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Früher war Hilal Sezgin eine Stubenhockerin: Großstadt, Bürojob, am Wochenende schlief sie gerne aus. Heute hat sie nicht nur gülleresistente Stiefel, sondern auch Schafe, Ziegen, Gänse, Hühner und Katzen. Und vor allem: ein Haus auf dem Land. Sie nimmt den Leser mit auf ihre ganz persönliche Reise ins Glück. Sie berichtet von den erhofften Vorzügen und den unerwarteten Problemen des Landlebens; angefangen bei der Suche nach dem perfekten Haus über den Bau von Stallungen und das Einmachen von Obst bis hin zur korrekten Tierhaltung. Dem Verzicht auf gewohnte Bequemlichkeiten steht eine neue Form von Selbstbestimmung gegenüber. Aus dem »Leben ohne« ist vor allem ein »Leben mit« geworden: »Ein Leben mit weitem Blick aus allen Fenstern, ein Leben mit den Jahreszeiten, ein Leben mit Tieren, ein Leben mit Schnee im Winter, Kuckucksrufen im Frühjahr, Faulenzen im eigenen Garten im Sommer und Pilzsammel- und Einkochorgien im Herbst.«
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Seitenzahl: 314
Wir müssen von Zeit zu Zeit in Sümpfen waten, wo Rohrdommel und Sumpfhuhn hausen, müssen den Schrei der Schnepfe hören und das flüsternde Schilf riechen, wo nur wildere, einsamere Vögel ihre Nester bauen und die Sumpfotter dicht am Boden bäuchlings kriecht. Wir streben ernsthaft danach, all diese Dinge zu erforschen und kennen- zulernen, und verlangen doch gleichzeitig, dass alles geheimnisvoll und unerforschlich bleibe, dass Land und Meer unendlich wild, ungesehen und
STATT EINES VORWORTS
Wer keine Ahnung hat, hat Mut
Am häufigsten fiel das Stichwort Mut. Was ich da vorhätte, sei aber sehr mutig, kommentierten Freunde. Den Mut hätten sie nicht, erklärten Bekannte, als wir einander auf einer Silvesterparty von unseren Plänen fürs nächste Jahr erzählten. So oft war von meinem angeblichen Mut die Rede, dass das bisschen Mut, das ich tatsächlich besaß, immer weiter schwand.
Denn eigentlich bin ich ein Hasenfuß. In meiner Hausapotheke lagern Medikamente für sämtliche mir bekannte Krankheiten, und ich kenne viele, weil ängstliche Menschen wie ich die Apothekenrundschau lesen. Nachts liege ich oft wach und grübele über Dinge, die ich am Vortag vielleicht falsch gemacht habe, und bevor ich auf eine längere Reise gehe, kontrolliere ich, ob mein Testament auf dem neuesten Stand und für die Hinterbliebenen leicht auffindbar ist.
Also von Mut kann man wirklich nicht sprechen. Aber vielleicht hatte ich über die Risiken ausnahmsweise mal nicht nachgedacht. Fürs kommende Jahr hatte ich mir nämlich einen Umzug vorgenommen, von Frankfurt, wo ich fast mein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, raus aufs Land. In ein typisch norddeutsches Haus aus rotem Backstein, am Rande eines 500-Seelen-Dorfs in der Lüneburger Heide. Wo ich keinen Menschen kannte.
Die anderen Partygäste schüttelten verwundert die Köpfe, als sie das hörten, und fragten, was denn der Grund für diesen Umzug sei. Nein, ich hatte mich nicht in einen Norddeutschen verliebt, ich würde alleine wohnen wie zuvor in Frankfurt auch. Und: Nein, ich hatte dort keinen Job, ich arbeite als freiberufliche Autorin, das geht dank Internet von überall.
Natürlich hatte ich diesen Umzug nicht als Mut- oder Charakterprobe geplant, und ich sah mein künftiges Landleben auch nicht vorrangig als Entbehrung. Obwohl viele Leute mit einem Leben außerhalb der Stadt vor allem Mangel zu verbinden scheinen: ein Leben ohne viele Menschen, ohne die Möglichkeit, mal eben ins Kino oder Theater zu gehen. Aber ich ging sowieso selten ins Kino und ins Theater, und diejenigen, die mich auf diese Entbehrungen hinwiesen, taten es genauso wenig. Überhaupt habe ich das städtische Leben nie als ausschließlich gesellig empfunden, jedenfalls nicht mehr seit dem Studium, als man noch mit Freunden von Vorlesung zu Vorlesung und von Café zu Café zog. Seitdem wir aber endgültig erwachsen geworden waren, Anstellungen mit festen Arbeitszeiten hatten, Lebenspartner und Familie, hatte die gemeinsame Geselligkeit immer mehr nachgelassen. Sie quetschte sich in die Wochenenden oder in die Abendstunden und wurde kompliziert telefonisch arrangiert. Selbst dann, wenn ein Treffen bereits arrangiert war, war es nicht verbindlich; wir alle fühlten uns von potentiellen Terminänderungen persönlicher oder beruflicher Art derart bedroht, dass jede Verabredung von den Worten begleitet wurde: »Bis Samstag dann. Aber wir sprechen vorher noch mal, ob und wann.«
Zweifellos enthält das Leben in der Stadt das Versprechen unendlicher Geselligkeit, aber in meinem Fall hatte sich dieses Versprechen nicht wirklich erfüllt. Und darum freute ich mich auf mein künftiges Leben auf dem Land nicht vorrangig auf ein Leben ohne, sondern auf ein Leben mit: ein Leben mit weitem Blick aus allen Fenstern, ein Leben mit den Jahreszeiten, ein Leben mit Schnee im Winter, Kuckucksrufen im Frühjahr, Faulenzen im eigenen Garten im Sommer und Pilzsammel- und Einkochorgien im Herbst (was meinen künftigen Landfrauenhaushalt anbetraf, gab ich mich allerlei unrealistischen Visionen hin). Ich freute mich auf ein Leben mit Tieren, wobei ich irrigerweise vornehmlich an die Tiere anderer Leute dachte, an deren Gehege ich auf einem Spaziergang vorbeikommen und die ich im Vorübergehen streicheln würde. Und ich würde ja nicht wirklich ohne Menschen sein, sondern neue Leute kennenlernen – tatsächlich sind meine Nachbarn und Freunde hier im Dorf unterschiedlicher und vielfältiger, als mein Bekanntenkreis in der Stadt es je gewesen war.
Inzwischen lebe ich seit vier Jahren hier, lange genug, um sagen zu können: Ich habe hier viel Schönes erlebt, und einiges Schwere auch – hier bin ich zu Hause. In diesem Buch möchte ich zurückblicken und davon erzählen, wie es war, das perfekte Haus zu finden und es zu beziehen, und wie es ist, allein im letzten Haus am Waldrand zu leben, wenn es nachmittags um vier dunkel wird oder ein Jahrhundertgewitter über der Lüneburger Heide niedergeht. Ich möchte davon erzählen, wie man versucht, sich gegen die Übermacht von Brennnesseln, Mäusen und Spinnen zu behaupten, wie man Einkochen lernt, wie es ist, ein Landhaus voller Gäste und Gummistiefel zu haben, wie Hühner auf Biohöfen leben, wie man Schafe schert und Lämmer mit der Flasche aufzieht. Ich möchte fragen, wie ein Leben ohne allgegenwärtige Plakatwände, ohne samstägliches Shopping, ohne Verabredungen bei Starbucks aussieht – und wie weit es überhaupt möglich ist, aus der Konsummaschinerie auszusteigen. Einiges musste ich bei diesen Erzählungen weglassen, weil sie sonst zu umfangreich geworden wären, aber hinzugedichtet habe ich nichts.
Ich war 36 Jahre alt, als ich meine Kisten packte, hierherzog und meine Metamorphose von der Stadtpflanze zum Landei begann. Schon als Jugendliche hatte ich von diesem Leben mit Jahreszeiten, mit Tieren, mit Ausblick – von einem Leben auf dem Land geträumt. »Wenn ich groß bin«, sagt das Kind. Aber als Erwachsener macht man gern einen Alterswunsch daraus: »Wenn ich einmal 65 bin …« Doch ob wir mit 65 Jahren eine Rente bekommen werden, die das Verwirklichen von Träumen ermöglicht, ob wir dann noch den Schwung und die Bandscheiben haben, einen radikalen Wechsel zu vollziehen, steht in den Sternen. Und genau hierin – nicht in dem Äußeren, in dem Haus, in der Fremde, in der potentiellen Einsamkeit – liegt das eigentliche Risiko: in dem Verwirklichen eines Lebenstraums. Alles Erträumte ist anders, und meist schöner und glatter als die Realität. Etwas in die Realität umsetzen heißt auch das Traumbild verlieren. Bestenfalls würde alles so wunderbar werden wie erhofft. Wovon konnte man dann noch träumen? Und wenn es weniger schön werden, wenn sich das Erträumte als ebenso nüchtern wie der bisherige Alltag, wenn es sich gar als Albtraum erweisen würde …
Doch all das erkenne ich erst im Nachhinein. »Wer keine Ahnung hat, hat Mut«, besagt ein türkisches Sprichwort. Jetzt verstehe ich, was die anderen mit Mut meinten, aber damals fehlte mir jedes Gefühl für das Risiko, und rückblickend kann ich nur froh darüber sein. Wann genau meine Entscheidung fiel, könnte ich übrigens nicht einmal sagen. Ich weiß nur, dass ich zum Jahreswechsel 2006 beschloss, nach sieben Jahren bei der Frankfurter Rundschau zu kündigen, um freiberuflich tätig zu sein, und dass ich just in dem Moment, als ich das Gebäude verließ, auf dem Handy einen Anruf erhielt und eine halbjährige Vertretung bei der ZEIT in Hamburg angeboten bekam. Ich muss wohl generell in Aufbruchsstimmung gewesen sein. Kaum arbeitete ich in Hamburg, verbrachte ich meine freien Tage und Wochenenden damit, mich in der Umgebung nach Häusern umzusehen. Ich wollte raus aus der Stadt, ich sehnte mich nach Platz und Weite, hatte einen regelrechten Durst auf Grün. Jedes schöne alte Bauernhaus, das ich sah, weckte in mir sofort den Wunsch, es einzurichten und dort einzuziehen.
TRÄUME VON WEISSEM FACHWERK AUF ROTEM GRUND
Seit Jahren schon hatte ich eine Freundin, Alex, die mit ihrer Familie zwischen Hamburg und Nordsee wohnte. Wir hatten uns über den Journalismus kennengelernt, sie schien ständig im In- und Ausland unterwegs zu sein, lebte dazwischen aber irgendwo auf dem flachen Land. Mir war, von Frankfurt aus, immer rätselhaft gewesen, wie so ein Leben funktioniert. Mehrmals hatte sie mich zu sich eingeladen. Aber so weit zu fahren, nur um jemanden auf einem restaurierten Bauernhof zu besuchen, schien mir absurd.
Von Hamburg aus nicht mehr. Ich wollte diesen ominösen Hof auf dem flachen Land endlich sehen. Mit einer nicht übertrieben schnellen Lokalbahn ging es von Hamburg aus in Richtung Cuxhaven. Zunächst kommt man an Buxtehude vorbei, das sprichwörtlich weit vom Schuss liegt und in dieser Eigenschaft sogar im Räuber Hotzenplotz auftaucht. Dann geht es durch das ebenfalls legendäre Alte Land, das ich mir immer wie das Heckenrosental aus Astrid Lindgrens Brüder Löwenherz vorgestellt hatte: verwinkelte alte Häuser, knorrige Apfelbäume, soweit das Auge reicht. Und tatsächlich: Sobald der Zug Hamburg verlässt, taucht er ein in ein Meer von Grün. Überwucherte Bahnböschungen, verwunschene Hecken, Obstbaumwiesen und Weiden bis zum Horizont. Die Balken der Fachwerkhäuser sind hier traditionell weiß gestrichen und mit rotem Backstein gefüllt. Auf der Stirnseite einiger Häuser, die man vom Zug aus sehen konnte, standen fromme Sinnsprüche in verschnörkelter alter Schrift. Dazwischen Weiden, die mit alten Pfosten und hölzernen Balken eingezäunt waren, und darauf so viele Pferde, dass man meinen könnte, sie würden nach wie vor als einziges Transportmittel eingesetzt.
Wenn man so die Stirn ans Zugfenster drückt und alte Höfe an einem vorbeiziehen und Gärten voller Obstbäume Vorratskammerfantasien wecken, stellt man sich vor, wie es wäre, selbst hier zu leben: Dieses Haus hat genau die richtigen Proportionen! An jenem berauscht einen der weite Blick … Wenn nur diese blöden Strommasten nicht wären! Außerdem liegen natürlich alle Häuser, die man von der Bahn aus sehen kann, zu nahe dran – an der Bahn. Ebenso wie die Häuser, die man vom Auto aus sieht: Entzückend, aber man müsste sie wohl abreißen und anderswo wieder aufbauen. Wer lebt schon gern direkt neben der Autobahn?
Das Rot des Backsteins, das Weiß des Fachwerks, das grüne Land und der blaue Himmel – ich war von Farben schon wie betrunken, als meine Freundin Alex mir an einem kleinen Bahnhof entgegenkam. Dem von ihr aus nächstgelegenen, zu dem man mit dem Auto trotzdem eine Viertelstunde braucht. Das mache ihr gar nichts aus, erklärte sie, trotzdem gehe auf dem Land in gewisser Weise alles schneller; man finde immer sofort einen Parkplatz, bei Ärzten und Behörden müsse man nicht lange warten. Ich hörte mir dies zweifelnd an und sage heute dasselbe zu meinen Gästen: Auch ich habe mich schnell an den Komfort der kurzen Wartezeiten, an die überall verfügbaren Parkplätze und nicht zuletzt an die aufgrund niedriger Ladenmieten riesigen Supermärkte in den Dörfern gewöhnt.
Wir fuhren durch eine Landschaft, wie man sie aus Worpsweder Bildern kennt. Bloß hatten wir hellsten Sonnenschein statt des leicht melancholischen Lichts, in dem Worpswede auf den meisten Bildern immer ein wenig herbstlich und verhangen wirkt. Der Boden moorig, von Birken bewachsen, von Menschen nach wie vor dünn besiedelt. So flach, dass man meint, die Erdkrümmung mit bloßem Auge erkennen zu können, und so weitläufig, dass man den Eindruck bekommt, hier sei unendlich viel Platz. Für jeden. Jeden Menschen, jedes Pferd, jede Kuh. Mitten im Feld hockt ganz allein ein Fasan. In der Stadt drängeln sich alle, jedes Grundstück ist verplant, und hier sind Wiesen und Moore endlos in alle Richtungen ausgerollt.
Alex schlug vor, auf dem Weg zu ihr kurz Halt zu machen bei einem Freund, der seit Jahren versuchte, seinen Hof zu restaurieren. Jetzt wolle er ihn verkaufen. Alex’ Vorschlag war nicht ohne Nebengedanken – wer auf dem Land lebt, und gerne dort lebt, der missioniert. Ständig sieht man leere Häuser und hört von alten Mühlen, die zum Verkauf stehen, und wünscht sich, es würden Freunde dort einziehen. Um die eigene kleine Gemeinschaft da draußen zu stärken, aber auch, weil man sich wohl irgendwann nicht mehr vorstellen kann, wie jemand in der Stadt glücklich sein kann. Man will die Städter mit schönen Höfen verkuppeln wie zwei Verwitwete, deren Einsamkeit mitanzusehen man nicht mehr erträgt.
Wir machten also einen Abstecher bei Alex’ Freund, und es war – beklemmend. In konzentrierter Form bekam ich hier vorgeführt, was bei einem Umzug aufs Land schiefgehen kann. Schon vor vielen Jahren hatte der Freund den kleinen Hof gekauft, und er war nie ein richtiges Heim geworden. Er lebte darin in anderthalb Räumen. Weil er die anderen derzeit renoviere, sagte er. Der Fußboden wies solche Unebenheiten auf, dass man achtgeben musste, sich nicht die Knöchel zu brechen. Weil ein Bodenbelag fehlte, waren alte Teppiche ausgelegt. Eine Heizung fehlte. Die Türen müsse er erst noch machen. Wenn man die Front einreißen und neu wieder aufbauen würde, würde es ganz toll aussehen, meinte er. Leider hatte der Vorbesitzer ein paar Neuerungen nach Art der Nachkriegszeit eingefügt, die müsse man rausreißen, dann das Alte wiederherstellen. Alleine sei das aber schwer zu schaffen. Er bot uns Tee an, in der nichtvorhandenen Küche mit einem Tauchsieder gebraut. Strom gab es, aber Licht war Mangelware – klar, man müsste halt neue Fenster einsetzen. Einsamkeit lag in der Luft. Wie nebenbei nannte er eine in meinen Augen horrend klingende Summe, für die er alles verkaufen wollte; dann bahnten wir uns einen Weg nach draußen durch ein Meer von Brennnesseln und was sonst noch in dem Garten wucherte, denn die Natur hatte das Häuschen längst umzingelt. Wenn sie es sich ganz zurückholte, war es vielleicht auch besser so. Musste es so enden, wenn man mit seinem Traum ernst machte? Wenn man als allein lebender Mensch die Verantwortung für ein ganzes, noch dazu altes Landhaus übernahm?
Wir fuhren weiter auf einer Landstraße. Rechts und links einfach nur Wiese. Kein Tier weidete. Nichts wurde angebaut. Hier »geschah« sozusagen nichts außer permanentem Wachsen und Grünen. Zwischen zwei kleinen Pferdekoppeln hindurch führte ein unbefestigter Weg zu Alex’ Hof, ein restauriertes Bauernhaus mit dem typischen weißen Fachwerk. Die Balken glänzten in der Sonne. Die riesige, gut drei Meter hohe mehrflügelige Türe, die früher in die Tenne geführt hatte, ging nach Süden hin und war verglast; man trat in die ehemalige Tenne und fand sich in einem magischen Raum wieder, der halb an den Orient, halb an Harry Potter erinnerte. Sitzgelegenheiten überall, ein ewig langer alter Holztisch, ein großer offener Kamin und Bücherregale bis unter die Decke.
In diesem Teil des Gebäudes hatte man früher das Korn gedroschen, die Tür musste so groß sein, damit ein Erntewagen mit den Garben hindurchkam. Das riesige Erdgeschoss hatten Alex und ihr Mann in mehrere Räume unterteilt; ein kleiner Anbau diente als Gästewohnung, und zusätzlich war der Dachboden ausgebaut. Das Dach selbst hatten sie vor einigen Jahren mit Reet neu eingedeckt. Reetdächer sehen herrlich sanft aus, ihre Farbe hebt sich nicht so beißend vom Himmel ab wie das Orange moderner Ziegelsteine. Ihr Material ist dieser Landschaft entnommen und fügt sich optisch darin ein. Angeblich hat man unterm Reetdach das beste Raumklima, was auch immer das heißt. Aber es gibt auch Nachteile, die bei den hohen Anschaffungskosten beginnen und bei der deutlich höheren Brandgefahr bei Blitzeinschlägen sowie erhöhten Versicherungsbeiträgen enden. Reetdach ja oder nein, das schien für alle Hausbesitzer dieser Gegend eine Art Gretchenfrage zu sein.
Für den Abend hatte Alex zwei weitere stadtflüchtige Freundinnen zum Grillen eingeladen. Wie wir, waren auch sie beide Journalistinnen; wie ich, waren sie alleinstehend. Beide hatten vor ein paar Jahren die Stadt verlassen und sich hier draußen Häuser gekauft. Allein die beiden kennenzulernen machte mir Mut (aha, jetzt wissen wir also, woher ich ihn hatte!). Beide hatten mehrere Hunde im Schlepptau, außerdem brachten sie Grillgut und jede Menge selbst eingemachter Chutneys mit. Sofort begann eine Diskussion, was besser sei: Für wenig Geld ein halb verfallenes Fachwerkhaus mit viel Grund drum herum zu kaufen und alles allmählich selbst aufzubauen, Vorteile: der Spottpreis und das Gefühl, alles selbst zu schaffen. Oder: wesentlich mehr Geld für ein modernisiertes Haus zu investieren und gleich einzuziehen.
Die zweite Möglichkeit war geeignet vor allem für die, die die Ahnung beschlich, sie könnten eben nicht alles selbst schaffen. Allerdings wurde diese Ahnung, wenn man sie äußerte, von den Zuhörern nicht unbedingt als Argument zugelassen: Viele der neuen Landbewohner hatten vor dem Umzug nämlich auch keine Erfahrung mit dem Hausbau gehabt, erarbeiteten sich diese aber nach und nach. »Irgendwer hat immer das passende Gerät«, erklärte mir eine der Frauen. »Und die Leute hier leihen sie bereitwillig aus und helfen gern.« Frauen, die ihr Geld mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln verdienten, berichteten von Zaunbau, Fußbodenbelägen, dem Einsetzen moderner Fenster und dem Einziehen zusätzlicher Wände. Ich lauschte den drei Kolleginnen neugierig, verträumt, staunend – aber nicht ungläubig. Nein, gläubig war ich eigentlich von Anfang an.
Nachdem die Frage des Restaurierens und Renovierens gründlich erörtert worden war, gingen die Frauen zu präziseren Ratschlägen über. »Zuerst musst du ein Zimmer für dich selbst fertig machen, und als Nächstes ein Gästezimmer. Alles andere hat Zeit.« Gästezimmer schienen auf dem Land etwas ganz Essentielles zu sein. Für dieses Vorgehen gab es aber auch noch einen anderen Grund: »Du erfährst viel mehr von dem Haus. Ich bin froh, dass ich nicht alles auf einmal fertigstellen konnte. Bei einem Zimmer dachte ich, das würde das perfekte Arbeitszimmer werden, aber dann lernte ich die Geräusche und das Licht kennen und merkte, dass es für etwas anderes viel besser passt.« Die Geräusche, das Licht, und übrigens auch die Aktivitäten möglicher anderer Bewohner: Ein altes Haus auf dem Land hat sein Eigenleben. Im Winter kann man noch nicht ahnen, wie laut die neuen Triebe der Rosen an den Fensterscheiben quietschen werden. Unterm Dachgeschoss ist es im Herbst kuschelig, aber im Mai schreitet der im Dachstuhl lebende Marder mit markerschütternden Schreien zur Paarung, und man liegt halbe Nächte wach. Der Ofen wummert im einen Zimmer stark, ein anderes bekommt er nicht warm.
Ein weiterer Ratschlag kam von meiner Freundin Alex: »Wenn du in eine neue Gegend ziehst, brauchst du mindestens einen Menschen dort, den du schon kennst. Den kannst du immer um Rat fragen, und er macht dich mit allen anderen bekannt.« Eine andere Ex-Städterin widersprach, sie habe hier anfangs niemanden gekannt … Gilt dieser Ratschlag, man müsse mindestens einen Menschen kennen, oder nicht? Ich glaube, es gibt Indizien, an denen man sich vorab ein gewisses Bild davon machen kann, ob in der betreffenden Gegend Menschen leben, mit denen man sich befreunden könnte – mehr dazu später. Doch ob es wirklich klappt, darauf lässt sich vorher nur hoffen, hier braucht man Glück.
Und ich schien gerade besonders viel davon zu haben. Die eine Kollegin spielte mit dem Gedanken, eine Hälfte ihres Hauses zu vermieten. Es war ein wunderschönes altes Fachwerkhaus, so niedrig, als stamme es aus dem Mittelalter, das Reet zog sich tief über die Hauskante wie ein Schlapphut, unter dem wie Augen die Fenster hervorlugten. Drum herum ein verwunschener Garten voller Kräuter, Margeriten, Rosen, Rittersporn und Fingerhut.
Einmal schlief ich dort Probe in einem winzigen Zimmer. An den Wänden hellgelb gestreifte Tapeten, an den Fenstern wehten sommerlich leicht die Vorhänge. Die Holzfußböden alt und ehrwürdig wie ein gutes Cello, in der Küche ein Steinfußboden, Regale ringsherum, in denen Geschirr und Teedosen gestapelt waren wie in einer Puppenstube.
Das Haus lag an einer Stichstraße ein paar hundert Meter von der nächsten befahrenen Straße entfernt, was mir ein großer Pluspunkt wegen meiner drei Katzen schien. In dem kleinen Stall hinterm Haus könnten wir Hühner halten. Sie würde auf meine Katzen achtgeben, wenn ich weg wäre, und ich umgekehrt auf ihre Hunde … Es war alles so gut wie abgemacht.
Doch während ich mehrmals hinausfuhr und die Gegend erkundete, und überlegte, wie ich all meine Bücher in meiner Hälfte des Puppenhauses unterbringen konnte, und ob ich mich wirklich trauen würde, meine wohlbehüteten Wohnungskatzen frei laufen zu lassen, lernte ich im selben Ort einen jungen Mann kennen. Ich stellte meine Umzugspläne erst einmal zurück. Weder wollte ich dorthin ziehen, nur um näher bei ihm zu sein, noch wollte ich umgekehrt in seine unmittelbare Nachbarschaft ziehen müssen, wenn nichts daraus wurde. Wir gaben uns also ein paar Wochen zum Kennenlernen, grillten mit seinen Nachbarn, besuchten den Ökohofladen, besichtigten alte Häuser, ließen uns von einem idealistischen Hausbesitzer zeigen, wie man Fensterrahmen nach alter Art schmiedet und wie man Lehmziegel aus echtem Elbschlamm macht. Wir fuhren landauf, landab, bis kurz vor die Mündung der Elbe, wo der Fluss schon so breit ist wie das Meer, und bis zum letzten Deich vor der Nordsee, wo vor den Garagen Autos mit Berliner Kennzeichen stehen. Was sind das wohl für Leute, die am Wochenende ein paar hundert Kilometer brausen und sich Ferienhäuser dieser Größe leisten können? Manches Mal sahen wir im Vorbeifahren zwischen Hecken und Bäumen ein Stück weißes Fachwerk, ein Reetdach, und wir fuhren im Rückwartsgang zurück – wir waren geradezu häusersüchtig. Und egal, wie atemberaubend das letzte Haus gewesen war, hinter der nächsten Ecke gab es sicher ein noch atemberaubenderes zu sehen.
Mein Begleiter selbst bewohnte ebenfalls ein altes Fachwerkhaus mit einem daran anschließenden, langgezogenen Garten. Ständig lag er im Kampf mit dem Gras, das man mähen, den Beeren, die man ernten, und den Äpfeln, die man einkochen musste. Mit dem Iltis auf dem Dachboden, der bestialisch roch, dessen Schlupfloch er aber nie fand, und mit den Nebengebäuden, die zu reparieren waren. Ständig lebte er in Furcht vor dem nächsten Hochwasser, denn sein Haus stand auf dem niedrigsten Grundstück im ganzen Umkreis; schon im Sommer erhöhte er fürs kommende Frühjahr den kleinen Damm vorm Haus. In seinem Inneren war das Haus wunderschön restauriert und eingerichtet, und ich gebe zu, ein paar Mal ertappte ich mich bei dem Gedanken, ob ich nicht direkt dort einziehen könnte …
Es war zu schön, um wahr zu sein. Die mir lange verborgen bleibende andere Hälfte der Wahrheit war in diesem Fall eine bildhübsche, kinder- und tierliebe Grundschullehrerin, mit der der junge Mann befreundet und angeblich nur früher einmal kurz amourös verbunden gewesen war. Um ihre Gefühle zu schonen, sollte ich in ihrer Anwesenheit bitte auf Abstand bleiben. »Es ist wie mit Camilla und Diana. Alle wissen von uns« – womit mein Begleiter ihn und mich meinte – »aber in der Öffentlichkeit zeigen wir uns besser nicht.« Ich fragte, ob sich dieser Vergleich auf Diana vor oder nach der Trennung beziehe, und er sagte: »Auf als sie schon tot war.« Erst ein paar Wochenenden später erfuhr ich durch Zufall, dass Diana von den Toten auferstanden war.
Noch ein Jahr später freute ich mich, wenn in den Nachrichten von einer Springflut in der Elbe die Rede war. Ich stellte mir vor, wie das Wasser der Elbe in die Marschen drängte, wie sich die alten Entwässerungssiele füllten, wie eine kleine Flut von der Straße aus zum Haus hinüberkroch und den neuen Damm zerstörte. Wie der treulose Liebhaber mit Sandsäcken, schlechtem Wetter und Mutlosigkeit kämpfte, wie er fluchte und den Tücken seines wunderschönen Hauses ausgeliefert war. Nie habe ich Schadenfreude in so reiner Form genossen.
Doch ich habe aus der Begegnung mit diesem Mann auch viel Gutes mitgenommen. Vieles von dem, was er mir übers Landleben erzählte, war richtig, es half mir in der Zeit des Umzugs und des Eingewöhnens. Die Lust am Haus, die er so stark empfand und die wir auf unseren Ausflügen geteilt hatten, war durch das bittere Ende nicht getrübt worden, und mehr als alles andere lernte ich eins: dass man sich von einem Menschen viel bewahren kann, auch wenn man von ihm so enttäuscht ist, dass man nie mehr mit ihm sprechen möchte. Viele Menschen, deren Wege sich mit unserem kreuzen, werden nicht dauerhaft bleiben – und dennoch haben sie etwas zu geben, in der kurzen Zeit, in der wir mit ihnen zusammen sind. Auch wenn es einem aus vielfältigen Gründen vielleicht nicht vergönnt ist, den einen Menschen zu haben, mit dem man eine Geschichte teilt, kann man sich aus den Begegnungen mit vielen Menschen eine Geschichte aufbauen, die nicht einsam ist.
Die Lust am Haus, die Sehnsucht aufs Landleben blieb, aber in praktischer Hinsicht war ich noch keinen Schritt weiter als vorher. Ich fing an, in anderen Gegenden rund um Hamburg zu suchen. Stunden um Stunden verbrachte ich auf Immobilienseiten im Internet. Auf den Parkplätzen winziger Bahnhöfe traf ich mich mit Maklerinnen und ließ mich von ihnen zu alten Bauernhöfen fahren, nur um festzustellen, dass das zu mietende Dachgeschoss so stark modernisiert war, dass man genauso gut in einem Hochhaus wohnen könnte. Einmal nahm ich ein Taxi zu einem Hof, den sogar der Taxifahrer so trist fand, dass er mir ungefragt anbot, zu warten und mich kostenlos zum nächsten Bahnhof zurückzubringen. Im Alten Land besichtigte ich eine Wohnung in einem denkmalgeschützten Haus mit weißem Fachwerkgebälk – und einer Vermieterin, die sich schon ein Bündel gemeinsamer »Hausregeln« zurechtgelegt hatte.
Nur einmal fand ich ein Haus, das hätte passen können. Es lag noch ein gutes Stück hinter dem abgelegenen Buxtehude, an einer unbefestigten Straße, die von einem Minidorf ins nächste führte, war umgeben von Mais- und Getreidefeldern, hatte einen großen Garten mit dichten Hecken drum herum. »Hier können Sie ein paar Schafe halten«, schlug der unglaublich nette Vermieter vor (ich hielt die Idee mit der Schafhaltung allerdings für abwegig), und überhaupt sagte er zu allem ja, was ich im Haus verändern wollte – ein neuer Fußboden hier, das Geländer streichen dort. »Machen Sie, was Sie wollen – das Haus hat früher meiner Mutter gehört, es ist mir nur wichtig, dass jemand darin wohnt, der es liebt.« Und ich hatte rasch begonnen, das Haus zu lieben. Bis heute denke ich hin und wieder daran: an das riesige Wohnzimmer mit dem offenen Kamin, an das klitzekleine, aber perfekt geschnittene Extrazimmer, in das ich so gern meinen Schreibtisch gestellt hätte, an die Felder der Umgebung und die witzige Hausnummer 4. »Wo sind die Häuser 1, 2 und 3«, fragte ich, und der Vermieter grinste: »Gibt es nicht und werden nie gebaut.« Um sicherzugehen, hatte man dem ersten Haus eine mittlere Nummer verpasst.
Doch als mich der Hausbesitzer am nächsten Bahnhof absetzte und alles so perfekt und glückversprechend schien, rollte eine Welle Angst an mich heran. Ich saß mitten im Sonnenschein auf einer Bahnhofsbank, drei Kilometer von meinem künftigen Zuhause entfernt, und fürchtete mich. Und so abstrakt diese Angst über mich kam, wusste ich doch sofort, was sie mir sagen wollte: Dieses Haus lag zu einsam. Mitten im Niemandsland. Hier im Norden geht die Sonne im Winter um 16 Uhr unter; wenn ich einkaufen fahren oder Freunde in Hamburg besuchen wollte, würde ich bei der Rückkehr mehrere hundert Meter durchs völlige Dunkel auf ein leeres Haus zurollen. Diese Vorstellung schreckte mich. Ich sagte ab.
Ich hatte mit genug Leuten gesprochen, hatte genug Häuser und Wohnungen gesehen, um zu wissen, was ich suchte. Nur gefunden hatte ich es noch nicht.
EIN HEIM, MIT SPASS UND SCHNAPS ERBAUT
Die meisten Häuser, die man auf dem Land angeboten bekommt, stehen zum Verkauf und nicht zur Miete. Und natürlich ist die Vorstellung, etwas »Eigenes« zu kaufen und sich dort einzurichten, auch viel romantischer. Aber ich hatte inzwischen bei mehreren anderen erlebt, wie schwierig es ist, ein Haus wieder loszuwerden, wenn es einem aus irgendwelchen Gründen nicht mehr gefällt. Und trotz allem, was mir Alex’ Freundinnen von ihren handwerklichen Fortschritten berichtet hatten: Ich suchte ein Haus, das gut in Schuss war, bei dem ich nicht, bevor ich meinen ersten Winter darin erleben durfte, einen Crashkurs in Heizungsinstallation absolvieren musste – egal, wie hilfsbereit die Dorfbewohner dem Erzählen nach waren oder nicht. Drittens wollte ich zwar nicht so entlegen wohnen, dass mir bange wurde, fand aber doch, wenn ich schon die Stadt hinter mir ließ, verdiente ich als Entschädigung für fast zwanzig Jahre Häuserwändestarren einen grandiosen Blick.
Unnötig zu sagen, dass diese drei Kriterien eine Haussuche ziemlich einschränken. Erschwinglich sollte die Miete meines Wunderhauses natürlich auch sein. Und weil meine Vertretungszeit in Hamburg Ende des Sommers abgelaufen war, musste ich von Frankfurt aus suchen. In endlosen Internetsitzungen versuchte ich mich mit der Geographie Niedersachsens vertraut zu machen – nicht ganz leicht für einen Menschen, der schon Schwierigkeiten hat, sich im eigenen Häuserblock zu orientieren. Auf der Website der Deutschen Bahn verglich ich stundenlang, welche Bahnhöfe wie oft von durchgehenden, nicht durchgehenden, schnellen oder preiswerten Zügen von Frankfurt und Berlin zu erreichen wären, wo die meisten meiner Freunde und Freundinnen leben. Ich studierte Wahlergebnisse, versuchte potentielle Nazihochburgen ausfindig zu machen, entschied, dass es kein Fehler sein könne, sich in der Nähe einer Universitätsstadt anzusiedeln, so klein sie auch sei. Studenten ziehen Buchläden nach sich, Vorträge, Lesungen und Cafés. Aufgrund solch trockener logistischer Überlegungen kam ich irgendwann zu dem Schluss, dass Lüneburg die ideale Bezugsstadt sei; ich fuhr hin, stapfte zwei Stunden hindurch, war mit dem Gesamteindruck zufrieden und beschloss: Hier ziehe ich hin.
Aus früheren Jahren hatte ich in Lüneburg eine einzige Bekannte namens Anne. Ich rief sie an und fragte, ob sie mir Dörfer im Umkreis empfehlen könne. Anne war alarmiert. Ihr selbst war es schwer genug gefallen, ihres Mannes wegen aus einer Großstadt in eine Kleinstadt zu ziehen; und jetzt wollte ich auch noch freiwillig auf ein Dorf? Sie versprach, darüber nachzudenken, und hatte einen so tief besorgten Tonfall in der Stimme, dass sie einem fast leidtun konnte. Erst kürzlich gestand sie mir, sie und ihr Mann hätten während meines ersten halben Jahres täglich mit einem Hilfeschrei meinerseits gerechnet. Und dann wäre sie schuld an meinem Elend gewesen, denn es war Anne, die ein Haus für mich fand.
Man muss wissen, dass Anne ein Mensch ist, der es bei all ihren Angelegenheiten mit leichthändiger Grazie auf Perfektion anlegt. Sie ist klug, bildhübsch, elegant, hat eine hinreißende Familie, ein wunderschönes Haus und trägt die Nase trotzdem nicht hoch. Meine heimliche Theorie über Anne besagt, dass sie eine geborene Kupplerin abgäbe; jeden Mann, den sie mir empfehlen würde, würde ich unbesehen nehmen. In meinem Fall allerdings hatte Anne erkannt, dass ich ein neues Zuhause dringender brauchte als einen Mann, und all ihre Fähigkeiten darauf konzentriert. Wenig später rief sie mich an und erzählte, Freunde von ihr hätten ein Haus auf dem Land zu vermieten; es sei ein »freundliches« Haus, wiewohl es am Waldrand liege, und habe wunderbare Fensterrahmen. Ich wusste nicht, was ein freundliches Haus ist – anders als ein helles oder gemütliches –, und ich verstand nicht recht, warum es so sehr auf die Fenster ankam. Doch ich vertraute auf Annes Sinn für Perfektion. Wir vereinbarten einen Besichtigungstermin.
Anne holte mich am Lüneburger Bahnhof ab, und wir fuhren eine halbe Stunde über leicht gewelltes Land – eine Endmoränenlandschaft der norddeutschen Tiefebene, in der die Eiszeiten dem Land mehrere Reihen von Geröllablagerungen und den heutigen Landkarten eine unübersichtliche Zahl von »Bergen« beschert haben: Butterberg, Krähenberg, Mühlenberg. Jeder Hügel wird hier ein Berg genannt und mit seinen stolzen 50 oder 60 Metern auf den Karten verzeichnet. In den Dörfern sahen wir viel roten Backstein und dunkles Fachwerk. Dazwischen Pferdeweiden, Kartoffelfelder, Raps und kleine Wälder. Auch die Lüneburger Heide ist nicht überall von Heide-, sondern zumeist von Agrarlandschaft geprägt. Es war Ende August, die Getreidefelder waren bereits abgemäht, Strohballen standen auf den Wiesen, Bussarde und Milane kreisten am blauen Himmel, die Äpfel reiften in der Sonne. »Lass dich nicht täuschen«, sagte Anne, »Norddeutschland will dich nur reinlegen. Dies ist ein so schöner, trockener, sonniger Sommer wie seit Jahren nicht mehr.«
Wir kamen an einer alten, etwas heruntergekommenen Mühle vorbei und einem stattlichen Gutshaus und fuhren über eine holprige Zufahrt in Richtung Wald. Zwischen einer riesigen Kartoffelscheune und dem nicht minder umfänglichen Schafstall, an einer Seite durch mächtige Eichen behütet, stand dort ein Haus – mein neues Zuhause.
Ein Backsteinbau mit einem großen Giebelfenster an der Stirnseite, mit einem dekorativen alten gusseisernen Zaun davor, der allerdings nach wenigen Metern abrupt endete, und einer weißen Holztür. Früher einmal war es eine Schmiede, eine Stellmacherei, ein Schweine- und ein Bullenstall gewesen – bis heute ist es mir nicht gelungen herauszufinden, was schon alles in diesem Haus oder wenigstens an diesem Fleckchen Erde stattgefunden hat, und in welcher Reihenfolge. In den Neunzigerjahren wurde das jetzige Haus von Grund auf neu, aber unter Verwendung alter Steine und Balken errichtet. Die großen, hellen Räume waren wunderbar proportioniert und, wie mein künftiger Vermieter nun erzählte, nach seinen Ideen angelegt worden. Allerdings, fuhr er fort, hätten sie sich beim Bau sehr gut amüsiert und zu dem Zwecke auch viel getrunken, weswegen das Haus auf einer Seite einen Meter breiter sei als auf der anderen. Wie groß es insgesamt sei, wisse er nicht, und einen Grundriss gebe es nicht.
Die Besitzer wohnten selbst noch hier, als ich das Haus zum ersten Mal sah, und ich getraute mich nicht, mich allzu neugierig umzuschauen. Aber zweierlei war sofort klar: dass dieses Haus unbescheiden groß war für eine Person. Und dass es vollkommen war.
Im Erdgeschoss gab es eine große Küche, ein ausladendes Esszimmer mit Fenstern in zwei Richtungen und ein Wohnzimmer mit einer Glasfront, durch die man Sicht auf Terrasse, Garten und Weiden hatte. Im Obergeschoss lagen die Schlafzimmer mit großen Giebelfenstern nach vorne und hinten. Ich hatte mir »Blick« gewünscht, und hier hatte ich welchen – in alle vier Richtungen, aus sämtlichen Räumen. Im Winter leuchten nachts durch den Wald bisweilen aus mehreren hundert Metern ein paar Autoscheinwerfer auf, im Sommer ist alles belaubt und ringsum grün. Nur wenn man sich im Badezimmer auf die Zehenspitzen stellt und schräg zum Dachfenster hinausschaut, kann man ein paar Häuser an der Dorfstraße sehen.
Ich unterhielt mich kurz mit den Besitzern, dann zeigte mir deren ältere Tochter auf der angrenzenden Weide ungefähr ein Dutzend Schafe und drei wuchtige, beeindruckend behörnte Welsh-Black-Kühe. »Sie können auch gern Ihre Tiere zu den Schafen dazustellen«, meinte Christian, mein künftiger Vermieter. Als ob es das Normalste von der Welt wäre, beim Umzug Tiere mitzubringen und im Stall unterzustellen. Ahnungslos, wie ich war, wies ich die Idee weit von mir. (Keine zwei Jahre später schlug Christian freundlich vor, wir sollten einen Pakt schließen: Ich dürfe keine weiteren Schafe mehr anschaffen. Außer »wenn eins geht«.)
»Hier im Haus haben wir schon alles gehabt«, fuhr Christian fort und erzählte mir eine Anekdote aus der Zeit, als die Mutter der kleinen Kuhherde noch jung und frech gewesen war: Wie die Familie einmal auf der Terrasse üppig den Tisch zum Abendbrot gedeckt hatte. Wie Ilse, die Kuh, davon Wind bekam, ihre riesige Zunge ausfuhr und mit einem Schlenker das Brot vom Tisch zog, und wie die beiden Mädchen der Familie schnell die Käsehäppchen in Sicherheit brachten, weil darin Zahnstocher steckten, an denen sich Ilse verletzen könnte, die derweil das ganze Tischtuch vom Tisch und über die Terrasse zog.
Nicht nur auf der Terrasse war Ilse gewesen, nein, auch auf dem Wohnzimmerteppichboden hatte sie einen Fladen hinterlassen; Gänse waren schon im Haus gewesen, Schafe ebenfalls. Ein Schaf, das mit der Flasche großgezogen wurde, kam sogar selbstständig zur Tür herein, wenn es fand, dass es an der Zeit für die nächste Mahlzeit sei. Meine Vermieter erzählten davon in aller Selbstverständlichkeit und mit dem größten Vergnügen, und ich dachte mir sofort, dass man mit Leuten, die vandalierende Kühe für einen prima Spaß halten, auch selber eine Menge Spaß haben kann. Zumal das ganze Drumherum, der Garten, nicht gerade aussah, als hätte man ein Lineal angelegt. Von Zäunen schien man hier nicht viel zu halten und auch aufs Rasenmähen nicht allzu viel Wert zu legen; auf der Wiese hinter der Terrasse gedieh allerlei, am besten Brennnesseln, Ampfer und Giersch. Eine Kletterrose rankte sich an der Mauer hoch, den guten Pflaumenbaum hatten die Schafe letzten Sommer zernagt, Holunder wucherte vom Fuß einer toten Linde herüber auf die Terrasse. Das Haus selbst war in tadellosem Zustand, aber der Garten wurde leger gehandhabt. Was mir nur recht war. Ordnungssinn ist mir nicht in großem Stil gegeben, und da ich keinerlei Erfahrung im Gärtnern hatte, hätte ich mich mit geometrisch angelegten Staudenbeeten oder einem Golfrasen hoffnungslos überfordert gefühlt. Wenige Wochen später kam ich ein zweites Mal von Frankfurt heraufgefahren, um den Vertrag zu unterschreiben. Allerdings hatte Christian noch keinen vorbereitet, »hier bei uns machen wir das mit einem Handschlag«, also gaben wir uns einfach die Hand. Die Miete für das ganze Haus betrug so viel wie die für meine Wohnung in der Stadt.
Im September erfolgte dieser Handschlag, meine Vermieter wollten bis Weihnachten umziehen, daher war mein Haus erst ab Januar frei. Ich litt unter dieser Frist von vier Monaten wie eine frisch Verliebte unter der Trennung von ihrem Geliebten; es schien mir völlig sinnlos, noch für mehrere Monate in die Stadt zurückzukehren. Das Einzige, womit sich die Zeit halbwegs angemessen füllen ließ, war, mir das Haus in bewohntem Zustand vorzustellen, davon tagzuträumen, es einzurichten, Möbel zu kaufen, Farben auszusuchen, den Umzug vorzubereiten, von Mitte September bis Mitte Januar, Tag für Tag.
Sechs Zimmer hatte ich in meinem neuen Zuhause zu füllen; das stellte für meinen Single-Haushalt eine gewisse Herausforderung dar. Von meinen Frankfurter Möbeln waren es nur wenige wert, mitgenommen zu werden, doch für eine komplett neue Einrichtung hatte ich zu wenig Geld und zu viel ökologisches Gewissen. Auf ebay wurde ich im Sektor der unrestaurierten Jugendstilmöbel fündig, das Angebot war groß, die Dinge schön anzusehen und bezahlbar.
Weil jeder, der auch nur einen Hauch von Sympathie für unbelebte Gegenstände aufbringen kann und einmal bei ebay gewesen ist, weiß, was jetzt folgte, will ich es bei Andeutungen belassen: Tage und Abende vorm Internet; stundenlanges Vergleichen und Hin- und Hermailen der Links und Fotos mit interessierten (oder zwangsinteressierten Freundinnen); Bieten ab der letzten Minute und bis zur allerletzten Sekunde; beginnende Sehnenscheidenentzündungen an der Maushand; Lieferungen und Verpackungsmüll. Ich ersteigerte Esstisch und Schreibtisch, Stühle und ein Sofa, Gästebetten und alte Kommoden, zwei Schränke und eine komplette Jugendstilküche in Weiß. Freunde schenkten mir fast neue Matratzen, Geschirr und Lampen. Das meiste davon musste ich in meinem Frankfurter Keller einlagern, der sich so schnell füllte, dass ich mir Sorgen zu machen begann. Die Kubikmeterzahl, die ich der Möbelspedition genannt hatte, stimmte schon lange nicht mehr.
Doch das wirklich Riskante war: Ich versuchte von Frankfurt aus ein 500 Kilometer entferntes Haus einzurichten, das ich insgesamt vielleicht anderthalb Stunden und in bewohntem Zustand gesehen hatte. Einen Grundriss gab es nicht. Ein paar Maße hatte ich bei meinem zweiten Besuch genommen, ich malte Grundrisse und füllte sie mit Möbeln, die ich noch nicht oder erst seit kurzem besaß; bestellte bei Ikea eine lange Reihe neuer Regale, fuhr zu zig verschiedenen Baumärkten wegen der Farbpaletten, kaufte einen pfundschweren Farbfächer und experimentierte ewig mit verschiedenen Rot- und Blautönen herum. Meine Vermieter hatten mir zwei Handwerker vor Ort empfohlen, die das Haus in den ersten beiden Januarwochen renovieren würden, sie sollten auch einen neuen Fußboden über den Teppich legen, den schon die Kuh Ilse markiert hatte, und die Regale aufbauen.
Wenn das mit der Ikea-Lieferung klappen würde (»Wir können vorab keine Liefertermine zusagen«), wenn meine Möbel alle in den Wagen passten, wenn das Streichen und Fußbodenlegen und Fußbodenabschleifen in zwei Wochen zu erledigen waren, wenn die Vermieter ihren Umzug wirklich bis Weihnachten schafften, wenn die Farben dem entsprachen, was ich ausgesucht hatte, und die Handwerker mit meinen seitenweisen Notizen (»Regal ungefähr dort aufbauen und bis zur Holzkante noch blau streichen«) zurechtkamen. Ich schickte Lampen voraus, bestellte Unmengen von Katzenstreu vor, begann früh mit dem Packen, nutzte die Gelegenheit, um vieles wegzuwerfen (was ein Fehler war, denn auf dem Land braucht man alles), und machte die erschütternde Erfahrung, wie viel Elektromüll man in ein paar Jahren auf dem Dachboden ansammeln kann.
Insgesamt war die Planung dieses Umzugs die größte logistische Anstrengung meines – auf diesem Gebiet zugegebenermaßen bisher ziemlich ereignislosen – Lebens. Das letzte zu bewältigende Problem war: Mobilität. Für mein neues Zuhause brauchte ich ein Auto, ich hatte aber noch nie eines besessen und war seit Erwerb meines Führerscheins kaum gefahren. Unbesehen und per Telefon kaufte ich bei einem Händler, dessen Stimme mir vertrauenswürdig vorkam, einen gebrauchten mitternachtsblauen Kombi und nahm zur Sicherheit noch ein paar Fahrstunden, bis der Fahrlehrer meinte, jetzt sei es aber wirklich genug.
Trotzdem fand ich die Strecke von 500 Kilometern am Umzugstag zu viel für mich allein. An einem Sonntag Mitte Januar sollte der Umzugswagen kommen; am Samstag davor holte ich meine Hamburger Freundin Bettina am Frankfurter Bahnhof ab. Ein letztes Mal gingen wir in »meine« Pizzeria, wickelten noch etwas Geschirr ein, beluden das Auto und schliefen unruhig zwischen Bergen von Kisten.
Am nächsten Morgen packten wir die drei Katzen in ihre Transportboxen und schnallten diese auf dem Rücksitz an. Hinten im Kombi waren bereits Bettzeug, eine Matte für die erste Nacht, mehrere Lampen, der Wasserkocher und etwas Proviant verstaut. Eine Freundin kam und ließ sich erklären, welche Möbel mitkommen und welche auf den Sperrmüll sollten. Hinter uns blockierte der Umzugswagen die komplette Straße, wir hupten ein paar Mal und fuhren los. Beim Bäcker gegenüber hatte ich ein letztes Mal mein Lieblingsbrot gekauft, aber es wäre auch ohne gegangen: Es plagten mich keine nostalgischen Gefühle. Während der letzten Monate hatte ich genug Zeit gehabt, Abschied zu nehmen. Als wir aufbrachen, tat es mir nicht leid um das, was ich an Vertrautem zurückließ. Ich war frei für das, was kam.