Landeier - Andreas Wagner - E-Book

Landeier E-Book

Andreas Wagner

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Beschreibung

Als sein Meister ihm Prügel androht, haut der Bäckerlehrling Frank einfach ab. Er klaut einen alten Fendt und fährt ziel- und planlos über Land. Auf seinem Traktor-Trip lernt er das Spargelmädchen Olga aus der Ukraine, echte Neonazis und falsche Polizisten, eine abgedrehte Landkommune und den allein auf seinem Hof lebenden Rolf, verwahrlost und zahlungsunfähig, kennen.Verfolgt von seinem Chef und Heinrich, dem Russen, zeigen uns die drei ein unbekanntes Bild der Provinz fernab von jeder Landlust.

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Andreas Wagner

Landeier

Fränkys Traktor-Trip duch die Provinz

Für Nina, Phillip, Hanna, Fabian und Justus.

© Leinpfad Verlag

Herbst 2013

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Angelika Schulz-Parthu, Kristin Heehler

Umschlag: kosa-design, Ingelheim

Layout: Leinpfad Verlag, Ingelheim

Druck: wolf print, Ingelheim

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Nachschlag

1.

„Der Junge bringts nicht! Das ist eine Pfeife!“

Sie wusste, dass er jetzt in ihre Richtung sah, um einen bestätigenden Blick, ein Nicken vielleicht sogar, für seine Worte zu bekommen. Sie war müde und verspürte wirklich keinerlei Lust auf eine solche Unterhaltung. Im Grunde wollte sie gar nicht reden. Einfach nur Ruhe. Die letzten Handgriffe des viel zu langen Tages für sich zu Ende bringen, ohne auf seine Worte eingehen zu müssen. Nur ein Nicken und stilles Zuhören akzeptierte er nämlich nicht. Vielleicht ein paar Sätze lang, dann brauchte er Rückmeldung. Ein, zwei sinnvolle Wortreihen, die auch noch irgendwie zu dem passen mussten, was er davor gesagt hatte. Auf jeden Fall Zustimmung, aber nicht zu platt vorgetragen. Du hast ja recht, wie immer! Von der Grundaussage sicher richtig, aber in die falschen Worte gekleidet. Die Folgen kannte sie nach gut dreißig Jahren Ehe mit ihrem Bäckermeister nur zu gut. Je nach Laune, besaß eine solche unbedachte Vorlage das Zeug zum Abendfüller. Anklagend zuerst, vorwurfsvoll, um dann nach einer knappen Dreiviertelstunde ins Wehleidige und Weinerliche abzugleiten. Es bleibt doch alles an mir hängen. Die ganze Verantwortung für den Betrieb, das Personal. In so schweren Zeiten. Spätestens dann musste sie ihn an sich drücken. Schwer atmend, wie ein schniefendes Kleinkind. Und darauf hatte sie schon lange und insbesondere heute wirklich gar keine Lust.

Sie tränkte den Wattebausch mit Make-up-Entferner und rieb damit über die geschlossenen Augenlider. Dann verteilte sie die Reinigungsmilch über ihr fleischiges Gesicht. Die Zeit für diese Bewegungen ließ er ihr mittlerweile, weil er wusste, dass sie ihm nie antwortete, während sie sich die Farbe abnahm. Vor Jahren hatte sie ihn in solchen Momenten stets böse angezischt, wenn er nicht schwieg. Diese wenigen Sekunden gehörten alleine ihr. Sie waren ohnehin nur schwer zu ertragen, da brauchte sie nicht noch sein aufmerksamkeitsforderndes Gerede. Bahn für Bahn nahm sie die Farbe von sich. Legte Furche für Furche unerbittlich frei. Wie lange würde es noch dauern, bis sie sich so nicht mehr sehen konnte? Sie schloss jetzt beide Augen und rieb mit einem frischen Wattebausch über ihr Gesicht. Im Dunkeln würde es genauso gut gehen. Mit einem kurzen Augenaufschlag kontrollierte sie das Ergebnis ihres Blindfluges über das eigene Gesicht. Sie nickte sich einmal im Spiegel zu. Das war die Bestätigung, die sie brauchte. Von ihm bekam sie ja ohnehin keine. Wenn sie weiter so schnell alterte wie in den letzten zwei Jahren, dann war spätestens im kommenden Frühjahr der Zeitpunkt da, ab dem sie jeden Spiegel im ungeschminkten Zustand meiden würde. Sie ertappte ihre Fingerspitzen dabei, wie sie knapp oberhalb der Ohren ansetzten, um die Haut zu spannen. Der Zustand von vor vier oder fünf Jahren war so wiederhergestellt. Etwas straffere Wangen. Und die tiefen Furchen um den Mund waren weg. Blieben nur noch die Fältchen an den Augen. Sicher war auch das kein größeres Problem. Was das wohl kosten würde? Nicht, dass sie in diesem Moment ernsthaft erwog, sich operieren zu lassen. Unmöglich wäre es alleine schon für ein paar Wochen zu verschwinden, ohne dass sich das ganze Dorf das Maul über sie zerreißen würde. Na, die hat‘s ja nötig! Hat die tägliche Spachtelmasse nicht mehr ausgereicht? Sie könnte doch über ein paar Wochen in den Gesprächen alles gut vorbereiten. Wozu hatte man denn das halbe Dorf vor der Theke? Einen Nutzen musste das ja haben. Der notwendige Kuraufenthalt nach einem dringenden Eingriff. Unangenehme Frauensache. Neugierige Nachfragen verboten sich damit. Die Erholung in der Kur würde das Verschwinden der Falten plausibel erklären. Ein Jungbrunnen die drei Wochen, ohne das alles hier um sie herum. Der Laden, die Backstube, der Geruch nach altem Mehl und ihr Bäckermeister.

Sie warf einen schnellen Blick in seine Richtung. Er war ungewöhnlich lange ruhig geblieben und sie suchte die Erklärung dafür. Kurz nur huschte ein schwaches Grinsen über ihr Gesicht, das sie selbst entschlossen unterband. Es ließ sie ungeschminkt noch faltiger erscheinen.

Schnaufend saß er auf dem alten Hocker. Sein massiger Körper, der im selben Tempo zunahm, wie sie faltiger wurde, ruhte auf dem viel zu kleinen Metallgestell. Ein Teil ihres Mannes hing auf allen Seiten der zu kleinen Sitzfläche herunter. Lange würde der wacklige Hocker dieser stetig wachsenden Belastung nicht mehr standhalten können, zumal bei seinen ungelenken Versuchen an seine Socken zu kommen, die ruckartig wechselnde Gewichtsverteilung auf die vier Beine aus lackiertem Eisenrohr recht ungünstig anmutete. Irgendwann brach das Ding unter ihm sicher zusammen. Sie war zwar auch nicht so schlank geblieben wie mit zwanzig, aber zum Glück nicht so maßlos aufgegangen wie einer seiner Hefezöpfe. Mittlerweile konnte sie sich gut hinter ihm verstecken. Hinter jedem erfolgreichen Mann eine fleißige Frau, gut versteckt. Fleißig war sie wirklich. Sie nickte sich noch einmal zu. Sein Schnaufen kündete vom Erfolg seiner unbeholfenen Bemühungen. Die Socken mussten jetzt gebändigt sein. Und das bedeutete, dass es mit der Ruhe zu Ende war. Sie zwang sich, nicht wieder zu grinsen. Es wäre mit einem ordentlichen Hauch Mitleid gewürzt gewesen. Wenn er sich auf eine so schwerwiegende Aufgabe, wie das schnaufende Ausziehen seiner Socken konzentrierte, war sein gesamter Körper gefordert. Schweißperlen auf der Stirn. Er vergaß sogar dabei, zu reden. Alles andere musste ruhen. Immer eine Sache, die dafür richtig und ordentlich und bis zu Ende gebracht. So predigte er es auch den Lehrlingen mit erhobenem Zeigefinger. Wenn sich mal noch einer zu ihnen verirrte, weil er sonst keinen Platz bekommen hatte. Früher war das anders gewesen. Lange her. Sie schüttelte den Kopf und sah sich selbst vorwurfsvoll im Spiegel an.

Jetzt hatte er es mal wieder geschafft! Sie sträubte sich und doch zwang er sie ständig, sich mit dem zu beschäftigen, was er ihr vorbetete. Wieder der Junge, der nichts taugte. Zu langsam, schwer von Begriff, unfähig für die Arbeit in der Backstube. Nicht in der Lage etwas selbst zu machen. Und immer mit demselben Ende. Wir müssen froh sein, dass wir überhaupt noch jemanden haben. Einen Gesellen können wir uns ja doch nicht mehr leisten, reicht so kaum aus und übrig bleibt fast nichts mehr. Vorbei die goldenen Zeiten des Handwerks, wo es heute alles billig im Supermarkt gibt. Massenware im SB-Backshop.

Sein Schnaufen, mit dem er sich in die Höhe hievte, unterbrach ihre Gedanken. Den weiteren Verlauf der nächsten guten halben Stunde wäre sie mühelos in der Lage haarklein vorauszusagen. Sie griff daher schnell nach einem weiteren Wattebausch. Vielleicht ließ sich damit die Stille noch ein paar wenige Augenblicke verlängern und das Unvermeidbare hinauszögern. Da er spätestens um Punkt neun das Licht aus haben wollte, um innerhalb kürzester Zeit einzuschlafen, half die Verzögerungstaktik vielleicht seinen Redebedarf zu begrenzen. Um drei ist die Nacht vorbei! Der erlösende Satz, mit dem er sich jeden Abend in geräuschvolle Träume verabschiedete.

„Der taugt nichts! Lange sehe ich mir das nicht mehr an!“

„Ich finde, dass er sich ganz gut gemacht hat in dem knappen Jahr.“

„Sieben Monate!“

„Ja und? Dann halt sieben Monate.“ Sie seufzte gut hörbar genervt und beförderte den Wattebausch in den Mülleimer. Jede normale Unterhaltung wäre jetzt zu Ende. Fertig, aus, alles gesagt. Aber solange noch ein Restchen übrig war, ein Hauch, der keine Zustimmung signalisierte, gab er keine Ruhe. Ja und Amen. Jetzt schon? Das brachte ihn auf die Palme, auf hundertachtzig. Sie unterdrückte das wieder aufkommende Grinsen. Er konnte den Spruch nicht ausstehen. Ging augenblicklich hoch wie eine Rakete. Ja und Amen. Ihr Schleudersitz in Notsituationen, wenn es gar nicht mehr auszuhalten war. Aber nicht um kurz vor neun, die Erlösung in Reichweite, wenn er erst einmal schnaufend neben ihr im Bett lag.

„Nach sieben Monaten muss man mehr können. Schneller sein und trotzdem ordentlich. Er kann nichts davon. Gar nichts. Langsam wie am ersten Tag ist er beim Portionieren und Abwiegen. Während er mit den Blechen im Wagen hin- und herschleicht kannst du ihm die Schuhe besohlen. Beim Laufen!“ Er hielt kurz inne, um Luft zu holen oder die Fortsetzung zu finden. Was wollte ich denn noch sagen? Allein der Gedanke an den bringt mich schon ganz durcheinander. „Und dann stimmt es bei jedem Dritten doch nicht. Die Körnerbrötchen waren heute alle unterschiedlich. Zu groß, zu klein, nicht anzusehen. Nach sieben Monaten. Und wie oft habe ich ihm die Handgriffe gezeigt?“

Seine Stimme wurde lauter. Sie drehte ihren Kopf ganz leicht nach rechts und bekam ihn im Spiegel in den Blick. Die Adern an seinem Hals waren angeschwollen und traten deutlich hervor. Das Blut pulsierte gut sichtbar in ihnen. Die Schweißperlen auf seiner Stirn hielten sich, auch seine Oberlippe war jetzt nass. Seine körperliche Anstrengung ließ wärmende Genugtuung in ihr aufsteigen.

„Ich habe es so satt, dass wir seit Jahren nur den Ausschuss bekommen.“

Jetzt schien er sich wieder gefangen zu haben. Obwohl ihm der Schweiß die rosigen Backen herunterlief.

„So geht das nicht weiter. Die Schlechtesten bleiben bei uns hängen. Das Handwerk zählt doch kaum noch etwas. Alle wollen sie in dunklen Anzügen arbeiten, sich bloß nicht die Finger schmutzig machen. Und wer soll das Brot backen?“

Fragend starrte er ihren Rücken an. Sie sah sein Spiegelbild vor sich. Es fehlte noch der Dampf aus seinen Ohren, dann hätte sie sich nicht mehr halten können. Unter maximalem Druck, auf vollen Touren. Wegen ihres Lehrlings, der wirklich nicht der schnellste, aber auch nicht verkehrt war. Er redete viel, aber im Gegensatz zu ihrem Mann nur dann, wenn er gefragt wurde. Alles, was aus dem Mund des Jungen kam, klang reichlich altklug. Kein Wunder, wenn man bei der Oma groß geworden war. Deshalb wusste er auch am meisten über die Verhältnisse im Dorf in der Altersklasse zwischen sechzig und achtzig zu sagen. Sie amüsierte sich darüber, wenn er wieder mal wie so oft einen Satz mit den Worten begann: Bei uns im Ort gabs mal einen.

Jetzt war sie an der Reihe. Irgendetwas, was ihm recht gab, auch wenn es sie einige Überwindung kostete. Noch bevor sie dazu anheben konnte, legte er wieder los, weiter heftig schnaubend.

„Die Restpostensammelstelle sind wir geworden, für die, die nicht wegkommen, kaum richtig rechnen und schreiben können. Die Innung muss da was machen. Die Betriebe brauchen bessere Lehrlinge. Nicht solche wie den!“ Er schüttelte bestätigend den massigen Kopf, in den sein Herz weiter hektisch pumpend Blut drückte. Wann würde der Schädel platzen? Sie zuckte mit den Schultern und erschrak über ihre Reaktion, die so gar nicht zu seiner Tirade gepasst hatte. Sein irritierter Blick im Spiegel vor ihr verriet, dass er noch damit beschäftigt war, das irgendwie einzuordnen. Zustimmung, Widerrede oder hatte sie ihn bloß nicht verstanden?

„Bei uns Bäckern landen die Blöden und der Allerdümmste ist hier bei mir in der Backstube! Morgen werfe ich ihn hochkant raus, wenn er auch nur einen Paarweck verbockt!“

Er schnappte hektisch nach Luft. Außer Atem, ein bebender massiger Körper, der in einem unförmigen dunkelblauen Trainingsanzug steckte. Seine Freizeitkleidung, die er sich ähnlich umständlich überzog, wie er auch abends mit den Socken rang. Die Stunden zwischen dem Ende in der Backstube und dem Zubettgehen verbrachte er immer in diesen Klamotten. Den größten Teil der Zeit musste sie ihn so aber zum Glück nicht sehen, weil sie noch im Laden damit beschäftigt war, das mühsam unters Volk zu bringen, was er und sein Lehrling in der Nacht produziert hatten. Dass die Körnerbrötchen heute ungleichmäßig ausgefallen waren, hatte sie nicht einmal gemerkt.

„Aber du hast doch gar keinen Ersatz für den Jungen. Dann jammerst du wieder, dass alles an dir hängen bleibt.“

Er starrte sie an, ihren Rücken. Eine perfekte Position, die sie erst jetzt entdeckte, nach so vielen Jahren. Während er ihr Gesicht nicht sehen konnte, hatte sie jede neue Schweißperle auf seinem nassen Antlitz im Blick. Die kleinen, tief sitzenden Augen mit den roten vom Mehlstaub gereizten Rändern. So bereitete ihr das fast Freude. Er mühte sich ab und sie besah sich das Elend aus sicherer Entfernung im Spiegel.

„Die Sonntagstouren machst du dann wieder selbst und wie oft schreist du nach ihm, wenn du alleine etwas nicht gehoben bekommst? Der Junge springt immer, oft genug, wenn eigentlich schon Feierabend ist. Kann ja auch nicht anders, wenn er direkt an der Backstube wohnt. Da holt er das wieder rein, was er nachts zu langsam ist.“ Sie hielt wieder kurz inne. So lange ließ er sie sonst nicht zu Wort kommen, nicht mal dann, wenn sie zustimmend seine eigenen Worte wiederholte. „Und selbst wenn du einen Gesellen finden würdest, der es mit dir aushält, bezahlen könnten wir ihn ja doch nicht. Das müsstest du auch schon gemerkt haben.“

Bei ihrem Kontrollblick in den Spiegel sah sie, dass seine Haut unter der glitschigen Schweißschicht ihre Farbe verloren hatte. Weiß wie sein 505er Mehl sah er in diesem Moment aus. Sein Unterkiefer bebte und zeigte an, dass so kaum Gefahr von ihm ausging. Er schien zum ersten Mal seit vielen Jahren nach den richtigen Worten zu suchen. Still, abwartend, sodass sie die Gelegenheit hatte, noch einen draufzusetzen.

„Der Junge bleibt und sieh du zu, dass er spurt!“

Sie erschrak fast ein wenig über den herrischen Ton, den sie anschlug. Da er sie weiter hechelnd anstarrte, mit offenen Augen und offenem Mund, während die Adern an seinem Hals pulsierten, fühlte sie sich ausreichend bestärkt für die restlichen Worte, die mit Vehemenz aus ihr heraus drängten.

„Und wenn er es nicht kapiert, dann verpass‘ ihm eine ordentliche Abreibung. Der braucht das. Der Alte hat ihn doch auch immer verdroschen. Vielleicht versteht er es nur so! Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“

Das war einer seiner Lieblingssätze und ihr Friedensangebot an ihn. Jetzt musste er nur noch nicken und alles war so wie immer. Um drei ist die Nacht vorbei! Er blieb still und schien sie nicht wirklich verstanden zu haben. Das Weiß seines Gesichtes hatte sich mittlerweile in Richtung Grau verfärbt. Die roten Ränder unter seinen Augen traten noch deutlicher hervor. Es hatte den Anschein, dass sein massiger Körper heiser nach Luft rang. Seine Hand, die er zitternd durch ihr vom Spiegel begrenztes Sichtfeld bewegte, krallte sich in seine linke Brust. Es war deutlich zu erkennen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Der Dorfarzt hatte es ihm prophezeit, aufgrund der zunehmenden Leibesfülle.

2.

Jetzt war es ruhig, seit einer knappen halben Stunde schon. Reglos blieb Frank liegen und lauschte in die Stille. Gedämpft surrte irgendein Gerät durch mehrere Wände hindurch, so gleichmäßig, dass es sein Gehör kaum noch wahrnahm. Automatisch fielen ihm die Augen zu. Sein Atem wurde langsamer. Die passende Reaktion zur Uhrzeit. Aber Ruhe würde er heute doch nicht finden. Zu aufgekratzt war er und mit den wirren Gedanken beschäftigt, die ihm durch den heißen Schädel schossen. Er lag noch mit den Klamotten da: seiner mehligen Bäckerhose, der man den weißen Schmutz nur an den ergrauten Rändern ansah und dem muffigen T-Shirt, das er am Morgen in der aufgeheizten Backstube durchgeschwitzt hatte.

Es war noch nicht so lange her, als sein Vater fast jede Nacht zu ihm gekommen war, um auf ihn einzuschlagen. Die süßliche Alkoholfahne eilte ihm voraus. Ein Gemisch aus Wein, Cola und seinem Eigengeruch. Davon war er stets schon wach geworden, ausreichend Vorlauf, um die Hände vor sein Gesicht zu bekommen, ehe noch die ersten Schläge auf ihn herabfuhren. Im Dunkeln langte er besoffen sowieso meistens daneben. Schwankend, mit letzter Kraft auf den Beinen, die dem hinterhältig wankenden Boden Halt abzutrotzen suchten. Manchmal fiel er vornüber und blieb reglos ein paar Minuten auf ihm liegen. Er hatte Angst davor, dass er so einschlafen würde: sein Vater schwer und nach Colaschoppen stinkend auf ihm.

Das erste Mal hatte er ihn gehauen, da war er noch nüchtern. Damals war seine Mutter schon lange weg gewesen, auf und davon. Sein Vater hatte zur Strafe das gesamte Geld ihres gemeinsamen Kontos zu einem Teil in einen aufgemotzten, in die Jahre gekommenen, japanischen Sportwagen gesteckt. Den zweiten Teil investierte er in ausgiebige Sauftouren, die stets im Puff endeten. Auf einer seiner Ausflüge hatte er den Sportwagen an einer Leitplanke aufgeschlitzt. Zur Strafe bekam er am nächsten Tag die Prügel dafür. Du quatschst schon wie deine Mutter. Du wirst ihr sowieso immer ähnlicher! Dafür hast du die Abreibung verdient.

Er hatte stillgehalten, wie später auch, obwohl er spürte, dass seine Kraft schon damals ausgereicht hätte, um den besoffenen Vater aufs Kreuz zu legen. Erst danach in seiner kleinen Bude, mit glühender Backe, hatte er sich das bis zu Ende ausgemalt. Den Alten mit einem gezielten Haken niedergestreckt. Von rechts unten hochgezogen auf die linke Ecke seines Kinns. Die großen Hände hatte er von ihm geerbt, die Beschleunigung der Faust in Zeitlupe bei Klitschko gesehen. Der Alte würde zusammensacken und erst wieder wach werden, wenn er fest verschnürt war. Gefangen in seinem eigenen Klo. Das hatte ihn zuckend in sich hineinlachen lassen, trotz der brennenden Wangen, die mehrere schallende Ohrfeigen hatten einstecken müssen. Über der Kloschüssel würde er langsam zu sich kommen. Erwachend und ganz unsicher. Er würde sich erst gar nicht erinnern können. Dann, scheibchenweise, fände die Helligkeit zurück in seinen trüben Kopf. Zuerst glaubte er bestimmt noch an die Wirkung des Alkohols. Der letzte Schoppen war schlecht. Zu viel. Die Cola da drin übers Datum. Deswegen hing er über der Keramik. Deren Anblick ließ ihn zur Bestätigung würgen. Wenn er sich danach, wie immer wenn er seinen Suff auskotzte, die Haare aus dem Gesicht zu streichen versuchte, würde er auch noch nichts raffen. Zuerst zerren, stöhnend und ächzend, weil ihm der Kabelbinder, der seine Hände hinter der schmutzig weißen Schüssel fest zusammenhielt in die Haut einschnitt. Dann wäre nach einem Moment der Stille, der nur ein paar Sekunden gedauert hätte, der erste Schrei erklungen. Ein wütendes Brüllen. Ich brech‘ dir alle Knochen, wenn du mich nicht augenblicklich losmachst! Jetzt zuckte sein Oberkörper wieder. Einige glucksende Lacher fanden sogar aus ihm heraus. Der Gedanke daran bereitete ihm jetzt in dieser mehligen Umgebung noch immer Freude, obwohl er sich dies alles schon vor drei Jahren ausgemalt hatte.

Vorsichtig richtete er sich auf. Sie brauchten ihn dort oben nicht zu hören. Direkt über ihm war ihr Bad, daneben das Schlafzimmer. Obwohl das noch im alten Gebäude war, hörte man doch fast jedes Wort, das oben gesprochen wurde. Selbst gebaut, zusammengestückelt und kaum gedämmt. Nur zur Straße war das Haus verputzt, weil im Untergeschoss der Laden untergebracht war. Bröseliger Putz, der unter den Fingern rieselte, wenn man darüber fuhr. Nach hinten in den Innenhof hatte der Verputzer den Weg scheinbar nicht finden können. Zu viel Chaos auf dem Weg dorthin. Nur im Laden war Ordnung. Den musste er jeden Tag nach dem Backen fegen. Die Brösel, den Staub nach vorne durch die Tür hinaus auf die Straße. Auf den Plastikblumen im Schaufenster hatte sich eine dicke graue Staubschicht unbehelligt einrichten können. Ineinander geflochtene grüne Kunststoffgirlanden in Form einer riesigen Brezel. Die bunten Blumen näherten sich dem ergrauenden Grün farblich immer mehr an. Aber als Brezel war das alles noch gut zu erkennen. Das Chaos fing erst hinter dem Laden an. In den Fluren standen die Mehlsäcke und Kisten herum. So wirr durcheinander gestapelt, dass er meistens ein halbes Dutzend umschichten musste, um an einen bestimmten Sack zu kommen. Dem Wildwuchs der papiernen Mehlsäcke tat das nicht unbedingt gut. Es wurde immer schwerer, den richtigen Sack zu finden, zumal dann, wenn es kleinere Gebinde waren, die er aufspüren sollte. Der Mohn steht im Flur. Wo denn sonst! Mach gefälligst die Augen auf! Und nicht, dass du stundenlang fortbleibst. Augenblicklich will ich dich hier wiedersehen. Mit dem Mohn! Im Flur war kaum ein freies Plätzchen zu finden, um die Säcke aus dem Weg zu schaffen, die über dem gesuchten aufgeschichtet lagen. Vor allem mit den unteren musste man ganz sorgsam umgehen. Starr lagen die auf den Fliesen. Versteinert durch die Feuchtigkeit der Wände und des Bodens. Er hatte versucht einen solchen Klotz aufzurichten, gegen dessen offensichtlichen Willen, um ein wenig Platz zu schaffen für etliche andere Säcke, die über der gesuchten Körnermischung lagen. Geklammert hatte er sich an den stumpfen Fliesenboden. Unsichtbare Krallen und Saugnäpfe ausgefahren. Er hatte seine langen Finger vorsichtig darunter gebohrt und den widerspenstigen Sack dann ruckartig in die Höhe gerissen. Der Länge nach war das starre Ungetüm in zwei Teile gebrochen. Von dem in seinen Händen befindlichen Bruchteil rieselte weißer Mehlstaub herab. Während der Chef nach ihm brüllte, versuchte er die beiden Teile wieder so aufeinander anzupassen, dass die Bruchkante möglichst nicht zu sehen war. Mit einem halben Dutzend Dreißigkilosäcken 1740er gelang es ihm, das alles notdürftig zu tarnen. Nie wieder hatte er sich danach an einen der flach auf dem Boden liegenden, mit den Jahren erstarrten Säcke, gewagt. Sie waren die Basis, auf dem der Rest zu ruhen hatte.

Kein Verputzer wäre durch diesen Flur in den Hinterhof gekommen, deshalb war nur zur Straße hin das Sammelsurium der Steine, aus denen sie das Gebäude aufgemauert hatten, gut versteckt. Alles eigenhändig aufgebaut! Damit hatte der Chef ihm am ersten Tag die fleischigen Hände entgegengestreckt, auf die er pflichtschuldig einen Blick warf und stumm nickte. Selbst aufgeschichtet war auch der Anbau, der dem Haus nach hinten anhaftete. Flach und ohne Fenster reduzierte er den Hof auf etwas mehr als eine Autobreite. Ein schmaler Schlauch, der leicht abfallend bis zu einem klapprigen Metalltor führte, in das der Schmied wenig kunstvoll verzinkte Stangen und Rohre so ineinander geschweißt hatte, dass der Eindruck entstand, das unförmige Gebilde sähe einer Torte oder einem hohen Kuchen ähnlich. Von selbst wäre er nicht darauf gekommen. Ein maßstabsgetreues Abbild meines Meisterstücks! Er hatte beim damaligen Rundgang am ersten Arbeitstag auch da wieder pflichtschuldig genickt, mit brennender Müdigkeit in den Augen, um kurz nach vier in der Frühe.

Den schmalen Resthof füllte den größten Teil der Woche ein alter Fendt aus, an dem ein Bagagewagen hing. Ein klappriger Einachser mit einer grünen brüchigen Plane als Verdeck. Mannshoch, sodass man gut darin stehen und auf den beiderseitigen schmalen Pritschen leidlich sitzen konnte. Oben liefen die Metallstreben leicht spitz zusammen. Der Hänger sah damit aus der Ferne wie eine mickrige Hütte auf Rädern aus. In den warfen sie die Woche über alle leeren, zusammengeknüllten Papiersäcke, bis er am Samstag nahezu randvoll war. Zum Schluss musste er immer dem Chef helfen, die drei bis vier Säcke noch hineinzudrücken, in denen während der Woche all das gesammelt wurde, was im Laden nicht verkauft worden war.

Der Chef passte schon seit längerer Zeit nicht mehr auf den alten Traktor. Die Stufe hinauf war zu hoch montiert, der Zugang in die Kabine mittlerweile zu schmal und der harte Schalensitz viel zu eng für ihn. Wenn sie ihm da hineinhalfen, drückten, schoben und stützten, würde er wahrscheinlich nie wieder herauskommen. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen bei diesem Gedanken. Der Chef gefangen auf seinem alten Fendt, dem Überbleibsel aus der Zeit, als er noch ein paar Kartoffeläcker nebenher bewirtschaftete. Auf dem Feld konnte er sich ihn und seine Frau aber noch viel weniger vorstellen. Vor allem sie nicht. Auf ihr haftete tagtäglich der Verputz, der den Gebäuden nach hinten seit Jahren fehlte. Jeden Morgen ein frischer Anstrich, den sie zwischendurch am Spiegel in der Personaltoilette überprüfte und bei Bedarf nachbesserte. Sie bekam den Traktor wahrscheinlich nicht einmal an. Deswegen kam samstags Heinrich der Russe und holte das Gespann. Er war einer von mehreren Russlanddeutschen, die sich hierher verirrt hatten. Sie wohnten mit ihren großen Familien in kleinen Häusern, die nach dem Tod der alten Leute so lange leer gestanden hatten, dass die Erben in der Ferne froh waren, wenn jemand den rasenden Verfall in einen schleichenden verwandelte. Heinrich sprach stark gebrochenes Deutsch. Die Papiersäcke wanderten in seinen Ofen. Die trockenen Brötchen verfütterte er an seine Hühner, Schweine und die Kinder. Dem Bäcker gefiel die Resteverwertung. Sonst muss ichs selber entsorgen und dafür wollen die auch noch Geld haben. Nach einer guten Stunde rangierte der Heinrich am späten Samstagnachmittag das Gespann mühsam rückwärts wieder in den schmalen Hof hinein, um sich dann mehrmals hektisch vor dem Bäckermeister zu verbeugen, der sich im Trainingsanzug herunter gequält hatte, um die Unversehrtheit von Traktor und Bagagewagen zu überprüfen. Lang läbbe Schäff und glugglisch. Auf näxde Samsdach! Während beim größten Teil seiner Worte der harte russische Akzent dominierte, war der Samsdach bereits kräftig vom Dialekt hier eingefärbt.

Frank stand jetzt aufgerichtet in seinem kleinen Zimmer mit der niedrigen Decke. Über ihm ihr Badezimmer, neben ihm auf der einen Seite die Personaltoilette, die auch seine persönliche war. Auf der anderen Seite der Vorraum zur Backstube. In diesem Moment fügte sich alles zusammen, Einzelteile eines Puzzles, die er alle kannte. Jedes hatte er für sich schon einmal in der Hand gehabt, abgewogen, betrachtet und es dann doch wieder zur Seite gelegt. Jedes für sich also gut bekannt und nun passten sie urplötzlich zusammen. Die Schläge, die er von seinem Vater im Suff bekommen hatte. Schallende Ohrfeigen. Er hatte sie gehört vorhin im Bad, den Bäcker und seine Frau. Jedes ihrer Worte war gut zu verstehen gewesen, weil sie so laut miteinander redeten. Das Abwasserrohr von oben führte direkt hinter dem Bett, an seinem Kopf hinunter. Jeden Schiss seines Meisters hörte er platschend an sich vorbeifliegen. Über das weiß bemalte Kunststoffrohr wurden auch die Worte nach unten gespült.

3.

Gleich hatte er es geschafft. Sein Blick suchte die Uhr über den anderen Anzeigen. 5,4 Liter im Schnitt. Das war in Ordnung, eigentlich wie immer, drunter kam er selten, weil er auf der Landstraße dauernd abbremsen und wieder anfahren musste. Eine gerade Strecke bis hierher, keine Kreuzungen, keine Ampeln, keine Kreisel und er würde die 73,5 Kilometer unter fünf Litern hinbekommen. Fakt.

21.17 Uhr. Schon wieder so spät, deswegen war er auch so gut durchgekommen. Eine Stunde vierzehn, wegen der Landstraße, den Ortschaften, den Ampeln und den vielen Kreiseln. Morgens, wenn alle unterwegs waren in die gleiche Richtung zur gleichen Zeit, brauchte er fünfzehn bis zwanzig Minuten länger. Wenn es dann noch irgendwo hakte, wie an zwei von fünf Arbeitstagen, dann kam er auch ganz schnell auf knappe zwei Stunden. Für eine Strecke. Das Auto als zweites Zuhause. Das war seines auf jeden Fall. Fakt. Nicht wegzudiskutieren. Die Entfernung, fast nur Landstraße bis zum äußeren Ring der Stadt. Der war aber auch nicht viel besser zu befahren. Ständige Baustellen. Fakt. Er verbrachte mehr Zeit wach pro Tag in seinem Auto als in seinem Haus. Daher war sein Auto sein eigentliches Zuhause, ein fahrbares nur.

21.18 Uhr, 5,3 Liter im Schnitt. Die Kinder waren längst im Bett. Carmen mit den letzten Aufräumarbeiten beschäftigt, müder Blick. Und wie war dein Tag so? Die Eingewöhnung von Lena-Louise im Kindergarten? Hat sie diesmal weniger geschrien, als du gegangen bist?

Die meisten seiner Fragen würde sie mit einer Kopfbewegung beantworten. Zur Not mit knappen Einzelworten. Stilles Leiden in ihrem Blick. Der Vorwurf, den sie schon lange nicht mehr aussprach, weil sie ihn ja auch an sich richten musste.

Er steuerte sein Auto durch den alten Ortskern. Es brannte nur noch vereinzelt Licht. Die meisten Häuser lagen dunkel da. Er machte den Schlenker hier durch, weil er einen halben Kilometer kürzer war als über die Ortsumgehung und weil er hier um diese Uhrzeit meist kein einziges Auto mehr sah. Es wohnten fast nur noch Menschen über siebzig hier. Wenn einer von denen starb, standen die großen Häuser ganz leer. Die Kinder weggezogen und die Gebäude mit Renovierungsstau kaum zu vermieten und schon gar nicht zu verkaufen. Am Ortseingang rechts standen gleich die ersten drei Häuser nebeneinander leer. Beim ersten waren die Scheiben eingeworfen. Wie im Osten gleich nach der Wende. Und es war leicht hochzurechnen, wann die nächsten frei wurden. Sie konnten ja nicht den ganzen Ort mit Russlanddeutschen auffüllen. Fakt. Die halten den Verfall auch nicht auf. Woher sollen sie denn das Geld dafür nehmen? Und außerdem gehörten ihnen die Häuser ja gar nicht. Keine Lösung, keine Hoffnung, so sah es hier aus. Wenn Besuch kam, lotste er ihn um den Ort herum. Freunde aus der Stadt, die sich bis hierher verirrten, am Sonntag zum Kaffee mit den Kindern. Expedition aufs Land. So weit fährst du jeden Tag? Aber einen großen Garten habt ihr. Sie sollten nicht sehen, wo er wirklich mit seiner Familie gestrandet war. Nur weil sie nach dem ersten Kind der wahnwitzigen Idee verfallen waren, sich ein eigenes Haus zu bauen. Mit jedem zehnten Kilometer, den sie sich von der Stadt wegbewegten, wurden Zins und Tilgung erträglicher, der Garten größer, sogar mit seinem nicht gerade üppigen Einkommen als Facharbeiter. Fakt. Genau 73,5 Kilometer.

Die alten Leute waren im Bett. Auch beim Bäcker war alles dunkel, der musste sicher noch früher raus als er. Ganz sicher. Immerhin hatten sie noch einen im Ort. In den meisten Nestern drum herum gab es keinen Bäcker mehr. Er hielt seine Frau daher immer an, hier ihr Brot zu holen und nicht im Supermarkt. Da fahr ich dann noch mal extra hin? Mit zwei quengelnden Kindern auf dem Rücksitz. Und so gut ist das Brot auch wieder nicht und viel teurer noch dazu als im Supermarkt. Du kannst es ja mitbringen auf dem Heimweg, liegt ja fast auf deiner Strecke. Dann kommst du auch nicht immer so spät! Sie wusste genau, dass er nichts dafür konnte. Sie hatten viel zu tun und das war gut so. Wer weiß wie lange noch. Ihr größter Kunde war ein Automobilhersteller, der mehr als genug Probleme hatte. In regelmäßig wiederkehrenden Abständen wurde in der Presse über die Schließung eines Teiles seiner deutschen Werke spekuliert. Wenn es so weit kam, würde das sicher auch sie hart treffen. Entlassungen nach Sozialplan. Zwei kleine Kinder schützten auch nur dann, wenn es nicht vollkommen aussichtslos war.

Er beschleunigte seinen Wagen nur ganz langsam, um die 5,3 zu halten. 21.19 Uhr. Knappe fünfhundert Meter nach dem Dorf musste er rechts ab in das Neubaugebiet. Mitten auf den Acker. Daher trugen die wenigen kurzen Straßen auch den Namen von Feldfrüchten: Haferweg, Weizenweg, Rübenweg, Roggenweg. Im hinteren, dem Rapsweg, stand ihr Fertighaus. Vier Jahre alt, wie die anderen auch alle. Eine Immobilie. Unbeweglich, belastet und genau so unverkäuflich wie die Häuser im alten Ort. Bei ihnen in der Straße war eins im letzten Jahr zwangsweise verkauft worden. Scheidungsfall. Etwas mehr als die Hälfte dessen, was der Bau gekostet hatte, war zu erlösen gewesen. Ihm war aber schon davor klar geworden, dass sie ihr Haus nie wieder loswerden würden.

Es brannte noch anklagend Licht im Wohnzimmer. Ich wollte dich mal wieder wach sehen. Wenn die Kinder schon keine Chance haben. Er nahm den Fuß von der Bremse und gab sachte Gas. Eine Runde auf der Umgehung um das Dorf. Sieben Minuten mehr Ruhe.

4.

Vorsichtig zog Frank die Tür hinter sich zu. Das letzte Auto, das er draußen auf der Straße gehört hatte, war schon seit ein paar Minuten vorbei. Um die Uhrzeit verirrte sich kaum noch einer in den alten Ortskern. Die hier wohnten, erwarteten so spät keinen Besuch mehr. Sie gingen auch alle mit den Hühnern ins Bett. Er hielt kurz inne und lauschte. Sein Atem und das Pochen in seinen Ohren überlagerten das Surren der Kühlung. Ansonsten war es sehr still. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Leise zu sein war entschieden wichtiger, als schnell voran zu kommen. Die Nacht begann ja jetzt erst. Mit dem Rucksack auf dem Rücken drückte er sich am Bagagewagen und dem alten Traktor vorbei. Die Reihenfolge der notwendigen Schritte war er vorhin genau durchgegangen. Abwägend und bereit den einen gegen den anderen zu tauschen, um die Abfolge sinnvoller zu gestalten. Daher machte er sich auch zuerst an das Metalltor, weil er bisher noch nie darauf geachtet hatte, ob es beim Öffnen quietschte. Wer beschäftigte sich denn mit solchen Nebensächlichkeiten? Nicht sein Tor, also auch nicht sein Problem. Heinrich den Russen hätte er fragen können. Der zog die beiden Flügel auf, jeden Samstag. Aber wahrscheinlich achtete auch der nicht darauf, welche Geräusche dabei entstanden. Vorsichtig hob er den Metallstift an und zog den rechten Torflügel langsam an sich. Kein Ton, vollkommen leise, wie frisch geölt ging das. Erst kurz vor der Wand musste er die Torhälfte leicht anheben, weil sie ansonsten über das Pflaster schliff. Das hatte er bei Heinrich mal gesehen und daher entschieden, es ebenso zu machen. Die linke Torhälfte gestaltete sich schwieriger. Sie hing unten fest und ließ sich gar nicht in Bewegung setzen. Er hob den störrischen Torflügel leicht an. Ein kaum hörbares metallisches Schleifen begleitete sein erfolgreiches Mühen. Der erste Schritt war getan, wenn auch nicht der schwierigste.

Er trat langsam auf die Straße und sah sich um. Kontrollierte die Straße vor der Bäckerei hinunter, die andere Richtung dann hinauf. Gegenüber auch hinter den Fenstern Dunkelheit. Er drehte nach links ab und blieb nach ein paar Schritten stehen, um in seiner Jackentasche zu kramen. Seine Augen suchten weiter alles ab, jetzt schneller huschend, weil er wusste, dass er im nächsten Moment eine Grenze überschreiten würde. Gut sichtbar und beleuchtet direkt unter der Straßenlaterne. Wenn jetzt eine der neugierigen Alten von Gegenüber hinter der Gardine stand, würde sie ihn auch ohne dicke Brille gut erkennen. Er bückte sich instinktiv hinter dem Wagen weg. Nur verstehen würde sie es nicht, was er hier hinter dem Auto seines Chefs machte.

Genau dreizehn Nägel mit plattem Kopf waren es, die er jetzt in seiner Rechten hielt. Mehr hatte er in der Eile nicht gefunden. Er verteilte sie gleichmäßig an jedem der vier Reifen, die er gebückt watschelnd beim Umrunden des Wagens nach und nach erreichte. Immer einen direkt davor und einen dahinter, die übrigen fünf platzierte er bei einer zweiten Runde im Entengang um das Auto wahllos daneben. Mal vor und mal hinter dem jeweiligen Rad. Man konnte ja nie wissen, in welche Richtung das Fahrzeug losfahren würde.

Hinter dem Wagen richtete er sich nach der zweiten Runde wieder auf. Es war bescheuert, sich weiter hektisch umzusehen. Hier war keiner und jetzt war es ohnehin zu spät, um noch heil mit einer stimmigen Ausrede aus der Sache rauszukommen. Für einen stillen Beobachter hinter Scheibe und Gardine sah er gerade durch das ständige Kopfdrehen verdächtig aus. Er atmete tief ein, um sich für den zweifelsohne kniffeligsten Teil seines Planes die nötige innere Ruhe zu verschaffen. Egal wie er es ab jetzt anstellen würde, ein gehöriges Maß Lärm ließ sich nun nicht mehr vermeiden. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Zwei vor zehn schon. Wo war die viele Zeit geblieben? Vorsichtig, aber mit der gebotenen Eile lief er zurück, den geöffneten Hof hinauf. Nicht mehr ganz so vorsichtig schob er sich am Vorderrad des Traktors vorbei, um dann in eine lauschende Starre zu verfallen. Sein Atem, das rauschende Blut in seinen Ohren.

Welchen Lärm ein Körper produzierte, wenn man gezwungen war, ihm die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Die Zeit, die er eingeklemmt am Vorderrad des alten Traktors stand kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Wie lange dauerte das denn noch? Ein kaum hörbares Knacken gab das Startsignal. Schnell riss er die Arme nach oben und fasste nach dem Metallgriff. Mit dem ersten der vier zu erwartenden helleren Glockenschläge hievte er das Verdeck des Traktors auf. Mit dem zweiten Schlag hatte er seinen Platz in der kühlen Sitzschale eingenommen. Die Handbremse ließ sich erwartungsgemäß schwer lösen. Beim vierten Schlag schon setzte sich der Traktor mitsamt des Bagagewagens langsam rollend in Bewegung, den sachte nach vorne abfallenden Hof hinunter. Schlag zwei der größeren und daher dunkleren Glocke, die die Stunden läutete, überlagerte das Scheppern des Traktors beim Verlassen des Hofes, dessen Grenze von einem nicht allzu hohen Bordstein markiert wurde. Der Bagagewagen traf nahezu zeitgleich mit Schlag vier auf den Asphalt der Dorfstraße. Sein Geräusch war dadurch fast gänzlich geschluckt worden. Nach rechts fiel auch die Straße ab, er lenkte sein Gefährt daher in diese Richtung. Dunkelheit, Stille. Zart strömte die Nachtluft an ihm vorbei und brachte ein wenig Kühlung für seine geröteten Backen und die heiße Stirn. Die Straße wurde noch ein Stück steiler, bevor sie außerhalb des Dorfes leicht auslief. Bis dahin kam er fast lautlos, ohne den Motor starten zu müssen. Er fühlte sein Herz triumphierend hämmern im Takt mit den letzten beiden Glockenschlägen.

5.

Mit dem letzten Glockenschlag klappten ihre Augenlider auf. Sie brauchte einen kleinen Moment, mit geöffneten Augen in der Dunkelheit, um sich zurecht zu finden und die Dinge hintereinander zu bringen. Der Blick auf den Wecker bestätigte ihr Gefühl. Es war lange noch nicht so weit. Die Nacht hatte gerade erst angefangen. Ihr Schlaf war kein allzu fester. Sie lag fast in jeder Nacht eine Zeit lang wach, reglos hier in ihrem Bett. Mit offenen Augen den eigenen Gedanken ausgeliefert, die keine Gnade kannten. Unfähig, sich gegen sie zur Wehr zu setzen, gepiesackt, ausgelacht, verhöhnt. Aber normalerweise geschah das mitten in der Nacht, nach zwölf. Die Zeit der feigen Spießgesellen in ihrem Kopf, der bekannten Stimmen, zu denen sich nie ein Gesicht zeigte. Sie erkannte doch jeden am Klang, dem Tonfall der Worte. Es waren die Stimmen derer, die sie Tag für Tag sah. In ihrem Laden, im Backhaus. Sie ließen nicht ab von ihr, auch nachts nicht. Da fühlten sie sich ganz besonders sicher. Versteckt hinter dem Mantel der Dunkelheit um sie herum und in ihrem Kopf. Von der Gewissheit ihrer Hilflosigkeit bestärkt, traten sie auf sie ein, schrien nach ihr und stimmten üble Schmähgesänge an. Wirst sehen, alles geht den Bach hinunter. Bald sind die Lichter aus, für immer. Kein Aufschub mehr. Es muss Geld auf den Tisch. Mehl nur gegen Bares.

Heute hatten sie wieder mehr weggeworfen als verkauft. Diese Tage häuften sich. Das Neubaugebiet war ihre letzte Hoffnung gewesen. Junge Familien, die Kinder, täglich Brot, Samstagskuchen, Partysonnen, Geburtstagstorten. Aber die, die da draußen in den neuen Häusern wohnten, mussten noch mehr aufs Geld achten. Die drückenden Schulden des Hausbaus. Von denen kam kaum einer zu ihr. Ein ganzer Sack Brote, Brötchen, Nussplunder, Zuckerschnecken, bunte Amerikaner. Mach weniger! Du backst jetzt schon mehr für den Heinrich und sein Viehzeug, als für die Kundschaft.

Aber es muss doch was in den Regalen liegen. Die sind doch so fast schon leer. Sieht ja sonst aus, als ob wir kurz vorm Zumachen wären.

Ein paar Jahre noch mussten sie durchhalten, egal wie. Erhobenen Hauptes, dann mit der Auszeichnung der Innung in den Ruhestand. Goldene Ehrennadel. Den Laden schließen, weil die nächste Generation fehlte. Trotz Gegenwindes ausgehalten so lange, bis heute. Ein leuchtendes Vorbild, lobende Worte zum Abschied. Als Chefin aufhören, nicht noch suchen müssen. Herumgescheucht vom Arbeitsamt: Kasse im Supermarkt, Putzen, Zeitungen austragen. Was haben Sie gelernt? Nichts.

Gehässige böse Worte in ihrem Kopf, die nicht aufhören wollten.

Die sieben Jahre noch schafft ihr nie. Wer soll denn die Rechnungen für das Mehl bezahlen, den Strom, den Lohn für den Lehrling. Hat er den letzten schon bekommen? Den vorletzten? Oder sind es schon drei, die ausstehen? Vier, fünf? 88,92 heute in der Kasse. Offene Rechnungen zusammen 1876,33. Davon 1136,70 in Mahnstufe 3. Höchste Eisenbahn! Das jüngste Gerät in der Backstube: 16 Jahre.

Jetzt mischte sich die Stimme ihres Mannes dazwischen. Läuft alles bestens rund. Solange wir selbst noch backen können, kann uns nichts passieren. Altes Handwerk hat noch immer überlebt. Auch in schlechten Zeiten. Gelernt haben wirs noch von der Pike auf. Jeden Handgriff, auch ohne Maschinen. Bis auf den Ofen kann ich auf alle verzichten.