Lacroix und der traurige Champion von Roland-Garros - Alex Lépic - E-Book + Hörbuch

Lacroix und der traurige Champion von Roland-Garros E-Book und Hörbuch

Alex Lépic

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Beschreibung

Seit seine Frau Dominique für das Amt der Bürgermeisterin von Paris kandidiert, steht auch Lacroix im Rampenlicht. Dabei scheut der Commissaire nichts so sehr wie die Öffentlichkeit! Als Lacroix vor den neugierigen Blicken in sein Stammbistro flieht, tritt ein noch viel berühmterer Mann durch die Tür: Éric Seignosse, siebenmaliger Gewinner der French Open und Präsident des französischen Tennisverbands. Er hat im Parisien über Lacroix gelesen und ist sicher: Nur der berühmteste Polizist von Paris kann ihm helfen. Seignosses neuestes Tenniswunderkind, Yannick Duc, steht an diesem Abend im Halbfinale von Roland-Garros, doch seit dem Morgen ist sein Sieg mehr als ungewiss: Ducs Talisman, ein Tennisball, ohne den er seit seiner Kindheit kein Match bestreitet, wurde aus seinem Spind entwendet. Wer will den Sieg des jungen Mannes verhindern? Hat einer von Ducs Kontrahenten den Glücksbringer gestohlen? Lacroix taucht tief ein in die Geheimnisse des Tennissports, und Roland-Garros wird zum Match gegen einen großen Unbekannten.

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Zeit:4 Std. 38 min

Sprecher:Felix von Manteuffel
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Alex Lépic

Lacroix und der traurige Champion von Roland-Garros

Sein sechster Fall

Roman

Kampa

Auf dem Präsentierteller

1

Lacroix mochte es sehr, wenn in Paris ein neuer Tag anbrach. Die Stadt hatte dann ihre ganz eigenen Geräusche. Das Klappern der Rollläden vor dem Fenster, wenn die Rue Cler zu neuem Leben erwachte. Das Kratzen der Mülleimer auf dem Asphalt und das Klappern der Deckel, wenn die Propreté de Paris unterwegs war: immer montags und freitags und immer um sechs Uhr fünfzig. Er brauchte keinen Wecker an diesen Tagen, denn die Müllmänner waren pünktlicher als ein Schweizer Uhrwerk. Das leise Gespräch des Käseverkäufers mit der Besitzerin des Blumenladens: Die Lacroix’ hatten eine Wette laufen, wann sich die zwei endlich ihre Liebe gestehen würden. Die Wette lief seit mindestens zwölf Jahren, und die beiden Händler waren inzwischen weit jenseits der sechzig – es wurde Zeit.

Kurzum: Lacroix liebte es, den frühen Morgen zu spüren, wenn Paris noch unberührt, so leer und so verschlafen war und die Seite, auf der die Geschichte dieses Tages stehen würde, noch blütenweiß.

Heute aber wollte es ihm nicht gelingen, aus dem Bett zu kommen, und so trat Madame Lacroix um kurz vor acht Uhr wieder ins Schlafzimmer. Sie war bereits vollständig angekleidet und sah besorgt zu ihm herunter, der, im Bett liegend, das Gesicht mit der Hand abschirmte.

»Ist dir nicht wohl, mon cher?«, fragte sie. »Muss ich mir Sorgen machen?«

Lacroix stützte sich mit dem Arm auf und sah sie freundlich an. Er wollte nicht, dass sie erriet, was er dachte. Aber er brauchte sich keinen Illusionen hinzugeben: Sie hatte wohl schon gewusst, dass etwas mit ihm war, als er es noch nicht einmal geahnt hatte. Sie setzte sich neben ihn, griff nach seiner Hand, legte sie in ihren Schoß und nahm ihre andere Hand obenauf, als würde sie sie schützend über seine legen.

»Du sorgst dich, was sie heute wieder schreiben, hm?«

Die klugen Augen seiner Frau zeigten ihm, dass er sie niemals anzulügen brauchte – sie konnte ihn lesen.

»Ja«, sagte er. Es war nicht mehr als ein Murmeln.

Sie atmete tief ein und dann wieder aus. »Mon cher, ich ahnte, dass es hart werden würde, aber du hast recht: Ich wusste nicht, dass es so hart werden würde. Und es tut mir leid, dass …«, sie brach ab, und er schüttelte den Kopf, setzte sich auf und zog sie zu sich, sodass sie ihren Kopf auf seine Schulter legen konnte – eine vertraute Geste, von der er glaubte, dass sie ihn noch mehr beruhigte als sie.

»Hör bitte auf, chérie«, sagte er leise, »es tut mir leid, dass es mir so zu schaffen macht und dass du das nun zu spüren bekommst. Es ist nur: Ich habe mir so viel Mühe gegeben, stets unter dem Radar zu fliegen. Und nun sitzen wir auf dem Präsentierteller. Aber sei es drum. Ich will und ich werde dich bei allem unterstützen. Und ich weiß genau, warum du dir all das antust. Weil du letztlich …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende, weil sie schlicht noch nie darüber gesprochen hatten. Was passieren würde, wenn es klappen sollte. Was geschehen würde, am Tag danach. Wie sich ihrer beider Leben verändern würde, sollte sie tatsächlich gewinnen. Es war wie bei einem jungen Paar, das sich die gesamte Schwangerschaft vorstellte, die Übelkeit, den dicken Bauch, auch die Wehen und die Geburt. All das sah man bis ins Kleinste voraus. Aber dann, diesen Tag X, diesen ersten Tag mit dem Baby daheim, diesem kleinen Wesen – den konnte sich niemand vorstellen. Ganz einfach, weil es jede Vorstellungskraft überstieg.

»Ich danke dir«, sagte sie und streichelte seine Wange. »Ich hoffe, sie lassen dich heute in Ruhe. Aber nun verzeih, Liebster, ich muss los. Eine große Matinée in der Bourse de Commerce, und anschließend besuche ich noch eine Obdachlosenunterkunft im Zweiten. Und morgen Abend ist die riesige Kundgebung auf dem Boulevard de Belleville … vielleicht hast du ja Zeit, mich abzuholen, dann könnten wir danach noch essen gehen.«

»Das klingt toll«, sagte er.

Dann gab sie ihm einen Kuss, und er sah ihr nach, wie sie in ihrem leichten Sommerkleid mit den bunten Blumen das Zimmer verließ. Niemals würde Dominique Lacroix ihrem Stil untreu werden, niemals würde sie sich verkleiden, niemals würde sie versuchen, irgendeinen Mann zu imitieren, um erfolgreich zu sein – warum sollte sie auch? Sie war eine Frau in den besten Jahren, sie war selbst überaus erfolgreich, sie war très chic, und sie war eben sie selbst – das war doch die beste Werbung überhaupt. Andere brauchten Imageberater, Madame Lacroix brauchte nur ihr Gespür. Sie war eine echte Pariserin, eine Frau aus dem Volk, ohne anbiedernd zu sein – und nach nichts schienen sich die Pariser in diesen Zeiten bei ihren Politikern mehr zu sehnen.

Lacroix stand auf und ging unter die Dusche, dann kleidete er sich an und versuchte währenddessen, aus dem Fenster einen Blick auf die Auslage des gegenüberliegenden kiosque zu erhaschen. Doch die Zeitung Le Parisien war zu weit weg, um etwas auf der Titelseite erkennen zu können. Er musste wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und unvorbereitet auf die Straße treten. Sei’s drum. Irgendwann würde ihnen schon nichts mehr einfallen. Lacroix hoffte, dass irgendwann heute wäre.

2

Er brauchte gar nicht so nah heranzutreten . Ein Blick auf das Foto, das auf der Titelseite prangte, reichte Lacroix, um zu wissen, dass irgendwann doch noch vertagt war. Den Journalisten des Parisien war durchaus noch eine gemeine Schlagzeile eingefallen.

PARISERGANOVENKÖNNENAUFATMEN – BALDMUSSLACROIXABTRETEN

Die Lettern auf der ersten Seite waren von Natur aus groß, doch diesmal schien es dem Commissaire, als wären sie noch ein wenig größer ausgefallen. Das Foto zeigte Dominique und ihn, sie im Abendkleid, ihn in einem dunklen Anzug. Es war bei einem der seltenen Anlässe aufgenommen worden, zu dem sie beide gemeinsam aufgetreten waren, er glaubte, sich an eine Verleihung des Ordens für Kunst und Literatur an eine Schriftstellerin aus dem siebten Arrondissement zu erinnern. Dominique hatte ihn unbedingt dabeihaben wollen – nun ja, er hatte auch gehen wollen, weil er die ausgezeichneten Gedichte der Dame sehr schätzte. Nun befand sich das Foto auf dieser schrecklichen Titelseite, und Dominique und er wurden in ganz Paris herumgetragen, lagen auf den Theken und in den Aufstellern herum.

Er kniff die Augen zusammen. Nicht nur, weil er weiterlesen wollte, ohne das Schmierblatt in die Hand zu nehmen, sondern auch, weil er sich schämte. Es war eine eigenartige Mischung aus Scham und Fremdscham, die dazu führte, dass es ihm kalt den Rücken herunterlief. Lacroix war kein Mann, der sich leicht fürchtete – aber dieses Exponiertsein in der Öffentlichkeit fürchtete er mehr als alle Pariser Ganoven zusammen.

von Romy Schneider

 

Er ist der berühmteste flic von Paris: Commissaire Lacroix aus dem Kommissariat im fünften und sechsten Arrondissement. Bei seiner Aufklärungsrate und seiner Menschenkenntnis wäre er sicher längst Chef der gesamten Pariser Polizei, aber Lacroix hat es immer vorgezogen, zu ermitteln, anstatt die Karriereleiter zu einem ruhigen Verwaltungsposten zu erklimmen.

Doch nun schickt sich seine Frau an, Chefin zu werden. Chefin von Paris sozusagen.

Die Bürgermeisterin des siebten Arrondissements kandidiert für die konservativen Républicains bei den Bürgermeisterwahlen im Herbst. Und die Chancen der sympathischen Politikerin sind ausgesprochen groß. Während die Konkurrenz sich in permanenten Streitigkeiten selbst zerlegt, regiert Dominique Lacroix, die gewiefte Taktikerin, ihren Bezirk seit fast zehn Jahren erfolgreich und skandalfrei. Das qualifiziert sie zu mehr.

Sollte sie tatsächlich gewählt werden, könnte das für die Stadt eine blühende Zukunft verheißen. Allerdings auch eine blühende Zukunft für das hauptstädtische Verbrechen.

Denn wie kann Commissaire Lacroix weiterermitteln, wenn seine Ehefrau seine oberste Dienstherrin ist? Der Interessenkonflikt wäre vorprogrammiert. Zudem bestünde ein hohes Sicherheitsrisiko, wenn sich der Ehemann der führenden Politikerin von Paris bei seiner Arbeit in Gefahr brächte – denn es würde nicht nur Dominique Lacroix erpressbar machen, sondern auch die Stadt.

Muss Lacroix also weit vor dem Renteneintritt aus freien Stücken abtreten? Darüber werden die Police Nationale und der Präfekt gemeinsam beraten, heißt es hinter verschlossenen Türen.

Die Aussicht bereitet nicht nur vielen Bürgern große Sorgen. Der Vorsitzende der Association der Verbrechensopfer sagte unserer Zeitung: »Ein ausgewiesener Experte und gestandener Beamter wie Commissaire Lacroix ist unerlässlich für die Arbeit der Pariser Polizei und für die Sicherheit der Pariser Bürger. Wir brauchen ihn, um die Verbrecher der Stadt im Zaum zu halten. Aus diesem Grunde kann ich seine Ehefrau nicht zur Bürgermeisterin wählen, auch wenn ihre Qualifikationen hervorragend sind. Und – auch wenn ich normalerweise keine Wahlempfehlung abgebe – ich kann nur allen raten, es mir gleichzutun.«

Wir haben Dominique Lacroix gefragt, wie es für ihren Mann beruflich weitergeht, doch bisher blieben unsere Interviewanfragen unbeantwortet. Le Parisien bleibt natürlich dran.

Normalerweise war Lacroix ein beherrschter Mann, aber jetzt war er kurz davor, den Zeitungsständer umzureißen. Oder sollte er alle Ausgaben selbst kaufen, damit niemand diesen Schund las? Allerdings hätte er dann nicht nur in der Rue Cler zuschlagen müssen, sondern auch noch in der Rue de Buci, wo sich sein Stammcafé befand, und rund um das Kommissariat und, und, und … Nein, es ließ sich nicht stoppen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Geschreibsel zu ignorieren und seinen Weg zur Arbeit fortzusetzen.

Beim Fall des erschlagenen Bäckers hatte er mit Romy Schneider, der jungen aufstrebenden Reporterin, sehr gut zusammengearbeitet. Im letzten Winter aber war es während der Ermittlungen zu den Weihnachtsmysterien auf dem Montmartre zu einem Streit zwischen ihnen gekommen, der die Journalistin offenbar nun dazu veranlasste, eine Privatfehde anzuzetteln, die sehr gut zur Redaktionslinie ihrer Zeitung passte.

Lacroix widerstand dem Kaffeeduft, der aus dem Café Central zu ihm drang. Er hätte gerne eine kleine noisette getrunken, aber er fürchtete, dass ihn nicht nur der Wirt auf den Artikel ansprechen würde. Also bog er aus der Rue Cler rechts in die Rue de Grenelle ein und ging zügigen Schrittes gen Osten.

Es war an diesem Morgen noch angenehm kühl. Nachdem der Frühsommer Paris Ende Mai eine Hitzeperiode beschert hatte, in der seine Kollegen schon die Ventilatoren im Büro anstellten, konnte Lacroix heute sogar seinen Mantel tragen, ohne groß aufzufallen. Den Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen.

Er liebte diesen Spaziergang die kerzengerade Rue de Grenelle hinunter, die ihn erst am Invalidendom, dann am Arbeitsministerium und schließlich am Dienstort seiner Frau, dem Rathaus des Siebten, vorbeiführte. Doch diesmal nahm er den Weg zügig, ohne sich viel umzublicken, er wollte schlicht nicht erkannt werden, damit ihn niemand auf diesen Artikel ansprach. Herrje, dachte Lacroix, das alles raubte ihm wirklich die Freude an seiner Stadt.

Wie ein Geist huschte er über den Boulevard Saint-Germain, schenkte den bunt dekorierten Schaufenstern, die ihm sonst so viel Freude bereiteten, keine Beachtung, sondern bog schnell nach links in die Rue de Buci ein und betrat dann in aller Eile den Chai de l’Abbaye. Hier drinnen, so hoffte er, würden sie ihn in Ruhe …

»Mon cher commissaire«, rief Yvonne Abeille, die Wirtin, deren schwarze Schürze über und über mit Mehl bestäubt war. Sie war dabei, für das Frühstück ein Baguette so rabiat in tartines zu schneiden, dass die Krümel nur so hin- und herflogen und das Mehl als weiße Staubwolke durch die Luft waberte. »Ich hab auf dich gewartet, hast du es schon ge…«

Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Zeitung, die aufgeschlagen auf dem alten Zinktresen lag, doch als sie seine veränderte Miene sah, sprach sie immer langsamer, bis sie ganz verstummte.

»Du willst mir doch nicht meinen liebsten Ort vergällen, oder, ma chère patronne?«

»Nein, Lacroix, bei Gott, natürlich nicht. Aber wenn die Journalisten den Teufel an die Wand malen, muss ich doch wenigstens mal nachfragen: Ist da was dran? Musst du wirklich kündigen?«

Sie sah ihn fragend an. Alles an ihr war Vorsicht. So hatte er Yvonne Abeille, die Ungerührte, wirklich noch nie gesehen.

»Papperlapapp«, sagte er laut und setzte sich auf den Barhocker am Tresen, der am weitesten vom Gastraum entfernt stand – ein weiterer Schutzmechanismus, dachte er im selben Moment. »Und kann ich jetzt endlich einen café haben, mais vraiment«, sagte er und bemerkte sofort, dass es ihm viel gröber herausgerutscht war, als er vorgehabt hatte. »Excuse-moi«, murmelte er, »der Morgen zerrt an meinen Nerven.«

»Versteh’ ich, Commissaire. Aber Dominiques Umfragewerte sind doch wirklich herausragend, oder nicht?«

Er nickte mürrisch, während sich Yvonne an der alten Kaffeemaschine zu schaffen machte und ihm Sekunden später den heißen schwarzen Kaffee in der kleinen Tasse vorsetzte, den er so schnell trank, dass er sich die Zunge verbrühte.

»C’est pas vrai«, schalt er sich. »Quelle journée!«

Yvonne schwirrte ab zu einem Tisch im hinteren Teil des Gastraumes, um die Bestellung aufzunehmen. Als sie wiederkam, wiederholte sie:

»Deux citrons pressés, zwei Cappuccini«, dann brüllte sie in ihrer unnachahmlichen Art in die Küche: »Und zwei omelettes jambon-fromage, d’accord?«

»Oui«, kam Sekunden später die Antwort ihres Chefkochs, der zugleich ihr Ehegatte war und sich nur alle Jubeljahre mal im Gastraum sehen ließ – sein Reich war die Küche, seine Untertanen der Herd und der Kühlschrank, während Yvonne über den Saal und den Tresen herrschte.

Sie zerschnitt zwei Zitronen und wollte gerade anfangen, sie für das typische Pariser Frühstücksgetränk auszupressen, als Lacroix sich räusperte und sagte:

»Ich will doch nur, dass sich nichts ändert. Mon dieu, ist das denn zu viel verlangt? Ich hasse es, dass die Pariser Taxis nun diese schrecklichen roten und grünen Lichter haben, ich hasse es, dass sich ständig die Linienführung der Busse ändert, weil der alte Bürgermeister jeden Tag eine neue Straße sperrt, um sie ausschließlich für Fahrräder freizugeben. Und ich kann immer noch nicht verstehen, warum du diesen unglaublich leckeren Rotwein vom Château Le Reysse nicht mehr auf der Karte hast. Yvonne«, nun sprach er wirklich laut, »ich hasse Veränderungen – und ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen. Und alles, was gerade passiert, ist Veränderung und ausgerechnet eine Entwicklung, die meine Frau und damit auch mich ins Rampenlicht stellt. Herrgott, ich will ja, dass sie diese Wahl gewinnt. Aber ich bin es doch nicht, der kandidiert, sondern sie – warum versteht das denn niemand? Ich will einfach nur meine Ruhe, ich will hier in aller Ruhe jeden Morgen sitzen und meinen café trinken …«

Er sah die Bewegung vor dem Fenster nur aus dem Augenwinkel, doch an Yvonnes fasziniertem Blick erkannte er, dass sich da draußen etwas abspielte. Schließlich wandte auch er den Kopf, wobei er die Wirtin noch murmeln hörte: »Na, ich glaube, mit der Ruhe ist es vorbei.«

Draußen hatten zwei schwarze Limousinen mitten auf der engen Straße gehalten. Es waren nicht solche, wie sie in Paris an jeder Ecke hielten, um reiche Bewohner von A nach B zu chauffieren, sondern zwei Exemplare von der besonders wichtigen Sorte. Das erkannte Lacroix daran, dass aus dem vorderen Wagen ein Mann im schwarzen Anzug ausstieg, eine verspiegelte Sonnenbrille auf der Nase. Der Prototyp des Bodyguards. Die Tür des hinteren Wagens, die gerade geöffnet wurde, bestand aus dickem Stahl, beide Fahrzeuge waren gepanzert und sahen derart bedeutend aus, dass sich die nachfolgenden Taxifahrer gar nicht trauten, wütend zu hupen. Kurz darauf stieg aus dem zweiten Auto ein Mann. Lacroix stutzte. Im ersten Moment dachte er an einen Zufall, einen Zwilling, einen Mann, der einem anderen, viel berühmteren durch eine Laune der Natur täuschend ähnlich sah. Doch dann schüttelte er den Kopf. Nein, das war keine Ähnlichkeit. Er war es.

Der Commissaire war ihm noch nie persönlich begegnet, aber er hatte ihm schon oft zugesehen, manchmal sogar stundenlang. An herrlichsten Sommertagen hatten Dominique und er das schöne Pariser Wetter ignoriert und ihre liebsten Spazierrunden links liegen gelassen, um sich stattdessen in einem Pub um die Ecke der Rue Cler vor einen Fernseher zu setzen und ihn zu betrachten. Und jetzt betrat dieser Mann den Chai de l’Abbaye.

Lacroix konnte den Blick gar nicht abwenden. Der Bodyguard hielt dem Mann die Tür auf und ließ ihn durch, dann schob er sich vorbei und sah sich prüfend im Gastraum um. Er brauchte nur wenige Augenblicke, um alle Ecken zu kontrollieren. Diese beiden waren ein eingespieltes Team. Erst als die Prüfung abgeschlossen war, setzte sich der Mann in Bewegung. Lacroix schaffte es gerade noch, die Schrift zu lesen, die auf der Seitentür der vorderen Limousine angebracht war: Shuttle du Roland-Garros stand da. Doch der berühmte Mann wollte nicht hier frühstücken – weit gefehlt. Das erkannte Lacroix, als er plötzlich vor ihm stand und ganz freundlich nickte, so, als wären sie verabredet.

Er war kleiner, als Lacroix gedacht hatte, aber immer noch schlank und drahtig. Sein Teint war dunkel, seine Stirn zierten sympathische Falten, das graue Haar trug er adrett gescheitelt, und die blauen Augen blitzten sympathisch. Hellblau wie die eines Huskys, dachte Lacroix. Damals bei den großen Turnieren waren diese Augen sein Markenzeichen gewesen, aber der Commissaire hätte sich nie träumen lassen, dass sie wirklich so blau waren wie im Fernsehen.

»Entschuldigen Sie, Monsieur Lacroix«, sagte er mit einer leisen und freundlichen Stimme, die dennoch so ungekünstelt souverän wirkte, dass dem Commissaire sofort klar war, dass diesem Mann selten jemand widersprach. »Es tut mir leid, Sie beim Frühstück zu stören.«

»Ich bitte Sie«, sagte Lacroix, »nehmen Sie doch Platz, Monsieur Seignosse.«

Der Mann kniff nicht die Augen zusammen, legte nicht den Kopf schief, machte auch keine anderen Umstände, sondern setzte sich einfach auf den freien Barhocker neben den Commissaire und sagte leise, als erriete er die Gedanken des Polizisten: »Es ist gut, einen Menschen zu treffen, den ebenfalls jeder beim Namen kennt. Es ist immer so merkwürdig, wenn sich in einer Runde alle vorstellen müssen und nur von mir jeder den Vor- und Nachnamen kennt, selbst den Geburtstag und die Unterhosengröße. Aber gut, so ist das eben, eine sogenannte Legende zu sein – das kennen Sie sicher … Die Presse gibt sich ja alle Mühe, Ihnen Legendenstatus zu verleihen.« Dabei hielt der Mann den Parisien in die Höhe und ließ ihn angewidert wieder auf den Tresen fallen.

Lacroix machte ein gequältes Gesicht. »Nichts, was ich mir gewünscht habe …«

»Das ging mir ähnlich. Ich wollte mein Leben lang nur Tennis spielen. Das würde ich auch heute noch am liebsten tun. Aber der Verband hatte anderes mit mir vor – und von irgendetwas muss der Mensch ja leben.« Er lachte herzhaft, und es klang überhaupt nicht überheblich.

Lacroix ging im Kopf durch, was er von diesem Mann wusste.

Éric Seignosse sah zwar aus wie ein gestählter Mittfünfziger, aber er musste jetzt Ende sechzig sein. Er war das französische Pendant zu Boris Becker: Wimbledon mochte er nie gewonnen haben, doch dafür hatte er in den siebziger Jahren Roland-Garros dominiert. Sieben Mal – Lacroix konnte sich so genau daran erinnern, weil es seine Glückszahl war – hatte Seignosse das Turnier in Paris gewonnen und hatte deshalb sogar einige Wochen auf Platz eins der Tennisweltrangliste gestanden. Nach sechs Siegen und einer Verletzung hatte er aufgehört, war dann aber mit Anfang dreißig noch mal zurückgekehrt, in einem Alter, in dem andere schon als Tennis-Opas galten. Doch er hatte das Publikum im Bois de Boulogne hinter sich gehabt – und hatte das Turnier tatsächlich gewonnen. Am Finaltag hatte Paris fünfunddreißig Grad im Schatten gemessen, aber die Parks und die Seine-Quais waren menschenleer gewesen, weil alle Pariser vorm Fernseher das Finale verfolgt hatten – sechs Stunden, die zum Fingernägelknabbern spannend gewesen waren.

An diesem Tag, als er seinen kroatischen Gegner in fünf Sätzen niederrang und sich die beiden hinterher die Hände schüttelten und herzten, war Éric Seignosse zum Nationalhelden geworden. Und er war klug genug, nicht denselben Fehler zu machen wie viele seiner Kollegen: Er hatte einen Plan für das Leben danach. Einen anderen als Alkohol und teure Autos und noch teurere Scheidungen.

Éric Seignosse hatte sich zunächst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, war gereist, hatte sein Leben genossen und war erst nach zwanzig Jahren zurückgekehrt, als Leiter des Tennisverbandes. Und nun saß er hier, genau vor Lacroix, und hatte offensichtlich etwas auf dem Herzen.

»Hören Sie, wir wissen alle nicht weiter«, sagte er und schien jemanden hinter dem Tresen zu beobachten. Lacroix folgte seinem Blick. Dort stand Yvonne, die ihrerseits außerstande schien, sich zu bewegen. Sie starrte den Tennisstar regelrecht an. Monsieur Seignosse lächelte ihr zu.

»Sie haben ein sehr schönes Bistro«, sagte er eine Spur lauter.

»Oh«, sie errötete augenblicklich, und beinahe spürte Lacroix so etwas wie Eifersucht. Bei ihm hatte sie noch nie so ein verzücktes Gesicht gemacht. »Finden Sie wirklich, Éric? Äh, ich meine, Monsieur Seignosse.«

»Alles gut, jeder kennt mich als Éric – und wenn Sie die Freundlichkeit besitzen würden, mir eine verveine zu machen, dann dürfen Sie mich nennen, wie auch immer Sie wünschen.«

»Oh, aber natürlich, Monsieur Seignosse«, erwiderte Yvonne und griff sofort zu einer weißen Teekanne, um sie unter die Heißwasserdüse der Kaffeemaschine zu stellen.

»Also, Commissaire Lacroix, wir wussten heute Morgen alle nicht weiter. Natürlich haben wir einen Sicherheitsberater beim Turnier, der empfahl mir gleich, Arnaud anzurufen. Arnaud, Sie kennen ihn natürlich.«

Arnaud Mercier war Lacroix’ direkter Vorgesetzter, der Leiter der Police nationale von Paris, der die Kommissariate in den einzelnen Arrondissements vom Quai des Orfèvres aus leitete, der noblen und altehrwürdigen Adresse auf der Île de la Cité im Herzen der Stadt.

»Aber eigentlich wusste ich schon, dass ich Sie will, schließlich habe auch ich heute Morgen zum Frühstück den Parisien gelesen. Ich hatte gehofft – nein, ich hatte erwartet –, dass die Journalisten mit unserem großen Star aufmachen würden – der erste Franzose seit zwanzig Jahren, der das Zeug hat, Roland-Garros zu gewinnen. Aber weit gefehlt. Da standen Sie auf der Titelseite. Als ich dann den Anruf erhielt und erfuhr, was passiert ist, dachte ich: Das war ein Wink des Schicksals. Erstens, weil ich ganz froh war, dass der große Star nicht auf der Titelseite steht – na ja, eigentlich ist es noch geheim, aber Sie wissen ja, wie das ist – und zweitens, weil ich nun wusste, dass Sie es sind, Commissaire, den mir das Universum schickt, um unser Geheimnis zu lüften.«

Yvonne Abeille stellte mit einem Räuspern die Teekanne und eine Tasse auf den alten Tresen. Dabei sah sie den Tennisstar so intensiv an, dass sie die Kanne ins Rutschen brachte. Beherzt griffen Lacroix und Monsieur Seignosse im selben Moment zu und verhinderten eine sehr heiße Überschwemmung.

»Wir können ein gutes Team werden«, sagte Seignosse und lachte.

»Yannick Duc«, sagte Lacroix. »Sie meinen Yannick Duc.«

Seignosse nickte. »Frankreichs neue große Tennishoffnung. Er hat Anfang des Jahres die Australian Open gewonnen. Zum ersten Mal ein Grand-Slam-Turnier. Und nun will er ganz nach oben in den Tennisolymp. Wenn er hier gewinnt, dann steigt er auf der Weltrangliste nach ganz oben. Aber ich muss sagen, seit heute Morgen ist das wirklich mehr als ungewiss.«