Leben im Kinderheim der DDR - Dieter Römhild - E-Book

Leben im Kinderheim der DDR E-Book

Dieter Römhild

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Beschreibung

16 Jahre, von 1961 bis 1977, verbrachte der Autor (Jahrgang 1959) in verschiedenen Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der ehemaligen DDR. Er schildert offen, ehrlich und teilweise auch schonungslos von seinem Leben in diesen Stätten und ist dabei Willkür und zahlreichen Demütigungen ausgesetzt. Er schafft es mit Trotz, Sturheit und Dickköpfigkeit, aber auch mit Mut, Energie und Willenskraft, diese Zeit zu überstehen und sich durchzusetzen. Mit dem Mauerfall 1989 wagt er den Sprung in die ersehnte Freiheit.

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Seitenzahl: 326

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Dieter Römhild

Leben im Kinderheim der DDR

Lebenserinnerungen von Dieter Römhild

Weimarer Schiller-Presse

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2015 FRANKFURTER LITERATURVERLAG FRANKFURT AM MAIN

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Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

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Lektorat: Dr. Andreas Berger

ISBN 978-3-8372-5226-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Erlebnisse im Kinderheim Wernshausen und Schweina 1961 – 1966

Berlin Schöneweide, Borgsdorf und Bollersdorf 1966 – 1969

Das Kinderheim „Schloss Marisfeld“ 1969 – 1974

Zella-Mehlis 1974 – 1976

Jugendwerkhof Freital 1976 – 1977

Geschlossener Jugendwerkhof Torgau vom 3. Juni bis 18. Oktober 1977

In Freiheit??? 1977 – 1989

Endlich frei!!! Die Nacht zum 9. November 1989

Vorwort

Im Oktober 1959 wurde ich an einem Sonntag in Schweina, damals Bad Liebenstein II, geboren. Also, wenn ich ein Sonntagskind bin, was soll mir schon passieren?

Mein Vater Helmut Römhild, der eigentlich Bauer war, verdiente sein Geld mit kleinen Geschäften wie Schrott- und Papierhandel, deshalb war er überall als der „Lumpen Michel“ bekannt.

Meine Mutter Adelheide Römhild, die aus einer Familie mit weiteren vier Mädchen stammte, die alle Lehrerinnen wurden, hatte von zu Hause die Nase voll. So lernte sie meinen Vater kennen.

Nachdem ich vier Wochen alt war, ging sie mit mir in den Hof hinaus, um mich in einer Schüssel zu baden. Irgendetwas hatte sie abgelenkt. Sie ging wieder in das Haus, packte ihre Sachen und verschwand. Wohin sie ging, habe ich erst viele Jahre später herausbekommen.

Im Haus meines Vaters lebten zwei Tanten, Ludwiene und Steffi. Letztere kam gerade von der Arbeit nach Hause und fand mich schreiend in der Schüssel sitzen. Von diesem Zeitpunkt an versuchten sie, mich mehr schlecht als recht zu erziehen. Tagsüber kam ich in einer Dauerkrippe in Merkers unter. Am Wochenende holte sie mich dann ab.

Als ich vier Monate alt war, tat mein alter Herr etwas, das mein ganzes Leben entscheidend verändern sollte: Er versuchte, mit einem Freund an die innerdeutsche Grenze zu gelangen, und wollte in den Westen fliehen. Er nahm für sich und seinen Freund zwei Karabiner von unserem Dachboden mit. Sie stammten von meinem Opa, der zu diesem Zeitpunkt schon gestorben war.

Als sie an der Grenze ankamen, war es bereits dunkel. Beide hatten große Angst, entdeckt zu werden, deshalb versteckten sie sich hinter Büschen. Als ein Grenzer der kasernierten Volkspolizei zu dicht an ihnen vorbeilief, drückte der Freund ab.

Mein Vater war so überrascht, dass er sein Gewehr fallen ließ, um dem angeschossenen Grenzer zu helfen. Er rief dabei um Hilfe, und es dauerte ganze zwei Minuten, bis er von weiteren Grenzern umringt und festgenommen wurde.

Sein Freund dagegen lief weiter, ohne sich umzuschauen, und verschwand im Westen.

Später erfuhr mein Vater, dass sein Kumpel im Westen im Gefängnis gestorben ist, nachdem er dort einen Polizisten erschossen hatte.

Von nun an wurde für mich alles anders: Am nächsten Tag standen zwei nette Damen von der Jugendhilfe vor unserer Haustür und brachten mich in eine Dauerkrippe nach Bad Salzungen.

Dort durfte ich mich austoben, wurde aber von meiner Tante Steffi über das Wochenende nach Hause abgeholt. Nach etwa zwei Jahren wurde mein Vater wieder freigelassen unter der Bedingung, seine Ländereien an den Staat zu verkaufen. Meine Tante sagte später, er hätte sieben Pfennig pro Quadratmeter Wald und drei Pfennig pro Quadratmeter Ackerland bekommen. Auf einem Großteil dieses Geländes wurden die sogenannte 101 (die Musterkaserne der Deutschen Demokratischen Republik) sowie ein Neubaugebiet mit circa 25 Neubaublocks mit den dazugehörigen Schulen, Kindergärten und Einkaufszentren gebaut. Bei 90 Hektar Ackerland ein schönes Stück Geld.

Ich wurde, bevor mein Vater wieder da war, in das Kinderheim Wernshausen gebracht, um dort von ihm getrennt zu leben. Ab jetzt galt ich als elterngelöst.

Kinderheim Wernshausen

Fröbel Kinderheim Schweina

Erlebnisse im Kinderheim Wernshausen und Schweina 1961 – 1966

Im Kinderheim Wernshausen regierte ein Hausmeister mit dem Namen Herr Schulze Er war für die meisten von uns „der schwarze Mann“, weil er stets wegen der Heizerei dunkel angezogen war. Hatte eine Erzieherin mit einem Kind Schwierigkeiten, wurde er geholt. Wenn er losbrüllte, standen wir stramm.

Im Heim waren circa 30 bis 40 Kinder. Jungen und Mädchen lebten in einer Gruppe zusammen. Jeden Freitag war Badetag. Die Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren mussten sich nackt auf eine lange Holzbank setzen. Je zwei Kinder wurden nun zusammen in die Wanne gesetzt und von der Erzieherin gebadet. Auch unser Hausmeister war fast immer anwesend.

Wenn ein Kind vorher frech war, Seife vom Waschen oder von der Haarwäsche in die Augen bekam und anfing zu weinen, wurde es von ihm mit dem Kopf unter Wasser gedrückt, bis es nur noch leise vor sich hin jammerte. Hauptsache, es war ruhig.

Nach dem Baden wurden die Anziehsachen zum Waschen getauscht.

Es gab natürlich auch wunderschöne Zeiten. Sie waren immer dann, wenn vor dem Kinderheim ein Karussell, eine Schießbude und eine Losbude aufgestellt wurden. Dann war entweder Kirmes oder irgendein Frühlings- oder Sommerfest. Nun hörten wir bis spät in die Nacht die Musik vom Karussell oder das Grölen der Besoffenen, die Lieder sangen wie: „Liebeskummer lohnt sich nicht“, „Marmor, Stein und Eisen bricht“ oder „Humba Humba Humba Tätärä“.

Wenn die Schausteller ihre Buden und Karussells abbauten, stellten sie hin und wieder Spielsachen auf den Gartenzaun des Kinderheims, welche durch uns am nächsten Morgen gefunden werden sollten. Hierbei handelte es sich meistens um Porzellanfiguren oder Teddybären und Puppen. Als wir diese dann fanden, sammelten alle wie die Verrückten. Es war wie zu Ostern beim Eiersuchen. Das Problem war nur: Auch unsere Erzieherin erfreute sich an diesen kleinen Geschenken und nahm sie uns anschließend weg.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich an das Heimleben gewöhnt hatte. Aber ich lernte schnell. Wenn jemand etwas bekam, das ich haben wollte, nahm ich es ihm weg. In der Regel ging es hierbei nicht um irgendwelches Spielzeug, welches wir sowieso nicht hatten außer zu Weihnachten, sondern es ging meistens um Süßigkeiten, die man sofort vernichten konnte, indem man sie aß. Danach konnten sie mir von niemandem mehr weggenommen werden. Diese Süßigkeiten kamen von den Eltern der Kinder, welche eine Besuchserlaubnis hatten.

Als mein Vater irgendwann herausbekam, dass ich in Wernshausen im Kinderheim war, fuhr er mit seinem Pferdefuhrwerk vor, um mich zu holen oder wenigstens zu besuchen. Das war jedoch ohne die Zustimmung der Jugendhilfe nicht möglich. Er kam in das Heim, unterhielt sich kurz mit der Erzieherin und ging dann sofort auf mich zu. Wir saßen im Speisesaal beim Essen. Als ich ihn sah, rannte ich ihm entgegen und fing an zu weinen. Ich wollte nur noch nach Hause. Die anwesende Erzieherin hatte nichts Besseres zu tun, als mich am Arm zu packen und von ihm zu entfernen. Dabei steckte er mir irgendetwas in die Tasche. Ich wurde daraufhin in einen kleinen Raum, eine Vorratskammer, eingesperrt. Dort schrie ich, so laut ich konnte. Es war stockdunkel. Lauthals konnte ich meinen Vater brüllen hören. Doch es half nichts. In die Gruppe durfte ich erst zurück, als mein alter Herr unter Protest und mit Polizeischutz gegangen war.

Endlich wieder im Gruppenraum, schaute ich nach, was in meiner Tasche war: Es war ein Stück Papier mit runden Kreisen. Als ich anfing, die runden Kreise herauszureißen, wurde ich von einer Praktikantin erwischt. Erst später wurde mir klar, was dieser Zettel zu bedeuten hatte: Es war ein Fünf-Mark-Schein. Die runden Kreise waren die DDR-Symbole.

Am nächsten Tag ließ die Praktikantin alle Kinder antreten. Nun sollten wir uns anziehen. Anschließend gingen wir zum Bahnhof. Er war nur etwa fünf Minuten vom Kinderheim entfernt. Das Schöne aber war: Dort gab es einen Imbiss. Er führte Schlangen aus Gummi wie die heutigen Gummibärchen.

Unsere Gruppe bestand aus 15 Kindern. Jedes bekam eine Schlange. Wir freuten uns über die Süßigkeiten, welche wir außer der Reihe bekamen.

Die Zeit verging. Mein Vater hatte mit der Jugendhilfe eine Einigung gefunden, um mich für eine Woche mit nach Hause zu nehmen. In dieser Zeit ging ich oftmals im Dorf, welches aus 20 Häusern bestand, umher. Jeder Hof, welcher keinen Zaun hatte, wurde zum Spielplatz. Am Dorfrand gab es einen großen Schweinestall. Jedes Mal, wenn ich dort vorbeikam, roch es nach gekochten Kartoffeln. Als ich herausbekam, dass diese aus einem Dämpfer kamen, bediente ich mich. In der Nähe des Schweinestalls war ein großer Hof, der dem Bauern Änder gehörte. Heimlich schlich ich mich in seinen Hühnerstall und holte mir zwei, drei Eier. So konnte ich mit dem ständigen Hunger besser umgehen. Eines Tages lernte ich ein anderes Kind kennen. Als wir zu ihm nach Hause gingen, waren dort weitere Kinder. Wir spielten den ganzen Nachmittag. Ein kleiner Hund war unser Spielzeug. Ihn wollte ich unbedingt mitnehmen. Als ich nun stolz wie Oskar mit dem Hund an der Leine durchs Dorf lief, war ich der Allergrößte. Vor dem Haus, aus dem der Hund stammte, wurde auf der Straße ein großer, langer Graben geschachtet. Zwei Jugendliche, welche in dem Loch standen, machten sich über mich lustig.

Ich sagte: „Ihr habt ja keine Ahnung.“

Danach lief ich bis zum Ortsausgang und wieder zurück. Nun hatten die beiden ein Luftgewehr geholt und schossen auf meinen Hund. Ich riss ihn hoch in meine Arme und rannte weg. Ich hörte sie nur noch „Zigeunerfreund“ rufen. Mein Vater suchte mich unterdessen mehrere Stunden lang. Als er mich fand, zerrte er mich am Arm bis nach Hause. Auf dem Weg dorthin brüllte er wie ein Geisteskranker umher, was ich wohl bei den Zigeunern zu suchen habe. Erst viel später begriff ich, was Zigeuner sind. Zu Hause angekommen, schrie er weiter, ich hätte das Hoftor aufgelassen, und ein Huhn war auf die Straße gelaufen, welches überfahren wurde. Daraufhin zog er seinen Gürtel aus der Hose, legte mich übers Knie und peitschte mich aus.

Wieder im Heim, sah man die blauen Flecken, worauf es hieß: „Du siehst Deinen Vater nie wieder!“ Jetzt wurde ich unter die Vormundschaft des Jugendamts gestellt.

In Wernshausen mussten sich die Kinder auch auf die Schule vorbereiten. Gegenüber war eine Grundschule. Nachmittags, wenn die Schüler aus dem Dorf nach Hause gingen und nur noch die Hortkinder einen Klassenraum belegten, durften wir dort Schule üben. Wir malten, lernten das Zählen und Stillsitzen.

Wenn ein Kind verhaltensauffällig wurde, sonderte man es hier aus.

Bedingt durch die Beurteilung meiner Erzieherin, verlegte man mich vor meinem sechsten Geburtstag über Nacht in ein Durchgangsheim bei Suhl. Danach fand man für mich einen Platz im Fröbelheim Schweina. Hier verbrachte ich die letzten 14 Tage der Sommerferien und wurde eingeschult. Nun bekamen alle Kinder eine Zuckertüte mit vielen Naschereien. So viele Süßigkeiten hatte ich vorher noch nie besessen.

Die ersten Tage in der Schule waren extrem langweilig. Immer wenn ich in der Stunde etwas aß oder gelangweilt mit den Fingern auf den Tisch klopfte, wurde ich bestraft. Manchmal gab es Schläge auf die Finger oder einfach mal einen Knuff in die Seite, auf den Rücken oder den Kopf. Irgendwann brachte ich mir einen Teddy und ein kleines Holzauto zum Spielen mit. Ich glaube, der Lehrer konnte mich nicht besonders gut leiden. Er rief mich des Öfteren an die Tafel, und ich sollte ihm irgendwelche Buchstaben oder Buchstabenverbindungen vorlesen. Er wollte mich wahrscheinlich vor der Klasse bloßstellen.

Es war kurz nach den Oktoberferien, als er mich wieder einmal an die Tafel rief. Ich war gerade eingeschlafen. Im Halbschlaf ging ich zur Tafel und stellte mich neben den Lehrer.

Er zeigte mit einem langen Stock darauf und sagte: „Lies vor!“

Ich starrte an die Tafel, konnte aber nicht sagen, was da stand. Diese Buchstaben sah ich zum ersten Mal. Daraufhin kniff er mich in den Arm. Er kniff immer stärker.

Es dauerte eine Weile, und als es richtig wehtat, schrie ich vor Schmerz: „Au!“

Er sagte kurz: „Richtig, setzen!“

Die Klasse lachte sich kaputt. Der Einzige, welcher nicht wusste, was eigentlich los war, war ich. In der ersten Reihe saß ein Junge, der besonders laut lachte. Als ich an ihm vorbeilief, boxte ich ihm in die Seite.

Er sprang auf, schubste mich und rief dabei: „Was willst Du dreckiges Heimkind?“

Jetzt setzte ich mich. Nun gab mir der Lehrer eine zusätzliche Hausaufgabe. Dabei blieb ich ganz ruhig, als ginge mich das alles nichts an. Dann begann die Pause, ich erwartete meinen Freund an der Hoftür. Er kam direkt auf mich zu. Noch ehe er die Hand heben konnte, hatte ich mehrmals zugeschlagen. Ihm blutete die Nase, und er lief weinend davon.

Am nächsten Tag war die Schule für mich zu Ende, denn ich verstand sowieso nicht, was der Lehrer von mir wollte. Da es kurz nach den Oktoberferien und damit eine Verlegung in ein anderes Kinderheim ausgeschlossen war, durfte ich im Fröbelheim bleiben. Ab jetzt begann für mich eine wunderschöne Zeit. Tagsüber wurde ich von einer Erzieherin, Frau Brand, einer Person mit dunklen Haaren und massivem Körperbau, betreut. Weil sie so wuchtig war, hatte ich riesigen Respekt. Diese Frau war nun für mich ganz allein da. Deshalb musste sie versuchen, mich zu beschäftigen. Sie gab mir des Öfteren eine Mark, mit der sollte ich in den nahe gelegenen Konsum gehen und zwei Stück Mohnkuchen holen. Das tat ich sehr gerne. Wieder im Heim angekommen, hatte sie für sich Kaffee gekocht. Ich bekam eine Tasse heißen Kakao. Dazu gab sie mir von dem Mohnkuchen ein halbes Stück ab. Für mich war dies der Himmel auf Erden.

Da sie mich nicht allein lassen konnte, musste ich nach dem Frühstück mein Schullesebuch holen, aus dem sie mir Buchstaben beibrachte, bis ich lesen konnte.

„Das Schlaraffenland“, mein Lieblingsmärchen, konnte ich in kürzester Zeit auswendig. Nach einem Vierteljahr las ich nicht nur das gesamte Buch, sie zeigte mir ein Bild, und ich wusste, was da stand. Hin und wieder durfte ich ihr auch etwas vorrechnen. Selbst das kleine Einmaleins versuchte sie, mir beizubringen. Wahrscheinlich war ich zu diesem Zeitpunkt mit dem Einmaleins überfordert, denn es gab für mich keinen Grund, multiplizieren zu lernen.

Aber ich bekam jeden Morgen Kuchen oder Kekse und Kakao, und das wiederum ließ mich addieren und subtrahieren lernen.

Einmal nahm sie mich sogar mit zu sich nach Hause. In einer großen Truhe, welche neben dem Haus vor einem Sandkasten stand, befanden sich ganz viele Indianer und Cowboys. Dabei waren Zelte und Pferde sowie ein Fort. So viel Spielzeug hatte ich vorher noch nie auf einem Haufen gesehen. Es war wie im Paradies. Und ich durfte den ganzen Nachmittag mit dem vielen Spielzeug spielen.

Im Parterre des Heims waren der Kindergarten des Dorfs und die Küche untergebracht. Dort gab es einen Flur, in dem die Kindergartenkinder ihre Brottaschen und Jacken aufhängten. Hin und wieder, wenn keiner in der Nähe war, ging ich in diesen Flur und machte Brottaschenkontrolle. Darin war neben dem Frühstück auch Geld. Hier und da nahm ich mir 20 Pfennig, sodass es nicht auffiel, dass etwas fehlte. Dieses Geld versteckte ich dann im Sandkasten. Wenn es keiner merkte, ging ich in den Konsum und holte mir Naschereien. Nach dem Mittag musste ich öfters in der Küche helfen. Hier durfte ich abtrocknen, kehren und aufräumen. Dafür gab es immer etwas zu essen. Am Nachmittag, wenn die anderen Kinder aus der Schule kamen und Hausaufgaben machten, wurde ich hinausgeschickt, um im Heimgarten zu spielen. Hier lernte ich Fahrrad fahren und wie man sich allein beschäftigt. Wenn ich müde war, legte ich mich in den Sandkasten unter das Brett der Sitzfläche und schlief. Dementsprechend schmutzig kam ich wieder ins Haus. In dieser Zeit hatte ich keine Freunde, denn durch das Alleinsein war ich ein totaler Außenseiter.

Jeden Sonnabend nach dem Mittagessen wurde eine Heimversammlung durch den Heimleiter, Herrn Ede, abgehalten. Hier vergab er Strafarbeiten (für die Kinder, welche in der Woche irgendetwas angestellt hatten). Natürlich wurden auch die Kinder, welche etwas Gutes in der Woche gemacht hatten, belobigt. Die Belobigung bestand darin, dass man eine Tüte Bonbons bekam. Da ich ja sowieso jeden Tag in der Küche half, bekam ich die Tüte fast jeden Samstag.

Irgendwann kam eine Praktikantin in das Kinderheim. Sie wollte Erzieherin werden. Es war ein junges, hübsches Fräulein, welches nun die Aufgabe hatte, mich zu betreuen. Am Ende ihrer Ausbildung schrieb sie ihre Abschlussarbeit, ich glaube, über mich. Dieses Fräulein Lippe ging mit mir des Öfteren spazieren. Dabei fiel hin und wieder ein Eis oder ein Lolli ab. Ich war sehr gern mit ihr zusammen. Ein paar Wochen später zeigte sie mir eine Landkarte und erklärte mir, dass sie nach Moskau fliegt. Sie sagte, sie fliegt mit einer IL 18. Dann zog sie mit dem Finger einen Strich auf der Karte. Er sollte der Weg von Thüringen nach Moskau sein. Nun dachte ich nur noch darüber nach, wie es sein wird, wenn sie weg ist. Wie soll es mit mir weitergehen? Nun fing ich an zu weinen. Daraufhin nahm sie mich in den Arm, um mich zu trösten. Das hatte bis zu diesem Augenblick noch nie jemand mit mir gemacht. Je mehr sie mich festhielt, desto mehr weinte ich. Ich glaube, sie hatte mich auch gerne.

Am nächsten Morgen hieß es Abschied nehmen. Wieder nahm sie mich in den Arm, um mich zu drücken. Sie versprach: „Bis bald.“ Doch sie kam nicht mehr zurück.

Es dauerte sehr lange, bis ich mich damit abfand.

Sonntags gab es Taschengeld. Mit 0,50 Mark gingen wir in das nahe gelegene Kino. Wir bezahlten mit den 0,50 Mark den Eintritt und bekamen sogar noch eine Limonade oder ein Eis. Das durften wir alle 14 Tage wiederholen. Dann begannen die Sommerferien: Jetzt gingen wir abwechselnd entweder in das Schwimmbad oder liefen auf den Klingelberg und spielten im Wald. Ich glaube aus heutiger Sicht, dass ich in diesem „Fröbelheim“ die schönste Zeit meiner Kindheit verbracht hatte.

Spezialkinderheim Borgsdorf

Sonderkinderheim „Weiße Taube“ Bollersdorf

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