Lambertus-Singen - Jürgen Kehrer - E-Book

Lambertus-Singen E-Book

Jürgen Kehrer

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Beschreibung

Er ist Familienvater. Ein achtbarer Bürger. Und ein Monster. Sie musste schön gewesen sein. Groß, blond, mit einer fast weißen Haut, auf der Kriminaloberkommissar Bastian Matt noch ein paar blasse Sommersprossen erkennen kann. Nun ist sie tot. Opfer eines Verkehrsunfalls. Was hatte sie dazu gebracht, mitten in der Nacht auf die Straße zu laufen? Übermut? Gedankenlosigkeit? Oder hatte sie Angst gehabt? Bastians Freundin, die Rechtsmedizinerin Yasi Ana, stellt bei der Obduktion fest, dass die junge Frau kurz vor ihrem Tod vergewaltigt wurde. Offenbar ein weiteres Opfer des äußerst brutalen «Glatzenmanns», der sich seine Opfer im Münsterland und in den angrenzenden Niederlanden sucht. Erst als eine weitere Frau ums Leben kommt, stoßen Bastian Matt und seine Kollegen auf eine heiße Spur ... «Jürgen Kehrer ist ein Meister der Spannung.» (Welt am Sonntag)

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Seitenzahl: 320

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Jürgen Kehrer

Lambertus-Singen

Kriminalroman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

O Bur, wat ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. KapitelDanksagungAutorenfoto Jürgen Kehrer

O Bur, wat kost’t dien Hei,

o Bur, wat kost’t dien Kärmis-Hei,

jucheissa-vivat Kärmis-Hei,

o Bur, wat kost’t dien Hei?

 

LAMBERTUSLIED

1

Du bist ein Mensch. Du musst dich manchmal daran erinnern, dass du dazugehörst. Ein achtbarer Bürger. Du hast einen anständigen Beruf, eine Frau, die dich liebt, und ein Kind, das dich bewundert. Du lebst in einem Einfamilienhaus in einer Siedlung mit lauter Einfamilienhäusern. Du redest mit deinen Nachbarn, den Freundinnen deiner Frau und den Kindergärtnerinnen deiner Tochter. Du bist Bestandteil einer Gemeinschaft. Man sucht deine Nähe, weil du charmant sein kannst. Die Frauen mögen es, wie du sie anschaust. Aber du riskierst nichts. Du bist vorsichtig. Du hast lange dafür gebraucht, so zu sein, wie du jetzt bist. Du verbirgst dich hinter der perfekten Tarnung, schwimmst wie ein Goldfisch mit anderen Goldfischen im Teich – friedfertig, das Maul nur aufreißend, um nach einem Brocken Futter zu schnappen. Niemand käme auf die Idee, dass mit dir etwas nicht stimmt.

Nur du weißt, dass ein Monster in dir steckt. Und diejenigen, denen du dein anderes Ich gezeigt hast. Wem solltest du auch von deinen Phantasien erzählen? Von deinem Kopfkino, das du einschaltest, während du auf der Gartenterrasse sitzt oder neben Katharina im Bett liegst? Manchmal scheint sie etwas zu ahnen. Wenn du nahe daran bist, die Geduld zu verlieren, guckt sie dich mit diesem ängstlichen Blick an, als wärst du ein Alien. Doch dann beruhigt sie sich wieder. Sie fragt nicht, was los ist, sie hat noch nie gefragt. Sie ist zufrieden mit dem, was sie hat. Und ein paar Jahre hältst du das noch durch, vielleicht noch länger, wer weiß, vielleicht sogar für immer.

Heute allerdings wird es schwierig, so zu tun, als kämest du von einer ganz normalen Reise nach Hause. Du bist noch vollgepumpt mit Adrenalin, du kannst deine Aufregung nicht unterdrücken. Du hast einen Fehler gemacht, einen schweren Fehler. Das hätte dir nicht passieren dürfen. Du bist unvorsichtig geworden, hast Es unterschätzt. Beinahe wäre dein ganzer Plan gefährdet worden, alles, wofür du lebst.

Im Haus brennt kein Licht. Katharina schläft schon. Das ist gut. Du kannst dich unter die Dusche stellen und das Monster abspülen. Dich ins Bett legen und so tun, als ob du schläfst. Und morgen früh bringst du Emma in den Kindergarten. Wie ein liebender Vater.

2

«Weißt du, wie alt meine Tochter ist? Die aus der Ehe mit Helga, meine ich.»

Bastian Matt wusste es nicht. Während ihrer Einsätze in der K-Wache redete Udo Deilbach oft über seine Kinder. Er hatte insgesamt vier, zwei aus erster und zwei aus zweiter Ehe, das hatte Bastian sich gemerkt. Die jüngeren Kinder gingen in die Grundschule, also mussten die älteren …

«Zwanzig», schätzte Bastian.

«Dreiundzwanzig», sagte Udo.

«Und?», fragte Bastian.

«Verdammt, kapierst du das nicht? Wenn ich so etwas höre: junge Frau überfahren. Mein erster Gedanke ist: Das könnte deine Tochter sein.»

«Ich denke, sie studiert in …»

«Annika studiert in Heidelberg.» Udo machte eine wegwerfende Handbewegung. «Du bist eben kein Vater. Allein die Vorstellung reicht, um mich auf hundertachtzig zu bringen. Da kriege ich so einen Hals. Nur weil irgendein Idiot zu schnell fährt, wird ein Leben ausgelöscht, das gerade erst richtig begonnen hat. Das ist so verdammt …», Udo suchte nach dem richtigen Wort, «… ungerecht.»

«Noch ist der Hergang unklar», bremste Bastian seinen Kollegen. «Der Fahrer sagt, die Frau sei plötzlich auf die Straße gelaufen.»

«Was soll er denn sonst sagen?», empörte sich Udo. «He, Jungs, ich hab’s vermasselt, alles meine Schuld? Nein, schuld sind immer die anderen. Notfalls lag’s am Wetter, an der Dunkelheit oder am Mondzyklus. Ich kann die Ausreden nicht mehr hören.»

Die Meldung war kurz vor Mitternacht gekommen. Bis dahin hatten Bastian und Udo einen ruhigen Dienst im Präsidium geschoben. Um zwei Wohnungseinbrüche hatten sich andere Teams gekümmert. Deshalb waren sie jetzt an der Reihe: Unfall mit Todesfolge auf der Umgehungsstraße östlich von Münster, eine Fußgängerin war von einem Auto erfasst worden. Es gab einige Unklarheiten, angefangen bei der Identität der Toten, die Kollegen hatten keine Papiere gefunden. Und wieso hatte die Frau versucht, an dieser Stelle die Schnellstraße zu überqueren, und nicht die nahe Fußgängerbrücke benutzt? Stand sie unter Alkohol- oder Drogeneinfluss? Das und die genaue Todesursache musste die Obduktion klären. Der Job von Bastian und Udo beschränkte sich darauf, die Beteiligten zu befragen und den Transport der Leiche zur Rechtsmedizin zu veranlassen. Sollte sich im Laufe der Nacht noch herausstellen, um wen es sich bei der Toten handelte, würden sie auch die Angehörigen informieren müssen. Bastian hoffte, dass ihnen das erspart blieb. Morgen früh würden die Kollegen vom Kriminalkommissariat 11, die für nicht identifizierte Leichen zuständig waren, den Fall übernehmen, dann hatte er nichts mehr damit zu tun. Als K-Wachen-Mann kümmerte er sich lediglich um die ersten Ermittlungsschritte vor Ort. Vor allem dann, wenn die Fachkommissariate nicht besetzt waren. Also nachts.

Bastian bog von der Wolbecker Straße auf die Zufahrt zur Umgehungsstraße ab. Er hatte ein Blaulicht an das Wagendach geklemmt, hielt sich aber an die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Die Frau war tot, auf eine Minute mehr oder weniger kam es nicht an. Zwischen Wolbecker und Warendorfer Straße verengte sich die Umgehung auf zwei Fahrspuren, schon nach einem Kilometer sahen sie das Ende des Staus, der sich trotz der nächtlichen Uhrzeit gebildet hatte. Bastian lenkte den grauen Passat auf den Seitenstreifen und fuhr langsam an den Autos vorbei. Rechts der Straße erstreckten sich Felder und Wiesen, Münster wurde hier ländlich. Irgendwo dahinter lag St. Mauritz. Sie fuhren durch einen kleinen Wald, in den Baumkronen hingen Nebelschwaden. Erste Vorboten des Herbstes, der den für münstersche Verhältnisse erstaunlich heißen Sommer bald beenden würde.

Sie näherten sich der Unfallstelle. Zwei blausilberne Polizeiwagen hatten sich als Verkehrsbarriere hinter einer oberklassigen, schwarzen Limousine postiert, neben dem Notarztwagen verdeckte eine weiße Plane das, was bis vor kurzem ein Mensch gewesen war. Sobald man aus dem Leben schied, dachte Bastian, verwandelte man sich in eine Art Abfall, lieblos unter Plastik versteckt. Aber vielleicht war das die einzige Möglichkeit, den Tod auf Distanz zu halten.

Er schaute zu Udo hinüber. Sein Kollege hatte die Zähne fest zusammengebissen, unter der Wangenhaut zuckten die Muskeln. «Alles in Ordnung?»

«Alles bestens.»

«Hast du dich unter Kontrolle?»

«Für wen hältst du mich, Basti?» Udo stierte ihn an. «Denkst du, ich vergreife mich an diesem Arschloch?»

Bastian hielt an. «Ich kann das alleine machen. Du redest nur mit den Kollegen.»

«Blödsinn.» Udo stieß die Tür auf. «Wenn ich den Job nicht mehr schaffe, werfe ich das Handtuch. Aber so weit ist es noch nicht.»

Die vier Uniformierten hatten sich aufgeteilt, ein Paar regelte den Verkehr, das andere hatte den Unfallhergang aufgenommen. Bastian und Udo gingen zu der Schriftführerin des Quartetts, einer Polizistin mit blondem Pferdeschwanz und Klemmbrett in der Hand.

Nachdem sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, die Polizistin hieß Elena Richter, kam Bastian gleich zur Sache: «Wie sieht’s aus?»

«Nach dem Bremsweg zu urteilen, hat sich die Fahrzeuglenkerin an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten.»

«Fahrerin?», fragte Bastian erstaunt zurück. «Ich dachte, es geht um einen Mann.»

«Davon sind wir auch zunächst ausgegangen.» Elena Richter wirkte verlegen. «Weil er unter Schock steht. Doch dann hat seine Frau die Verantwortung übernommen.»

Bastian blickte sich suchend um.

«Sie stehen hinter dem Notarztwagen», erklärte Richter. «Marion und Stefan Möllenbeck, vierundfünfzig und achtundfünfzig Jahre alt, wohnhaft in Telgte. Sie waren auf dem Rückweg von einem Theaterbesuch.»

«So spät?»

«Nach dem Theater waren sie noch in einem Lokal. Wir haben einen Alkoholtest durchgeführt», beantwortete die Polizistin unaufgefordert die sich logischerweise anschließende Frage. «Negativ. Frau Möllenbeck hatte null Komma null Promille.»

«Und er?» Udos Stimme klang ein bisschen heiser.

«Da Stefan Möllenbeck nicht gefahren ist, bestand keine Veranlassung, ihn blasen zu lassen.»

«Falls sie die Wahrheit sagen», knurrte Udo.

«Wir reden gleich mit den beiden.» Bastian legte eine Hand auf Udos Schulter. «Zuerst die Fakten, okay?»

«Fakten», echote Udo. «Fakt ist, dass die Frau tot ist. Oder nicht?»

Elena Richter hob den Kopf. Sie war klein, wahrscheinlich gerade groß genug für den Polizeidienst. Allerdings wirkte sie kein bisschen zierlich. Bestimmt hatte es noch jeder gewalttätige Straftäter bereut, sich mit der kompakten, durchtrainierten Frau angelegt zu haben. «Die Tote war eher ein Mädchen, würde ich sagen.»

«Mädchen?» Bastian hörte, wie Udo überrascht die Luft einsog. «Wie alt?»

«Achtzehn, neunzehn. Schwer zu schätzen.»

«Und keine Papiere?», vergewisserte sich Bastian.

Richter schüttelte den Kopf. «Sie trägt nur Hotpants und ein Top. Kein Ausweis, keine Schlüssel, kein Handy, nichts.»

Sehr ungewöhnlich. Bei jungen Menschen war das Smartphone doch quasi an der Hand festgewachsen. Oder zumindest nie weiter als eine Armlänge entfernt.

«Wie ist es passiert?», fragte Udo. Seine Atmung hatte sich normalisiert.

«Das Mädchen kam aus dem Wald. Etwa dort drüben. Frau Möllenbeck sagt aus, sie habe das Mädchen erst gesehen, als es schon auf der Straße war. Sie habe noch versucht, zu bremsen oder auszuweichen, aber …»

«Welche Spuren habt ihr gesichert?»

«Wir haben den Bremsweg gemessen, Fotos vom Auto und der Leiche gemacht. Ich habe mich auch im Wald umgesehen, da ist jedoch in der Dunkelheit nichts zu erkennen. Das müsste man sich bei Tag noch mal anschauen.»

Bastian nickte. «Schickt das ganze Zeug zur K-Wache, ich gebe es morgen früh ans KK 11 weiter.»

Bastian und Udo gingen um den Notarztwagen herum. Stefan Möllenbeck stand vornübergebeugt, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, vor ihm eine Lache Erbrochenes. Marion Möllenbeck zupfte ein Papiertaschentuch aus einer Packung und hielt es ihrem Mann hin.

«Guten Abend!», sagte Bastian. «Mein Name ist Matt. Mein Kollege Deilbach und ich hätten noch ein paar Fragen.»

«Wir haben doch schon alles gesagt.» Marion Möllenbeck wandte sich gerade so lange um, dass es für einen genervten Blick reichte, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Mann. «Putz dir den Mund ab!»

Möllenbeck störte sich nicht an dem rüden Krankenschwesterton, wischte sich wortlos über die Lippen und ließ das Taschentuch auf seinen Mageninhalt am Boden fallen.

«Tut mir leid», Bastian blieb freundlich, «aber wir sind von der Kripo.»

«Ach, und das berechtigt Sie, uns hier festzuhalten?»

«Wir halten Sie nicht fest. Wir möchten nur klären, wie es zu dem Unfall gekommen ist.»

«Die ist wie eine Verrückte auf die Straße gerannt. Die war garantiert bekifft oder was diese jungen Leute heute nehmen.»

«Wie kommen Sie darauf?»

Marion Möllenbeck produzierte ein Geräusch der Entrüstung. «Weil niemand bei klarem Verstand einfach so auf die Straße läuft.»

«Wurde das Mädchen vielleicht verfolgt? Haben Sie noch eine zweite Person gesehen?»

«Nein, sie war allein.»

«Und dann?»

«Was wollen Sie hören?», gab Marion Möllenbeck zurück. «Es ist schlimm, dass das Mädchen tot ist, vor allem für die Eltern. Aber für uns ist es auch schlimm, verstehen Sie?»

Udo baute sich vor Stefan Möllenbeck auf. «Und wie sehen Sie das?»

Möllenbeck starrte weiter auf die rotbraune Masse vor sich.

Udo schnüffelte. «Sie haben getrunken, stimmt’s?»

«Lassen Sie meinen Mann in Ruhe!», schaltete sich Marion Möllenbeck ein. «Er ist nicht gefahren.»

«Wissen Sie, was ich merkwürdig finde?» Udos Gesicht färbte sich gefährlich rot. «Sie sind gefahren, trotzdem geht Ihnen die Sache am Arsch vorbei. Und er», Udo zeigte auf den Mann, der jetzt Würgelaute von sich gab, «ist total fertig. Wie passt das zusammen?»

Marion Möllenbeck öffnete ihre Handtasche und nahm ein Handy heraus. «Ich sollte besser unseren Anwalt anrufen.»

«Sie sollten besser die scheiß Wahrheit sagen.»

«Udo!» Bastian nahm seinen Kollegen beiseite. «Tu mir einen Gefallen und schau dir die Leiche an! Achte darauf, ob die Kollegen etwas übersehen haben. Einer von uns beiden muss das machen.»

Udo glotzte ihn an. «Die Leiche?»

«Ja. Bitte!»

«Okay. Wenn du es sagst.»

Bastian blickte Udos stämmiger Gestalt hinterher, bis sie hinter dem Notarztwagen verschwunden war.

«Das wird ein Nachspiel haben, Herr Kommissar», sagte Frau Möllenbeck.

Bastian atmete geräuschvoll aus. «Tun Sie, was Sie für richtig halten. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Nehmen Sie sich morgen, nachdem Sie ein paar Stunden geschlafen haben, die Zeit, darüber nachzudenken, ob die Wahrheit nicht für alle Beteiligten das Beste ist.»

Marion Möllenbeck funkelte ihn an. «Können wir jetzt fahren?»

«Ja.» Bastian trat einen Schritt zurück. «Allerdings werden Sie Ihre Aussage noch unterschreiben müssen. Halten Sie sich in den nächsten Tagen zur Verfügung.»

«Das werden wir auch noch überstehen.» Marion Möllenbeck riss am Arm ihres Mannes. «Komm, Stefan, wir gehen.»

Zum ersten Mal hob Möllenbeck sein aschgraues Gesicht. Für einen kurzen Moment traf Bastian die pure Verzweiflung, die sich in den dunklen Augen spiegelte, dann zog die Frau den Taumelnden weg.

Bastian folgte dem Ehepaar, beobachtete, wie Marion Möllenbeck ihren Mann auf den Beifahrersitz verfrachtete, sich hinter das Lenkrad setzte, den Motor startete und wegfuhr.

«Sie ist cool», sagte Bastian zu Udo, der neben der Mädchenleiche am Boden hockte. «Sie hat weder den Sitz noch die Spiegel verstellt. So geistesgegenwärtig muss man in einer solchen Situation erst einmal sein.»

Udo stand auf. Sein Mund war ein schmaler, böser Strich. «Sie ist ein eiskaltes Biest. Du denkst also auch, dass er gefahren ist?»

«Klar. Aber wenn sie bei ihrer Version bleiben, werden sie damit durchkommen.» Bastian vermied es, die Leiche anzusehen, sein Blick wanderte zum Wald. «Wahrscheinlich wäre das Mädchen so oder so gestorben, unabhängig davon, wer am Steuer saß.»

«Möllenbeck hat getrunken», beharrte Udo. «Schau dir an, was die Nobelkarre von dem armen Ding übrig gelassen hat! Und dann sag mir, dass es egal ist, wer am Steuer saß.»

Sie musste sehr schön gewesen sein, so viel konnte Bastian erahnen. Groß, blond, mit einer fast weißen Haut, auf der hier und da noch ein paar blasse Sommersprossen zu erkennen waren. Doch das, was jetzt vor ihm lag, sah nicht mehr aus wie ein Mensch, eher wie eine Puppe, mit der ein sehr gemeines Riesenkind gespielt hatte. Ein mit Blut und Dreck beschmierter, seltsam verrenkter Körper, bei dem wohl kein einziger Knochen heil geblieben war. Was hat dich dazu gebracht, auf die Straße zu laufen?, dachte Bastian. Warst du nur übermütig, gedankenlos? Oder hast du vor etwas Angst gehabt?

* * *

Nachdem sie die Überstellung der Leiche zum Rechtsmedizinischen Institut veranlasst hatten, fuhren Bastian und Udo zum Präsidium zurück. Abgesehen von einem brennenden Auto, dem zweiundfünfzigsten in diesem Jahr, um das sich ein anderes Team der K-Wache kümmerte, blieb es ruhig. Bis zum Morgen ging keine Vermisstenmeldung ein. Vielleicht hatte das Mädchen allein gelebt. Oder Eltern, Freundin oder Freund sahen noch keinen Grund zur Besorgnis, viele junge Menschen blieben manchmal eine Nacht weg, ohne jemanden zu informieren.

Als es draußen hell wurde und die Fachkommissariate ihre Arbeit aufnahmen, packte Bastian das Material zusammen und stieg die Treppe zum KK 11 hinauf. Susanne Hagemeister hatte sich bereit erklärt, den Fall des Mädchens zu übernehmen. Seit ihrer letzten gemeinsamen Mordkommissionsarbeit war Bastian der Hauptkommissarin aus dem Weg gegangen. Damals hatte eine politisch motivierte Serie von Brandstiftungen und Morden mehrere Unternehmer und Wissenschaftler im Münsterland und auf Spitzbergen das Leben gekostet. Und Bastian hatte Yasi Ana kennengelernt, die Rechtsmedizinerin vom Volk der Mosuo, die für Susanne Hagemeister von Anfang an ein rotes Tuch dargestellt hatte.

Das Dienstliche war schnell erledigt. Doch Susanne hatte offenbar nicht vor, die Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen: «Und wie geht’s dir?»

«Na ja, mit meiner Mutter ist es nicht einfach, sie ist schon zweimal aus dem Altenheim getürmt.»

«Und sonst so?» Susanne schaute zum Fenster. «Bist du noch mit Yasi Ana zusammen?»

Susannes Eifersucht hatte nicht nur Yasi, sondern auch Bastian in erhebliche Schwierigkeiten gebracht. Und obwohl die Geschichte am Ende gut ausgegangen war, konnte Bastian ihr den Vertrauensbruch nicht einfach verzeihen. «So nah, wie man mit Yasi zusammen sein kann.» Er grinste. Inzwischen kannte das gesamte Präsidium die matriarchalisch geprägte Lebensweise der Mosuo einschließlich ihrer Abneigung gegen feste Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Wochenlang hatte sich Bastian hämische Kommentare anhören müssen.

Susanne grinste zurück. «Du hast es so gewollt.»

«Genau.» Bastian drehte den Spieß um. «Und wie steht’s bei dir?»

«Ich lebe jetzt allein. Meine Tochter ist zu ihrem Vater gezogen. Es ist komisch. Wir haben uns oft gestritten, aber auf einmal vermisse ich die Meckerei und die Unordnung in der Wohnung. Die Stille geht mir auf die Nerven. Und ich habe Angst, dass ich als schrullige Alte ende.»

«Quatsch.» Bastian lächelte aufmunternd. «Du findest schon jemanden. Eine erfolgreiche, gutaussehende Frau wie du.»

«Idiot.» Susanne lachte. «Die guten Männer sind alle verheiratet oder schwul. Weißt du, wie viele Frauen in meinem Alter leer ausgehen?»

«Ich bin weder verheiratet noch schwul.» Bastian drückte ihr zum Abschied den Arm. «Mach dir trotzdem keine Hoffnungen.»

«Scheißkerl!», rief Susanne ihm spöttisch hinterher. So ganz frei von der Illusion, dass sich zwischen ihnen doch noch etwas ergeben könnte, schien sie nicht zu sein.

3

Die graue Jahreszeit hatte begonnen. Die Zeit, in der die Welt unter einer dicken Wattedecke lag. Der niedrige Himmel drückte auf die Gemüter der Menschen, sie wurden verzagt oder übellaunig, je nach Charakter. Yasi Ana liebte den Frühling und Sommer in Münster, aber sie hasste den Herbst und Winter. In der warmen Periode verwandelte sich ganz Münster in einen Freizeitpark, da lagen die Studenten auf den Wiesen an der Promenade oder am Aasee. Abends roch es überall nach den Grillfeuern, um die kleine Grüppchen lagerten, oft mit Gitarren oder Bongos. Und an jeder Straßenecke gab es Biergärten, die bis auf den letzten Platz gefüllt waren. Umso erstaunter war Yasi am Anfang, dass die Münsteraner bei aller Feierlaune zurückhaltend und höflich blieben. Selten kam es zu Streitereien und Handgreiflichkeiten, man spuckte und schlürfte nicht beim Essen und Trinken, und im Gegensatz zu den chinesischen Männern in Peking rollten die Männer in Münster auch nicht ihre Hemden bis unter die Arme auf, um ihre fetten Bäuche in der Sonne zu braten.

Sosehr Yasi die warme Zeit in Münster mochte, sosehr vermisste sie ihre Heimat, sobald es kühl, feucht und dunkel wurde. Spätestens im November, wenn es so schien, als würde die Sonne gar nicht mehr aufgehen, wenn leichenblasse Menschen mit tropfenden Nasen nur noch unter künstlichem Licht vegetierten, sehnte sie sich zurück an den Lugu-See am Rande des Himalaja, wo ihr Volk lebte. Dort, in einer Höhe von zweitausendsechshundert Metern, herrschte das ganze Jahr über ein mildes Klima. Von November bis März wurde es zwar kühler, dafür regnete es jedoch kaum. Und der Himmel blieb hoch und weit, drückte nicht wie eine zu schwere Steppjacke auf die Schultern.

Yasi trank den letzten Schluck Kaffee aus und stellte die Tasse ins Spülbecken der kleinen Teeküche. Morgenstund hat Gold im Schnabel – wie die Deutschen sagten. Sie liebte die deutsche Sprache, besonders die Redensarten, auch wenn sich ihr deren Sinn nicht immer erschloss.

Jedenfalls rief die Arbeit. Auf der Schiefertafel im Foyer des Rechtsmedizinischen Instituts hatte ihr Name gestanden, zusammen mit dem von Henning. Das bedeutete, dass die Institutsleitung sie für die erste Obduktion des Tages eingeteilt hatte. Es ging um eine unbekannte junge Frau, so viel hatte Yasi der Aktennotiz der Staatsanwaltschaft entnehmen können. Sie war bei einem noch nicht vollständig geklärten Autounfall ums Leben gekommen.

Henning, eigentlich Dr. Henning Schäfer, wartete zusammen mit dem Sektionsassistenten Georg und einer Frau im Foyer. Yasi kannte die Frau. Eine intrigante Schlange, die Bastian ganz für sich haben wollte und ihr Gift in Yasis Richtung gespritzt hatte. Bei den Mosuo hatten die Frauen Besseres zu tun, als sich über Männer in die Haare zu geraten. Eifersucht hatte Yasi erst kennengelernt, nachdem sie aus ihrem Dorf am Lugu-See fortgezogen war. Zuerst in Peking, später in Deutschland. Seitdem wusste sie, wie viel Gemeinheit hinter einem Frauenlächeln stecken konnte.

Yasi begrüßte Henning und Georg und gab der Frau die Hand. «Frau Hauptkommissarin Hagemeister – lange nicht gesehen.»

Die Hauptkommissarin lächelte künstlich. «Ich hoffe, Sie haben den Trubel gut überstanden.»

«Wer einmal in die Grube fällt, kennt sich mit Schlangennestern aus», sagte Yasi.

Hagemeister guckte verständnislos.

«Ich habe mich aus dem Trubel so weit wie möglich herausgehalten», übersetzte Yasi. Tatsächlich hatte sich nach ihrer vorübergehenden Festnahme und dem Bekanntwerden der Hintergründe der Mordserie die komplette Medienmeute auf ihre Geschichte gestürzt. Eine Mosuo, die in Deutschland als Rechtsmedizinerin arbeitete, eine Angehörige jenes Volkes, das von einer münsterländischen Pharma-Firma bestohlen worden war, eine Kämpferin gegen Biopiraterie, die aus einer von Frauen regierten Welt kam – so viele Reizthemen auf einmal führten nicht nur bei den Boulevardblättern zur Schnappatmung, auch seriöse Zeitungen und Fernsehsender standen Schlange, um ein Interview oder eine Home-Story zu erbetteln. Doch Yasi lehnte jedes Interview ab, sie ließ keinen Fotoreporter in ihre Wohnung, und sie setzte sich auch nicht in eine Fernseh-Talkrunde. Und nach ein paar Wochen ebbte die Aufregung ab, hatte Yasi wieder ihre Ruhe. Auch wenn es ihr jetzt häufiger passierte, dass sie von Menschen auf der Straße, die ihr Foto in der Zeitung gesehen hatten, gegrüßt wurde. Aber damit konnte Yasi leben.

«Sollen wir?» Henning machte eine einladende Handbewegung.

Die Gruppe setzte sich in Bewegung, Henning und Yasi gingen voraus, Georg und die Hauptkommissarin folgten ihnen. Durch einen unterirdischen Gang gelangten sie zu einem Nebengebäude. Dort befand sich der Sektionssaal, und auf einem der beiden Metalltische lag bereits ein grauer Plastiksack, unter dem sich ein menschlicher Kopf abzeichnete.

Hagemeister schnüffelte angewidert. Obwohl die Lüftung auf Hochdruck arbeitete, hing ein Geruch nach Buttersäure im Raum.

«Das kommt nicht von ihr», erklärte Henning, während er den Reißverschluss des Plastiksacks aufzog. «Wir hatten hier gestern eine faule Leiche. Lag zehn Tage unbemerkt in der Wohnung.»

Yasi hatte eine Menge Leichen gesehen, es machte ihr nichts aus, Körper aufzuschneiden, sogar an penetranten Verwesungsgestank hatte sie sich im Laufe der Zeit gewöhnt. Doch trotz aller Routine gab es Unterschiede. Jeder Tod war auf eine gewisse Art tragisch, das brutale Aus-dem-Leben-gerissen-Werden derer, die einem Verbrechen zum Opfer gefallen waren, ebenso wie das von der Welt unbeachtete Dahinscheiden jener, die einsam in ihrer Wohnung verstarben. Allerdings fühlte es sich um einiges sinnloser an, wenn ein so junger Mensch wie dieser hier vom Schicksal betrogen wurde. Alte Menschen hatten immerhin ein Leben gehabt, die junge Frau auf dem Tisch, die vermutlich noch keine zwanzig Jahre alt gewesen war, würde so vieles nie erfahren. Und irgendwo warteten jetzt Eltern, Geschwister und Freunde vergeblich auf ihre Rückkehr. Ihnen stand der bittere Moment noch bevor.

Yasi, die ebenso wie Henning und Sektionsassistent Georg Mundschutz angelegt und Latexhandschuhe übergestreift hatte, öffnete mit einer Textilschere die Kleidung der Toten. Viel hatte die Frau nicht am Leib getragen, nur Hotpants aus Jeansstoff und ein pinkfarbenes Top. Kein Schmuck, keine Tattoos, keine persönlichen Gegenstände. Und noch etwas anderes fehlte.

«Sie trägt keinen Slip», stellte Yasi fest. «Seltsam, oder?»

Henning nickte. «Insgesamt macht sie einen gepflegten Eindruck. Kein Mädchen, das auf der Straße gelebt hat, wenn du mich fragst.»

Yasi stopfte Hose und Oberteil in getrennte Papiersäcke. Vielleicht würde die Kleidung später noch auf DNA-Spuren untersucht werden.

Das Procedere einer Obduktion war genau festgelegt. Zunächst maßen die Rechtsmediziner das Gewicht des Mädchens, neunundfünfzig Komma drei Kilo, dann bestimmten sie ihre Größe: einen Meter vierundsiebzig. «Ernährungszustand normal», diktierte Henning in das Mikro, das von der Decke hing. «Keine Anzeichen für Unterernährung oder Magersucht. Hauttyp …», er schaute kurz zu Yasi, «… sehr hell mit Sommersprossen. Rötliche Haare, blaue Augen.»

Eine Schönheit, dachte Yasi, zumindest nach deutschen Vorstellungen. Auf dem Schulhof oder an der Uni waren garantiert viele männliche Wesen stehen geblieben und hatten ihr hinterhergegafft.

Henning diktierte weiter, beschrieb den Zustand der Zähne, die Art der Totenflecke und die Ausprägung der Leichenstarre. Routine, zigmal erprobt. Vor der eigentlichen Sektion, der Leichenöffnung, erfolgte eine genaue Beschreibung des äußerlichen Zustands. Und der jungen Frau war vor ihrem Tod eine Menge zugestoßen. Neben einer schweren Schädelverletzung, wohl vom Aufprall auf der Straße, gab es große Hämatome an jenen Stellen der Ober- und Unterschenkel, die mit der Vorderseite des Autos in Berührung gekommen waren. Das Auto hatte die Frau frontal getroffen und sie vermutlich in hohem Bogen durch die Luft geschleudert. Durch bloßes Tasten konnte Yasi feststellen, dass fast sämtliche Rippen gebrochen waren. Wahrscheinlich hatten sich abgesplitterte Knochenteile in Herz und Lunge gebohrt. Entweder das oder die Kopfverletzung, womöglich beides zusammen, hatte fast unmittelbar zum Tod geführt. Die Todesursache stellte also kein Rätsel dar, obwohl die Öffnung der Schädel- und der Brusthöhle noch Gewissheit bringen musste. Dafür erregten andere, unscheinbarere Verletzungen Yasis Interesse: drei fast parallele Schnitte auf dem Brustkorb der Toten, die so akkurat verliefen, dass sie unmöglich eine Folge des Unfalls sein konnten. Yasi deutete auf die Schnitte. «Verletzungen durch einen scharfen Gegenstand, wahrscheinlich ein Messer.» Sie hob den rechten Unterarm der Leiche an. «Siehst du das?»

Henning schaute sich das Handgelenk aus der Nähe an. «Fesselspuren.»

Ein dünner bläulicher Streifen zog sich rund um das Handgelenk. Yasi griff nach dem linken Arm. «Hier auch. Die Frau ist kurz vor ihrem Tod gefesselt worden.»

Susanne Hagemeister trat näher an den Tisch. «Sind Sie sicher?»

«Es muss weh getan haben. Manche Mädchen probieren so etwas an sich selbst aus. Aber für wahrscheinlicher halte ich Fremdeinwirkung.» Yasi drückte die Beine der toten jungen Frau auseinander. «Das passt. Die kleineren Hämatome hier auf den Innenseiten der Oberschenkel stammen jedenfalls nicht vom Zusammenprall mit dem Auto.»

«Sondern?», fragte Hagemeister.

«Jemand hat die Oberschenkel mit Gewalt auseinandergedrückt. Vermutlich hat er auf ihr gekniet.»

«Das bedeutet …»

«Ja.» Yasi beugte sich über die rasierte Scham. «Minderschwere Läsionen im Vaginalbereich.» Sie schaute die Hauptkommissarin an. «Das bedeutet mit ziemlicher Sicherheit, dass sie vergewaltigt wurde.»

«Verdammt», stöhnte Hagemeister. «Das ändert einiges. Wenn Sie recht haben, könnte sie vor ihrem Vergewaltiger geflohen sein.»

«Ich phantasiere mal», sagte Yasi. «Sie ist nackt und gefesselt. Der Vergewaltiger wird durch etwas abgelenkt oder lässt sie kurz allein. Es gelingt ihr, sich von den Fesseln zu befreien. Sie schnappt sich Hose und Top. Für mehr reicht die Zeit nicht, deshalb trägt sie keinen Slip.»

«Und dann läuft sie in Panik auf die Schnellstraße und vor das Auto», ergänzte die Hauptkommissarin. «Das ergibt einen Sinn.»

«Nur schade, dass Ihre Leute das nicht früher erkannt haben», sagte Yasi vorwurfsvoll. «Sie lag lange genug auf der Straße. Man hätte nur mal genauer hinschauen müssen.»

«Sie haben es doch auch nicht sofort bemerkt», konterte Hagemeister.

«Weil wir nach einem festgelegten Protokoll vorgehen. Polizisten sind dazu da, schnell zu handeln, wenn die Umstände es erfordern. Überlegen Sie mal, Frau Hagemeister: Der Täter war vielleicht noch in der Nähe. Mit etwas Glück hätte man ihn festnehmen können.»

Hagemeister verdrehte genervt die Augen. «Machen Sie es sich nicht ein bisschen einfach, Frau Dr. Ana? Sie haben hier optimale Bedingungen und alle Zeit der Welt. Meine Kollegen mussten ihre Entscheidungen in der Nacht treffen, auf einer vielbefahrenen Straße. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen.»

«Eine Krähe reißt der anderen keine Feder aus, nicht wahr?»

«Was?»

«Auge», sagte Henning. «Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.»

«Reißen oder hacken, was spielt das für eine Rolle?», beharrte Yasi. «Ihre Kollegen haben es verbeutelt.»

«Soll ich Ihnen sagen, wer heute Nacht Dienst hatte?» Hagemeister lächelte böse. «Na?»

Yasi spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Die Hauptkommissarin musste den Namen nicht mehr nennen. Ihr triumphierender Blick sagte alles.

4

Bastian stand vor Yasis Tür und klingelte. Er wusste, da war gerade ein Kerl bei ihr. Er wollte ihn herausholen und verprügeln. Ohne lange zu reden. Einfach zuschlagen. Wenn sie nur endlich die Tür aufmachen würde. Er drückte erneut auf den Knopf. Komisch, es klang wie bei ihm zu Hause. Yasi hatte doch eine andere Melodie, so etwas Jazziges. Da, schon wieder. Und er hatte nicht mal seine Hand bewegt …

Bastian schlug die Augen auf. Tatsächlich, jemand klingelte Sturm. Verdammter Mist. Er wälzte sich zur Seite, auf dem Radiowecker leuchtete vorne eine Dreizehn. Um zehn war er ins Bett gegangen. Er wollte schlafen, verflucht. Wieso kapierte das der Idiot da unten vor der Haustür nicht?

«Ja doch!», brüllte Bastian, wohl wissend, dass ihn der Unbekannte drei Etagen tiefer nicht hören konnte. Sein Zwei-Zimmer-Apartment nahm die linke Hälfte des Dachgeschosses ein, unter ihm logierten noch vier andere Mietparteien in dem schmalen Haus im münsterschen Geistviertel.

Bastian schleppte sich in den winzigen Flur und betätigte den Türöffner. Falls der nervige Klingler keinen wichtigen Grund für den Lärmterror vorbringen konnte, würde er unhöflich laut werden – so viel stand fest.

Eine Frau stieg die Treppe herauf. Den Hosenanzug hatte Bastian heute schon gesehen. Susanne. Sie musste doch wissen, dass er nach dem Nachtdienst ins Bett gehen würde. Er hatte am Morgen nur freundlich sein wollen, das war doch keine Einladung zu einem Besuch gewesen.

Bastian wurde bewusst, dass er nur ein T-Shirt und Boxershorts trug. Er rannte ins Schlafzimmer und stieg in die Jeans, die noch vor dem Bett lag. Als er den Reißverschluss hochzog, stand Susanne in der Tür: «Habe ich dich geweckt?»

«Wie kommst du bloß darauf?», fragte er sarkastisch zurück und schob Susanne aus seinem Schlafzimmer. «Schlaf wird völlig überschätzt. Ich mache mir einen Kaffee. Willst du auch einen?»

«Kaffee wäre super.»

In der Küche hatte der Architekt neben der Kochzeile gerade noch genug Platz für einen Tisch und zwei Stühle gelassen. Bastian kippte reichlich Kaffeepulver in den Filter und befüllte die Maschine mit Wasser. Währenddessen begutachtete Susanne die Einrichtung. «Echter Junggesellencharme. Soll ich dir mal eine Pflanze schenken? Du glaubst gar nicht, wie das wirkt.»

«Ich bin für jeden Tipp dankbar», kommentierte Bastian ironisch. «Aber sag mir jetzt nicht, dass ich deshalb meinen Schönheitsschlaf abbrechen musste.»

Susanne legte die Hände auf den Tisch. «Das tote Mädchen letzte Nacht ist gefesselt, mit einem Messer verletzt und vergewaltigt worden.»

In Bastians Ohren dröhnte das Blubbern der Kaffeemaschine. «Scheiße.»

«He, das hätte jedem passieren können.» Susanne klang so verdammt gönnerhaft. «Bei der ganzen Hektik übersieht man leicht mal was.»

Bastian spürte, wie die Scham in ihm hochstieg. «Was heißt das?»

«Die Schnitte und Fesselspuren sind mit bloßem Auge zu erkennen. Deine Freundin in der Rechtsmedizin hat mir das gleich unter die Nase gerieben.»

Er schloss die Augen. Wie konnte ihm so ein gewaltiger Aussetzer unterlaufen? «Scheiße. Scheiße. Scheiße.»

«Es war Udo, stimmt’s?» Susanne gab sich einfühlsam. Warum merkte sie nicht, dass sie mit jedem Wort mehr Salz in die Wunde rieb? «Garantiert hat sich Udo das Mädchen angeguckt.»

Bastian ging zum Küchenschrank, um Zeit zu gewinnen. Er nahm zwei Kaffeebecher heraus und stellte sie auf den Tisch. «Wir beide zusammen.»

«Komm schon, Basti. Ich bin sicher, dir wäre das nicht entgangen.»

«So läuft das nicht.» Er goss Kaffee ein. «Wir haben das gemeinsam vermasselt. Ich haue Udo nicht in die Pfanne.»

«Wie du meinst.» Susanne lehnte sich zurück. «Wir haben Reifenspuren entdeckt. Bei einem Maisfeld in der Nähe der Unfallstelle. Jemand hat da letzte Nacht geparkt. Ein größeres Fahrzeug, ein Lieferwagen oder so.»

«Du denkst, der Täter hat sie in dem Wagen …»

«Wäre möglich.» Susanne lächelte aufmunternd. «Basti, der Typ war bestimmt längst weg, als ihr da aufgekreuzt seid. Mach dir keinen Kopf.»

Toller Ratschlag. Sie hätten vielleicht die Chance gehabt, den Täter festzunehmen. Wenn sie sich nicht wie die letzten Trottel aufgeführt hätten. Bastian trank einen Schluck Kaffee und verbrannte sich die Zunge. «Der Fehler geht auf meine Kappe. Ich übernehme die Verantwortung.»

Susanne grinste. «Das kannst du.»

«Wie meinst du das?»

«Zieh dir was an. Ich erzähle es dir unterwegs.»

* * *

Sie fuhren auf der Warendorfer Straße stadtauswärts. Bastian wusste nicht so recht, ob er sich ärgern oder freuen sollte. Statt für seinen Blackout in der letzten Nacht getadelt zu werden, war er jetzt Mitglied der Ermittlungskommission. Susanne hatte das im Laufe des Vormittags eingefädelt. Bastian kam damit seinem Ziel, dauerhaft ins KK 11, dem auf Mord und Totschlag spezialisierten Kommissariat, versetzt zu werden, ein Stück näher. Allerdings ohne eigenen Verdienst. Er war sicher, dass Susanne das Versagen der beiden verantwortlichen Kripobeamten vor Ort – Udos und sein Name standen nun mal in den Akten – offiziell heruntergespielt hatte. Doch dafür würde sie ihm irgendwann die Rechnung präsentieren. Andererseits – was hätte er tun sollen? Susannes Angebot ablehnen und sie verprellen? Nein, er steckte in einem Dilemma. Aber am meisten ärgerte er sich darüber, dass er Udo blind vertraut hatte. Dabei kannte er die Neigung seines Kollegen, unangenehmen Aufgaben aus dem Weg zu gehen. Warum hatte er sich nicht zwei Minuten Zeit genommen, die Leiche so zu untersuchen, wie er es auf der Polizeihochschule gelernt hatte? Dann wäre er jetzt nicht der Idiot, der von Susannes Gunst abhing.

Kurz vor der Umgehungsstraße bogen sie nach rechts in einen geschotterten Waldweg ein. Eine große Holztafel machte Werbung für ein Ausflugslokal.

«Das ist die falsche Seite», sagte Bastian. «Hier kann der Täter nicht geparkt haben.»

«Wie kommst du darauf?»

«Weil das Mädchen von der anderen Seite auf die Straße gelaufen ist, aus dem Wald, der an St. Mauritz grenzt.»

«Sagt wer?»

«Die Polizistin, die den Unfall aufgenommen hat. Und die hat es von …» Bastian stockte. «Scheiße.»

Der Wagen schaukelte. Susanne wich einem größeren Schlagloch aus und warf ihm einen irritierten Blick zu. «Was ist los, Basti?»

«Diese Frau Möllenbeck hat uns verarscht. Ich habe dir doch erzählt, was Udo und ich glauben: In Wirklichkeit ist ihr Mann gefahren, und sie schützt ihn, weil er getrunken hatte.»

«Und das bedeutet?» Susanne schien immer noch nicht kapiert zu haben, worauf er hinauswollte.

«Sie hat das Mädchen gar nicht gesehen oder erst viel zu spät. Und einfach behauptet, es sei aus dem Wald gekommen. Er wusste es vermutlich besser, hat aber keinen Pieps gesagt.»

«Wir werden uns das Ehepaar noch mal vornehmen», versprach Susanne. «Vorerst hoffen wir darauf, dass uns die Spuren weiterbringen. Und endlich jemand das Mädchen vermisst.»

Der weiße Sprinter der KTU, der Kriminaltechnischen Untersuchung, stand auf einem Stück Wiese vor dem Maisfeld, das durch einen schmalen Baumstreifen vom Schotterweg getrennt war. Zwei Spurensicherer in weißen Overalls gossen gerade einen Reifenabdruck aus, zwei andere streiften im Zeitlupentempo durch das Gelände, darauf bedacht, nicht den kleinsten Gegenstand zu übersehen.

Susanne parkte hinter dem Sprinter. Bastian stieg aus und schaute sich um. Der Täter hatte den Ort mit Bedacht gewählt: Die übermannshohen Maispflanzen auf der einen und die Bäume auf der anderen Seite schützten vor neugierigen Blicken, von keinem der Häuser in der Umgebung konnte man den Wiesenstreifen einsehen, der sich um das Feld herum bis zur Schnellstraße zog. Gleichzeitig verschluckte der Lärm der vorbeirasenden Autos alle Geräusche. Hilferufe, zum Beispiel.

«Komm mit», sagte Susanne. «Ich will dir die anderen Mitglieder der EK vorstellen.»

Vor dem rotweißen Absperrband der Spurensicherung warteten bereits ein etwa vierzigjähriger Mann und eine junge Frau in Zivilkleidung. Den Mann hatte Bastian schon öfter im Präsidium gesehen, der Frau war er noch nie begegnet. Sie wirkte ein wenig unsicher, als sei das alles neu für sie.

«Volker Sengling vom KK 11 kennst du wahrscheinlich. Erst seit ein paar Tagen bei uns ist Anja Strubel. Sie kommt frisch von der Hochschule.» Susanne deutete auf Bastian. «Und den Mann hier habe ich gerade aus dem Bett geholt: Bastian Matt, von der K-Wache abgeordnet.»

Sengling nickte nur kurz, Anja Strubel reichte ihm eine erstaunlich schmale, kalte Hand: «Freut mich, Sie kennenzulernen.»

«Bastian. Wir duzen uns, okay?»

Die Neue schüttelte ihre dicken, blondbraunen Locken und wurde rot. «Klar. Gerne.»

Du wirst alt, dachte Bastian. Es ist schon so weit, dass du Hochschulabsolventen einschüchterst.

«Dann haben wir das ja geklärt», kommentierte Susanne spröde. «Wie sieht denn die Spurenlage aus?»

«Mies», sagte Sengling. «Bis auf einige verwischte Schuhabdrücke ist noch nichts herumgekommen.»

Über einen Pfad, den die Spurensicherer gekennzeichnet hatten, näherte sich einer der Weißgekleideten den Beamten der Ermittlungskommission. Mit Jochen Millitzke, dem KTU-Hauptkommissar, hatte Bastian schon bei seiner letzten Mordkommission zusammengearbeitet.

«Das Wetter ist schuld», dröhnte Millitzke aus einiger Entfernung. «Ein kleiner Regenguss in der Nacht, und wir hätten blitzsaubere Abdrücke bekommen. Da heißt es immer, in Münster regnet es ständig. Aber wenn man mal ein bisschen Pampe braucht, ist der Boden furztrocken.» Der Spurensicherer baute sich hinter dem Absperrband auf. «Macht euch keine großen Hoffnungen, dass sich der Scheißkerl aufgrund seiner Schuhe überführen lässt.»

Millitzke war ein landesweit anerkannter Experte für Schuhspuren, er kannte die Profile von Hunderten von Sportschuhen und konnte auf Anhieb die Marke und das Herstellungsjahr bestimmen.

«Was hast du anzubieten?», fragte Susanne.

«Zwei verschiedene Abdrücke. Einmal handelt es sich um einen Damenschuh, also möglicherweise vom Opfer. Da läuft gerade der Abgleich. Und dann haben wir noch etwas, das nach Herrenschuh aussieht, sprich: vom Täter stammen könnte. Viel zu unscharf, um damit vor Gericht zu punkten. Nagelt mich nicht fest, der Typ hat vermutlich Schuhgröße dreiundvierzig oder vierundvierzig – wie achtzig Prozent aller Männer.» Millitzke drehte sich um und betrachtete das abgezäunte Territorium wie ein Feldherr sein Schlachtfeld. «Wir sind noch nicht ganz durch und biegen jeden Grashalm zweimal um. Würde mich allerdings verdammt wundern, wenn wir was Brauchbares finden.»

«Und das Auto?», fragte Bastian.

«Das Auto?» Millitzke kratzte sich an der Stelle, wo sich unter der Gummikapuze sein Nacken befinden musste. «Ist ein Lieferwagen oder Wohnmobil. Schätze, wir können anhand der Reifen und der Achsenbreite das Modell eingrenzen. Wäre hilfreich, wenn ein Augenzeuge die blöde Karre gesehen hätte. Reicht das?»

«Danke, Jochen», sagte Susanne. Der Mann im weißen Overall schlurfte zu seinen Leuten zurück. «Ihr habt’s gehört.» Das galt Bastian und den beiden anderen. «Türklingeln ist angesagt. Volker und Anja, ihr klappert die Häuser entlang der Straße ab. Bastian und ich gehen zu dem Gartencafé hinter dem Waldstück.»

«Denkst du, das Arschloch hat anschließend noch ein Bier getrunken?», fragte Sengling mit schiefem Grinsen.

Susanne sparte sich die Antwort, zumal sich ihr Handy mit einer krächzigen Stimme bemerkbar machte. Anscheinend war sie neuerdings Casper-Fan.

«Jeder, der gestern Abend im Lokal war, könnte hier vorbeigekommen sein», bemerkte Anja ernst.