte Felder, Ex-Schritt durch halbmetertiefe Wasserlöcher, Entengang im Schlamm usw., dachten wir, es ist Sense, aber eigenartig, es ging vorbei, und man staunt, was man alles schafft.

Scharfschießen waren wir einmal, ich war besonders gut, 2 Fahrkarten, 1 × 8, auf 150 m. Seit gestern ist übrigens Frost, was die Liegestütze auf dem Explatz und überhaupt den Frühsport versüßt. Am Mittwoch gab es Moneten, 78,70 M. Am 18. habe ich mir meine erste goldene Nase geholt, beim Alarmlauf über 3 km in 15 Minuten zur Kaserne mit voller Montur, ich war der erste von über 70 Mann, habe eine Belobigung vor der Front bekommen, die in die Wehrunterlagen eingetragen wird. R. Escher liegt gegenüber im Zimmer, ich unterhalte mich jetzt öfters mit ihm. Das »FW« hat geschrieben. Frank ebenfalls, das FW wird mir geschickt. Nun kurz zur »Jungen Welt«, ich bin froh, daß es endlich klappt. Ich versuche, am Ball zu bleiben. Schickt mir bitte möglichst umgehend meine Gedichtmappen, beide, Handschriften und Maschine, dazu die Mappe, wo Verzeichnisse oder so etwas draufsteht, das ist in meinem kleinen Tisch. Ansonsten brauche ich nichts, nur eins evtl., das ist »Lackschwarz«, ich muß meine Stiefel schwarz kriegen, die normale Creme reicht nicht dazu, Süßigkeiten und Fressalien sind natürlich immer willkommen. Geldmäßig stehe ich noch gut da. Versetzt werde ich nicht, soll aber vermutlich (Gemunkel) einen fetten Schreibposten bekommen, bin gespannt.

Bis bald, Euer E.

28. November 1971

Hallo, Ihr zu Hause!

Wieder mal eine Nachricht von mir, Ihr wartet sicher darauf. Euer drittes Paket ist gestern hier wohlbehalten angekommen, vielen, vielen Dank, das bessert immer die Lage auf. Meinen letzten Brief müßtet Ihr ja nun bekommen haben, oder?

Heute ist ein besonderer Tag, die Grundausbildung ist zu Ende, zu meiner großen Freude, Ihr versteht das sicher, denn der Abschluß hat mich fast kaputtgekriegt. Freitag 5.30 Uhr war Alarm, anschließend ging es mit Lkw zum Schießplatz Markgrafenheide, wo ich zu meiner eigenen, übrigens auch zu der meines Zugführers, Ofw. I(…)s, Überraschung die Note »1« erhielt, was bei einem Kompaniedurchschnitt von 2,45 wohl nicht so übel ist. Unser Zugführer ist ein ziemlich gemeiner Schleifer, was sich schon an einigen kleinen Beispielen zeigt:

1. Der erste und der zweite Zug verläßt den Schießplatz marschierend, und zwar ohne Tritt, der dritte, wo ich mit im Rennen bin, kriecht und robbt und rennt, der Schlamm übrigens 20 bis 30 cm hoch.

2. Der erste und der zweite Zug macht den 7 - km - Orientierungsmarsch als solchen, der dritte voll unter gefechtsmäßigen Bedingungen, d. h. wir tarnen uns, schmieren uns mit Asche die Gesichter dreckig und kriegen nach einer kurzen Strecke Gas.

Der Gasmarsch ging fast über 7 km, davon 4 km quer über ein aufgeweichtes, gepflügtes Feld, die letzten 3 km trugen wir zusätzlich einen Mann mit »Lungensteckschuß« auf einer Behelfsbahre auf der Schulter. Dann Entwarnung, Feldlager mit Wachdienst in einem gottverlassenen und stockfinsterem Wald, wo ich eine Stunde zum Schlaf kam, sacknaß und mitten im Dreck. Dann war Normabnahme im Robben, Kriechen und »Sprungauf«, jeweils über 50 m.

Das Feldlager ging bis 23 Uhr, dann begann der höllische 35-km-Marsch, auch er begann mit 2 km Gas. Die letzten 10 km über Kopfsteinpflaster waren unvorstellbar, meine Füße sind nur Blasen, und meine rechte Schulter, bepackt mit MPi und einem LMG (nicht über die volle Distanz) hat eine sagenhafte Druckstelle.

(Fortsetzung später geschrieben): Eins war erstklassig, das war, daß bei uns in der Kompanie nicht einer umgeklappt ist. Wir haben nun 2 fette Tage fast hinter uns, was morgen sein wird, ist noch nicht bekannt, da der neue Dienstplan noch nicht aushängt. Lieber Vati! Was sagst Du zu der »1« im Schießen? 5 Schuß, 5 Treffer 1 × 9 2 × 8 2 × 7 Das ist doch für den Anfang recht nett, oder? Wenn man hier übers Wochenende in der Bude sitzt, fühlt man sich von Gott und aller Welt verlassen. Die Konsequenz ist für uns das Spielen. Wir spielen auf Teufel komm raus, und das Geld geht reihum, gestern habe ich 1,90 M gewonnen, heute 7,70 M. Es geht scharf zu im Doppelkopf, und der Rubel rollt. Einer von uns hat innerhalb von dreieinhalb Wochen 23 Mark verloren.

Bald wird von mir ein Paket kommen mit dreckigem Zeug, auch mit einem Schlafanzug, schickt ihn mir umgehend zurück oder einen anderen. Unterwäsche brauche ich nicht, wir laufen hier eine Woche in dem saudreckigen Gelumpe herum, dann ist Wäschetausch. Es wäre schade, da mein Zeug zu versauen. Bleibt bitte immer am Ball mit Äpfeln und denkt an mein Zeug, um das ich gebeten hatte.

Tschüß, Eckhard

1. Dezember 1971 / 3. Dezember 1971

Hallo, Ihr zu Hause!

Der Brief vom 28. 11. ist heute in meine Hände gekommen, und ich will ihn gleich beantworten. Es ist jetzt kurz nach zehn Uhr, Nachtruhe bereits, und wenn nicht zwei Mann in unserem Zimmer Sonderarbeit hätten, d. h. 6 Seiten Dienstvorschrift abschreiben, dazu den Fahneneid und eine Stellungnahme, würde ich gar keine Zeit haben. Wie Ihr seht, ist mein großspuriger Briefanfang in die Brüche gegangen, denn ich komme erst zwei Tage später, heute, am 3. 12., zur Fortsetzung. Folgendes hat sich zugetragen:

Ich liege im Bett, schreibe an diesem Brief (das Grüne), plötzlich wird die Tür aufgerissen, es ertönt der Schrei: »Wer hat Clubdienst?« Ich springe aus dem Bett, gehe in den Club, kehre, stelle Tische und Stühle ordentlich hin, gehe zum UvD und melde ab. Er geht mit mir in den Club, faßt aufs Radio, fragt: »Haben Sie hier Staub gewischt?« »Ich habe keinen Staub gewischt.« Ich wische also Staub, melde erneut ab, worauf er antwortet,: »Ist gut. Und für Ihre Frechheit machen Sie das gleiche wie Soldat A … «

Was der machen mußte, habe ich bereits vorgestern bei Beginn des Briefes erläutert. Es stellt eine Arbeit von zirka vier vollen Stunden dar, die ich, das bemerke ich gleich, nicht ausführe. Gestern kam noch etwas hinzu, 10 mal den Fahneneid abschreiben, auch das habe ich nicht ausgeführt, habe dafür allerdings Rückendeckung. Ich habe keine Lust, hier den Affen zu machen.

Nur, damit Ihr mal eine Vorstellung bekommt, was hier so alles los ist, schreibe ich Euch das. Der schon erwähnte Soldat A …  mußte beispielsweise einmal seinen Schrank auf den Flur schieben, alles herausschmeißen und in 10 (!) Min. den Mist wieder einräumen. Er schaffte das nicht, der Schrank flog zum zweiten Male und A …  mußte mit Gasmaske Liegestütze, Kniebeuge usw. machen, anschließend wieder Schrank bauen. Auch das ist unsere Armee!

Ein weiteres Beispiel: Bei unserem Marsch vorige Woche waren einige nicht mehr in der Lage, nach über 20 Kilometern Gleichschritt zu halten, die mußten 5 – 10 mal die marschierende Kompanie im Laufschritt umrunden, und zwar alle Angehörigen, einschließlich der Vorausposten 50 m vor der Truppe und der Sicherung 50 m hinter der Truppe.

Sicher wundert Ihr Euch, wie ich heute zum Schreiben komme. Wir haben theoretischen Unterricht in Gefechtsdienst bei einem neuen Zugführer, und da schreibe ich eben.

Heute morgen haben wir auch unsere operative Angriffsrichtung erfahren. (!) Sie heißt: Hamburg, Flensburg, Kiel, Halbinsel Jütland.

Liebe Mutti! Mit der Wäsche geht es hier einigermaßen, wöchentlich wird getauscht, allerdings sieht das Zeug, wenn wir draußen waren, nach zwei Tagen schon aus, als hätte ich es zu Hause sechs Wochen getragen. Nun, damit Ihr zufrieden seid, gerade eben ist Euer 4. Päckchen eingetroffen, vielen vielen Dank dafür und auch für Vatis Brief. Er kam mit dem Päckchen. Vati, Du vermutest, daß es nach der Grundausbildung etwas ruhiger ist, da täuschst Du Dich gewaltig, die Scheiße ist genauso hart wie zuvor.

Mit zwei Briefen in der Woche ist kaum etwas drin, jedenfalls nicht regelmäßig, zum Beispiel ist es jetzt 20 Uhr, und ich habe noch unheimlich viel zu tun, da morgen eine Inspektion vom Regiment kommt. Deshalb jetzt erst einmal Schluß, alles Gute, viele Grüße.

Noch lebe ich und fühle mich bis auf eine vermutliche Sehnenzerrung oder -entzündung im linken Fuße wohl.

Euer Eckhard

4. Dezember 1971

Ich schreibe wieder, heute ist ein ruhiger Tag, Sonnabendnachmittag, der große Stubendurchgang vorbei. Ich bin im Laufe von zwei Tagen zum zweiten Male umgezogen, nun hoffentlich endgültig ins richtige Zimmer geraten. Eine Neuigkeit, ich weiß nicht, ob ich es schon geschrieben habe, gibt es, ich bin mit Escher in einem Zimmer und in einer Gruppe. Eine Nacht, die gestrige, die aus drei Stunden Schlaf bestand, schlief ich über ihm im Bett. Er ist bei uns, das heißt in der dritten Gruppe des zweiten Zuges, Richtschütze, ich bin stellv. Gruppenführer, wie ich dazu gekommen bin, weiß ich allerdings selbst nicht. Das Zimmer, in dem ich gestern lag, war kleiner, wir waren nur zu fünft und prima Leute, jetzt sind wir neun Mann, es sind nicht die sympathischsten der Kompanie. Von denen, mit denen ich fast 5 Wochen zusammenlag, ist keiner mehr bei mir, alles aufgeteilt. »Überstruktur« gibt es nicht mehr, und der Oberfeld ist mir heute mit der Frage gekommen, ob ich mich im zweiten Zug wohler fühle.

Ich fühle mich wohler, mein Gruppenführer, ein degradierter Uffz., ist prima und der Zugführer nicht zu wüst wie der Oberfeld.

Mein Fuß ist angeschwollen, man sieht die Knöchel nicht mehr, und die Sehne brennt wie Feuer vom Spann bis zur großen Zehe. Nebenher sehen die Füße noch beide durch die insgesamt 12 Blasen recht lädiert aus.

Mein »FW« bekomme ich täglich, heute allerdings keine Post. Gestern gab es Euren Brief und das Paket. Ich habe jetzt 14 Briefe und vier Pakete bekommen, das ist recht ordentlich. Besonders Eure Pakete sind prima, und die Stollen sind mir noch lange nicht über. Die Gedichte sind da, und das ist gut, obwohl ich feststelle, daß mein geistiges Leben einschläft und immer mehr dem primitiven Freß-, Schlaf- und Sauftrieb weicht. Wenn man fünf Wochen von Pfiff zu Pfiff lebt und ein geschriebener Brief von der inneren (hier fehlt im Original ein Wort) abgeht, beginnt man bereits zu verblöden. Gelesen habe ich noch nicht eine Seite, und mein Tagebuch ist noch leer.

Hebt bitte meine Briefe auf, ich brauche sie möglicherweise noch irgendwann einmal. Ich werde Euch von meinem Schlüsselbund, an dem 18 Schlüsselringe sind, nach jedem beendeten Monat einen nach Hause schicken, der erste liegt bei. Hebt auch sie auf, das ist so eine Armeetradition. Mit dem Geld stehe ich noch immer gut da und brauche vorläufig keinen Nachschub. Schreibt nur immer, wenn Ihr Zeit habt, ich versuche es ebenfalls, es ist bei mir zwar nicht so einfach, wie Ihr das vielleicht denkt, denn ich bin permanent müde und habe außer Sonntag praktisch keine Zeit. Die Striche eben sind beim Einnicken entstanden, ich höre deshalb jetzt auf.

Tschüß

Euer Soldat Eckhard

Rostock, 12. Dezember 1971

Hallo, Ihr Leute zu Hause!

Spät, aber vielleicht noch nicht zu spät, schreibt Euer Sohn, der 04 Soldat Ullrich, stellv. Gruppenführer der 3. Gruppe des 2. Zuges der 4. MSK, wieder mal einen Brief. Ich sitze im verlassenen Speisesaal für Offiziere, da ich heute mit Küchendienst an der Reihe bin, unsere Arbeit ist getan, und ich habe Zeit für ein paar Heimatzeilen. Die ganze Woche ist nichts daraus geworden, nicht einmal aus der Nachtruhe, ich mußte jeden Abend Flur scheuern, und das dauert seine Zeit. Eins steht fest, ich mache hier alles, was ich zu Hause nie getan habe, scheuern, bohnern, Kartoffeln schälen, abwaschen. Kurz, ich entwickle mich zu einer Art potentieller Hausfrau. Küchendienst ist ein feiner Posten, bis auf die Abwascherei selbstverständlich, man frißt sich voll, und hier in der Offiziersküche noch dazu mit gutem Essen, trinkt zum ersten Mal in 6 Wochen Bohnenkaffee und läßt den lieben Gott einen frommen Mann sein.