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Seit der Moderne steht die Kunst für Freiheit, Provokation und Mut. 1972 sollte sie ihr Potenzial als emanzipatorische und gestalterische Kraft im Gesamtkunstwerk der Spiele der XX. Olympiade in München nachhaltig entfalten. Das war die große Vision der Planer. Begeistert entwickelte die damalige internationale Avantgarde – darunter Walter de Maria, Gerhard Richter, Andy Warhol oder Dan Flavin – dafür revolutionäre Konzepte. Vieles blieb Entwurf. Nach dem tragischen Attentat auf israelische Athleten wurden auch die radikalen Programme der Spielstraße abgesagt. Die Publikation vermittelt erstmals Eindrücke vom spielerischen, partizipativen Kulturprogramm von 1972 in Bild und Text. Der zweite Teil des Buchs vereint eine Vielzahl von Stimmen aus aller Welt und richtet den Blick in die Zukunft. Internationale Autor*innen und Künstler*innen vermitteln an Beispielen der Gegenwart die Bedeutung der Kunst bei der Gestaltung der demokratischen Gesellschaft der Zukunft.
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Seitenzahl: 466
Anton Biebl
Vorwort
Elisabeth Hartung
Zur Publikation
Teil 1: Visionen und Wirklichkeit 1972
Elisabeth Hartung
Visionen und Wirklichkeit – Kunst für die Olympischen Spiele in München 1972
Kay Schiller
Olympiapark und Olympiadorf in München als geplante und gelebte Utopie
Elisabeth Spieker
Architektur Landschaft Kunst – Situative Gestaltung als Gesamtkunstwerk
Corinna Thierolf
Never give up! Die Vorschläge amerikanischer Künstler für das Kunstprogramm der Olympischen Spiele 1972
Laszlo Glozer und Christian Kandzia im Gespräch mit Heinz Schütz
Gegen Kunst
Daniela Stöppel
Regelkreisläufe und Feedbackschleifen. Zur kybernetischen Ästhetik der Olympischen Sommerspiele 1972
Elisabeth Hartung
Die Spielstraße im Kontext der Kunst um 1972 und ihre Relevanz für die Zukunft
Michael Lentz
Hörensehen, Sehenhören. Josef Anton Riedl und die Neue Musik
Barbara Könches
Zum Regenbogen von Otto Piene: Ein Hoffnungszeichen in Orange, Gelb, Grün, Hellblau und Violett
Maurin Dietrich
Fragments, or just Moments. Politiken des Erinnerns bei Tony Cokes im Kontext des Kunstverein München
Heinz Schütz
KUNST GLOBAL
Die olympische Ausstellung Weltkulturen und moderne Kunst
Fragen an Manfred Weihe
Das Kinder- und Jugendzentrum der Ausstellung Weltkulturen und moderne Kunst. Ein kunst- und museumspädagogischer Aufbruch
Tanja Baar
(In der) Stadt spielen – von der »aktionistischen Kunstpädagogik« der Gruppe KEKS zum Spielkonzept für das Olympische Dorf
Intermezzo 2022
Elisabeth Hartung
Das Festival des Spiels, des Sports und der Kunst 2022
Jörg Koopmann
Bilder vom Festival des Spiels, des Sports und der Kunst 2022
Teil 2: Kunst und Gesellschaft 2072
Lorena Herrera Rashid
One Flag
Clémentine Deliss
Künstlerischen Interventionen innerhalb eines kolonialen Museums: Luke Willis Thompsons Museum in Reverse
Britto Arts Trust
Palan & Pakghor
Larissa Kikol
Kulturwerkzeuge. Über das Projekt Louise von WochenKlausur
Alice Creischer
we come to
Marny Garcia Mommertz
Leben in der Gegenwart: Ein Blick auf Diarenis Calderón Tartabulls Arbeit mit dem kubanischen Afroqueeren Kollektiv Nosotrxs (WT)
Hans Ulrich Obrist
Longue Durée. Die Verbindung von Technologie, Kunst und Wissenschaft im Dienste der Umwelt
Anna Heringer
Don Bosco Earth Campus, Tatale, Ghana
Michael Buhrs
Training des Bewusstseins und des Kritischen Denken. Über The Awareness Muscle Training Center von Thierry Geoffroy / Colonel
Thomas Eller
The Garden in Data Clouds.Über das Thema Berührung in den Arbeiten von Sui Jianguo
Jasmine Ellis
Empathy
Rebekka Endler
Unsere Performance ist noch nicht zu Ende. Zu ATEM von Mehtap Baydu
Barbara Mundel
Wer immer hofft, stirbt singend. Über Johanna Kappauf als Zirkusprinzessin in Reparatur einer Revuenach Geschichten und Motiven von Alexander Kluge
Jakob Lena Knebl
Invitation of the Soft Machine and Her Angry Body Parts
M+M
Panic Rooms
Tobias Staab
The Path Of Joy. Über Zukunftsperspektiven der Kunst in den Arbeiten des Choreografen Trajal Harrell
Goshka Macuga
GONOGO
Britta Peters
Wie man sich mit Dingen umgibt. Irena Haiduks Healing Complex(2018 – ongoing)
Angela Libal
Kunst – Bildung – Gedenken. Über ein Kunstprojekt von Nina Prader mit Jugendlichen bei Zwölf Monate – Zwölf Namen. 50 Jahre Olympia-Attentat München
Max Jorge Hinderer Cruz
Freddy Mamani Silvestre. Ein Architekt der Zukunft erschafft die Geschichte der Gegenwart.
Mirjam Zadoff
Das Archiv der Zukunft. Zum Projekt Die Bücher von Annette Kelm
Lucas Zwirner
Über gemeinsame Erfahrungen. Yayoi Kusamas Infinity Mirror Room
Alexander Kluge
Tiere der Milchstraße und andere
Catherine Nichols
Mehr wert sein als Gold. Selma Selmans wachsender Anspruch auf das Noch-Nicht
Cao Yu
Fountain
Julienne Lorz
Gedanken zu Moving Off the Land von Joan Jonas
Pedro Reyes
Disarm Music Box
Mareike Schwarz
Atmosphärischer Aktivismus. Luft als umkämpftes Commons in der Kunst von Forensic Architecture und Amy Balkin
Angelika Nollert
Über OKSolar. Nachhaltige Stadtgestaltung in der Abteilung für Industrial Design an der Universität für angewandte Kunst Wien
Matthias Stadler
TAM-TAM- Olympiatour 2022
Sagal Farah
Neue Welten erschaffen. Zu Headrest I–V von Salad Hilowle
Joanna Warsza
»We can all be like sunflowers.«Ein Kunstwerk für die Umweltvon Agnes Denes
Raumfragen Neuperlach
Social Fountain
Hanno Rauterberg
Die neue Unabgeschlossenheit. Wie generative Computerprogramme die Kunst verändern – und mit ihr die Gesellschaft
raumlaborberlin
Soft Democracies
Susanne Witzgall
The Forest Does Not Employ Me Anymore von Cooking Sections und Forager Collective. Über eine kollektive forschende Gestaltungspraxis, die indigene, wissenschaftliche und künstlerische Formen von Erfahrungen und Wissen vereint
Gerfried Stocker
Das Avatar-Robot-Café von Ory Laboratory. Über die Kommunikation zwischen Menschen mit und ohne Behinderung
Christine Sun Kim und Thomas Mader
Find Face
Rüdiger Schöttle und Johanna Singer
Sensibilisierung für die Geschichtsschreibung. Über die Werkgruppe Colors of Grey von Thu Van Tran
Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten
Pionea
Abbildungsverzeichnis
Impressum
Die Spiele der XX. Olympiade in München 1972 waren besondere Spiele. Es ging um mehr als um Gold, Silber und Bronze. Die damaligen Initiatoren, Willi Daume als Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) und Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, verfolgten die Vision, ein weltoffenes München und ein modernes demokratisches Deutschland in den Olympischen Spielen 1972 Gestalt annehmen zu lassen und mit einem gemeinschaftsbildenden Gesamtkunstwerk aus Architektur, Design, Kunst und Kultur neue Erlebnisse, Erfahrungen und Räume für alle zu eröffnen.
Im gesamten Stadtgebiet Münchens wehte bereits ab Mitte der 1960er-Jahre der Geist des Aufbruchs. München wollte eine »Weltstadt mit Herz« werden und wie die ganze Bundesrepublik die nationalsozialistische Vergangenheit überwinden. Überall entstand Neues. Auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs am Oberwiesenfeld wuchs nach der Ernennung Münchens zur Olympiastadt ein innovatives Sportgelände, geplant von den jungen Architekten des Büros Behnisch & Partner. U-Bahn-Strecken wurden in Rekordzeit gebaut und verbanden mit dem S-Bahn-Netz alle Stadtviertel mit dem Umland. Auf der grünen Wiese vor den Toren der Stadt in Neuperlach nahm die Vision eines neuen Quartiers für urbanes Leben im größten Wohnungsbauprojekt der Nachkriegszeit in Deutschland Form an. Die erste Fußgängerzone der Republik eröffnete am 30. Juni 1972 im Stadtzentrum. Und eine kritische und nicht minder lebensfrohe Jugend brachte neuen Spirit nach München.
Bis heute ist die als »heitere Spiele« geplante internationale Sportveranstaltung, aber auch das terroristische Attentat auf die israelische Olympiamannschaft am 5. September 1972 in der kollektiven Erinnerung verankert. Die Stadt München erinnerte 2022 zum 50. Jubiläum mit einem vielfältigen Jubiläumsprogramm an den demokratischen, ganzheitlichen und visionären Ansatz der Spiele, die mit Sport und Kunst viele Menschen aus aller Welt verbanden. Im Gedenken an die dunkle Seite, das schreckliche Attentat auf israelische Athleten, war jeder Monat einem der zwölf Opfer gewidmet.
Unter dem Motto »München auf dem Weg in die Zukunft 1972–2022–2072« gab es ganze Jahr an rund 130 Orten mehr als 250 Aus-stellungen und Veranstaltungen zu den Themen Sport, Kunst, Design, Architektur, Erinnerungskultur und das Miteinander in der Demokratie – im realen und digitalen öffentlichen Raum. Das Gedenken an die damaligen Opfer und die Auseinandersetzung mit den politischen Implikationen war in nahezu allen Programmen wahrnehmbar. Ermöglicht haben diese über 60 Kooperations- und Projektpartner:innen und viele Institutionen und Organisationen aus der Stadtgesellschaft. Sie alle haben mit ihren Projekten und Beiträgen, mit ihrem großen Engagement, ihrem Wissen, ihren Erfahrungen, ihren Ideen, ihrer Mit-arbeit, Unterstützung und Kooperation zum Erfolg beigetragen.1
Mit den European Championships erlebte ein großes Publikum im August 2022 die immer noch intakten Spielstätten beim größten multidisziplinären Sportereignis seit 1972. Eindrucksvoll war zu erleben, wie nachhaltig und verbindend Sport sein kann. Die Olympische Landschaft konnte als der Teil der Stadt erfahren werden, der für Innovation und Begegnung, für Sport und Kultur steht.
Anlässlich des 50. Jubiläums der Spiele war es uns als Stadt München ein Anliegen, insbesondere auf die immens wichtige Rolle von Kunst und Kultur aufmerksam zu machen. So entstand das Festival des Spiels, des Sports und der Kunst2 ganz wesentlich aus der Motivation, den spezifischen Geist von damals erlebbar zu machen. Wir wollten über die weitreichenden kulturellen Ideen und künstlerischen Konzepte informieren und auch Grundlagen für die weitere Forschung legen. Mittlerweile liegt nach der Durchführung der Ausstellung Visionen undWirklichkeit nicht nur eine von Elisabeth Hartung und Friederike Schuler erarbeitete, umfangreiche Dokumentation mit der Studie zur Olympiakunst vor, sondern auch das vorliegende Buch Kunst und Gesellschaft1972–2022–2072. Es bringt die wichtige Rolle der Gestalter:innen des einmaligen Ereignisses ins Bewusstsein der Gegenwart und vermittelt die beispielhafte Bedeutung der Spiele für die Zukunft.
München ist heute so urban und vielfältig, wie die Stadt in den 1960er- und 1970er-Jahren sein wollte. Mehr als 50 % der Bevölkerung haben einen internationalen Hintergrund, und die Gesellschaft ver-ändert sich rasant. Nachwirkungen der Corona-Krise sind spürbar. Die Klimakrise spitzt sich zu, soziale Ungleichheiten sind zu lösen, und antidemokratische Entwicklungen erfordern unsere entschiedene Gegenwehr. Wohnen, Arbeiten, Digitalisierung sind Themen, die besonders im Fokus der Stadtpolitik stehen, nicht nur in München. Wie Ende der 1960er-Jahre stehen wichtige Weichenstellungen für die Stadtentwicklung an. Wieder sind Mut und Innovationen gefragt.
Dass Freude und Tragik nahe beieinander liegen, war 1972 in höchster Intensität zu erleben und prägt unsere Gegenwart. Es bleibt der Auftrag, die Welt zu einer besseren zu machen. Künstler:innen, Gestalter:innen aller Disziplinen und Kunstwissenschaftler:innen werden dabei auch in Zukunft wichtige Partner:innen für die Festigung einer vielfältigen und friedlichen Gesellschaft und einer inklusiven Kultur sein.
Anton Biebl ist seit dem 1. Juli 2019 Kulturreferent der Landeshauptstadt München.Zuvor hatte er als Stadtdirektor ab Juni 2010 die Position des ständigen Stellvertreters des Kulturreferenten inne.
1 Siehe www.muenchen1972-2022.de.
2 Siehe S. 194–240 im vorliegenden Band.
In diesem Buch geht es um die Kunst, ihre Visionen, ihre gestalterische Kraft und ihre gesellschaftliche Bedeutung. Es erwartet Sie keine Theorie. Sie lernen künstlerische Konzepte aus der Zeit um 1972 und den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts kennen. Sie sind eingeladen, Projekte zu entdecken, die vergessen waren, und Kunstwerke der Gegenwart, die zukunftsweisend sind. Die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der globalen Realität und die Rolle der Kunst bei der Gestaltung der Zukunft ist beiden immanent.
Das Buch nimmt seinen Ausgang bei der prominenten Rolle von Kunst und Kultur im Kontext der Planungen für ein internationales Sportereignis, die Spiele der XX. Olympiade in München 1972. Entstanden anlässlich ihres 50. Jubiläums 2022, aktiviert es die fast vergessenen Ideen, hinterfragt sie und bringt ihre Relevanz auch für die heutige Rolle der Kunst im realen und digitalen öffentlichen Raum ins Spiel.
Die Zeit um 1970 war geprägt von der Dekolonisierung, politischen Konflikten, dem Kalten Krieg. Der Club of Rome prognostizierte das nahe Ende der nicht erneuerbaren Ressourcen. Die Folgen der Ausbeutung der Natur kamen ebenso ins Bewusstsein wie die Folgen der zunehmenden Kapitalisierung. In Deutschland setzte eine deutlich kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ver-gangenheit durch die jüngere Generation ein.
50 Jahre nach den Spielen ist die Welt eine andere. Die idealistische Vorstellung, dass mit Sport und Kunst spielerisch ein neues beispielhaftes internationales, heiteres, junges Miteinander gestaltet werden kann, mag man angesichts eines Krieges in Europa, der Spaltung der Gesellschaft und zunehmender Radikalisierung, Hass und Hetze, aber auch des internationalen Turbokapitalismus kaum mehr glauben. Bereits nach dem Attentat auf die israelischen Sportler:innen am 5. September 1972 lautete das Fazit des Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees, Willi Daume, zur Abschiedsfeier am 11. Sep-tember 1972: »In einigen Monaten, in ein paar Jahren, ja vielleicht erst in Jahrzehnten wird man sagen, dass München ein zeitgeschichtliches Ereignis war, das mit seiner ganzen Tragik, seiner Wirrnis und der Unreife die Probleme deutlich gemacht hat, mit denen wir in dieser Welt heute leben müssen.«1
50 Jahre später vermitteln diese Worte ebenso wie die visionären Impulse und Planungen die große Aktualität der damaligen Konzepte, die zusammen mit der Kunst die Welt zu einer besseren machen wollte, und fordern dazu auf, die kommenden 50 Jahre unter den gegenwärtigen Fragestellungen zu imaginieren. Die vorliegende Publikation nimmt den aktuellen Stand der künstlerischen Konzeption und Produktion in den Fokus und vermittelt eine Ahnung davon, welche Voraussetzungen Kunst braucht, um nachhaltig im gesellschaftlichen Kontext Wirkung entfalten zu können.
Die Publikation gliedert sich in drei Teile: Beginnend mit einem historischen Kapitel, das die Bedeutung der Kunst innerhalb der Spiele der XX. Olympiade erstmals darstellt, schließt sich ein Intermezzo mit Bildern des Fotografen Jörg Koopmann vom Festival des Spiels,des Sports und der Kunst 2022 im Münchner Olympiapark an. Im dritten Teil entfalten über 40 Gestalter:innen und Expert:innen aus Kunst und Theorie ausgehend von Kunstwerken der Gegenwart Ideen und Gedanken zur Rolle der Kunst in der Gesellschaft der Zukunft.
Im ersten Teil wird der hohe Stellenwert, der Kunst, Kultur und Gestaltung im Rahmen der XX. Olympiade zugesprochen wurde, wissenschaftlich von 13 Autor:innen beleuchtet.2 Von Otl Aichers grafischem Gesamtkonzept, das an die Stelle der pathetischen Farben der antretenden Nationen und in Abgrenzung zu den Spielen von 1936 die Heiterkeit des Regenbogenspektrums setzte, über die Kunst für die Olympische Landschaft und Architektur bis hin zu den offiziellen Kulturprogrammen des Olympischen Sommers und der Spielstraße zeichnen Fachleute ein umfassendes Bild von visionären Ideen, progressiven Konzepten und verpassten Chancen.
Zu Beginn spannt die Verfasserin den Bogen zwischen den Modulen künstlerischer und kultureller Beiträge, die im gesamten Stadtgebiet Münchens ein neues Verständnis kultureller Wirksamkeit angetrieben haben. Kay Schiller, Professor für Modern European History, beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen von Planung, Erlebnis und Inbesitznahme der Architektur von Olympiadorf und -park von den frühen 1970er-Jahren bis in die Gegenwart. Elisabeth Spieker, Expertin für das Werk von Günter Behnisch, stellt das Zusammenspiel von Architektur, Landschaft und Kunst im angestrebten Gesamtkunstwerk Olympia 1972 dar. Die freie Kunsthistorikerin Corinna Thierolf stellt unter dem Titel Never give up! die weitgehend unrealisiert gebliebenen Konzepte amerikanischer Künstler für die Olympischen Sommerspiele 1972 vor. Unter dem Motto Gegen-Kunst erinnern sich Laszlo Glozer, 1972 Kunstkritiker der Süddeutschen Zeitung, und Christian Kandzia, im Büro Behnisch & Partner für die Kunst am Bau zuständig, an die Kämpfe um die Kunst. Die Kunstwissenschaftlerin Daniela Stöppel zeigt in ihrem Beitrag Regelkreisläufeund Feedbackschleifen, dass kybernetische Steuerungsideen in bildender und angewandter Kunst um 1970 aufgegriffen worden sind, und fragt nach deren heutigem utopischen Potenzial. Das interdisziplinäre Konzept und ausgewählte Projekte der Spielstraße macht die Verfasserin vor dem Hintergrund der künstlerischen und gesellschaftlichen Ereignisse 1972 anschaulich. In das Werk des Komponisten und Programmleiters für Neue Musik im Olympischen Sommer, Josef Anton Riedl, führt der Text Hörensehen, Sehenhören des Autors und Musikers Michael Lentz ein. Barbara Könches, Direktorin der ZERO foundation in Düsseldorf, untersucht den Olympischen Regenbogen von Otto Piene als Hoffnungszeichen nach dem Attentat. Maurin Dietrich, Direktorin des Kunstvereins München, nimmt über die Arbeit des Künstlers Tony Cokes Bezug auf die visuelle Identität der Spiele und ihre politische Aufladung. Kunsttheoretiker und -kritiker Heinz Schütz betrachtet die Ausstellung Weltkulturenund moderne Kunst unter der gegenwärtig vom Postkolonialismus geprägten Debatte. Die Antworten des Mitinitiators des Kinder- und Jugendzentrums dieser Ausstellung, Manfred Weihe, machen deutlich, dass München 1972 für den noch heute relevanten Aufbruch in der Kunst- und Museumspädagogik steht. Die Rolle der aktionistischen Kunstpädagogik der Gruppe KEKS für die Entwicklung des Spielkonzepts im Olympischen Dorf ist Thema der für diese Publikation verfassten Untersuchung von Tanja Baar.
Architektur der Olympischen Sportstätten von Behnisch & Partner, 1972
Vom 1. bis 9. Juli 2022 war der öffentliche Raum rund um den Olympiasee Schauplatz des Festival des Spiels, des Sports und der Kunst. Vor der Kulisse der olympischen Landschaft und in den Sportanlagen waren die Bürger:innen im Geiste des Kulturprogramms von 1972 zu vielfältigen interdisziplinären Programmpunkten eingeladen. Das Programm der Eröffnungsfeier in der Olympiahalle war unter dem Motto des Jubiläumsjahres Auf dem Weg in die Zukunft 1972–2022–2072 mit zeitgenössischen Akteur:innen und Zeitzeug:innen aus Sport, Öffentlichkeit und Kultur dem kritischen Erinnern sowie dem kooperativen gesellschaftlichen Miteinander gewidmet und strukturiert durch Programmpunkte zeitgenössischer Kunst. Am 2. Juli zog eine Parade mit gegenwärtigen Akteur:innen aus Kultur, Sport und Stadtgesellschaft vom Kunstareal in den Olympiapark. In den Stadtvierteln rund um den Olympiapark, vom Olympiadorf bis zur Pressestadt, ereigneten sich zahlreiche partizipative Aktionen. Rund um den Olympiasee, am Schauplatz der Spielstraße von 1972, waren Aktionen und Produktionen von Künstler:innen zu erleben, die sich mit den Konzepten von 1972 befassten. Im Intermezzo gibt eine Auswahl von Bildern des Fotografen Jörg Koopmann Szenen, Hintergründe und Atmosphäre wieder.
2022 ist die Kunst im interdisziplinären theoretischen Diskurs als wichtige kritische Instanz innerhalb der Gesellschaft und Medium für Reflexion und Eröffnung neuer Perspektiven und Einsichten anerkannt, und auch in wirtschaftlichen, politischen, sozialen Kontexten ist sie hervorgehoben. Die Kunstinstitutionen überprüfen ihre Funktionen und erfinden sich als »Dritte Orte« – nichtkommerzielle Orte der Begegnung und des Austauschs – neu. Vor allem sind es die Künstler:innen selbst, die nach neuen Kontexten, Aufgaben und gesellschaftlicher Wirkung suchen.
Der zweite Teil der Publikation Kunst und Gesellschaft 1972–2022–2072 vereint eine Vielzahl von Stimmen und richtet den Blick in die Zukunft. Der Raum wird geöffnet für neue künstlerische Praktiken und konkrete Projekte. Theoretiker:innen, Kurator:innen und Wissenschaftler:innen verfassten speziell für dieses Buch Texte zur Frage: »Denken Sie an die Zukunft. Welches Kunstwerk, welche Gestaltung oder welches innovative Projekt aus dem Kontext Kunst, Design, Architektur realisiert heute schon Aspekte, auf die es in der Gesellschaft der Zukunft besonders ankommt?«
Flankiert werden diese Essays von Beiträgen von Künstler:innen und Designer:innen aus aller Welt – von China, über Bangladesch, nach Europa und von den USA bis Mexiko und Bolivien. Die Gestalter:innen waren gefragt, eine ihrer Arbeiten für das Buch auszuwählen und sich Gedanken zu Fragen wie diesen zu machen: Welche Rolle spielt der kulturelle Raum, in dem Sie aufgewachsen sind, für Ihre Arbeit? Was wollen Sie mit Ihrer Kunst konkret für die Gesellschaft der Zukunft vorwegnehmen oder erreichen? Was müsste heute getan werden, damit das gelingt?
Die Antworten von Kulturakteur:innen und Produzent:innen nennen die zentralen Themen, die sich im öffentlichen Diskurs um Kunst und Gesellschaft gegenwärtig stellen. Sie vermitteln in ihren visionären Essays und künstlerischen Beiträgen Leitgedanken für die zukünftigen Entwicklungen angesichts der fortschreitenden Digitalisierung, den Herausforderungen des Klimawandels und vielfältiger globaler Konflikte und sozialer Probleme.
Die Rolle der Kunst im Anthropozän wird ebenso angesprochen wie der Kunstbegriff und die Rolle Europas. Künstliche Intelligenz und mediale Kommunikationsformen stehen im Fokus wie die Verbindung von lokaler Verortung und globaler Brisanz und auch das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen und Lebewesen. Die teils provokanten, teils selbstkritischen, immer konstruktiven Gedankenmodelle, die anhand von bestehenden Kunstwerken als Antworten auf unsere Fragen verfasst wurden, stellen die politische Dimension der Kunst ebenso heraus wie ihre kommunikative und gemeinschaftsbildende Funktion. Sie ist die Instanz für Freiheit, Kritik und Gestaltung, die es zu erhalten gilt, nicht nur in zunehmend totalitären Systemen. Als solche wird eine ihrer zukünftigen Strategien sein, auch neue Allianzen mit anderen Disziplinen und unterschiedlichsten Partner:innen einzugehen. Vor allem aber wird in allen Beiträgen klar, dass Kunst und Künstler:innen essenziell sind bei der Gestaltung einer vielfältigen Zukunft freier Menschen und eines friedlichen Zusammenspiels.
1 Willi Daume, Rede zur Abschluss-feier am 11. September 1972.
2 Bis auf zwei Beiträge entstanden alle für die Tagung Visionen und Wirklichkeit – Kunst für dieOlympischen Spiele als Abschluss der gleichnamigen Ausstellung in der Rathausgalerie Kunsthalle im Sommer 2022. Tanja Baar und Manfred Weihe widmeten sich ihren Themen eigens für die vorliegende Publikation.
Hier und auf den folgenden Seiten Bilder der Ausstellung Visionen und Wirklichkeit. Kunst für die Olympischen Spiele in München 1972, Rathausgalerie Kunsthalle, München 2022 Theo Gallehr, Dokumentation Spielstraße 1972: 7-Kanal-Videoinstallation: Jana Kerima Stolzer
Plakate aus der Siebdruckserie der Spielstraße von Peter Mell (l. u.), Hans Poppel (Mi., r. o.) und Uwe Streifeneder (l. o., r. u.)
Videoinstallation Theo Gallehr, Dokumentation Spielstraße 1972 von Jana Kerima Stolzer mit Plakat heute kein Programm, 5.9.72, aus der Siebdruckserie von Peter Mell, Hans Poppel und Uwe Streifeneder, und Monolithische Steingruppe (Detail) von Franz Falch
Plakate für das olympische Kunst- und Kulturprogramm 1972
Ausstellungsansicht: Diashow mit Wasserwolke von Heinz Mack, Drei Siegerpodesten und Olympiafahne von Tetsumi Kudo und Monolithischer Steingruppe von Franz Falch
Besucher:innen vor den Plakaten der Edition Olympia
Ausstellungsansicht mit Olympic Boxes von Dorothee Iannone, Boxern von Renate Göbel, 20 Olympiafahnen verknüpft von Jorge Eielson unter dem Ballonhimmel der Medienstraße
Ausstellungssektion »Visionen für den Olympiapark«, Ksenija Protić, Heiner Friedrich und Joa Baldinger
Gobelin Sonne und Himmel von Victor Vasarely, BR-Filmmaterial zur Edition Olympia und Plakate der Edition Olympia
Ausstellungssektion »Kunst im Dienst der Werbung« mit Siegerplakat des afrikanischen Plakatwettbewerbs von Ancent Soi und einem Blatt aus der Verbesserten Edition Olympia von Günter Fieweger
Ausstellungssektion »Kunst am Olympia-Bau«
Abb. 1: Budenhalbinsel der Spielstraße am Olympiasee, Wasserwolke von Heinz Mack und im Hintergrund das Olympiastadion, 1972
Am 28. Oktober 1965 vereinbarten im Münchner Rathaus Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), und Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, die Olympischen Spiele 1972 nach München zu holen Abb. 2. 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trugen sie die Vision für ein weltoffenes München und ein modernes demokratisches Deutschland in sich. Diese Vision sollte in den Olympischen Spielen 1972 Gestalt annehmen und als gemeinschaftsbildendes Gesamtkunstwerk aus Architektur, Design, Kunst und Kultur ganz neue Erlebnisse, Erfahrungen und Räume für alle eröffnen.1 Wenige Monate später, am 26. April 1966, wurde München mit diesem Konzept zum Austragungsort für die Spiele der XX. Olympiade gewählt.
Abb. 2: NOK-Präsident Willi Daume, Architekt Günter Behnisch und Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (v. li.) im Olympiastadion, 1972
Kunst und Kultur gehörten schon in der Vorstellung Pierre de Coubertins, dem Initiator der Spiele der Neuzeit Ende des 19. Jahrhunderts, untrennbar zu den Olympischen Spielen dazu. In München sollte die Kunst mit dem politischen Impetus der Gestalter die Weg-bereiterin in die Zukunft sein. Die Kulturprogramme standen für »Internationalität, Weltoffenheit und Jugendlichkeit«. Sie sollten auf »nationale Repräsentationen verzichten« und »zeitgenössische Strömungen und Kunstformen vereinen«.2 Alle Menschen sollten daran teilhaben und sich spielerisch neben den Sportwettkämpfen neue Welten erschließen können. Der Olympiapark selbst war als Landschaft mit innovativen »künstlerischen Maßnahmen« geplant. Der Anspruch war hoch. Willi Daume formulierte dies bei der Gründungsversammlung des Nationalen Olympischen Komitees am 3. Juli 1966: »Wir haben uns vorgenommen zu erreichen, ein vollständig neues Verhältnis zwischen den Funktionen Sport und Geist und Kunst und einen ganz neuen Standpunkt zu all dem, wohin das führt. […] Es ist allerdings eine Frage höchster Qualität. Mittelmäßigkeit, Kleinkariertheit ist in diesem Zusammenhange nicht diskutierbar und diskutierbar sind auch nicht Kompromisse.«3
2022 gab die Ausstellung Visionen und Wirklichkeit4 – 50 Jahre nach den Olympischen Spielen in München 1972 – erstmals einen Einblick in die Programmatik und unterschiedlichsten künstlerischen Beiträge Abb. S. 17–24. Vereint waren Dokumente, Kunstwerke und Materialien sowohl des Olympischen Sommers – des offiziellen Kulturprogramms vom 1. August bis 16. September 1972 in ganz München – als auch der dauerhaft geplanten Kunstwerke in Olympiapark und Olympiadorf, von denen viele Vision geblieben sind und viele der realisierten Werke nicht mehr existieren. Ziel der Ausstellung war es, das Kunst- und Kulturkonzept der XX. Olympiade in seiner Vielfalt und Bandbreite vor dem Hintergrund der Fragestellungen der Kunst um 1970 darzustellen und Impulse für die Diskussion um die Kunst im Olympiapark der Zukunft zu setzen.5 Die Vorträge der abschließenden Tagung am 9. und 10. September 2022 von Expert:innen unterschiedlicher Fachrichtungen bilden die Basis für die hier im ersten Teil des Buches versammelten Texte. Tagung und Ausstellung nahmen die gesamten Planungen – bislang einmalig in Umfang und Tiefe – in den Fokus.
In München sollte die Kunst mit dem politischen Impetus der Gestalter:innen die Wegbereiterin in die Zukunft sein. Die Kulturprogramme standen für »Internationalität, Weltoffenheit und Jugendlichkeit«. Elisabeth Hartung
»Das Gesamtkonzept des Oberwiesenfelds ist zwanglos, landschaftlich gebunden, heiter, spielerisch, transparent und offen. […] Die Kunst muss 1972 aktuell, attraktiv, integriert und zu den Bauten in einem richtigen Maßstab stehen.«6
Das Gestaltungskonzept des Architekturbüros Behnisch & Partner für den Olympiapark mit den charaktervollen Sportbauten und der weitläufigen Landschaft Abb. 3, für die der Landschaftsarchitekt Günther Grzimek verantwortlich zeichnete, sah Kunst am Bau im herkömmlichen Sinne nicht vor. Es stand ein anderes Kunstverständnis zur Debatte – eines, das es vorher noch nicht gegeben hatte. Das war eine Chance für Neues und zugleich die Krux für dessen Realisierung.
Abb. 3: Landschaftsarchitektur des Olympiaparks München von Günther Grzimek
Die Liste der Künstler, die im Januar 1971 von der Olympia-Baugesellschaft zu Wettbewerben in den Eingangsbereichen zum Park und für das Olympische Dorf eingeladen wurden, liest sich auch heute noch wie das »Who is Who« der damaligen Kunst und reicht von Klaus Rinke und Jean Tinguely über Ulrich Rückriem und Eduardo Paolozzi bis hin zu Hans Hollein und David Hamilton.7 Für die Umsetzung künstlerischer Maßnahmen im Park, für die die Architekten eigene Bereiche definiert hatten vgl. Abb. S. 46, sollten die vom Galeristen Heiner Friedrichvorgeschlagenen Vertreter der amerikanischen Avantgarde direkt beauftragt werden Abb. 4. Michael Heizer, Walter De Maria, Carl Andre, Dan Flavin, Frank Stella, Donald Judd, Andy Warhol, Claes Oldenburg befanden sich darunter. In den Gremien und in der internationalen Öffentlichkeit wurde in der Folgezeit heiß diskutiert, welche Kunst im Olympiapark und im Olympiadorf realisiert werden sollte. Es war ein Widerstreit zwischen den Befürworter:innen traditioneller skulpturaler Kunst von Künstlern wie Rudolf Belling und jenen, die die Positionen der jungen internationalen Avantgarde der Konzeptkunst protegierten. Die Macher der Spiele waren ambitioniert angetreten. Doch am Ende, kurz vor den Spielen, schien es, als wäre der Mut ausgegangen. Trotz des hohen Anspruchs wurden weit weniger künstlerische Projekte realisiert, als dies finanziell möglich gewesen wäre.
Abb. 4: Heiner Friedrich (2. v. r.) mit Walter De Maria, Katharina Sattler und Michael Heizer bei den Vorbereitungen zur Olympiade, 1971
»Olympia im Grünen, Olympia der kurzen Wege, Olympia des menschlichen Maßstabs, Olympia der Künste, Olympia der Jugend, Olympia der Spiele. […] Wie kann die Verbindung von Sport und Kultur auf dem Oberwiesenfeld verwirklicht werden?«8
Die Architekten mussten von Anfang an die gewünschte Verbindung von Sport und Kunst in ihren Planungen berücksichtigen. Bereits im Frühjahr 1968 hatten sie bei Vorgesprächen im Olympischen Komitee darauf hingewiesen, dass autonome Skulpturen und jegliche »künstlerische Ausschmückung«9 ihrem architektonischen Konzept nicht angemessen sei. Für die Transformation des Oberwiesenfelds, eines ehemaligen Flugplatzes, auf dem der Schutt der im Zweiten Weltkriegs zerbombten Stadt München abgeladen worden waren, in ein Areal für die Olympischen Spiele galt es, künstlerische Maßnahmen in die architektonische und landschaftsplanerische Gestaltung sorgsam zu integrieren. Für dauerhaft geplante »Kunst am Olympia-Bau«, wie es in den Planungsunterlagen der Olympia-Baugesellschaft offiziell heißt, wurden schließlich von den Architekten Areale vorgesehen, für die Künstler beauftragt und Wettbewerbe ausgeschrieben werden sollten.10 Die oben bereits erwähnten geladenen Wettbewerbe wurden für Kunstwerke in fünf Bereichen des Oberwiesenfelds ausgeschrieben: für 1) die Eingangsbereiche an der S-Bahn im Westen, der Trambahnhaltestelle im Süden und in der Nähe der U-Bahn-Station Olympiadorf im Norden, 2) die Zentrale Hochschulsportanlage, 3) den zentralen Sportstättenbereich, 4) im Olympiapark und Olympiaberg und 5) im Olympischen Dorf.
Vorgaben wurden in den Ausschreibungsunterlagen keine gemacht. Die Wahl der Mittel war frei. Ausdrücklich wurde erwähnt, dass auch temporäre Medien während der Spiele die permanenten Maßnahmen erweitern können. Allein sollten sich die Kunstwerke nicht zu weit ausdehnen, da sie auch nach den Spielen stehen bleiben sollten.11 Tatsächlich wurde von den eingegangenen Entwürfen wenig realisiert. Und von dem, was realisiert wurde, ist vieles mittlerweile in schlechtem Zustand, vergessen und zerstört. Denken wir etwa an die Wasserwolke im Olympiasee S. 60 von Heinz Mack, die bis in die 1980er-Jahre integraler Bestandteil des Gesamtkunstwerks Olympiapark war und 2009 schließlich ganz abgebaut wurde. Andere Beispiele sind das Sphärische Objekt»Olympia« von Adolf Luther S. 65 o. im Eingangsbereich der Olympiahalle oder die aus einem Wettbewerb hervorgegange-nen Media-Linien von Hans Hollein Abb. 5 im Olympiadorf, deren Struk-turen zwar noch existieren, während viele ihrer Funktionen nicht mehr nutzbar sind.
Abb. 5: Hans Hollein, Media-Linien im Olympischen Dorf, 1972
Die heutige im Olympiapark und im Olympiadorf vorhandene Kunst ist also nur noch ein Relikt dessen, was geplant wurde. 2023 legten die Verfasserin und Friederike Schuler im Auftrag des Kulturreferats dem Münchner Stadtrat eine erste Bestandsaufnahme der dauerhaft für das Oberwiesenfeld realisierten Kunstwerke vor.12 Damit sowie durch Ausstellung, Tagung und vorliegende abschließende Publikation ist ein Anfang der wissenschaftlichen Aufarbeitung gemacht, in der zukünftig die Kunst wie ursprünglich vorgesehen wieder als Teil eines möglichen »Weltkulturerbes Olympiapark« begriffen werden muss.
»Die Welt des Unsichtbaren ist wirklich. Es sollte nicht von der Skulptur oder der Kunst ausgeschlossen werden.«13
Walter De Maria, aus dessen Konzeptpapier für eine Erdskulptur am Olympiaberg dieses Zitat stammt, war einer derjenigen Künstler, die Galerist Heiner Friedrich nach München eingeladen hatte, um an der Gestaltung der Olympischen Landschaft mitzuwirken. Mit unglaublichem Elan arbeitete Friedrich daran, München zu einer bedeutenden internationalen Kunstmetropole der Gegenwart zu machen.14 Die junge amerikanische Avantgarde lebte auf seine Einladung hin wochenlang in der bayerischen Landeshauptstadt und entwickelte Ideen für die von den Architekten vorgesehenen Schauplätze. Fast alle folgten seiner Einladung, angezogen von der offenen und experimentierfreudigen Stimmung: neben Walter De Maria, Carl Andre Abb. 6, Michael Heizer und Dan Flavin. Auch Andy Warhol kam. Allein sein Besuch blieb folgenlos, woraufhin Gerhard Richter seinen Platz einnahm und für die Gestaltung der Rückwand in der Olympia-Schwimmhalle einen Entwurf entwickelte Abb. 7. Gemeinsam mit Blinky Palermo steuerte Richter auch noch zwei weitere Entwürfe bei: für die farbige Gestaltung der Glasfassaden von Schwimm- und Sporthalle S. 67, 77.
Abb. 6: Carl Andre, Testaufbau einer Bodeninstallation auf der Baustelle Olympiapark, mit Heiner Friedrich, 1971
Abb. 7: Entwurf von Gerhard Richter für die Wandgestaltung in der Schwimmhalle, 1971
Die konzeptionellen Entwürfe dieser jungen Avantgarde überzeugten auch Günter Behnisch, der nahezu alle modernistischen oder monumentalen Skulpturen, die bei den Wettbewerben eingereicht worden waren, ablehnte und sich auch energisch gegen die schon vor den Spielen vereinbarte Aufstellung von Rudolf Bellings Friedensmal, der sogenannten »Schuttblume« S. 82, auf dem Olympiaberg verwehrte. Autonome Einzelsetzungen standen seiner Auffassung nach im Widerspruch zur geplanten Olympischen Landschaft und ihrem offenen und heiteren Charakter, mit dem das ehemalige Oberwiesenfeld als demokratischer Raum Angebote zum Verweilen, zum Nachdenken, zum gemeinsamen Gestalten von Neuem schaffen sollte.
»Die moderne Olympiade ist […] kein Heiligtum, sondern ein Experiment.«15 Der Tenor der Worte von Willi Daume während der Feierstunde zur Eröffnung im Königssaal des Nationaltheaters hatte die internationale Avantgarde der Kunst motiviert, Projekte für die Zukunft zu entwerfen. München 1972 wurde damit zum Katalysator für wichtige, spätere Kunstwerke. Die Erdskulptur von Walter De Maria markiert den Beginn einer Reihe von Arbeiten, die der Künstler erst im Anschluss realisierte. Als Gerhard Richter seine Entwürfe für die Schwimmhalle nicht umsetzen konnte, ermöglichte ein Auftrag für das Foyer des kurz darauf eingeweihten BMW-Vierzylinders eine wichtige Arbeit für München, unmittelbar an das Olympiagelände angrenzend. Dan Flavins Ideen für eine Unterführung im Olympiapark finden sich schließlich transformiert in der 1994 für den Kunstbau des Lenbachhauses realisierten Lichtinstallation Untitled (for Ksenija) Abb. 8. Mit seiner großen Installation Munich Depression in Neuperlach hatte auch Michael Heizers Land Art in der Wüste Nevadas einen unmittelbaren Vorläufer in München S. 83f..
Abb. 8: Dan Flavin, Untitled (for Ksenija), 1994
Auch wenn viele Arbeiten letztendlich nicht realisiert wurden, haben die Konzepte für den Olympiapark, für diese »Parklandschaft der Zukunft«, die Menschen bewegt und zum Nachdenken angeregt. Sie sind zwar unsichtbar geblieben, aber bis heute im kulturellen Erbe der Stadt verankert.
»Olympia-Werbung will den Geist der Münchner Spiele sichtbar machen, der im Sinne von Coubertin Kunst und Spiele vereint und den Menschen in den Mittelpunkt stellt.«16
Auch über die Planungen für die olympische Landschaft hinaus erfüllte die Kunst vielfältige Funktionen beim Aufbau einer unverwechselbaren Identität der Münchner Olympischen Spiele. Während die Architektur die Räume baute und das Design von Otl Aicher Abb. 9 und seines Gestaltungsbüros für die heiteren Spiele warb, gestaltete die Kunst einprägsame Bilder, öffnete für viele neue Perspektiven und ermöglichte mit ihren Aktionen nicht nur das spielerische Miteinander von Menschen aus aller Welt.
Abb. 9: Otl Aicher in der von André Courrèges entworfenen Polizeiuniform, 1972
Viele der bis heute in der kollektiven Erinnerung eingeschriebenen positiven Erlebnisse und Bilder von 1972 sind mit der Gestaltung der Architektur, des Designs und der Kunst verbunden. Von 2022 aus betrachtet, ermöglichte der strategische Einsatz der Kunst nach dem tragischen Attentat, dass die Bilder der heiteren Regenbogenspiele geblieben sind und die Münchner Spiele trotz allem nachhaltig auch in ihren positiven Momenten wahrgenommen werden.
Das visuelle Erscheinungsbild der Spiele leuchtete in den Farben des Regenbogens und vermittelte die kulturellen Programme Abb. 10. Nach dem Attentat wurden die Spielstraße17 und ihre spielerisch-kritischen Aktionen vom Organisationskomitee eingestellt, doch Otto Piene und Vertreter:innen von Kunst und Theorie wie Jürgen Claus setzten nach langen Diskussionen ein positives Signal. Mit den Mitteln der Kunst inszenierten sie während der Schlussfeier der Spiele ein Zeichen der Verbindung und der Hoffnung und spannten fünf mit Helium gefüllte und miteinander verbundene Schläuche in den Farben des Regenbogens über den Olympiasee S. 138.18
Abb. 10: Plakate für das Olympische Kunst- und Kulturprogramm, entworfen vom Büro Otl Aicher (außer: untere Reihe, zweites von links: Bayern), 1972
Schon 1967 war innerhalb des Gesamtkonzepts des visuellen Erscheinungsbilds die Idee einer Plakatwerbung eingeschrieben. Aus dem Zusammenschluss von Olympischem Komitee und dem Münchner Verlag F. Bruckmann entwickelte sich hieraus die Edition Olympia GmbH. 28 von Künstler:innen gestaltete Plakate in unterschiedlichen Wertigkeitsstufen – vom signierten Original bis zur günstigen Reproduktion – wurden zum Erfolgsmodell für die Werbung der Spiele und deren Motto einer spielerischen Verbindung von Sport und Kunst Abb. 11. Auch Victor Vasarely befand sich unter den internationalen ausgewählten Künstlern und repräsentiert wie kein Zweiter die enge Verbindung zwischen angewandter und freier Gestaltung. Er setzte das Motiv der Spirale, das Emblem der Spiele der XX. Olympiade, als Ölgemälde, als Wandteppich und in größerer Stückzahl als begehrten Siebdruck Abb. 12 um.
Abb. 11:Edition Olympia, 1970–1972, Ausstellungsansicht Visionen und Wirklichkeit. Kunstfür die Olympischen Spiele in München 1972, Rathausgalerie Kunsthalle, München 2022
Abb. 12: Victor Vasarely / Graphicteam Köln, Offizielles Emblem für die Spiele der XX. Olympiade München 1972, 1971
Nicht für Kunst, doch aber für den Wunsch, ein schön gestaltetes, wertvolles Objekt als Erinnerung an die Spiele zu haben, stehen die Olympia-Sammelmünzen. Ihre Bedeutung ist nicht hoch genug einzuschätzen: Sie wurden zum wichtigsten Finanzierungsmittel der Olympischen Spiele und brachten einen Gewinn in Höhe von sage und schreibe 731,3 Millionen DM ein. Von diesem Erlös, von dem das Olympische Komitee lediglich 80 Millionen DM erhielt, konnten München und Kiel die Olympiabauten finanzieren.19
»Das Olympische Kulturprogramm will in einem großen Bogen Geschichte und Gegenwart umspannen, und es wird, von Folklore bis zur experimentellen elektronischen Musik, ernst und heiter, jugendlich spielerisch und nicht zuletzt volkstümlich sein.«20
Pierre de Coubertin hatte bereits 1906 im Hinblick auf die Erneuerung der Olympischen Spiele gefragt, wie Kunst und Wissenschaften integraler Bestandteil moderner Olympiaden werden können. In München sollte die Antwort auf diese Frage zum Programm und zugleich zum Modell werden. Künstlerische nationale Wettbewerbe sollte es nicht geben. Vielmehr war es der ausdrückliche Wunsch des Olympischen Komitees, dass sich München als Gastgeberstadt in seiner kulturellen Vielfalt selbst darstellen sollte. Ende der 1960er-Jahre bedeutete das neben dem Einbezug internationaler Positionen, einen Bogen zwischen dem traditionellen bayerischen Brauchtum und der kritischen Jugendbewegung zu spannen, der sich weite Kreise der jungen Kunstszene rund um Kunstakademie und Kunstverein zugehörig fühlten.21
Als offizielles Kunstprogramm der Spiele der XX. Olympiade wurde daher der Olympische Sommer ausgerufen. Vom 1. August bis zum 16. September 1972 entfalteten sich in den Institutionen der ganzen Stadt Programme mit allem, »was gegenwärtig zur Kunst und ihren Randbereichen gehörte«, wozu in diesem Kontext auch die Wissenschaft zählte. Ausstellungen zeigten herkömmliche, zeitgenössische und avantgardistische Strömungen und Kunstformen. Gastspiele internationaler Orchester und Theaterproduktionen waren ebenso darunter wie ein internationales Folklorefestival. Neue Tendenzen elektronischer Musik wurden im Dia-Musik-Film-Licht-FestivalS. 124, erlebbar, das ebenso wie die Medienstraße im Rahmen der Spielstraße von Josef Anton Riedl verantwortet wurde.22 John Cage Abb. 13 und Mauricio Kagel sowie zahlreiche andere internationale Größen der Neuen Musik waren dabei. Die größte Kunstausstellung des Olympischen Sommers inszenierte ein neues Gegenüber von Weltkulturen und moderner Kunst S. 158ff. im Haus der Kunst, dessen Ausstellungsfläche durch einen temporären Erweiterungsbau maßgeblich vergrößert wurde.23 Das von den Kunstpädagogen Josef Walch und Manfred Weihe24 verantwortete Vermittlungsprogramm entwickelte währenddessen grundlegende Maximen für die Museumspädagogik S. 172ff..
Abb. 13: John Cage auf dem Dia-Musik-Film-Licht-Festival im Haus der Kunst, 1972
Die vom Münchner Kulturreferenten und Vorsitzenden des Kunstausschusses des Olympischen Komitees, Herbert Hohenemser, als »Großes Spiel«25 angeregte und unter der Intendanz von Werner Ruhnau realisierte Spielstraße rund um den Olympiasee Abb. 14 bot nahe an den Sportstätten täglich Kulturprogramme internationaler Künstler:innen aller Sparten an.26 Geplant als sowohl »kontrastierender, ergänzender, unterhaltsamer Künstler-Beitrag zu den sportlichen Spielen« als auch »kritischer Kommentar zu den Olympischen Spielen in München 1972«27 eckte dieses in der Geschichte der Olympischen Spiele einmalige offizielle Rahmenprogramm unterdessen schon während seiner Planung an.
Abb. 14:Spielstraße, 1972
Waren den Architekten des Büros Behnisch & Partner die temporären Buden am Ufer des Olympiasees und die bewusste Niederschwelligkeit gestalterisch ein Dorn im Auge,28 so musste das offene und radikale Konzept rund um 1968 durch Interventionen der Genehmigungsstellen und der konservativen Vertreter:innen aus Politik und Sport abgeschwächt werden. Darauf reagierte die Münchner Künstler:innenschaft aufs Heftigste, da sie nicht einbezogen wurde, und kritisierte, dass die Spielstraße zu einem »Balanceakt zwischen propagandistisch wirkungsvoller ›Weltoffenheit‹ und Konfliktangst«29 verkommen sei. In kritischer Haltung lehnte sie zudem die oben erwähnte Edition Olympia ab, da mit dieser Kunst in den Dienst von Werbung und Politik gestellt werde. Die verbesserte Olympia-Edition, zwölf handsignierte Serigrafien von Studierenden der Münchener Kunstakademie, formulierte damit eine deutliche Absage an den Leistungssport Abb. 15.
Abb. 15: Vier von zwölf Plakaten aus Verbesserte Olympia-Edition, 1971 Künstler: Günter Fieweger, Bahri Drancoli, Walter Montel, Alfred Kaiser (v.l.n.r.)
Gleichwohl verkörpert die Spielstraße von heute aus betrachtet die damals wie heute überaus virulente Suche nach alternativen Modellen kultureller Teilhabe im öffentlichen Raum. Die Künstler:innen der Spielstraße setzten das Gegenmodell des Konkurrenzgedankens – des »schneller, höher, weiter« – keineswegs harmlos, sondern radikal, aber eben auch spielerisch zugleich um. Ihre Methoden und Herangehensweisen waren völlig anders als die der damals klassischen Bildhauer:innen, und ebenso unterschieden sie sich von den Positionen der Avantgardekünstler, die Heiner Friedrich nach München eingeladen hatte. Da es auch diesen um eine gesellschaftsrelevante Neudefinition von Kunst und die Erweiterung ihrer Funktionen Richtung Partizipation ging, ist es einerseits erstaunlich, dass die Spielstraße in der Wahrnehmung der Vertreter:innen des Kunstbetriebs – um mit Günter Grass zu sprechen – eine »Kultur-Kirchweih«30 war und von dieser Seite verächtlich abgetan wurde. Andererseits drückt sich darin aus, wie vehement in der zeitgenössischen Kunstszene selbst um ein neues Kunstverständnis gestritten und untereinander gekämpft wurde.
Während die Architektur die Räume baute und das Design von Otl Aicher und seines Gestaltungsbüros für die heiteren Spiele warb, gestaltete die Kunst einprägsame Bilder, öffnete für viele neue Perspektiven und ermöglichte mit ihren Aktionen nicht nur das spielerische Miteinander von Menschen aus aller Welt.
Das zunehmend kritische Bewusstsein über das Ausmaß globaler Konflikte und der gesellschaftspolitischen Problematiken war für Willi Daume und die für das Kulturprogramm Verantwortlichen Anlass, noch weitere Formate in das offizielle Programm aufzunehmen, um auch den jungen kritischen und lokalen Künstler:innen ein Forum zu geben: »Diese Jugend lebt in einer Zeit, in der nahezu alles in Frage gestellt ist«, bemerkte Daume bei der Feierstunde aus Anlass der Eröffnung der Olympischen Spiele, »sie wird sich ganz gewiss nicht mit überkommenen Idealvorstellungen einer olympischen Bewegung noch mit ihrer bloßen Existenz zufriedenstellen lassen. Sie anerkennt keine heile olympische Welt.«31
Geplant waren da bereits das Projekt Junge Welt, um gesellschaftskritische Projekte experimenteller Künstler:innengruppen in München zu fördern und in das offizielle Programm zu integrieren, sowie das Informelle Treffen junger europäischer Künstler im Kunstverein Abb. 16; dieses verabschiedete sich nach langen Diskussionen von der Zielsetzung, neue Modelle für ein Olympia der Zukunft zu entwickeln und gemeinschaftsbildende Formen von Kunst und Sport zu finden, und widmete sich stattdessen dem Thema »Freiheitsbereiche der Zukunft«.32
Abb. 16:Informelles Treffen junger europäischer Kunstler im Kunstverein, 1972
Alle diese Überlegungen verstummten nach dem Attentat auf israelische Athleten am 5. September 1972. War spektakulären Entwürfen internationaler Künstler bereits vor den Spielen eine Absage erteilt worden, so war das tragische Attentat für die Organisatoren Anlass, nun auch das offizielle Kunstprogramm der Spielstraße rund um den Olympiasee zu beenden. Der Ausruf »The Games must go on« von Avery Brundage, dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), galt allein den Sportwettkämpfen, nicht aber der interaktiven progressiven Spielstraße rund um den Olympiasee, die sich als kritischer Kommentar zur Welt des Sports verstand und freie Angebote für alle schaffen wollte.
Heute sind viele Themen und Fragen von 1972 weiterhin aktuell, in der Kunst wie in der Gesellschaft, auch wenn sich die Parameter verändert haben. Formen der Partizipation, Gestaltung des öffentlichen Raumes, Umgang mit Ressourcen, Formen des Zusammenlebens und Gestaltung von Räumen für die Demokratie stellen sich heute wie damals. Es ist Zeit, 2022 mit Blick in die Zukunft zu fragen, welche Entwicklungen damals angestoßen wurden, was von den Ideen von 1972 weiterhin gültig ist, was uns davon immer noch bewegt und was endlich konkret angegangen werden muss. Die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Kunst und die Voraussetzungen, die sie braucht, um wirken zu können, sind darin eingeschlossen.
Elisabeth Hartung ist promovierte Kunstwissenschaftlerin und Kulturmanagerin. Ihre interdisziplinäre Arbeitsweise zwischen Kunst, Design, Architektur und gesellschaftlichen Kontexten manifestiert sich unter anderem in Publikationen wie Neue Allianzen für die Gestaltung der Zukunft, Stuttgart 2018. Sie ist als Projektleiterin, Kuratorin, Dozentin, Moderatorin und Beraterin tätig, auch unter dem Label kunst-buero. 2020–2023 oblag ihr die Projektleitung des 50. Jubiläums der Olympischen Spiele in München 1972, seit Juni 2023 leitet sie das Projektbüro im Geschäftsbereich Kultur der 2. Bürgermeisterin der Stadt Nürnberg.
1 Vgl. den Beitrag von Kay Schiller im vorliegenden Band, S. 46–59.
2 Vgl. Die Spiele. Der offizielle Bericht, hrsg. vom Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972, Bd. 1, S. 228 und 235.
3 Rede von Willi Daume zur Gründung des Nationalen Olympischen Komitees, 3.7.1967, Stadtarchiv München, DE-1992-OLY-0079.
4Visionen und Wirklichkeit – Kunst für die OlympischenSpiele in München 1972, Ausstellung in der Rathausgalerie Kunsthalle, München, 30.6.–11.9.2022, kuratiert von Elisabeth Hartung und Friederike Schuler.
5 Die Struktur des Textes folgt der Konzeption der Ausstellung Visionen und Wirklichkeit und den Titeln ihrer Ausstellungsbereiche sowie dem begleitenden Leporello.
6 Olympia-Baugesellschaft mbH, Beilage zu den Sitzungen des Bauausschusses am 15.12.1970 und des Aufsichtsrats am 18.12.1970.
7 Tatsächlich findet sich in den Dokumenten kein Name einer Künstlerin, und auch die Verantwortlichen waren, wie damals üblich, männlichen Geschlechts. Vgl. »Kunstmaßnahmen auf dem Oberwiesenfeld«, o. P./o. J., saai | Archiv für Architektur und Ingenieurbau, KIT Karlsruhe, BuP 210, AK 42.04.
8 Behnisch & Partner, Konzept »Kunst auf dem Oberwiesenfeld«, München, 25.7.1969, S. 1, ebd.
9 Vgl. Die Spiele 1972 (wie Anm. 2), S. 255.
10 Vgl. den Beitrag von Elisabeth Spieker im vorliegenden Band, S. 60–71.
11 Vgl. Kunstmaßnahmen o. J. (wie Anm. 7).
12 Elisabeth Hartung und Friederike Schuler, OLYMPIAKUNST1972. Wissenschaftliche Studie und Dokumentationder dauerhaft realisierten Kunstwerke, unveröffentlichtes Manuskript für das Kulturreferat der Landeshauptstadt München, März 2023.
13 Walter De Maria, Vorschlag für eine größere Erdskulptur,München – Gelände der Olympischen Spiele 1972, August 1970, Stadtarchiv München, DE-1992-DIR-ZR-0380.
14 Vgl. den Beitrag von Corinna Thierolf im vorliegenden Band, S. 72–85.
15 Siehe Die Spiele 1972 (wie Anm. 2).
16Offizieller Olympiaführer der Spiele der XX. Olympiade München 1972, Red. Otto Haas, München 1972, S. 98.
17 Vgl. den Beitrag von Elisabeth Hartung im vorliegenden Band, bes. S. 108f.
18 Siehe den Beitrag von Barbara Könches im vorliegenden Band, S. 138–149.
19 Die Spiele 1972 (wie Anm. 2), S. 70.
20 Offizieller Olympiaführer 1972 (wie Anm. 16), S. 70.
21 Vgl. den Beitrag von Maurin Dietrich im vorliegenden Band, S. 150–157.
22 Vgl. den Beitrag von Michael Lentz im vorliegenden Band, S. 122–137.
23 Für einen kritischen Rundgang dazu aus heutiger Perspektive siehe den Beitrag von Heinz Schütz im vorliegenden Band, S. 158–171.
24 Vgl. das Gespräch mit Manfred Weihe im vorliegenden Band, S. 172–179.
25 Die Spiele 1972 (wie Anm. 2), S. 247ff.
26 Vgl. den Beitrag von Elisabeth Hartung, »Die Spielstraße im Kontext der Kunst um 1972 und ihre Relevanz für die Zukunft«, im vorliegenden Band, S. 106–121.
27 Vgl. Georg Elben und Britta Peters, Die Spielstraße München1972. Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen. Eine Ausstellung aus dem Archiv Ruhnau, Begleitheft zur Ausstellung im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, August 2020.
28 Vgl. das Gespräch zwischen Laszlo Glozer, Christian Kandzia und Heinz Schütz im vorliegenden Band, S. 86–95.
29 Rudolf Winkler, »Kunstexperten im Olympiageschäft«, in: tendenzen, 79/80, Dezember – Januar 1972/73, S. 279.
30 Hans Eckart Rübsamen, »München olympisch: Kommt die Kunst zu kurz?«, in: Westermanns Monatshefte, Februar 1972, S. 24.
31 Die Spiele 1972 (wie Anm. 2), S. 94.
32 Ebd., S. 255.
Abb. 1: Behnisch & Partner, Lageplan Kunstmaßnahmen, Nr. 0242, 23. Februar 1970
Neben der Zeit unterhält der Sport auch eine enge Verbindung mit dem Raum. Nicht nur geht es bei vielen Sportarten um Raumgewinne, sondern der Sport wird auch in speziell dafür gebauten Räumen ausgeübt: von Sportplätzen über Turn- und Schwimmhallen bis zu Stadien und ganzen Sportlandschaften für Mega-Events wie FIFA-Weltmeisterschaften und Olympische Spiele.1 Diese Räume spiegeln bewusst und unbewusst die Zeit und Ideen sowie die politischen Ideale ihrer Gestalter:innen wider. Zwei solch eigens geschaffene Sporträume sind der Münchner Olympiapark von Günther Grzimek und das Olympiadorf der Stuttgarter Architekten Heinle, Wischer und Partner (HW&P). Dabei ist der Olympiapark kein Garten im klassischen Sinn, sondern eine Sportlandschaft, ein komplexes Ensemble aus Stadionhochbauten, Hügeln, Wiesen, Straßen, Wegen, Trampelpfaden, Spielplätzen und anderen Elementen Abb. 2.
Abb. 2: Blick vom Olympiaberg auf Stadion und Olympiasee
In diesem Beitrag geht es um die Wechselwirkungen zwischen der Planung der »gebauten Utopie« einerseits und dem Erlebnis und der Inbesitznahme der olympischen Bauten andererseits – das heißt im Zusammenhang mit den Werten der Architekten der Münchner Olympischen Spiele von 1972 um geplante und gelebte Demokratie.2 Zudem interessiert mich das Spannungsverhältnis zwischen dem Denkmalcharakter der Architektur und dem Bedürfnis nach Wandel und Anpassung an neue Gegebenheiten.
Die Stadionarchitektur von Günter Behnisch und Partnern (B+P) und das olympische Design Otl Aichers sollten einerseits positive Signale über die Bundesrepublik als einer transparenten, nüchternen, gut organisierten, unideologischen, leistungsbereiten und lockeren, modernen, demokratischen Industriegesellschaft senden und gleichsam das Verhalten der Nutzer:innen der olympischen Landschaft im Sinne der Demokratie positiv beeinflussen. Auf dieselbe Weise sind auch die Landschaftsarchitektur des Parks und diejenige des Dorfes als Teile des breiteren Demokratiediskurses der 1960er-Jahre und frühen 1970er-Jahre zu verstehen. Es ging Grzimek und den Architekten von Heinle, Wischer und Partner neben der Wirkung auf die Weltöffentlichkeit darum, den politischen Modernisierungsdefiziten der Bundesrepublik baulich etwas entgegenzusetzen und die Demokratie über ihre abstrakte Rolle als Staats- und Regierungsform hinaus stärker in der bundesdeutschen Gesellschaft zu verankern. Zur Demokratisierung gehörte einerseits der Abbau von autoritären Strukturen in Staat und Gesellschaft, andererseits aber auch die Schaffung von angemessenen Räumen zur Erholung und zum Wohnen, wie sie Olympiapark und das Olympische Dorf darstellen.
Im Gegensatz zu dem, was die »1968er« später gerne behaupteten, war dieses Mehr an Demokratie weniger ihrer als der vorangehenden Wiederaufbaugeneration und den »1945ern« geschuldet, der »Generation der Davongekommenen«, wie sie einer von Behnischs Mitarbeiter:innen einmal bezeichnete.3 Die Gestalter von Park und Olympiadorf, Günther Grzimek (1915–1996), Erwin Heinle (1917–2002) und Robert Wischer (1930–2007), lassen sich wie alle wichtigen »Macher« von München ’72, inklusive Behnisch (1922–2010) und Aicher (1922–1991), zu diesen beiden politischen Generationen rechnen. Das gilt auch für den Präsidenten des Organisationskomitees und Hauptinitiator der Spiele, Willi Daume (1913–1996), sowie für die politischen Entscheidungsträger in Stadt, Land und Bund, von Hans-Jochen Vogel (1926–2020) über Franz Josef Strauß (1915–1988) bis Willy Brandt (1913–1992) – im Übrigen alles Männer.
»Dieser Rasen darf betreten werden! Blumen pflücken erwünscht!« Günther Grzimek
Der Wunsch nach größerer individueller Freiheit und demokratischer Mitwirkung in der Gesellschaft drückte sich bei Grzimek und HW&P in der Betonung von Freizeit, Spiel und Bewegung, menschlichen Proportionen und dem Erschaffen von Räumen aus, die frei von den Zwängen der Industriegesellschaft waren. Bei der Gestaltung von Freiräumen ging es ihnen jedoch nicht um eine Flucht aus der industriellen Moderne, sondern diese wurde vielmehr begrüßt und affirmiert, wie man zum Beispiel durch die unverstellte Durchsicht vom Grün des Parks auf das Häusermeer der Stadt sehen kann Abb. 3, 4. Ihre Arbeiten in München waren deshalb auch Ausdruck eines technokratischen Optimismus, der davon ausging, dass die Probleme der modernen Industriegesellschaft mit technischen Mitteln durch sorgfältige Planung von Expert:innen wie ihnen gelöst werden konnten. Die Architekt:innen waren die letzten Vertreter dessen, was Michael Ruck »den kurzen Sommer der konkreten Utopie« vor dem Ende des Boom-Zeitalters genannt hat.4
Abb. 3: Blick vom Olympiapark auf das Stadtzentrum Münchens
Abb. 4: Blick vom Olympiapark in den Norden der Stadt
Als Konkretisierungen dieses Denkens sind Olympiapark und -dorf schon lange Teil des urbanen Gefüges Münchens geworden: erlebt, vereinnahmt und verwaltet, tagtäglich bewohnt, genutzt und genossen – und auch, wenn nötig, verteidigt, etwa gegen die allzu große kommerzielle Ausbeutung des Parks und indem man das Dorf so weit wie möglich selbst verwaltet und sich gegen unerwünschte, aufoktroyierte Veränderungen wehrt, wie etwa der Streit um den Standort des Erinnerungsorts Olympia-Attentat München 1972 (2017) zeigt. Die starke Identifikation der Einwohnerschaft mit diesen Orten und das beim Widerstand gegen ungewünschte Eingriffe an den Tag gelegte Selbstbewusstsein sind Zeichen für eine gelungene Demokratisierung, wie sie von Grzimek, HW&P & Co. gedacht war und zu der ihre Architektur nicht unwesentlich beitrug.
Grzimek hatte ein funktionalistisches Verständnis von Garten- und Landschaftsarchitektur. Von Gartenkunst und dekorativen oder ornamentalen Elementen, dem »Ziergrün« repräsentativer Gärten und Parks sowie der Bundesgartenschauen der Gegenwart hielt er nichts. Mit Blick auf die Zeit nach den Spielen ging es ihm darum, für das mit Grünflächen nicht gerade großzügig ausgestattete München ein »Nutzgrün« zu schaffen, das heißt einen »Benutzerpark«, der einen messbaren »Nutzwert« besaß, mit anderen Worten einen »Gebrauchsgegenstand für die demokratische Gesellschaft«.5
Dahinter stand die Absicht, den Alltag des Einzelnen in der modernen Industriegesellschaft menschenwürdig zu gestalten. Das aufwendig zum Olympiapark umgestaltete, 280 Hektar große Oberwiesenfeld sollte Erholung für Körper und Geist sowie unterschiedlich gestaltete Bereiche für Privatheit und Öffentlichkeit, Bewegung, Entspannung und Spiel bieten. Wie Behnisch und Aicher war auch Grzimek von einer tiefergehenden politischen Vision erfüllt. Wie dem Chefarchitekten und dem Designchef ging es auch ihm um die »Emanzipation des Bürgers zu einem selbstbewussten Mitglied einer demokratischen Gesellschaft«.6 Die Parkbenutzer:innen sollten sich den Park zu eigen machen. Deshalb wurden sie zum Betreten der Wiesen und zum Blumenpflücken aufgefordert Abb. 5: »Dieser Rasen darf betreten werden! Blumen pflücken erwünscht!«7 In einem Fernsehinterview mit dem Süddeutschen Rundfunk 1995 erinnerte Grzimek etwa an die in großer Zahl gesäten Margeriten und hob hervor: »Man geht anders auf Wiesen, wo man keine Fixpunkte hat, die einen leiten. Man taumelt und man kann sich fallen lassen.«8 Der respektive die Einzelne sollte sich im Olympiapark von landläufigen Normen und Konventionen befreien und frei entfalten dürfen.
Abb. 5: Titelseite von Günther Grzimek, Die Besitzergreifung des Rasens, 1983
Für einen freien, spielerisch-kreativen, statt andächtigen, kontrollierten oder gleichgültigen Umgang mit dem Park wurden für alle Generationen Anreize geschaffen. Zu den heute oft nicht mehr erlaubten Aktivitäten gehörten etwa Pony- und Eselreiten, Feuermachen, Schwimmen im Olympiasee sowie Sitzen und Klettern auf Baumstämmen und Gerüsten. Die Beispiele zeigen, dass man laut Grzimek bei der Emanzipation der Bürger:innen am leichtesten bei den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft anfing. Mit Blick auf die vielfältigen Weisen, in denen der Park seit seiner Entstehung von einem sozial und altersmäßig höchst diversen Publikum genutzt wird, kommt man nicht umhin, ihn als großen Erfolg zu bezeichnen. Man denke an die vielen Nutzer:innen, die hier Sport treiben oder ihre Freizeit verbringen, einzeln oder in Gruppen. Die Nutzer:innenzahlen seit 1972 gehen in die Hunderte von Millionen, führte doch die Betreibergesellschaft Olympiapark München GmbH bereits bis Ende 2018 allein 215 Millionen zahlende Gäste auf.9
Während das olympische Ensemble von Behnisch und Partnern unter Denkmalschutz steht, wurde dem Olympiapark ohne große Rücksicht auf die Gesamtästhetik immer wieder neue Architektur hinzugefügt, wie etwa das Restaurant Coubertin neben der Olympiahalle und zuletzt am Ort des abgerissenen Olympia-Radstadions der multifunktionale SAP-Garden für die Basketballer:innen des FC Bayern und die Eishockeyspieler:innen von Red Bull München. Das verweist auf die fruchtbare und letztlich nicht auflösbare Spannung zwischen dem Park als Denkmal einerseits – was zu den bislang nicht realisierten Plänen geführt hat, ihn ins UNESCO-Weltkulturerbe eintragen zu lassen – und der Notwendigkeit, mit ihm Einnahmen zu generieren. Schließlich muss die Betreibergesellschaft die Erhaltungskosten tragen und soll idealerweise einen Gewinn erwirtschaften.
Das hat zur Folge, dass der Olympiapark in den letzten Jahrzehnten auch regelmäßig für alle möglichen Events genutzt oder, wie andere sagen würden, zweckentfremdet wurde. Er war schon Schauplatz von auch vor dem Klimawandel schon fragwürdigen Skirennen, Erotikmessen und der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft DTM (2010–2013). 2012 etwa formulierte deshalb die Architektengruppe Olympiapark ein Plädoyer für dieWiederherstellung des Gesamterscheinungsbildes und warnte, dass der Park Gefahr laufe, ein »x-beliebiger Vergnügungspark wie jeder andere in der Welt zu werden«.10 Das lag auch mit am Widerstand der Bewohner:innen des Olympiadorfes gegen Pläne, anlässlich der Fußball-WM 2006 im Park ein weiteres Großstadion zu bauen; dass dieses dort nicht realisiert werden konnte, war einer der Gründe für den Umzug des FC Bayern nach Fröttmaning im Münchner Norden, womit eine wichtige Einnahmequelle für die Betreiber entfiel. Andererseits war die Verhinderung des Stadions ein exzellentes Beispiel für die gelungene, von Grzimek beabsichtigte Verankerung der Demokratie in der Gesellschaft. Was die baulichen Veränderungen im Olympiapark angeht, lässt sich annehmen, dass Grzimek durchaus Verständnis dafür gehabt hätte, dass der Park immer wieder den wandelnden Bedürfnissen einer sich weiterentwickelnden demokratischen Gesellschaft angepasst werden muss.
Vielleicht noch stärker als der Park zeigt das Olympiadorf, wie die demokratischen Ideen der Planer über das vergangene halbe Jahrhundert in demokratische Handlungsweisen der Nutzer:innen mündeten – nicht nur, aber sicher auch wegen der Architektur. Gemeint ist hier in erster Linie das Männerdorf von Heinle, Wischer und Partner, wobei das dem Studentenwerk gehörende Frauendorf von Werner Wirsing mit seinen Wohnwürfeln – ein Vorläufer der gegenwärtig intensiv diskutierten »tiny houses« – ideell durchaus dazu passt. Ursprünglich für 12.000 Athlet:innen, Trainer:innen und Funktionär:innen konzipiert und ästhetisch durch sein strenges geometrisches Konzept ein ästhetischer Gegenpol zur weichen Modellierung des Parks, sollte das Olympiadorf das Optimum an zeitgenössischer urbaner Wohnungsbauarchitektur bieten – keine Schlafstadt, sondern »eine Stadt zum Leben«.11 Das Dorf war eine der letzten großen Neubausiedlungen vor dem Ende des Booms, »ein letzter Höhepunkt der städtebaulichen und architektonischen Moderne«.12 Es ist ein gutes Beispiel für »Urbanität durch Dichte«, ein Konzept, in dessen Rahmen architektonische und soziale Utopien mittels massenproduzierter standardisierter Bauteile realisiert werden sollten.13 Nicht alle fanden dies technisch gelungen. Der Architekturkritiker Manfred Sack etwa kritisierte HW&P, die nie zuvor eine Wohnsiedlung gebaut hatten, wegen der »noch nicht so sensiblen Beherrschung elementierten Bauens«.14
Es gibt wenig Selbstzeugnisse zum politisch-ideellen Hintergrund von Erwin Heinle – laut Natalie Heger ein »liberaler Geist« mit »Sinn für kontrolliertes Risiko«15 – und Robert Wischer. Der Vergabeprozess an die Architekten ohne Wettbewerb wurde zeitgenössisch als höchst undemokratisch kritisiert. HW&P hatten beim von B+P gewonnenen Wettbewerb um die Sportbauten den 3. Platz errungen und wurden gewissermaßen mit dem Dorf entschädigt. Allerdings beschäftigten sich auch die Architekten des Dorfes mit wichtigen gesellschaftlichen Themen in der Bundesrepublik, und es ist offensichtlich, dass ihre Herangehensweise an diese Aufgabe sowohl Ausdruck für einen technokratischen Optimismus als auch Zeugnis von demokratischen Entscheidungsprozessen war. Zum einen band die Expert:innenplanung für das Olympiadorf internationale Fach-leute und Wissenschaftler:innen ein, darunter die französischen und englischen Wohnungsbauarchitekten Georges Candilis und Arthur Ling. Auch der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich zählte dazu, dessen Buch von der Unwirtlichkeit unserer Städte (1965) eine Form von Stadtarchitektur forderte, die zur Mündigkeit, Freiheit und Demokratie erzog. Mitscherlich regte an, »die Möglichkeit zur Individuation und die Verlockung zur Kommunikation«, also Bereiche für Privatheit und Öffentlichkeit zu schaffen.16 Andererseits war die Bürostruktur bei HW