Kurt Tucholsky - Michael Hepp - E-Book

Kurt Tucholsky E-Book

Michael Hepp

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Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Kurt Tucholsky, auch bekannt als Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel oder Kaspar Hauser, seines Zeichens Journalist, Satiriker, Essayist, Literatur- und Theaterkritiker, Erzähler, Lyriker, Chanson- und unermüdlicher Briefeschreiber, zählt zu den meistgelesenen Autoren der Weimarer Republik. Tucholsky, der von sich selber sagte, er habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung, wird seit jeher geliebt und verehrt; zugleich ist er – als zorniger Ankläger von Machtmissbrauch und Militarismus («Soldaten sind Mörder») – nach wie vor heftig umstritten. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Michael Hepp

Kurt Tucholsky

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Über dieses Buch

Rowohlt E-Book Monographie

 

Kurt Tucholsky, auch bekannt als Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel oder Kaspar Hauser, seines Zeichens Journalist, Satiriker, Essayist, Literatur- und Theaterkritiker, Erzähler, Lyriker, Chanson- und unermüdlicher Briefeschreiber, zählt zu den meistgelesenen Autoren der Weimarer Republik. Tucholsky, der von sich selber sagte, er habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung, wird seit jeher geliebt und verehrt; zugleich ist er – als zorniger Ankläger von Machtmissbrauch und Militarismus («Soldaten sind Mörder») – nach wie vor heftig umstritten.

Über Michael Hepp

Inhaltsübersicht

Berlin – Stettin – Berlin 1890–1915«Schade – mich haben sie falsch geboren»«Student mit einiger stilistischer Begabung»«Pseudonyme sind wie kleine Menschen»Kurland – Rumänien – Berlin 1915–1924«Uns Junge hat es umgerissen»«Verärgerte Bürgerliche sind noch keine Revolutionäre»«Sollen wir noch?»«Ach, Muse, pack die rote Fahne ein!»Paris – Berlin – Hindås 1924–1935«Frankreich, dem ich meine besten Jahre verdanke»«Oberschriftleitungsherausgeber»«Deutschenspiegel»«… das Spiel dürfte aus sein»«Deutschland –? Schweigen und vorübergehen»«Wenn tot, werde ich mich melden.»ZeittafelZeugnisseBibliographie1. Veröffentlichungen zu Lebzeiten2. Werk- und Briefausgaben3. Bibliographien und Hilfsmittel4. Biographien5. Monographien zu einzelnen Themen6. Weitere SekundärliteraturNamenregisterVerwendete Abkürzungen: ...

Berlin – Stettin – Berlin 1890–1915

«Schade – mich haben sie falsch geboren»

Soweit ich mich erinnere, wurde ich am 9. Januar 1890 als Angestellter der «Weltbühne» zu Berlin geboren. Meine Vorfahren haben, laut «Miesbacher Anzeiger», auf Bäumen gesessen und in der Nase gebohrt[1], schrieb Kurt Tucholsky 1926 in einer ironischen Autobiographie. An seiner Wiege standen symbolisch bereits die Vertreter jener gesellschaftlichen Gruppen, mit denen er sich später so vehement auseinandersetzen sollte. Sein Geburtshaus in der Lübecker Straße 13 in Berlin-Moabit wurde gleichsam eingerahmt von der Dreieinigkeit Militär, Justiz und Industrie. Im Süden standen zwei große Werke der Lokomotiven- und Maschinenfabrik Borsig, daneben im Südosten das Kriminalgericht Moabit und diesem direkt gegenüber die Kasernen der Ulanen und des Artillerie Corps mit einem riesigen Exerzierplatz. An die Rückseite seines Geburtshauses grenzte der große Komplex des Städtischen Krankenhauses Moabit.

 

Die letzten Jahre des alten Jahrhunderts kennzeichnete politische und wirtschaftliche Unruhe voller Umbrüche und Neuordnungen, geprägt vom «noch nicht» und «nicht mehr», einem Lebensgefühl, dem Tucholsky bis zuletzt verhaftet blieb. Das Jahr 1890 markierte das Ende der Gründerjahre. Wilhelm II., seit knapp zwei Jahren Deutscher Kaiser «von Gottes Gnaden», schickte Reichskanzler Otto von Bismarck, den Konstrukteur des Deutschen Kaiserreichs von 1871, in Pension, die Sozialistische Arbeiterpartei wurde nach Aufhebung des Sozialistengesetzes mit fast 20 Prozent der Wählerstimmen stärkste Partei in Deutschland und änderte ihren Namen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Arbeitgeberverbände entstanden, Streiks und soziale Unruhen kontrastierten mit sprunghaft anwachsendem Wohlstand einer kleinen Schicht von Unternehmern. Die Staatliche Invaliden- und Alterspflichtversicherung von 1889 und die Erfindung des Drehstrommotors im selben Jahr symbolisieren Eckpunkte einer wirtschaftlichen Entwicklung, von der auch Tucholskys Vorfahren profitiert hatten.

Kurt Tucholsky war ein Kind aus gutbürgerlich-jüdischer Familie. Seine Eltern Alex und Doris Tucholsky gehörten bereits zur zweiten Generation assimilierter Juden, die durch Fleiß und Ausdauer den Aufstieg ins Bürgertum geschafft hatten. Schon die Großeltern hatten es in der ersten Zeit der Judenemanzipation zu erheblichem Wohlstand gebracht. Alex Tucholsky, der am 13. Oktober 1887 seine Cousine Doris Tucholsky geheiratet hatte und in das eben fertig gewordene Mietshaus Lübecker Straße 13, 2. Stock[2], zog, war ein typischer Aufsteiger in dieser sich rasant industrialisierenden Zeit. Als Bankkaufmann trat er in die 1856 von Carl Fürstenberg gegründete «Berliner Handelsgesellschaft» (BHG) ein und arbeitete sich schließlich bis zum Direktor hoch.

1892 schickte man ihn nach Stettin in die dortige Filiale der mit der BHG verbundenen Firma Lenz & Co, eine der führenden Eisenbahngesellschaften der damaligen Zeit. Die Bank brauchte zudem an den wichtigsten Börsenplätzen zuverlässige Leute, um die Aktiengeschäfte zu tätigen. In Stettin war einer dieser Zuverlässigen Alex Tucholsky, der sich nun auch finanziell weiteren Familiennachwuchs leisten konnte: Nach Kurt wurde 1895 dessen Bruder Fritz geboren, mit dem er bis zu seinem Tod eng verbunden blieb, 1897 folgte die Schwester Ellen.

Stettin. Hier, in seinen Jugendjahren, entstand Tucholskys tiefverwurzeltes Gefühl für den Norden, hier hörte er das rollende Plattdeutsch, das er später in seine Geschichten einflocht. In der landschaftlich reizvollen Umgebung von Stettin lernte er die eher spröde Natur kennen, die er bis zu seinem Tod liebte und nach der er sich sehnte: die See, die Wälder, die Stille. Aber auch die Hektik der Stadt erlebte Tucholsky hier, und er prägte sich die Reaktion des geliebten Vaters darauf ein, der gern pfeiferauchend auf dem Balkon saß und immer wieder den Kopf schüttelte: «Wie sie rennen! Wie sie rennen!»[3]

1899 kehrte die Familie nach Berlin zurück, wo sie mitten im Zentrum, in der Dorotheenstraße 11, eine komfortable Firmenwohnung beziehen konnte. 1901 wurde Alex Tucholsky schließlich in das aus vierzehn Mitgliedern bestehende Direktorium der BHG befördert, als Bereichsleiter war er auch hier zuständig für die Tochterfirma Lenz & Co.

Alex Tucholsky ahnte wohl aufgrund seiner Tätigkeit in Stettin, welche Folgen die kaiserliche Großmachtpolitik haben könnte. Im Dezember 1894 meinte er sorgenvoll, dass die «Kater-Ideen der hohen Herren» einen Krieg heraufbeschwören werden. Und «Krieg heißt doch schließlich auf Deutsch privilegierter Mord». Leidtragende seien dann wieder die Eltern und Kinder.[4] Trotz dieser Erkenntnis wäre ihm allerdings nie in den Sinn gekommen, seinen lukrativen Job aufzugeben – er wollte die Familie versorgt sehen, wenn er starb. Und spätestens seit seiner Rückkehr nach Berlin wusste er, dass er schwer krank war. Die wenigen vorhandenen Aussagen lassen darauf schließen, dass Alex Tucholsky etwa seit 1898 am «Tertiärstadium» der Syphilis litt. Eine nachhaltige Heilungsmethode war damals noch unbekannt, das Penicillin noch nicht gefunden; Korsett und schmerzlindernde Spritzen bedeuteten wohl bereits das Äußerste an medizinischer Behandlungsmöglichkeit. Trotz starker Schmerzen und der zunehmenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes arbeitete Alex Tucholsky mit eiserner Disziplin und «treuester Pflichterfüllung» bis kurz vor seinem Tod am 1. November 1905.

Kurt Tucholsky hat diesen frühen Verlust des geliebten und verehrten Vaters nie überwunden, er blieb fast zeitlebens auf der Suche nach einem «Vaterersatz». Noch kurz vor seinem Tod 1935 empfand er es als fast unerträglich, daß ein so wertvoller Mann wie Papa sterben mußte, als er an der Schwelle der Ernte seines Lebens war[5].

Ganz anders stellt sich das Verhältnis zu seiner Mutter dar, das bis zum Ende äußerst gespannt blieb. Manche Bemerkungen in seinen Briefen klingen geradezu hasserfüllt, etwa wenn er sie als minderwertigen Menschen und mittelgradig schwachsinnig bezeichnete.[6] War es nur der Elternkonflikt, der, durch die Werke von Henrik Ibsen, August Strindberg oder Frank Wedekind verstärkt, eine ganze Generation in Aufruhr versetzte? Tucholsky sprach ja selbst von dem Knacks, den es zwischen seiner Generation und der seiner Eltern gegeben hat, den «Fortschritt», die aufbegehrende Opposition, die da sagte: Achtung! Jetzt kommen wir![7]

Diese aufbegehrende Opposition orientierte sich am Zauberwort einer ganzen Schülergeneration, dem «Wandervogel» und dessen Idealen wie Bedürfnislosigkeit, Autonomie, Wandern, Naturerlebnis und Heimat, die der als sinnlos empfundenen Lebensform der Erwachsenen und ihrer Welt der Verbote entgegengesetzt wurden. Das Wort Familienbande hatte für Tucholsky durchaus eine doppelte Bedeutung. Die Brutwärme der Familie wurde als erdrückend empfunden, als Backofen des Egoismus, als Käfig.[8] Der Tucholsky in vielen Bereichen wesensverwandte Franz Kafka klagte beispielsweise: «Nichts wollen die Eltern, als einen zu sich hinunterziehen in die alten Zeiten, aus denen man aufatmend aufsteigen möchte. Aus Liebe wollen sie es natürlich. Das ist ja das Entsetzliche.»[9] Ähnliche Vorwürfe finden sich auch bei Tucholsky zuhauf, erklären aber nicht die fast abgrundtiefe Verachtung der Mutter gegenüber.

Wer den Spuren in Tucholskys Werk nachgeht, wird zahlreiche Hinweise finden, Anklagen und Verzweiflungsschreie, etwa in der Geschichte über das Elternhaus: Laut knallten die Türen, und wir hörten einen schrillen Sopran: «Marie! Marie! Habe ich Ihnen nicht schon tausendmal gesagt, daß die Staublappen nicht in die rechte Schublade gehören? Marie! Wo ist mein Schlüsselkorb? Marie! Der Korb! Wo ist Bubi? Marie! Wo ist das Kind? Das Kind! Der Korb! –» Und aus einer Ecke kroch, mit totentraurigen Augen, ein kleines, verwahrlost aussehendes Geschöpft: ein Kind. Nein, ein Opfer.[10] Ein Opfer mit totentraurigen Augen, das kann nur schreiben, wer sich tief verletzt fühlt, diese Kinderhölle erlebt hat.

Auch Tucholskys Darstellung der Schauspielerin Rosa Bertens in Strindbergs «Scheiterhaufen», diese mit kraftvoll-grellen Farben gemalte Fratze einer machtgierigen Frau, ist ein Spiegelbild der eigenen Mutter und das Porträt teilweise erlittenen Familienlebens: Sie hatte geherrscht, fünfzehn Jahre, zwanzig, vielleicht länger, und es waren bittere Jahre gewesen. Sie hatte die ganze Zeit hindurch ihre Augen offen gehabt, sie, die ungekrönte Königin einer Fünfzimmerwohnung […] Hier herrschte sie, herrschte mit allen Mitteln. Mit Gewalt, mit Schlägen, mit der Lüge «wenn man das Wort Lügen von jemand benutzen kann, der nicht weiß, was Wahrheit ist». Der Familienversorger war da – Rechte hatte er nicht. (Weil er nicht die Kraft hatte, sie sich zu nehmen.)[11]

Fast gespenstisch deckungsgleich sind die Schilderungen der Mutter durch Tucholskys Schwester Ellen: Da wird das Bild einer herrschsüchtigen, brüllenden, hysterischen Tyrannin gezeichnet, die nach außen jedoch den schönen Schein einer heilen Welt aufrechterhalten habe. Anerkennung, Zärtlichkeit oder gar Liebe hätten die Kinder nicht kennengelernt, wie eine Käseglocke habe eine Atmosphäre der Angst die drei Geschwister umgeben. Alles, was sie taten, wurde heruntergemacht und kritisiert, «wir waren ein Nichts»[12]. Zeitweilig schien die Familie Tucholsky sogar kurz vor der Auflösung, und die Kinder hätten es als «Paradies» empfunden, wenn der geliebte Vater Alex sich hätte scheiden lassen, um die mit der Familie befreundete Ida Richter (eine geborene Rothschild) zu heiraten. Kurt jedenfalls wollte mit Erreichen der Volljährigkeit das Haus verlassen, wenn der Vater sich bis dahin nicht hätte scheiden lassen.[13]

Der aber starb vorher, qualvoll und von Schmerzen gepeinigt, und hier liegt wahrscheinlich auch der Schlüssel zu Kurt Tucholskys Hassgefühlen gegenüber der Mutter. Unauslöschlich hatte sich ihm das Bild eingeprägt, wie sein Vater «immer wieder nach Morphium schrie und die Mutter es ihm verweigern mußte»[14]. Musste sie wirklich? Er habe gesehen, «wie eine Frau einen Mann zu Tode quält, nie kann er das vergessen», notierte Mary Gerold 1918 ein Gespräch mit Tucholsky in ihrem Tagebuch.[15]

Schroff wies Ellen Milo-Tucholsky rückblickend alle Einwände – etwa dass es für die noch relativ junge Mutter nach dem frühen Tod des Vaters sicher nicht leicht gewesen wäre, allein für die drei Kinder zu sorgen – zurück. Es herrschte keine finanzielle Not, der Vater hinterließ immerhin ein Vermögen von 400000 Mark. Und bitter setzte Ellen hinzu: «Ich glaube, ‹Liebe› hatte unsere Mutter für Niemanden, ein Gefühl, mit dem sie bei Geburt nicht beschenkt [worden] war.» Noch 1979 gellten ihr die Worte der Mutter im Ohr, die die Kinder immer wieder zu hören bekommen hatten: «Ich könnte wie ein Gott in Frankreich leben, hätte ich die verfl… Bälger nicht.»[16]

Bis an sein Lebensende suchte Kurt Tucholsky die Liebe, die er in seiner Kindheit nicht erhalten hatte, suchte neben einem Vaterersatz auch noch mütterliche Geborgenheit und Liebe, erschrieb sich abseits der Wirklichkeit ein «ideales» Kontrastbild, das er so nie erleben sollte, etwa in dem Gedicht Mutterns Hände oder sehr deutlich in der Elternhaus überschriebenen Geschichte.

Die vielfältigen und gravierenden Folgen einer solchen als fatal erlebten Kindheit sind bekannt: Angst und Fluchtreaktionen vor dem Leben, Scheu vor Verantwortung, Suche nach Nähe und gleichzeitige Flucht davor, Unfähigkeit, sich ganz zu öffnen, Minderwertigkeitskomplexe, der heimliche Wunsch, ewig ein Kind bleiben zu können. Der Psychologe Dan Kiley hat sie unter dem Begriff «Peter-Pan-Syndrom» zusammengefasst.[17] Dass diese psychische Verfasstheit, dieser Leidensdruck, auch ein wichtiges Element der Kreativität sein kann, wissen wir nicht erst seit Freud.

 

Ähnlich negativ wie auf seine Mutter reagierte Kurt Tucholsky auch auf seine Schulzeit, die Ostern 1896 in Stettin begonnen hatte. Der Unterricht war patriotisch-preußisch; Ehre, Vaterland und Heldentod galten als mindestens ebenso wichtig wie das Einmaleins und die Grammatik. Der Kaiser brauchte Untertanen, gehorsam und dankbar, in der Schule sollten sie ihm erzogen werden. Auch Kurt Tucholsky bekam dort diese «ehernen Werte» eingeimpft. Allerdings wurde er schon früh zwischen der liberal-humanistischen Erziehung zu Hause und dem verordneten Hurrapatriotismus der Schule hin- und hergerissen. In dem Gedicht Die Jagd nach dem Glück klagte der Achtjährige bereits: O weh, mit der Zeit ist es schlimm bestellt. / Ein jeder drängt den Andern fort.[18] Zur selben Zeit entstanden aber auch patriotische Schwärmereien, die deutlich den Einfluss der Schule zeigen: Was ist denn das für eine blutige Schlacht, / Das ist die liebe Rheinstromschlacht. / Mit Gott für König und Vaterland … Die Feiertage der «nationalen Größe», wie die Kaiserproklamation von 1871 oder der «Sedan-Tag», waren willkommene Anlässe, die mit Schulfeiern und Ansprachen des Direktors festlich begangen wurden. So verwundert es nicht, dass auch der junge Kurt mit kindlichem Herzen die Militärparaden bejubelte und vor dem Herrn Hauptmann und den Leutnants strammstand.[19]

Eher besorgt entnahm Alex Tucholsky wohl den Gedichten des kleinen Kurt, was sein Sohn so alles lernte. Während er sich Gedanken über den kaiserlichen Größenwahn machte und einen neuen Krieg befürchtete, bereiteten die Lehrer seine Kinder auf diesen vor. Um der staatlich verordneten Völkerverhetzung wenigstens etwas entgegenzuwirken, schickte er Kurt nach seiner Rückkehr aus Stettin auf das prestigeträchtige Französische Gymnasium, das nur wenige Minuten von der neuen Wohnung in der Dorotheenstraße entfernt lag. Die bereits 1689 gegründete Institution galt als liberal und als Wiege humanistischer Bildung, hatten doch immerhin Heinrich von Kleist, Adelbert von Chamisso und Maximilian Harden, um nur einige zu nennen, hier schon die Schulbank gedrückt.

Als besonders fleißiger Schüler tat sich Tucholsky nicht hervor, Klassenprimus zu werden gehörte nicht zu seinen Zielen. Begabt zwar, aber ohne Ehrgeiz, ein Draufgänger, der die Lacher immer auf seiner Seite hatte, «ein fröhlicher Kamerad und ein rechter Rebell, den wir gerade dann am ernstesten nahmen, wenn er uns zum Lachen brachte. Ein guter Schüler war er gewiß nicht und uns doch allen an Geist überlegen»[20], so blieb er seinen Mitschülern in Erinnerung. Einer beschrieb Tucholskys bereits früh ausgeprägten feinen Instinkt für «falsche Töne»: «Französisch war für uns Jungen die Sprache der großen französischen Revolution. Französisch als Unterrichtssprache machte uns das republikanische Frankreich zur zweiten Heimat […] und allen Preußenzorn gegen den Erbfeind und dessen ‹welsches› Wesen verhaßt, den unsere ‹königlich-preußischen› Lehrer uns doch (in französischer Sprache) einzuflößen wenn nicht versuchten, so doch dienstverpflichtet waren. Die Komik dieser Situation war keinem in unserer Klasse deutlicher bewußt als unserem Mitschüler Tucholsky. Wir haben immer unsere helle Freude an dem Witz gehabt, mit dem er uns diese Komik offenbar machte.»[21]

Im September 1903 verließ Tucholsky die Eliteschule und wechselte an das als «Lackstiefelgymnasium» bespöttelte Königliche Wilhelms-Gymnasium. Aber er kam offensichtlich vom Regen in die Traufe: Die Lehrer konnten sich für den neuen Schüler, der unter der Bank bereits die demokratisch-pazifistische «Welt am Montag» las, nicht gerade begeistern, und auch bei seinen neuen Klassenkameraden blieb er Außenseiter; einige erzürnten sich über 50 Jahre später noch darüber, dass er «sich seiner geistigen Überlegenheit allzu bewußt» gewesen sei.[22] Nach dem Tod des Vaters sackten seine Leistungen rapide ab. 1906 wäre er beinahe sitzengeblieben, außer dem «sehr gut» in Französisch schrieben ihm die Lehrer durchweg nur «genügend», teilweise mit der Tendenz zu «mangelhaft», ins Zeugnis. Im folgenden Jahr nahmen die Schwierigkeiten in der Schule zu, und als es gar zu schlimm mit den deutschen Aufsätzen wurde, setzte ein «mangelhaft» seinem Streben einen Riegel vor[23] – er blieb nun wirklich sitzen. Der ungeliebte Schulbetrieb hatte damit für Kurt Tucholsky erst einmal ein Ende, seine Mutter nahm ihn im Herbst 1907 vom Gymnasium.

Von der Komik, die seine Mitschüler schilderten, ist in Tucholskys Erinnerungen an die Schule nicht viel übriggeblieben, dagegen viel von sinnloser Quälerei und vergeudeter Zeit. Der rebellische Schüler mit der «Neigung zum Schwatzen», wie 1906 im Zeugnis vermerkt stand, hatte das Gefühl, nicht sonderlich viel gelernt zu haben; was er wisse, habe er sich mühsam selbst angeeignet: Langweilige Pedanten gab es überall, Unzulänglichkeiten der Lehrer, viele Fehler, wir waren auch nicht die Besten. Aber was hat man uns denn gelehrt –? Was hat man uns beigebracht –? Nichts. Nicht einmal richtig denken, nicht einmal richtig sehen, richtig gehen, richtig arbeiten – nichts, nichts, nichts. Wir sind keine guten Humanisten geworden und keine guten Praktiker – nichts.[24]

 

Der deutschen Sprache laut Zeugnis nur «mangelhaft» mächtig – das sah der verantwortliche Redakteur des «Ulk», der satirischen Wochenbeilage des renommierten «Berliner Tageblatts», doch etwas anders und veröffentlichte im November 1907 zwei kleinere Arbeiten von Kurt Tucholsky, wenn auch noch anonym: Märchen und Vorsätze. In dem Märchen wird die Geschichte eines Kaisers erzählt, der in seiner Schatzkammer neben Juwelen auch eine Flöte hatte. Das war aber ein ganz merkwürdiges Instrument. Wenn man nämlich durch eins der vier Löcher in die Flöte hinein sah – o! was gab es da alles zu sehen! Da war eine Landschaft darin, klein, aber voll Leben: eine Thomasche Landschaft mit Böcklinschen Wolken und Leistikowschen Seen. Reznicekische Dämchen rümpften die Nasen über Zillesche Gestalten, und eine Bauerndirne Meuniers trug einen Armvoll Blumen Orliks – kurz, die ganze moderne Richtung war in der Flöte. Und was machte der Kaiser damit? Er pfiff drauf.[25]

Natürlich hatte Tucholsky nicht die ganze moderne Richtung in die Flöte gezaubert, immerhin machten zu der Zeit bereits Brücke, Blauer Reiter, Kubismus und Futurismus erste Schlagzeilen. Trotzdem wird hier ein neuer Ton sichtbar; vergessen sind die patriotischen Hurra-Gedichtchen des Schülers und auch die etwas pathetischen Schulaufsätze – der Siebzehnjährige schickte sich an, die Welt zu erobern. Früh hatte er zwischen den beiden Polen gewählt: Anpassung und Untertan oder Veränderung und Citoyen, aber die Pole blieben und zwangen ihn auch später wiederholt zur Entscheidung. Tucholsky war der Bourgeoisie «aus dem Nest gefallen»[26], er stemmte der Welt schon frühzeitig sein «Nein!» entgegen. Noch war es nicht die radikale Ablehnung, dieses trotzige Das geht mich alles nichts mehr an der späteren Jahre; seine frühen Arbeiten erinnern eher an ein höflich-spöttisches «Nein danke, davon möchte ich doch lieber nicht» des gekränkten Idealisten, der die Welt gut haben will und gegen das Schlechte anrennt.[27] Noch war es lediglich das Nein des Satirikers, der keine, aber auch gar keine Autorität anerkennen[28] wollte.

 

Nachdem Tucholsky 1907 das staatliche Gymnasium verlassen musste, schickte ihn die Mutter in die private «Presse» von Studienrat Willi Kraßmöller. Dieser wunderherrliche Einpauker[29], der auf verrückte Schüler oder auf solche, die irgendetwas mit der Kunst zu tun hatten (das kam für ihn auf eins heraus), spezialisiert war[30], bereitete Kurt mit ziemlich unkonventionellen Mitteln auf das Abitur vor, das dieser schließlich im September 1909 als Externer am Königlichen Luisen-Gymnasium bestand. Die Noten schwankten zwischen «gut» in Griechisch, Französisch, Physik und «genügend» in Latein, Geschichte, Erdkunde und Mathematik. Auch in Deutsch gab es nur ein «genügend», mit dem Vermerk: «Seine schriftliche Arbeit genügte nur knapp» den Anforderungen, die «mündlichen Leistungen aber waren gut». Es genügte eben nicht, seine Muttersprache zu lieben – nein, man muß sie auch so schreiben, wie sich greise Schulamtskandidaten den deutschen Stil vorstellen[31].

 

Zwei Wochen später immatrikulierte sich Kurt Tucholsky an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Mit etwa 9000 Studenten war die Berliner Universität die größte in Preußen und hatte sich einen internationalen Ruf erworben; sieben in Berlin lehrende Professoren hatten bereits den 1901 erstmals verliehenen Nobelpreis bekommen. Die Haltung der meisten Professoren war staatserhaltend bis reaktionär, und so konnte es nicht ausbleiben, dass sich Tucholsky ziemlich schnell an dem «Betrieb» rieb und dass bald die publizistischen Funken stoben.

Er belegte Vorlesungen über deutsche und römische Rechtsgeschichte, Einführung in die Rechtswissenschaft, römisches Privatrecht, Gerichtliche Medizin – er wollte Verteidiger werden. Im Frühjahr 1910 wechselte er für ein Semester von Berlin nach Genf; zum einen wollte er wohl der wilhelminischen Pracht- und Machtentfaltung während des Universitätsjubiläums entfliehen, zum anderen gehörte es zur studentischen Tradition, nicht nur an einer Universität zu studieren. Mit der Stadt Calvins und Rousseaus freundete sich Tucholsky schnell an. Noch Jahre später kam er ins Schwärmen über die Treppen, die wir an warmen Sommernachmittagen herunterschlenderten, die großen Freitreppen an der Universität; der See; das wunderschön teure Essen im Hotel; die alte Stadt, hügelig, mit kleinen Gassen; und immer wieder die Rhônebrücke![32]

Neben den notwendigen juristischen Seminaren hörte er in Genf auch Vorlesungen über «Analytische Lektüre moderner französischer Autoren», über «Sitten und Institutionen im Frankreich des 17. Jahrhunderts» sowie «Aussprache und französische Betonungen». Hier taucht sie wieder auf, die Vorliebe für Frankreich und die französische Literatur, mit der er am Französischen Gymnasium so intensiv in Berührung gekommen war. Und zwei Jahre später kündigte er schwärmerisch an: Ich werde einen Roman schreiben; er wird im zweiten Empire spielen. Er soll ein Roman der Zeit werden – sie hat mich immer so gereizt […]. Vielleicht wird jemand kommen und sagen, ich solle erst schreiben und dann bramarbasieren. Aber die Vorfreude ist doch so groß: ich werde in dem großen Saal der Bibliothek sitzen und eifrig alle Werke lesen: Dokumente der Zeit und alte Bücher; ich muß Notizen machen und Auszüge, damit ich nachher mit einer gewissen Selbstverständlichkeit schreiben kann: «Mein lieber Henri», sagte die Pailard spitzig, «ich speise heute abend bei Vefours.» Dies ist ein kleines, sehr exquisites Restaurant gewesen; es waren nur zwei Zimmer, man trank Champagner. – Als ich das in den Büchern las, war es tot und langweilig, aber ich habe mir aus den Bildern und aus den Büchern mein Paris des zweiten Kaiserreichs errichtet.[33] Den Roman hat Tucholsky – leider – nie geschrieben, und das Interesse am zweiten französischen Kaiserreich unter Napoleon III. wurde schließlich abgelöst durch das Frankreich der zwanziger Jahre. Das Land Rousseaus, Voltaires und Zolas empfand er bald als zweite Heimat, um die er rang wie um eine Geliebte; Frankreich blieb bis zu seinem Tod ein Fixpunkt in Tucholskys Denken. 1934 meinte er sogar bedauernd: Schade – mich haben sie falsch geboren[34].

In Berlin zurück, belegte Tucholsky Übungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Vorlesungen über Handelsrecht, Familienrecht, Grundzüge des deutschen Privatrechts, Erbrecht, Reichsversicherungsordnung, Strafrecht, Kirchenrecht, Völkerrecht, Allgemeine Staatslehre … Doch was für ein Unterschied zu der eben noch erlebten weltoffenen Atmosphäre von Genf! Die Professoren, von kaisertreuer Gesinnung und durch allerlei öffentliche Ämter stark in das System eingebunden, stießen nun zunehmend auf Tucholskys Ablehnung: Ihr müßtet nur einmal die Vorlesungen eines preußischen Professors über Staatsrecht mitangehört haben, um zu hören, was es alles auf der Welt gibt. «Der Staat ist mächtig, allmächtig, heilig, verehrenswert, Ziel und Zweck der Erdumdrehung – der Staat ist überhaupt alles.» Und vor allem: er trägt vor niemand eine Verantwortung![35]

Tucholsky übertrieb wohl nur teilweise, wenn er die Professoren so heftig kritisierte. Geht man die Namen seiner Lehrer durch, finden sich neben einigen Vätern des modernen Strafrechts wie Franz von Liszt oder Gerhard Anschütz auch illustre Gestalten wie Konrad Bornhak darunter, der noch unter den Nationalsozialisten Karriere machte. 1912 sezierte Tucholsky in einem Artikel über das Referendarexamen die Rückständigkeit und Praxisferne des Studiums und der Professoren: Begriffe wünschen sie definiert zu sehen, Theorien erörtert, Gesetze geschichtlich entwickelt …[36] Hier wie auch in anderen Artikeln klagte Tucholsky darüber, dass die Studenten nicht für die praktische Arbeit ausgebildet, sondern dass aus staubigen Wälzern Theorien über die Gesetze der alten Römer und Germanen breitgetreten würden. Sie fassen das Recht als eine Art Mathematik auf, als ein Schema starrer Dogmen, das vom Himmel auf ihre Köpfe fiel. […] Was soll mir alles Geschrei über den Übergang des Eigentums bei den Römern, wenn ich mein Gehalt, das mir der Chef verweigert, nicht in einer Woche einklagen kann?[37] Ein Satz, den man – in Stein gemeißelt – über allen Portalen der juristischen Fakultäten anbringen sollte. Der Ankläger von Justizwillkür, der später so vehement für die Rechte der Angeklagten kämpfte, schimmert bereits durch diese frühen Arbeiten. Aus dem Studium und aus der Auflehnung gegen das teilweise als rückständig empfundene Rechtssystem bezog Tucholsky die Waffen für seinen späteren Kampf um Recht und Gerechtigkeit.[38]

Auch wenn er 1934 darüber klagte, dass bei ihm alles nur Dilettanterei sei, nichts sitzt, nichts ist festgefügt, alles lofft auseinander, und das auch auf eine ganz unzulängliche Bildung[39] zurückführte, war ihm doch ebenso bewusst: Das bißchen, was ich weiß, habe ich in meinen Studienjahren zusammengesammelt. Mich reut es nicht.[40]

«Student mit einiger stilistischer Begabung»

Mit einer Polemik im «Vorwärts» gegen die angeblich notwendige Zensur sprang Tucholsky in die Arena der politischen Kommentatoren – der 25. April 1911 markiert den eigentlichen Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn. Noch hatte der schreibende Student mit einiger stilistischer Begabung[41] zwar vor, Verteidiger zu werden, aber er entdeckte zunehmend seinen Spaß an der Formulierung. Diese ersten Fingerübungen zeigen schon die Richtung an, lassen etwas von dem Tucholsky ahnen, der wenig später unter Siegfried Jacobsohns Einfluss zu einem der brillantesten Autoren der Weimarer Republik werden sollte. Mit Lust an der Pointe besah er eine Sache immer von vorn und von hinten[42], deckte hinter all den hochtrabenden Phrasen das Menschliche auf. Er rieb sich an der preußischen Justiz oder spießte mit Ironie und Selbstironie den satten, denkfaulen Bürger ohne Kultur auf und karikierte die bourgeoise Psyche[43], die Mitgefühl und Menschlichkeit als Atavismen empfand und sich dagegen panzerte. Seine schärfsten Angriffe richtete Tucholsky damals noch gegen die hochgekommenen und korrupten Spießer und Schieber, die schikanierenden Beamten und die dreisten Schwindler, die sich selbst genauso belogen wie die anderen. Ladenschwengel, Frauenzimmer, Pack, das sich mit Gewalt höher schrauben will und sich vornehm dünkt, das aber sogar zu blöde sei, um unmoralisch zu sein, urteilte er 1912 im «Vorwärts» über die kleinen Leute mit den Träumen von der großen Welt.[44]

Schnell erweiterte sich Tucholskys Spektrum, er wurde vielseitiger und auch schärfer in der Diktion. Neben Theater-, Buch- und Filmkritiken schrieb er Feuilletons, kleinere Glossen und Satiren, in denen er zum Beispiel die Todesstrafe und die Überheblichkeit der Justiz scharf angriff oder sich über die Tagespolitik und einzelne Parteipolitiker lustig machte. Ein Thema rückte immer mehr ins Zentrum von Tucholskys Schaffen und sollte ihn bis zu seinem Tod nicht mehr loslassen: Militär und Krieg. Bereits während der Kaiserzeit mit dem allmächtigen Militär und der allgegenwärtigen Zensur fand Tucholsky Formulierungen, die ihm später in der demokratischen Weimarer Republik erheblichen Ärger einbringen sollten. Im Januar 1912 besprach er im «Vorwärts» das Buch «Aus den Tagen von Sedan» von Camille Lemonnier, das gerade bei Axel Juncker erschienen war. Für Tucholsky stand fest, dass die letzte Ursache der Kriege in der Wirtschaft liege, dass die Soldaten nicht für Ehre oder Vaterland sterben würden, sondern für Schemen und das Portemonnaie der Industrie.[45] Er forderte pazifistische Aufklärung der Massen und dem Krieg den Krieg zu erklären. Leidenschaftlich kritisierte Tucholsky die fast täglich erscheinende Flut von Büchern aktiver und ehemaliger Offiziere, die alle den Krieg forderten und verherrlichten und das Volk psychologisch geschickt für das Schlachtfeld vorbereiteten. Der Erste Weltkrieg warf bereits seine langen Schatten voraus.

Der «Vorwärts», das Parteiorgan der SPD, blieb in den ersten Jahren Tucholskys wichtigstes Publikationsorgan; er beteiligte sich sogar an der Parteiarbeit und wurde wahrscheinlich Mitglied der SPD. Seine Stellung zu den «Linken» jedoch war damals wie später ambivalent. Der Bürger im Maßanzug schrieb über die Sorgen des Arbeiters, «und das phänomenale an Ihm ist, daß Er Gedichte schreiben kann, als ob Er das Elend eines Proleten selbst durchgemacht hätte», vermerkte 1932 Mary Tucholsky.[46] Bürgerlich-jovial bewunderte er die kleinen Leute, die zu einer Disciplin (ohne Machtmittel) erzogen seien, die ihresgleichen sucht. Auch für die fabelhafte Organisation unserer Socialdemokraten[47] brachte er damals noch Anerkennung auf. Über die Einflussmöglichkeiten der «Linken» gab er sich allerdings kaum Illusionen hin. Zwar arbeitete Tucholsky 1911/12 aktiv im Wahlkampf bei der SPD mit, wenig später glossierte er aber bereits spöttisch das Schachern der Sozialdemokraten um den Reichstagspräsidentenposten. War die Zerstrittenheit der SPD ihm zunächst nur Anlass zu nachsichtig satirischen Sticheleien, prangerte er ab 1914 umso heftiger die Phrasen und diesen Ausverkauf in Rebellion an: […] unsre Radikalen mögen wir ja bloß deshalb nicht, weil sie keine sind. […] Es gehört eine starke Selbstüberwindung dazu, im Wässerchen dieser Banalitäten mitzuplätschern.[48]

Sein tiefes Misstrauen gegen die SPD, das schließlich nach 1919 in radikale Ablehnung umschlug, wurzelt auch in den Erfahrungen und Enttäuschungen aus dieser Zeit seiner kurzen parteipolitischen Betätigung. Hier lernte er den internen Parteibetrieb kennen, den er später so treffend verspottete, den Unterschied von Reden und Handeln, parteipolitischem Wollen und den letztendlichen Kompromissen. Und hier erlebte er, dass radikalere Positionen, wie etwa die von Rosa Luxemburg, innerhalb der eher bedächtigen Parteispitze um den nüchternen Taktiker Friedrich Ebert keinerlei Chancen hatten.

 

Noch schrieb Tucholsky nicht, um davon zu leben, was bei acht bis zehn Pfennig Zeilenhonorar äußerst schwierig gewesen wäre. Er hätte es auch gar nicht nötig gehabt, denn die Volljährigkeit bescherte ihm schließlich das stattliche väterliche Erbteil von knapp 70000 Mark, ein mittleres Vermögen, das ihm einen gehobenen bürgerlichen Wohlstand garantierte. Zahlreiche seiner Artikel aus dieser Zeit kündeten von den nächtlichen Streifzügen durch die Berliner Lokale und Cabarets, von Reisen an die See oder sonstigen Vergnügungen, die er sich nun leisten konnte. Die literarische Verarbeitung einer dieser Ausflüge – zusammen mit seiner Freundin, der Medizinstudentin Else Weil – machte Tucholsky fast über Nacht berühmt: Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte mit Bildern von Kurt Szafranski.[49]

Rheinsberg ist oberflächlich betrachtet die Geschichte des jungen Liebespaares Wolfgang und Claire aus Berlin, das heimlich drei fröhliche, unbeschwerte Tage weitab vom Großstadtlärm verbringt, «gestaltet mit jener feinen Ironie, die von allen Dingen weiß und doch nichts durch dieses Wissen zerstört»[50]. In jener Zeit der geheuchelten Prüderie samt der neuromantischen Gegenbewegung mit ihrem «Heiligen Rausch», «bei dem die eine Hand betet, während die andere genießt»[51], kam das knapp hundert Seiten dünne Büchlein einer erotischen Rebellion gleich. Julius Bab hob daher in seiner Besprechung auch hervor, dass die Geschichte «nichts von der rührend-lächerlichen Pathetik bemondeter Maiabende» habe, «aber noch weniger von der parfümbelasteten Salondämonie der ‹großen› Welt»[52]. Auch Hans Erich Blaich, Mitarbeiter des «Simplicissimus», jubelte: «Gottlob, Eichendorff ist noch nicht tot», und pries die jugendliche Frische, den Humor und die Grazie des Buches. Es sei eine «Idylle für moderne Kulturmenschen»[53].

Auf den ersten Blick mag das so wirken. Rheinsberg ist jedoch auch ein bewusst gestaltetes Gegenmodell zur erlebten Wirklichkeit, angelegt in der literarischen Tradition zwischen Idylle und Utopie im Schiller’schen Sinne. Die Gegensätze von Großstadthektik und beschaulicher, kleinstädtischer Atmosphäre, von verkrusteter Bürgerlichkeit und jugendlicher Boheme, von anerzogener Wohlanständigkeit und spielerischer Sinnenlust zeugen von einer Oppositionshaltung, die viel zu der Beliebtheit des Buches beitrug. Zudem erschien es mitten im Jubeljahr zum 200. Geburtstag Friedrichs des Großen, der einige seiner schönsten Jahre im Schloss Rheinsberg verbracht hatte. Rheinsberg war deshalb auch in allen Publikationen und Ausstellungen würdig vertreten. Ausgerechnet dort siedelte Tucholsky seine Liebesgeschichte an, machte sich aber über Schloss und Konventionen nicht nur lustig. Mit Wölfchen und Claire setzte er ihnen ein entschieden anderes Lebensgefühl entgegen. Sosehr der Ort der Handlung mit Wald und See (einschließlich Kahnpartie) Natur ist und sosehr die Sehnsucht der Großstadtkinder nach ihr durch alle Zeilen schimmert, so auffällig ist das Schloss aber auch Kulisse eines verfremdeten, ironisierten Schäferspiels, dessen Darsteller weder das Spiel noch sich selbst ernst nehmen. Distanz und Nähe wechseln von Augen-Blick zu Augen-Blick, von Satz zu Satz.

Den kleinen Band durchziehen – meist versteckt – zahlreiche politische und gesellschaftskritische Anspielungen; es tauchen fast alle Themen auf, mit denen sich Tucholsky in dieser Zeit beschäftigte: Kritik am Bürgertum mit seiner verlogenen Sexualmoral und seinen Erziehungsmethoden, Filmkritik, Sprachkritik, Kritik am Verhalten der Damen aus besserem Hause – und er spottete über das Militär und die Verherrlichung des Heldentods: Sehssu, mein Affgen, das is nu deine Heimat. Sag mal: würdest du für dieselbe in den Tod gehen?[54] Natürlich schwor Wölfchen, dass er nur für seine Claire in den Tod gehen würde.

Die geschilderte Schlossführung ist eine Parodie gleich in mehrfacher Hinsicht. Tucholsky machte sich darin respektlos über die preußische Geschichte und den zweiten Friedrich lustig und ließ so ganz nebenbei noch revolutionäre Anklänge aufblitzen, etwa wenn er Wolfgang und Claire sich als Ehepaar Gambetta aus Lindenau vorstellen ließ.[55] Die Anspielungen sind so beiläufig, dass man sie erst einmal überliest; durch ironische Verkleidung wird ihnen die Schärfe genommen. Aber sie haben Widerhaken. Noch entspricht die Kritik Tucholskys zeitweiligem Lebensmotto, das er ebenfalls in Rheinsberg formulierte: Kämpfen – aber mit Freuden! – Dreinhauen – aber mit Lachen!

Freude und Lachen, das war die eine Seite, aber leichte Melancholie überschattet die Verspieltheit. Tucholsky formulierte hier bereits, was ihn sein Leben lang beschäftigen und quälen sollte – die ewige Sehnsucht nach der Erfüllung, das nie zu erreichende Ziel: Viel, fast alles auf der Welt war zu befriedigen, beinahe jede Sehnsucht war zu erfüllen – nur diese nicht. […] Glücklich sein, aber nie zufrieden. Das Feuer nicht auslöschen lassen, nie, nie! […] Und es gibt keine tiefere Sehnsucht als diese: die Sehnsucht nach der Erfüllung. Sie kann nicht befriedigt werden …[56]