Kuss au Chocolat - Gabriella Engelmann - E-Book

Kuss au Chocolat E-Book

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

„Wird er mich jetzt etwa küssen? Hilfe – ich bin noch nie geküsst worden, wenn man von dem feuchten Schlabberkuss mal absieht, den mir mein Cousin Alex als Kind gegeben hat. Auf so eine große Sache bin ich eindeutig noch nicht vorbereitet! Wo habe ich denn schon wieder meinen Labello gelassen, ich dumme Pute?“ Zugegeben: Pamela Trüffel, genannt Pomelo, ist ein bisschen chaotischer als andere Teenager. Aber gerade das macht sie so liebenswert, oder? Doch nun gibt es selbst für Pomelos Geschmack ein bisschen zu viel Trubel – denn es müssen nicht nur ihre geliebten Bäume am Kanal vor dem Fällen bewahrt, sondern auch der neue Mitschüler Max aus den gierigen Klauen einer Klassenkameradin gerettet werden. Außerdem ist da noch Ben, der Freak mit der coolen Lederjacke, der schokolade-süchtige Hund Yogi, ein Selbstbräunerunfall, der erste Kuss und, und, und… Eigentlich Gründe genug, um eine kleine Krise zu bekommen. Aber so schnell ist Pomelo nicht kleinzukriegen! Frech, vergnügt und ganz schön crazy: „Top-Lektüre für die Badewanne!“ Jolie Jetzt als eBook: „Kuss au Chocolat“ von Gabriella Engelmann. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

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Seitenzahl: 216

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Über dieses Buch:

Zugegeben: Pamela Trüffel, genannt Pomelo, ist ein bisschen chaotischer als andere Teenager. Aber gerade das macht sie so liebenswert, oder? Doch nun gibt es selbst für Pomelos Geschmack ein bisschen zu viel Trubel – denn es müssen nicht nur ihre geliebten Bäume am Kanal vor dem Fällen bewahrt, sondern auch der neue Mitschüler Max aus den gierigen Klauen einer Klassenkameradin gerettet werden. Außerdem ist da noch Ben, der Freak mit der coolen Lederjacke, der schokolade-süchtige Hund Yogi, ein Selbstbräunerunfall, der erste Kuss und, und, und … Eigentlich Gründe genug, um eine kleine Krise zu bekommen. Aber so schnell ist Pomelo nicht kleinzukriegen!

Frech, vergnügt und ganz schön crazy: „Top-Lektüre für die Badewanne!“ Jolie

Über die Autorin:

Gabriella Engelmann, geboren 1966 in München, lebt in Hamburg. Sie arbeitete als Buchhändlerin, Lektorin und Verlagsleiterin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen, Kinder- und Jugendbüchern zu widmen begann.

Bei jumpbooks erschienen Gabriella Engelmanns Novellen Eine Liebe für die Ewigkeit und Verträumt, verpeilt und voll verliebt.

***

eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © stocknroll / iStockphoto.de

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-035-0

***

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Gabriella Engelmann

Kuss au Chocolat

Roman

jumpbooks

Besser spät als nie!

Hauptsache, ich komme überhaupt!, spreche ich mir selbst Mut zu, als ich zum zweiten Mal in dieser Woche die Treppe hinaufhetze und zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn (hey, was ist das schon im Vergleich zu fünfundvierzig quälenden Minuten Latein?) schnaufend vor der Tür stehen bleibe.

»Gallia est omnes divisa in partes ...«, ertönt es aus dem Klassenraum. Schneeweißchen ist also wieder voll in seinem Element! Horror!

Zwei Seelen kämpfen in meiner Brust: Wenn ich mich dafür entscheide, den Rückzug anzutreten, sollte ich schlauerweise folgende drei Punkte bedenken:

Ich brauche eine Entschuldigung fürs Fehlen.

Ich muss den ganzen Mist nachholen.

Ich könnte eine Eisschokolade trinken gehen!

Aber so sehr ich auch Eisschokolade liebe, ich fürchte, ich muss jetzt tapfer sein! Ganz tapfer! Also klopfe ich zaghaft und trete ein. Nicht ohne meinen Kopf ein wenig zu senken, was mich kleiner erscheinen lässt, als ich ohnehin schon bin.

»Ach, wen haben wir denn da?«, fragt Dr. Matthias von Weißendorf und sieht mich strafend an. Wie Mom, wenn ich statt Bionade heimlich Cola trinke.

»Die Frau von Trüffel.«

Meine Güte, wie albern ist das denn? Nur weil unser Lateinlehrer ein Vonundzu ist, heißt das noch lange nicht, dass alle seinem Beispiel folgen und Teil seiner adligen Community sein müssen.

»Morgen«, piepse ich und setze mich blitzschnell neben Yella, die Grimassen schneidet.

»Und was hat uns diesmal daran gehindert, hier pünktlich zu erscheinen?«

Also »uns« ist ja schon mal ganz falsch, denn im Gegensatz zu mir war er ja augenscheinlich rechtzeitig da. Soll ich jetzt die Wahrheit sagen? Hm, besser nicht!

»Also, das war so ...«, beginne ich und hole tief Luft. Ich schwindle nicht gern, auch nicht im Notfall. Aber diesmal geht es wohl wirklich nicht anders. »Mein Fahrrad hatte einen Platten, und deshalb musste ich zu Fuß gehen.«

Schneeweißchen mustert mich aus seinen zusammengekniffenen, kleinen Schweinsäuglein. Tut mir leid, das so sagen zu müssen, aber unser Pauker ist alles andere als ein Dreamboy. Er ist schwabbelig, riecht streng und neigt zu ungesunder Blässe. Sollte vielleicht mal öfter an die frische Luft gehen, der Mann! Außerdem trägt er mit Vorliebe weiße Hemden und sieht damit aus wie ein Milchbrötchen. Ein teigiges, aufgequollenes Milchbrötchen! Bäh!

»Und gestern hattest du verschlafen, wenn ich mich recht erinnere!«

Von Weißendorf lässt nicht locker und schraubt demonstrativ die Kappe von seinem Füllfederhalter. Dann schlägt er das Klassenbuch auf. Langsam und genüsslich. Schülerquäler! Sadist!

»Ich notiere: Pamela Trüffel zum zweiten Mal in dieser Woche zu spät erschienen. Gestern eine Viertelstunde, heute zwanzig Minuten.«

Huch? Das waren sogar zwanzig und nicht nur zehn?

»Wann gedenkst du denn morgen zu kommen? Erst zur zweiten Stunde?«

Ich schweige betreten, was soll ich auch sagen? Dass ich diesen Vorschlag super finde? Yella stößt mich unter dem Tisch an. Ihre Schuhe donnern unsanft gegen meinen Knöchel. Aua!

»Bitte entschuldigen Sie, ich werde ab morgen wieder rechtzeitig da sein, versprochen!« Ist es das, was meine Freundin von mir hören wollte? Offenbar ja. Yella entspannt sich wieder und atmet tief aus.

Zum Glück drängt es Weißendorf, uns noch vieles aus »De Bello Gallico« zu zitieren, sodass ich in Konkurrenz zu Cäsar schnell den Kürzeren ziehe. Soll mir recht sein, ich steh eh nicht so besonders drauf, wenn alle mich anstarren.

»Mensch, Pomelo, was war denn los?«, zischt Yella nach der Stunde und macht einen auf strebsam. Macht sie in letzter Zeit häufiger und nennt das Erwachsenwerden. Ich nenne es nervig!

Falls sich übrigens jemand wundert, weshalb sie mich Pomelo nennt, anstatt Pamela, hier ist die Antwort:

1970 war ein wichtiges Jahr.

Die Rockband Queen entstand; meine Eltern lernten sich kennen (Sandkastenliebe! So was gibt's heute kaum noch), und in Israel wurden Pampelmusen mit Grapefruits gekreuzt. Die hießen dann Pomelos. Jahre später kreuzten sich die Gene meiner Eltern, und im Bauch von Mom reifte die Frucht der Liebe heran – ich.

»Sieh mal, wie rund ihr Gesichtchen ist«, hauchte sie, als sie mich nach der Geburt im Arm hielt.

»Und sie duftet wie eine Zitrusfrucht«, jubelte mein Dad, beseelt von dem Wunder, das die beiden zustande gebracht hatten.

»Nenn mich verrückt, aber ich würde unsere Kleine gern Pomelo nennen«, seufzte Mom (sie seufzt gern und viel!) und liebkoste mein flaumweiches, helles Haar.

»Ich dachte, wir wollten sie Pamela nennen?«, fragte Papa verwundert und beschloss dann, energisch zu werden und der romantisch-verspielten Ader meiner Mutter einen Riegel vorzuschieben. »Lisa, Schatz. Ich finde, wir sollten es dabei belassen. Es gibt doch schon jede Menge Kinder mit merkwürdigen Namen. Diesen Unsinn müssen wir doch nicht mitmachen!«

Und so kam es, dass ich mich nicht in das Ranking von missglückten Vornamen wie Daisy Boo, Poppy Honey oder Moon Unit einreihen musste, sondern auf den bürgerlichen Namen Pamela Trüffel getauft wurde, aber alle Welt mich Pomelo nennt.

Weil ich eben so aussehe und so dufte.

Ich persönlich finde Pomelo cool. So heißt sonst niemand, und ich hebe mich ganz gern von der Masse ab. Zumindest positiv.

Aber halt, ich muss ja noch Yellas Frage nach dem Grund für mein Zuspätkommen beantworten. »Ganz einfach. Ich habe schon wieder verschlafen!«, erkläre ich und warte auf ihre Reaktion. Welche auch prompt erfolgt.

»Habt ihr denn keinen Wecker?«

Gute Frage. Und sehr erwachsen!

»Doch, aber der hat gerade die Biege gemacht«, murmle ich. Normalerweise bin ich immer pünktlich.

»Schon mal an neue Batterien gedacht?«, fragt Julia, unsere Klassensprecherin, die offenbar nichts Besseres zu tun hat, als unser Gespräch zu belauschen.

»Hey, wer hat dich eigentlich gefragt?«, faucht Yella.

Julia und sie können sich nicht leiden, und das vom ersten Schultag an. Mir persönlich ist Julia eigentlich egal. Wir machen zusammen die Schülerzeitung, und das ist so weit ganz okay. Ich muss sie ja nicht heiraten!

»Schon gut, ich wollte nur helfen«, antwortet Lovely Juliet, wie Yella sie verächtlich nennt, und wirft ihr langes, blondes Haar in den Nacken. Dann trabt sie ab.

»Bei uns herrscht momentan ein wenig Durcheinander«, versuche ich die Umstände meiner kleinen Pechsträhne zu erklären. »Papa hat gerade ein neues Kochbuch herausgebracht, das bei uns im Laden präsentiert wird. Da haben Mom und Dad natürlich alle Hände voll zu tun. Und mein Bruderherz Levin hat eine Art Identitätskrise. Momentan glaubt er, ein Vampir zu sein.«

Yella kichert. Sie kennt meine Chaosfamilie und liebt sie heiß und innig. »Und du selbst konntest keine Batterien kaufen?«, fragt sie spitzfindig.

»Ich, öhm, ich war beschäftigt!«

»Ein neuer Roman?« Ich nicke. Ich bin eine Leseratte, wie sie im Buche steht. Und wenn ich erst mal in einer Geschichte abtauche, bringt mich so schnell nichts wieder auf den Boden der Tatsachen. Leider umfasst diese Leidenschaft vorwiegend Krimis, Komödien und Fantasy-Bücher. Latein ist da eher zweitrangig. Und sowieso 'ne tote Sprache!

Unverhofft kommt oft

»Guten Morgen, Plaudertasche«, begrüße ich unsere Wasserschildkröte, die dick und träge auf dem Holzsteg liegt, den Papa gebaut hat, damit sie leichter auf die Terrasse unseres Bootshauses klettern kann. Das Tier scheint allerdings noch nicht in Stimmung zu sein und dreht mir den Rücken zu. Mache ich übrigens auch oft, wenn Mom mich wecken will. Ich ziehe mir die Decke ganz weit über den Kopf und hoffe, dass sie mich nicht sieht. Was natürlich kompletter Unsinn ist, wo sollte ich schon groß sein? Aber ich hasse es, früh aufzustehen, daher auch mein gestörtes Verhältnis zu Weckern.

»Pomelo, Frühstück«, schallt es über den Bootssteg, der sich in der frühen Sommersonne im Wasser des Isebekkanals spiegelt.

»Komme gleich!«, rufe ich zurück und winke Hedwig Schnuppe zu, der alten Kapitänswitwe aus dem ersten Stock, die den Kopf aus dem Fenster steckt. Mit ihren fünfundachtzig Jahren braucht sie anscheinend nicht mehr so viel Schlaf. Beneidenswert! Wenn es nach mir ginge, würde ich bis mittags im Bett liegen und vor mich hin träumen. Doch heute geht das nicht, denn es steht eine Mathearbeit auf dem Programm. Außerdem darf ich diesmal auf gar keinen Fall zu spät kommen!

»Morgen, Bruderherz«, begrüße ich Levin und schmatze ihm einen Kuss auf die Wange. »Toll siehst du aus!«

Mein sechsjähriger Bruder macht heute einen auf Vampir. Levin liebt es, sich zu verkleiden, und ist darin ziemlich kreativ. Diese Woche ist er der imaginäre Bruder von Rüdiger von Schlotterstein, dem Helden der beliebten Kinderbuchserie Der kleine Vampir. Er trägt einen schwarzen Umhang, sein Gesicht ist geschminkt, und auf dem Kopf sitzt eine Plastikspinne. Igitt!

»Hast du meine Vampirrüffel?«, will Levin von Mom wissen und hält ihr eine quietschgelbe Plastikdose entgegen. Die Buchstaben »T« und »R« in Kombination zu sprechen, fällt meinem Brüderchen noch etwas schwer, weshalb aus den Pralinen »Rüffel« werden.

»Oh, Schätzchen, die hätte ich ja fast vergessen«, ruft Mom und springt auf.

Im Kühlschrank warten eigens für den Anlass gezauberte Trüffel, die Levin heute in die Vorschule mitnehmen wird. Meiner Mutter gehört nämlich der Laden Buchtrüffel, in dem es neben Büchern auch Trüffelpralinen gibt, die sie selbst macht. Und die sie selbst gern isst, was sie auch immer lautstark beklagt und uns jeden Morgen am aktuellen Stand ihres Gewichts teilhaben lässt.

Vergnügt versenkt Levin eine der rötlichen Kugeln in seinem Mund, den Rest in der Box.

Wieso muss ich eigentlich immer was Gesundes essen, und mein Bruderherz darf sich schon am frühen Morgen mit Schoki vollstopfen? Die Welt ist manchmal wirklich ungerecht! Ich beschmiere mein Dinkelvollkornbrot mit Bio-Champignonpaste, auch wenn ich mehr Appetit auf Geflügelwurst hätte. Noch lieber äße ich allerdings Leberwurst. Aber so was gab's hier schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

»Und? Was macht ihr heute in der Vorschule?«, frage ich, weil ich wissen möchte, ob Levin vorhat, in diesem Aufzug nach draußen zu gehen. Wenn ja, werde ich bestreiten, auch nur im Ansatz mit ihm verwandt zu sein, wenn ich ihn mittags abhole.

»Das verrate ich nicht, das ist ein Geheimnis«, antwortet er mit Grabesstimme.

»Könntest du dich bitte wenigstens beim Frühstück von deinem Umhang trennen, die Ärmel hängen im Kakao«, schimpft Dad, der sich bislang hinter der Zeitung verschanzt hat, und zieht das nasse Stück Stoff aus der heißen Schokolade. Mein Vater ist kein Morgenmensch, womit eindeutig bewiesen ist, dass ich seine Tochter bin.

»Vampire ziehen sich nie aus!«, protestiert mein Bruder, und ich überlege, ob das stimmt. Habe ich Robert Pattison von »Twighlight« und seine Kollegen jemals »oben ohne« gesehen? Die Antwort auf die Frage erübrigt sich, weil ich schon wieder zu spät dran bin.

»Ciao«, grüße ich lässig in die Runde, schnappe mir einen Apfel (Bio!) und will gerade zu meinem Fahrrad, als ich etwas Seltsames sehe: Unsere roten Rosen, der ganze Stolz meiner Mutter, liegen zertrampelt auf dem Boden. Manche haben sogar ihre Köpfe verloren. Was ist denn hier passiert? Ob ich es Mom gleich sagen soll? Ein Blick auf die Uhr überzeugt mich davon, nichts dergleichen zu tun, sondern mich schnurstracks auf den Weg zum Helena-Lingen-Gymnasium zu machen. Ich öffne den Holzverschlag, wo unsere Fahrräder und Levins alte Bobby-Cars stehen, und traue meinen Augen kaum. Was um Himmels willen ist das denn jetzt? Ich schließe und öffne die Tür noch einmal, in der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Doch das tut es nicht – mein Rad steht nicht da, wo es normalerweise steht. Ich sehe mich hektisch um, ob es jemand woanders hingestellt hat. Leider Fehlanzeige! Panik macht sich breit. Wenn ich heute nochmal zu spät zur Schule komme, bin ich geliefert!

»Papaaaaaaaaaaaa«, brülle ich, so laut es geht, und bin echt froh, dass Dad Sekunden später neben mir steht.

»Pomelo, was ist los? Ist alles in Ordnung mit dir?« Hektisch scannt er ab, ob mir ein Arm fehlt oder ein Bein.

Ich murmle was von »Mist«, »Komme zu spät«, »Katastrophe« und »Jemand hat mein Rad geklaut!«.

Dad ist jetzt zum Glück wach und kapiert binnen kürzester Zeit, dass nun sein Einsatz als Helden-Papa gefragt ist. Also auf zum Auto, das vor unserem Bootshaus parkt. Ich steige ein, Dad dreht den Schlüssel, und wir fahren los. Was zum Teufel ist denn jetzt schon wieder los? Irgendwie befindet sich der Volvo in leichter Schräglage. Papa bremst, öffnet die Tür, und dann höre ich ihn fluchen. An sich ist mein Vater die Ruhe in Person, aber wenn er erst mal so richtig in Fahrt ist, sollte man sich schleunigst aus der Schusslinie bringen! Ich wiederhole jetzt mal lieber nicht wortwörtlich, was er ruft, aber zusammenfassend lässt sich sagen, dass er echt sauer ist. Der Wagen hat nämlich einen Platten.

Meine Panik steigt ins Unermessliche. Wie soll ich es denn jetzt noch schaffen, pünktlich zu kommen?

»Sorry, aber ich muss echt los! Kann ich dich allein lassen?«, frage ich eher rhetorisch und flitze los, was meine Beine hergeben. Bis zur Schule sind es zu Fuß zehn Minuten. Und der Unterricht hat bereits begonnen ...

Ich halte mich erst gar nicht mit diskretem Klopfen auf, sondern stürme direkt in den Klassenraum. Ich sage wieder brav »Guten Morgen« – diesmal zu Jutta Kramer, unserer Klassenlehrerin – und will gerade zu einer dramatischen Entschuldigung ansetzen (Mein Fahrrad wurde gestohlen. Irgendjemand hat es auf mich abgesehen!), doch interessanterweise ist sie mit etwas anderem beschäftigt, als mir sofort verbal den Garaus zu machen. Dieses »Etwas« steht neben ihr, ist schlaksig, relativ groß (zumindest im Vergleich zu mir), hat strubbelige, braune Haare, die nach allen Seiten abstehen, und hört auf den Namen Max Locke. Lachhaft! Wie kommt jemand mit diesen glatten Haaren zu so einem Nachnamen? Und was macht dieser Typ überhaupt hier? Das Kichern vergeht mir schnell, als Frau Kramer sagt, dass Max sich neben Yella setzen soll.

»Moment mal, das ist mein Platz!«, protestiere ich, während Yella das Ganze scheinbar ungerührt hinnimmt. Wo bitte bleibt da die weibliche Solidarität?

»Ab jetzt nicht mehr«, antwortet meine Lehrerin. »Pomelo, du kannst dich nach hinten neben Sabine setzen. Dann habe ich Max in meiner Nähe.«

Na toll! Ausgerechnet ich Blindschleiche mit Brillenphobie muss in die hinterste Reihe. Weshalb eigentlich? Als Strafe fürs Zuspätkommen? Krass!

»Max ist euer neuer Mitschüler aus München«, erklärt Jutta Kramer die Anwesenheit des Lockenkopfes, der keiner ist. »Er kommt vor den Sommerferien zu uns, weil sein Vater kurzfristig einen Job bei den Hamburger Wasserwerken bekommen hat. Bitte helft Max, so gut ihr könnt. Julia und Yella, ich zähle auf euch.«

Lovely Juliet smilt, was ihre Punschlippe hergibt (der Ausdruck stammt übrigens von Yella, nicht von mir!), und wird die große Verantwortung bestimmt sehr gern tragen. Yella hingegen guckt etwas dumm aus der Wäsche. Wahrscheinlich dämmert ihr erst jetzt, dass sie gerade ihre Banknachbarin losgeworden ist. Langsamschnallerin! Von wem will sie in Zukunft Bio abschreiben? Na?

»Grüß Gott!«, sagt Max und lächelt schief in die Runde, bevor er sich setzt.

»Hi Sabine«, sage ich und setze mich ebenfalls. Leider kann ich von hier aus nicht mehr erkennen, welche Augenfarbe unser Neuzugang hat. Und ich kann auch nix mehr an der Tafel lesen. Schöner Mist!

Und wo bekomme ich jetzt auf die Schnelle ein neues Fahrrad her?

Neue Besen kehren gut

»Aber wer sollte denn deine alte Rostlaube klauen?«, fragt Yella, als der Unterricht zu Ende ist und ich ihr von dem gemeinen Diebstahl erzähle.

»Hey, Vorsicht! Beleidige nicht mein Rad. Es ist zwar nicht modisch, dafür aber einzigartig. Oder kennst du noch eins, das einen gelben Sattel und eine orangefarbene Klingel hat?« Frechheit!

»Dann nimm doch so lange das da«, grinst Yella und deutet auf meinen Drahtesel, der zusammen mit vielen anderen im Fahrradständer steht.

Ups, das muss ich wohl gestern dort vergessen haben, weil ich zusammen mit Yellas Mom im Wagen heimgefahren bin.

»Klarer Fall von schlechtem Gedächtnis, würde ich sagen«, lacht Yella. »Tschüss, Süße, bis morgen, muss los! Und konzentrier dich demnächst ein bisschen besser, bevor du alle Pferde scheu machst!«

»Na, Fürst der Finsternis, alles klar?«, frage ich mein Brüderlein, als ich ihn ein paar Minuten später an der Kita einsammle.

Ich muffle vor mich hin. Yella kann manchmal echt arrogant sein, das nervt! Obwohl sie natürlich recht hat, wenn ich ganz ehrlich bin …

Levin schenkt mir einen Blick, der in etwa sagen will: »Schwester, du bist voll peinlich, mach 'ne Fliege!« Sein Mund ist komplett verschmiert, eine Mischung aus blutrotem Lippenstift und Schokoküssen, sagt mein Expertinnenblick. Ich bin ja Süßigkeiten gegenüber generell nicht abgeneigt, aber Schokoküsse rangieren auf der Leckereien-Skala eindeutig ganz weit oben! Am liebsten würde ich ihn an mich reißen und ihn abknutschen. Aber Levins Blick signalisiert, dass er es begrüßen würde, wenn ich mich umgehend in Luft auflöse. Sorry, kommt nicht in Frage!

»Komm, Mom wartet auf uns«, sage ich energisch. Manchmal nervt es, dass seine Vorschule direkt auf meinem Heimweg vom Gymnasium liegt, weil es ganz oft an mir hängenbleibt, meinen Bruder abzuholen. Wenn Papa wieder eines seiner wilden Rezepte ausprobiert (dabei die Küche in Schutt und Asche legt) und meine Mutter im Laden die Seelentrösterin für die gesamte Nachbarschaft spielt, muss eben ich herhalten. Ich, die große, vierzehn Jahre alte Schwester. Mit mir kann man's ja machen! Einen Vorteil hat die Sache allerdings: Um immer erreichbar zu sein, haben mir die Eltern ein Handy spendiert. Aber leider nur so 'ne alte Krücke, mit der man auch gut Tischtennis spielen könnte, so groß ist das Teil. (Spare auf das pinkfarbene Ding von Nokia. Dauert aber wohl noch, bis ich die Kohle dafür zusammenhabe.)

»Tschüss Levin«, sagt Kathinka, die Leiterin der Kita am Kaiser-Friedrich-Ufer, zu der auch die Vorschule gehört. Wortlos schlurft mein kleiner Vampir neben mir her, während ich mein Fahrrad schiebe. Ich bin auch in Gedanken versunken, denn es gibt viel zu bedenken: Ich habe heute eindeutig die Mathearbeit vergeigt. Schuld daran ist unter anderem die neue Sitzordnung. Extremst ungünstig! In Sachen Bio und Mathe bilden Yella und ich normalerweise ein unschlagbares Team. Ich kann Bio, sie Mathe. Was Sabine kann, weiß ich noch nicht genau, aber ich vermute stark, es ist so etwas wie Religion. Ich weiß ziemlich wenig von Sabine, weil sie das ist, was man wohl gemeinhin eine graue Maus nennt. Deshalb ist sie auch die ideale »Dienerin« für Lovely Juliet, die immer jemanden für ihren Hofstaat braucht. Sabine himmelt Julia von morgens bis abends an, dass einem schlecht werden kann. Kein Wunder, dass sie Mathe nicht auf dem Plan hat! Mist, dieser Tag war bislang eine einzige Aneinanderreihung von Katastrophen! Erst die Sache mit dem »verschwundenen« Fahrrad (wie erkläre ich das nur meinen Oldies?), dann das Zuspätkommen, der neue Mitschüler, die neue Sitzordnung, die Mathearbeit ... und was kommt als Nächstes? Als wir uns unserem tomatenroten Zuhause mit den knallweißen Türen und Fensterläden nähern, entdecke ich einen Polizeiwagen, der vor dem Bootshaus parkt.

»Cool!«, ruft Levin begeistert, reißt sich von meiner Hand los, stürmt nach vorne und liegt dann – platsch! –auf der Nase. Tja, so kann's gehen, wenn man die falschen Klamotten anhat. Lange Umhänge sind eben nix für jeden Tag! Ich helfe meinem Bruder auf die Füße, und dann rutscht mir vor Angst das Herz in die Hose. Was, wenn die Polizei meinetwegen hier ist? Vielleicht hat Jutta Kramer bereits das Jugendamt über meine wiederholte Unpünktlichkeit informiert, und die arbeiten Hand in Hand mit der Polizei? Fliege ich von der Schule?

Komme ich wegen dreimaliger Verspätung in den Knast?

Oh, oh – am liebsten würde ich gar nicht erst reingehen. Mom und Dad verabschieden sich gerade von den zwei uniformierten Beamten, die ernste Mienen zur Schau tragen und jetzt direkt auf mich zukommen. Bestimmt sind sie wegen der Sache heute Morgen hier. Erde, tu dich auf und verschling mich und mein Rad!

Levin himmelt erst die beiden an, dann den Wagen. Er umrundet ihn, gefolgt von seiner Schleppe, mit der er mittlerweile den halben Weg entlang des Isebek-Kanals aufgewischt hat. Zuletzt habe ich ihn so begeistert gesehen, als unsere Müllmänner ihn auf ihr Auto gehievt haben. Jungs! Nix als Technik im Kopf!

»Ihr seid dann wohl die beiden Trüffel-Kinder«, sagt einer der beiden Polizisten und lächelt mich an. Dann guckt er auf mein Rad, doch sagt zum Glück nichts. »Schönen Tag noch euch beiden.«

»Ihnen auch«, antworte ich mit zittriger Stimme.

Offenbar bin ich doch nicht das Objekt ihrer Begierde. Schwein gehabt!

Sein Kollege spricht noch irgendetwas in das Funkgerät, und schon sind die beiden verschwunden. Levin sieht ihnen traurig hinterher. Ich ahne es: Morgen macht er einen auf Großstadtcop und legt mir Handschellen an. Schnell werfe ich das Fahrrad ins hohe Gras vor dem Haus und hoffe, dass es keiner sieht und Levin die Klappe hält.

Papa schiebt uns zur Tür hinein. Mama sieht aus, als hätte sie geweint.

»Kinder, setzt euch«, sagt sie.

Mein Magen knurrt, ich habe furchtbaren Hunger! Doch auf dem Tisch steht nichts, das essbar aussieht. Noch nicht einmal eine Schale Dinkelkekse oder ähnlich unleckeres Zeug.

»Die Polizei war hier, weil nicht nur meine Rosen hinüber sind« – kleiner Schluchzer! –, »sondern auch Papas Wagen einen Platten hat und Pomelos Fahrrad gestohlen wurde«, erklärt meine Mom.

Ich hüstle und verschlucke mich beinahe. Wäre es jetzt nicht an der Zeit zu beichten, dass ich nur mal wieder schusselig war?

»Die Beamten haben eine Anzeige gegen unbekannt aufgenommen und raten uns, in Zukunft alles gut zu verschließen. Sie glauben an einen Dumme-Jungen-Streich. Also passt bitte in Zukunft gut auf eure Sachen auf und gebt uns Bescheid, wenn jemand auf dem Gelände ist, den ihr nicht kennt.«

Levin findet das alles spannend, wenn ich sein Lächeln richtig deute. »Kommen die jetzt ins Gefängnis?«, fragt er mit leuchtenden Augen.

»Nein, mein Schatz. Noch ist ja gar nicht klar, wer für das alles verantwortlich ist. Aber habt keine Angst, uns allen wird nichts passieren. Wenn überhaupt, dann wollte uns nur jemand ärgern!«

»Pomelos Rad wurde doch gar nicht geklaut«, ereifert sich Levin nun.

Na toll, jetzt brauche ich gar nicht erst nach einem passenden Moment für mein Geständnis zu suchen.

Mom und Dad sind lebende Fragezeichen, ich selbst bin rot wie ein Feuerlöscher.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, sagt Papa mit drohendem Unterton. »Und deshalb wolltest du mich am frühen Morgen dazu bringen, dich zur Schule zu fahren?«

Mein Herz pocht laut. »Ich, ähm, ich wollte nicht ...«, stottere ich. Warum muss mir auch immer wieder so ein Mist passieren? »Ich habe dich nicht angelogen, Paps. Ich dachte wirklich, mein Rad sei gestohlen worden. Dabei hatte ich es gestern nur an der Schule stehenlassen.«

Papa guckt böse, vermutlich weiß er nicht, ob er mir glauben soll, obwohl er mich ja eigentlich kennt.

Zum Glück hat Mom Mitleid mit mir.

»Jetzt aber Schluss mit dem blöden Thema. Pomelo, pass bitte in Zukunft besser auf deine Sachen auf, okay? So, ihr Lieben, was haltet ihr von Pizza?«

Schwein gehabt!

»Au ja«, juble ich, halbtot vor Hunger. Hätte ich doch bloß meinen Apfel gegessen. Aber bei all der Aufregung um die neue Sitzordnung, die Mathearbeit und Max Locke habe ich das total vergessen.

Bis die Pizza geliefert wird, verkrümle ich mich in mein Zimmer und schmeiße mich quer übers Bett. Mein Schädel platzt gleich, und in meinem Kopf geht es rund. Ich kann nichts dagegen machen – trotz der dummen Sache mit dem Rad und Stress mit Dad taucht immer wieder das Gesicht von Max in meinen Gedanken auf ... Das passt mir überhaupt nicht. In meinem Kopf ist kein Platz für so was, der wird für anderes gebraucht. Für Wichtigeres! »Jungs sind doof, das weiß doch jeder!«, sage ich energisch und starre an die Wand. In dieser Beziehung sind Yella und ich uns nämlich einig. Jungs hängen am liebsten vor ihren dummen Spielkonsolen ab und spielen sinnfreie Egoshooter-Games. Wenn sie nicht mit glasigen Augen vor dem PC hocken, dann vor der Glotze, weil ja ständig und überall Fußball läuft. Total eindimensional! Ich persönlich finde diesen Sport seit der WM ja auch ganz gut, wenn ich ehrlich bin. Das liegt aber in erster Linie an Torsten Frings, mit seinen schönen langen Haaren und den Tattoos. Die Typen aus meiner Klasse – allen voran Robby (heißt eigentlich Robert) und Richy (im wahren Leben Richard) – stehen auf Schweinsteiger und Podolski, diese Schwachmaten. Sieht doch jeder aus zehn Kilometer Entfernung, dass deren IQ gerade mal knapp über Raumtemperatur liegt! Obermegagigapeinlich finde ich aber, dass die beiden sich nicht zu doof sind, um ihren Stars auch noch Kosenamen wie »Schweini« und »Poldi« zu geben. Unfassbar!

Ich nenne doch Amy Winehouse auch nicht ... o ja, stimmt – ihr Name endet ja schon auf »i« beziehungsweise »y« – ungünstiges Beispiel!