Leben und Überleben in Mecklenburg und Bremen 1943 bis 1948 - Jobst Schöner - E-Book

Leben und Überleben in Mecklenburg und Bremen 1943 bis 1948 E-Book

Jobst Schöner

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Beschreibung

Jobst Schöner kam im Dezember 1934 in Bremen zur Welt. Mit seiner Familie hat er die Bombenangriffe in Bremen erlebt, die Evakuierung und wird nach Vimfow in Mecklenburg evakuiert. Die hier beschrieben, autobiografischen Geschichten spielten sich zwischen dem Sommer 1943 und 1948 ab. In Vimfow findet die Familie für einige Zeit eine von den Kriegswirren weniger betroffene Unterkunft bis zum Einmarsch der Russen. Später wird sie nach Bremen ausgewiesen und erlebt die großen Probleme nach Kriegsende und während der Entnazifizierung des an der Front gefallenen Vaters. »Es heißt immer, man solle die Dinge, die damals passiert sind, für die Nachwelt aufschreiben«, schreibt Jobst Schöner in seinem Vorwort. Mit diesem Buch über die Wirren und Entbehrungen einer Familie am Ende und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, legt er dem Leser ein interessantes Zeugnis der Geschehnisse jener Zeit vor, das einmal mehr all das Grausame beschreibt, das Hitlers Krieg über sein Volk und über die Völker der beteiligten Staaten brachte.

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Jobst Schöner

LEBEN UND ÜBERLEBEN

in Mecklenburg und Bremen

1943 bis 1948

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor!

6. überarbeitete Auflage

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Was vorher geschah

Vom Leben in Vimfow

Die goldenen Räder

Das Haus

Der Hof

Das Klo

Schule

Berni

Das Zielgebiet

Berta

Heimaterde

Bertas Freundin

Der rote Rock

Der Abschied

Fohlen

Pferde

Der Zahn

Drücker

Erntehelfer

Galopp vierspännig

Widder

Der Schweinetrog

Ballerbüchse

Pfeil und Bogen

Die Wäschemangel

Machart

Ochsen

Hühner

Habicht

Enten

Haareschneiden und anderes

Im Stroh

Die Landung

Streusel

Buttercreme

Warzen

Die Schwalbe

Das Dreschen

Kraniche

Treibjagd

Holz

Holzhacken

Speck

Schlitten

Der Peekschlitten

Der Krieg kommt näher

Bomber

Russen

Andere Flieger

Treck

Einquartierung

Markstammkohl

Scharlach und Mörser

Die Henker

Jochen: krank und gelähmt

Gisas heimliche Flucht

Topfschießen

Sie kommen

1. Russen, Panzer

2. Der Generalstab

3. Die Waffe

4. Soldateska

Ein Haufen

Die schwarzen Geier

Tage in Vimfow

Kommandantura

Ruhr

Kaputt

Lieber Gott …?

Brot

Spionka

Auszug aus Vimfow

Farbe Grau

Das Leben in Herzberg

Herzberg

Das Schloss

Das Fest

Pulver

Papieri

Geld wie Heu

Der weiße Schirm

Kühe

Mehl und Zucker

Marmelade

Rotes Kreuz

1. Der Schiss

2. Das Bein

3. Holzkohle

4. Typhus

5. Die Binde

6. Die Operation

7. Deutsche Soldaten

Wasili

Eier

Schrot

Dimitri

Der Feuermacher

Janett

Wasserzauber

Igors Schiksal

Das Herz

Partisanenjagd

Schwarze Schafe 1

Schwarze Schafe 2

Schnitterkarl

Das rote Tuch

Der wilde Mann

Einer zu viel

Viel Fett

Der Leckerbissen

Auch Milchkühe können wild werden

Kuhhandel

Der neue Kommandant

Der Blechzahn

1. Der Herr Kommissar

2. Die Behandlung

3. Trinkfest

4. Für das Vaterland

„Heiliger Nikolai“

Karamellpudding

Jochen

Die Reise

Die große Reise und das Danach

Die Ausweisung

Vier Wochen Reise in Etappen

Etappe: Parchim – Ludwigslust

Etappe: Ludwigslust – Wittenberge – Stendal

Etappe: Stendal – Magdeburg

Beklaut

Etappe: Magdeburg – Aschersleben + krank

Etappe: Aschersleben – Erfurt – Eisenach

Der Unfall

Etappe: Eisenach – Bebra – Lager Bebra

Etappen: Bebra – Kassel – Hannover – Bremen

Bremen

Probleme

Der Schock

Ratzeburg- Römnitz

Der Brief

Entnazifizierung

KZ-Ausstellung

Schwarzmarkt

Lebensmittelkarte

Trägerlohn

Ins Schwabenland

Selber Schuld

Die Partei: NSDAP, SA, VDA

Der Krieg

Zum Schluss: Noch eine Bemerkung

Anhang

Nachklapp

Vorwort

Es heißt immer, man solle die Dinge, die damals passiert sind, für die Nachwelt aufschreiben.

Wir haben die Bombenangriffe in Bremen erlebt, die Evakuierung und die Umevakuierung nach Vimfow in Mecklenburg.

Die eigentlichen Geschichten spielten sich zwischen dem Sommer 1943 und 1948 ab. Die Erzählungen beginnen infolgedessen mit der Umevakuierung nach Vimfow in Mecklenburg.

In Vimfow fanden wir für einige Zeit eine von den Kriegswirren weniger beschwerte Unterkunft bis zum Einmarsch der Russen. Später wurden wir nach Bremen ausgewiesen. Das Leben danach in Bremen war nicht ohne Probleme. Sie enden vorläufig mit den Schikanen der Entnazifizierung meines gefallenen Vaters und vielem mehr.

Da ich alles aus meiner Erinnerung schreibe, kann es sein, dass ich hier und da in meinen Erzählungen nicht absolut genau bin. Auch bin ich in einigen Punkten auf die Äußerungen meiner Mutter angewiesen. Trotzdem hoffe ich, dass ich mit meiner Arbeit den Lesern Eindrücke über die damaligen Verhältnisse vermitteln kann.

Wiesloch, den 9.8.2000

Nachdem ich die ersten unkorrigierten Exemplare meiner Geschichten an meine Geschwister verteilt hatte, wunderten diese sich über mein gutes Gedächtnis und erinnerten sich an vieles, sodass ich einige kleine Ergänzungen vornehmen konnte.

Im Sommer 2001 besuchte ich Vimfow, Mestlin und Herzberg. Ich traf dort auf alte Bekannte. Die dritte Auflage wird durch zwei Fotos ergänzt.

Die vierte Auflage wurde nochmals ergänzt und überarbeitet.

Wiesloch, Januar 2008

Auch die fünfte Auflage wurde ergänzt, überarbeitet und neu gestaltet.

Wiesloch, Juli 2012

Die sechste Auflage wurde ergänzt, überarbeitet und neu gestaltet.

Was vorher geschah

Im Dezember 1934 kam ich in Bremen zur Welt. Meine Eltern mussten den damaligen Sitten entsprechend heiraten. Das Leben war, durch die Wirtschaftskrise bedingt recht ärmlich. Im April 1936 wurde mir mein Bruder Karl geschenkt. Im Sommer 1936 bekam mein Vater seine erste Stelle als Hilfslehrer.

1937 erbte meine Mutter ein kleines Vermögen und kaufte ein Haus. Im Januar 1938 kam dort meine Schwester Eke zur Welt und im Juni 1939 folgte mein Bruder Jochen.

Bereits 1937 kaufte meine Mutter einen Opel, mit dem wir im Frühjahr von Bremen nach Freiburg fuhren. Im Sommer 1937, 38 und 39 verbrachten wir mit Auto und Säugling unsere Ferien in Dierhagen an der Ostsee. Bereits 1939 oder 40 wurde das Auto vom Staat konfisziert.

Da mein Vater widerwillig in die Partei eingetreten war, wurde er nur als Hilfslehrer an verschiedenen Orten eingestellt. Da er infolgedessen häufig zu spät zu den Versammlungen kam, wurde nach einer Auseinandersetzung aus der Partei ausgeschlossen und in eine andere unbedeutende Organisation abgeschoben. Ende 1941 wurde mein Vater zum Militär geholt.

Bald danach fielen die ersten Bomben in unserer Nähe. Beim zweiten schweren Angriff im Spätherbst fielen noch mehr Bomben in unmittelbarer Nähe. In unserem Luftschutzkeller wurden wir bei jeder Bombe durchgeschüttelt, dann gab es plötzlich einen Ruck, dass wir fast aus unseren Betten fielen. Das war eine Luftmiene.

Diese Luftmiene hat das Nachbarhaus buchstäblich vom Fundament geblasen und das lag nun als riesiger Schutthaufen über den ganzen Garten verstreut. In unserem Haus gingen alle Fensterscheiben zu Bruch, alle Einweckgläser explodierten, Vaters Schreibtisch rutschte quer durch zwei Zimmer vom Vorderhaus bis beinahe in den Garten.

Auf der Straße lagen am anderen Morgen überall Phosphorspritzer. Man durfte nicht hinein treten, weil er sonst Löcher in die Schuhe brannte. Viele Dutzend Stabbrandbomben steckten in den Gärten und lagen auf den Straßen herum.

Nach diesem Bombenangriff wurden wir evakuiert. Das heißt, wir wurden mit den wichtigsten Habseligkeiten quer durch Deutschland nach Herrnhut in die Oberlausitz verfrachtet und dort einfach bei einer fremden Familie in die Wohnung gesetzt. Fünf Personen in einem Zimmer, Küche und Toilette mit der Gastfamilie gemeinsam.

Dort, in Herrnhut, kam meine zweite Schwester am 1. Februar 1943 zur Welt, die Nummer fünf von uns Geschwistern.

Meine Mutter zog im Frühjahr mit meinen drei jüngeren Geschwistern nach Vimfow in Mecklenburg in ein altes Gutshaus um, bzw. ließ sich umevakuieren. Vimfow gehörte, neben Mestlin und Groß Thurow, meinem Großonkel und Patenonkel meiner Mutter. Mein Bruder Karl und ich folgten im Sommer 1943.

Dort fanden wir für einige Zeit eine von den Kriegswirren weniger beschwerte Unterkunft, … und damit beginnen meine Erzählungen.

Als dann im Frühjahr 1945 die Russen kamen, war meine Mutter 33 Jahre alt. Ich war 10 Jahre alt, mein Bruder Karl 9, meine Schwester Eke 7, Jochen mit fast 6, an beiden Beinen gelähmt und meine Schwester Heilwig war erst 2 Jahre alt.

Auch nach unserer Ausweisung zurück nach Bremen war das Leben nicht ohne Probleme.

Vom Leben in Vimfow

DIE GOLDENEN RÄDER

Mein Bruder Karl und ich saßen im Zug zwischen Neustrelitz und Waren. Wo das ist? Etwas mehr als 100km nördlich von Berlin. Wir waren schon frühmorgens, eigentlich noch in der Nacht, in Herrnhut auf den Bahnhof gebracht worden. Von dort ging es über Zittau nach Görlitz. Von dort über Cottbus, Frankfurt a. d. Oder nach Neustrelitz. Dort wurden wir wieder umgesetzt in Richtung Waren.

Jedes Mal das Gleiche, wenn der Zug auf einer größeren Station hält. Frauen mit weißen Schürzen schauen in die Waggons, in denen Kinder sitzen, rufen Namen und lesen die Pappschilder, die wir um den Hals hängen haben und schreiben etwas auf die Listen in ihren Händen. Einmal bekommen wir Kornkaffee mit ein wenig Milch und ein Margarinebrot. Mittags bekommen wir beim Umsetzen auf einer Station eine Kohlsuppe mit Kartoffeln.

Ich saß rechts im Waggon und schaute zum Fenster hinaus. Karl saß links und döste vor sich hin. Außer uns beiden saß niemand in unserem Waggon. Die Papptafeln mit unserem Namen, Adressen und dem Reiseziel hingen wie zwei steife Lätzchen an unseren Hälsen.

Rechts drehte sich die Landschaft wie ein riesiges Rad am Zugfenster vorbei. In der Ferne stand fast unbeweglich ein Baum, um den schien sich alles zu drehen. Am Zug sausten Gebüsch, einzelne Bäume und die schwarzen Stangen mit den Telegrafenleitungen vorbei. Dazwischen bis zu dem Baum fast am Horizont goldgelbe Felder mit vereinzelten grünen Tupfen von Gesträuch und noch einmal Felder und Felder, so weit man sehen konnte, goldgelb bis zum Horizont, wo der hellblaue, wolkenlose Himmel begann.

Auf der linken Seite des Zuges drehte sich ein ebensolches goldgelbes Rad, genau so schnell oder langsam, ganz wie man es betrachtete. Die grünen Zweige der Büsche und Bäume sausten mit einem Tempo am Zug vorbei, dass einem schwindlig werden konnte, aber die goldenen Felder drehten sich gemächlicher, je weiter sie weg zu sein schienen. Wenn der Baum in der Ferne sich zu weit nach hinten verschoben hatte, begann sich die riesige Scheibe ganz unmerklich um einen neuen Fixpunkt am Horizont zu drehen. – Es sah wunderschön aus.

Einmal kam ein Stück Feldweg mit einer Schranke auf meiner Seite vorbeigesaust. Als wieder einmal ein Feldweg oder eine Straße auf meiner Seite nahte, sah ich schnell nach, ob auf der anderen Seite des Zuges vielleicht die andere Hälfte sich näherte. Ich ging bis an das Waggonende zurück, sodass ich in Fahrtrichtung am anderen Ende des Waggons gleichzeitig rechts und links aus den Fenstern sehen konnte. Beide Hälften sausten im gleichen Augenblick vorüber. Ich passte die nächste Straße ab. Wieder beide Hälften im gleichen Augenblick.

Die Straßen erkennt man an den langen Baumreihen, die sie auf beiden Seiten begleiten und sich in der goldgelben Ferne verlieren. Dazwischen tauchen Baumgruppen auf, durch die rötlich-braune Dächer hervorlugen.

Der Zug hält. Wieder kommt eine Frau mit weißer Schürze und Rote-Kreuz-Binde. Sie setzt uns um in einen anderen Zug.

Der Waggon, in den wir in Waren umgesetzt werden, ist kurz. Es ist ein Bummelzugwagen mit nur zwei Achsen. Vorne und hinten eine Plattform. Wir dürfen nicht aus dem Wagen auf die Plattform. Also bleiben wir drinnen. „Ratat … ratat … ratat“ rüttelt der Wagen. Karl mault und quengelt. Später schläft er ein. Wieder Felder, Felder, dann Bäume und kleine Waldstücke und kleine Teiche und nichts als goldgelbe Felder.

Dann endlich wieder eine Bahnstation: „Karooow …“ und immer noch kein Ende der Bahnfahrt. Man tröstet uns: Bis Goldberg ist es nicht mehr weit. Und es ist doch noch weit und immer noch goldgelbe Felder mit grünen Tupfen. Ich mag nicht mehr aus dem Zug sehen. Die Augen tun weh. „Taktat … taktat … taktat“ der Zug scheint auf der Stelle zu stehen. Die Büsche, Bäume und schwarzen Telegrafenstangen scheinen vorbei zu kriechen. Ich bin so müde.

Die Bremsen quietschen und kreischen müde und gequält. „Goldbeeerg …“. Der Zug hält an einem Bahnübergang. Zwei Reihen Häuser stehen die Straße entlang. Die Kleinstadt liegt weit ab. Einige Leute stehen auf dem staubigen Bahnsteig. Wir werden wieder von einer Frau mit einer weißen Schürze und Rote-Kreuz-Binde aus dem Zug geholt.

Mutter steht da. Unsere Papptafeln werden von unseren Hälsen abgehängt. Wir werden unserer Mutter übergeben. „Freut ihr euch nicht?“ – „Nö“, sagt Karl halbwach und stolpert an Mutters Hand den staubigen Weg zur Straße. Dort wartet eine viersitzige Droschke mit zwei Pferden und Kutscher.

Wir fahren auf einer dieser endlosen Straßen mit Baumreihen rechts und links. Auf dem Kleinpflaster aus Blaubasalt singen die Räder der Droschke: „RRrrr RRrrr RRrrr.“ Die Hufeisen klappern munter: „Kluk-klak-klukklak.“

Es ist Spätnachmittag, es riecht nach reifem Getreide, es geht ein kühler Wind und Mutter redet und redet. Dafür bekommen Karl und ich vor Müdigkeit den Mund nicht auf. Weil wir nicht antworten, ist Mutter sauer und klemmt den Mund zu. Karl und ich sind froh, dass wir endlich Ruhe haben.

Rechts neben der Straße kommen Bäume und Häuser auf uns zu. An der Straße steht ein Schild. Mutter sagt: „Das ist Techentin. Wir sind gleich da.“ Die Bäume und Häuser verschwinden hinter uns. Links tauchen Bäume und Häuser auf, ein kleiner Junge kommt uns entgegen gelaufen. Mutter hebt ihn in die Droschke und sagt: „Das ist euer Bruder Jochen.“ Der kräht laut und deutlich: „Ich bin Babarossa-Schnickefett!“

Wieder ein Schild: „Vimfow“. An der ersten Zufahrt fahren wir vorbei. Dann biegen wir links ab in Gegenrichtung in den Gutshof: links eine riesige Scheune mit Fachwerk und Strohdach, rechts der Dorfteich mit Weiden an den Ufern und dahinter weitere Scheunen und Ställe, da zwischen ein großer freier Platz.

Hinter einer Baumgruppe mit einem verwahrlosten Rondell, ein anderthalbstöckiges, leicht vergammeltes Gutshaus aus Backstein,

„unser neues Zuhause.“

Wir werden aus dem Wagen gehoben. Wir sollen etwas essen. Als wir ins Bett sollen, wissen wir nicht mehr, ob wir müde sind. So müde sind wir.

DAS HAUS

Karl und ich müssen wie zwei Felsen geschlafen haben. Aus dem Bett waren wir heraus, gewaschen hatten wir uns bestimmt auch. Jetzt saßen wir mit Mutter und den anderen Geschwistern am Frühstückstisch. Heilwig, die Kleinste, lag im Stubenwagen. Das Frühstück machte mich munter. Mein Taten- und Erkundungsdrang erwachten. Da ich nicht aufstehen durfte, bevor alle fertig gegessen hatten, blieb ich ungeduldig sitzen. Karl, der das merkte, aß besonders langsam und viel, was mich nervte. Irgendwann war auch er fertig und ich durfte hinaus. Meine Schwester Eke führte mich herum.

Das Haus, in dem wir jetzt zu Hause waren, war ein ehemaliges lang gestrecktes Gutshaus aus roten Backsteinen. Es lag am östlichen Ende des Gutshofes hinter einem Rondell mit einigen Bäumen. Wir wohnten auf der Rückseite und hatten oben unter dem Dach noch ein Zimmer und eine Kammer. (Siehe: Foto und Skizze)

In der Mitte der Rückseite des Hauses befand sich der rückwärtige Ausgang unseres Wohnzimmers mit einer etwas zu klein geratenen Freitreppe, die in den Park führte. Das Wohnzimmer hatte ein kleines Nebenzimmer. Dort schlief meine Mutter.

Ein ziemlich verlotterter Park zog sich in einem großen Halbkreis um die Freitreppe herum. Am Haus entlang gab es einige Gemüsebeete mit Karotten, Erbsen, Salat und anderem, weniger interessantem Gemüse. Meine Schwester holte einige Salatblätter und sagte, dass wir Mutter nichts sagen dürften. Dann ging sie zu einem Sandkasten, zeigte uns stolz ihre griechischen Landschildkröten, fütterte sie und beteuerte, dass sie sich eigentlich vor diesen Tieren ekle, was nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen musste. Meiner Schwester bereitet es auch heute noch großes Vergnügen, von gruseligen und ekligen Dingen zu erzählen.

Die Tiere fesselten unser Interesse. Schildkröten kannten wir nur aus Bilderbüchern. Sie bewegten sich sehr langsam. Nur wenn es Salat gab, wurden sie munterer. Angeblich sollen sie, wenn man nicht auf sie aufpasst, sehr flink das Weite suchen. Aus diesem Grund hatte Mutter allen Tieren ein Loch hinten durch den Panzer gebohrt und eine Schnur hindurch gezogen, damit man sie außerhalb des Sandkastens festbinden konnte.

Bei der Untersuchung des „Parks“ stellten Karl und ich fest, dass der Weg zwar rechts herum durch ein Gebüsch einen Buckel hinaufführte, aber dann zugewachsen war. Es gab nur einen Ausweg. Rechts durch das Gestrüpp führte ein Trampelpfad zu einem großen Loch im Zaun. Der Zaun war verrostet und bestand nur aus größeren und kleineren Löchern. Von einem großen Loch aus führte ein Weg über die Felder nach Augzin. In Augzin gab es einen Schuhmacher und inoffiziellen Uhrmacher. Ersterer war besonders wichtig, weil er weit und breit der einzige war.

Der Weg führte über die Felder. Im Winter waren die Felder umgepflügt, dann war es beschwerlich zu laufen, oder man durfte nicht auf den frisch ausgekeimten Winterweizen treten. Im Frühjahr waren die Felder nass und matschig und kaum begehbar. Im Sommer durfte man nicht durch die Felder, weil man das Getreide schonen musste.

Nur nach der Ernte durften wir barfuss über die Stoppeln laufen. Das hört sich nicht so schön an, aber nach kurzer Zeit hatten wir gelernt, wie man unbeschadet durch die spitzen Stoppeln laufen kann. Wir liefen trotzdem zu jeder Jahreszeit zu Fuß diesen Weg. Nur den Anfang des Weges verlegten wir regelmäßig, damit unsere Spuren nicht zu offensichtlich wurden.

Im linken rückwärtigen Ende des Hauses lag die Küche mit einem kleinen Nebenzimmer. Die Küche hatte für uns Kinder riesige Ausmaße. Der Herd war aus Ziegelsteinen gemauert und hatte drei Feuerstellen, zwei Backöfen, einen Waschkessel und mindestens drei oder vielleicht sogar fünf Kochstellen, bei denen man die Ringe entfernte und die Kochtöpfe einsetzte, damit sie direkt auf der Flamme saßen.

Über dem Herd hing eine riesige schwarz verrußte Esse. Der ganze Fußboden war mit Klinkern gepflastert. In der Ecke gegenüber dem Herd stand zwischen zwei großen Fenstern eine gusseiserne Wasserpumpe mit einem Pumpenschwengel. Darunter befand sich ein Loch in der Wand, durch das das Wasser hinauslief, wenn man die Küche geputzt hatte oder das Geschirr gespült hatte. Einen Ausguss im heutigen Sinne gab es nicht. Draußen lief die Brühe dann in einer schmalen Rinne vom Haus weg ins Gestrüpp.

Gegenüber unserer Küche wohnte Frau Pralow mit ihrer Tochter Hannelore. Die Tochter hatte bemerkenswert schöne Zöpfe.

Am rechten Ende des Gutshauses wohnte die Frau des Vorarbeiters Kolbow. Ihr Sohn bildete sich ein, etwas Besonderes zu sein. Er war schon in der 5. Klasse und musste nachmittags in die Schule. Außerdem war er viel stärker als mein Bruder Karl und ich zusammen. Das zeigte er uns recht oft. Danach ärgerte er sich jedes Mal furchtbar, weil Karl und ich nicht mehr mit ihm spielen wollten.

Wir drei Jungs hatten eine Treppe höher ein Zimmer unter dem Dach. Im Sommer war es dort erträglich, weil die Bäume Schatten auf das Haus warfen. Im Winter fror oft das Wasser in der Emailwaschschüssel. So kalt wurde es da oben. Das hatte auch seine Vorteile. Uns war gefrorenes Wasser lieber als eiskaltes, da wir uns dann morgens nicht waschen konnten. In der Küche bekamen wir dann etwas warmes Wasser fürs Gesicht und zum Zähneputzen.

Oben im Haus über der Küche befand sich noch eine Dachkammer, in der zeitweise eine Henne brütete. Zum Füttern der Henne durften wir mit hinauf und zusehen. Die Henne sah unheimlich dick aus, wenn sie aufgeplustert auf den Eiern saß. Dabei vollbrachte sie das Kunststück mehr als zwanzig Eier unter ihren Flügeln zu verstecken. Der eigentliche Hühnerstall war in einem Teil des Pferdestalls untergebracht, wo auch Pralows und Kolbows ihre Hühner hielten.

Vor dem Haus befand sich das Rondell mit einem schütteren Grasbewuchs. Diesen hielten die zahlreichen Hühner kurz. Zu beiden Seiten des Rondells wuchsen in einem Schneebeerengestrüpp große Robinien, die so groß waren, dass sie auch dem Gutshaus Schatten spendeten.

Der Weg um das Rondell war nicht gepflastert. Auf der Hausabgewandten, sonnigen Seite des Rondells, wo die Hühner ihre Sandbäder nahmen, hatten sie große Mulden in den Sand gewühlt. Da die Hühner den Sand nicht verkotet hatten, nahmen wir Kinder dort auch gelegentlich ein Sand- und Sonnenbad oder spielten dort.

DER HOF

Der Hof war ein großes Rechteck, an dessen östlichem Kopfende zwischen großen Bäumen, das lang gestreckte, vergammelte, Ziegelgemauerte, eineinhalbgeschossige Gutshaus stand.

Zwischen dem Gutshaus im Osten und dem Dorfteich im Westen befand sich das eigentliche Hofgelände, eine sandige, etwas kümmerliche Wiese, auf der gelegentlich einige Ackerwagen herumstanden und die Hühner nach nicht vorhandenem Futter pickten.

Dieser Teil wurde rechts des Gutshauses von dem lang gestreckten, einstöckigen Pferdestall mit Ziegeldach begrenzt. In dem Stall befand sich auch unser Hühnerstall.

Links des Hofgeländes stand ein großer, moderner Kuhstall. Dieser war bis zur Decke des 1. Geschosses aus Ziegeln gemauert. Das Obergeschoss diente als Strohscheune und war mit Holz verkleidet. Das Dach war für damalige Verhältnisse ungewöhnlich flach. Davor dehnte sich auf ganzer Länge ein gelbbrauner Misthaufen aus.

Am westlichen Ende, gegenüber dem Gutshaus, hinter dem von Weiden eingefassten Dorfteich, stand entsprechend genauso lang der zweistöckige, moderne Schafstall, im gleichen Stil wie der Kuhstall.

Der Dorfteich wurde rechts und links von mächtigen strohgedeckten Scheunen mit mehreren Storchennestern flankiert. Die Dächer hingen bis auf Mannshöhe auf beiden Seiten herunter über das dunkle Eichenfachwerk mit den roten Ziegelsteinen. An den Kopfseiten reichte das Fachwerk bis unter das kurze Walmdach. Dort befanden sich an beiden Enden die großen Scheunentore. Während der Ernte fuhren dort die Wagen hindurch. Es konnten immer zwei Wagen zugleich abgeladen werden, so lang waren die Scheunen. Im Spätherbst, wenn es regnete, wurde in der Scheune gedroschen.

Das Gutshaus hat sich kaum verändert

Grundriss Gutshaus Vimfow

Quelle: „Mestlin, Chronik eines mecklenburgischen Dorfes“

DAS KLO

Aus Herrnhut waren wir einiges gewohnt. Wir Kinder schliefen unter dem Dach im Obergeschoss. Dort gab es auch ein Klo, ein richtiges Plumpsklo. Es befand sich am obersten Ende des Fallrohres. Sobald man den Deckel abhob, wollten alle beißenden Gerüche aus der Grube dort hinaus.

Es gab nur eine Möglichkeit, dies zu verhindern: Man setzte sich mit dem Hintern so auf das Loch, dass kein Lüftchen mehr entweichen konnte.

So war es, bis ich kam. Ich klemmte drei dünne, gebogene Weidenzweige über Kreuz in das Fallrohr, legte einige Zeitungsblätter darauf und noch einmal zwei, drei Weidenzweige, damit die Zeitungen nicht nach oben fliegen konnten. Das war fast duftdicht. Man konnte etliche Male auf das Klo gehen, bis sich die Zweige mit der Ladung rauschend wie ein Fahrstuhl ohne Bremse in Bewegung setzten und mit einem Klatscher in der Grube die Fahrt beendeten. Wir Kinder waren, ob meiner Erfindung sehr zufrieden.

***

Der Fahrstuhl funktionierte wunderbar. Wir hatten für alle Fälle einige Weidenzweige und Zeitungen unter dem Bett liegen. Leider hatte ich nicht an alles gedacht. Seltsame Geräusche hatte man auch schon in größeren zeitlichen Abständen in der Küche wahrgenommen, aber ihnen nicht die Bedeutung zugemessen, die ihnen gebührte.

Die alte Tante, die auch im Hause wohnte und in der Küche half, war nach dem Mittagessen mit sich zu Stuhl gegangen. Der befand sich auf einem unteren Abzweig unseres Fahrstuhles.

Mitten in ihrer geruhsamen Tätigkeit, vernahm sie hinter sich ein heftiges Rauschen und bekam einen kräftigen Luftzug. Das erschreckte sie derart, dass sie ohne ein Papier benutzt zu haben, mit einem Satz aus diesem stillen Kämmerchen schoss, als wenn der Leibhaftige hinter ihr her sei.

Für mich hatte der Vorfall wider Erwarten keine schwerwiegenden Folgen. Herr Renkewitz hatte mich ins Verhör genommen und war so erstaunt, dass er eine Bestrafung vergaß.

***

In Vimfow war kein Fahrstuhl möglich. Das Plumpsklo befand sich hinter dem Pferdestall gute 50 Meter vom Wohnhaus entfernt. Die Fallhöhe entsprach der Stuhlhöhe. Unter dem Sitzloch stand ein Kübel mit Kufen. Dieser wurde wöchentlich von einem Knecht mit Pferd abgeholt und auf den Mist gekippt.

Hier machte mein Bruder Karl eine heiße Erfindung, die jedem Besucher in kürzester Zeit jede übereilte Benutzung des stillen Örtchens mit absoluter Sicherheit abgewöhnt hätte.

Nach einem ausgiebigen Mittagessen eilte ich mit vollem Bauch und enormen Druck zum bewussten Örtchen. Drinnen hörte ich meinen Bruder Karl werken. Da mein Druck unheimlich wurde, polterte ich wiederholt und zum Schluss mit Ausdauer an die Tür mit dem missratenen Herzchen.

Gerade in dem Augenblick, in dem ich zu platzen drohte, öffnete mein Bruder geruhsam die Tür. Er war noch nicht draußen, da war ich schon drinnen. Tür zumachen ging nicht mehr, Hose runter, Deckel runter und drauf auf die runde Öffnung des Feuerstuhls. – Feuer frei! – Es ging alles unheimlich schnell. Aber nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war, als wenn ich mich mit dem Hintern auf die heiße Herdplatte gesetzt hätte.

Als ich mich erhob und umschaute, sah ich die Bescherung: Mein Bruder Karl hatte einen Arm voll Brennnesseln mit viel Sorgfalt in den fast vollen Kübel gesteckt, sodass die Spitzen aus dem runden Loch ragten. Dann hatte er den Deckel sorgfältig darauf gelegt, sodass nur wenige Spitzen geknickt worden waren.

Was sich unter dem Deckel befand, hatte ich übersehen. Mein Bruder hat selten so viel Spaß gehabt. Anschließend ist mein Bruder Weltrekord gelaufen. Ich habe mich nie wieder unbesehen auf ein Loch gesetzt, auf dem mein Bruder zuvor tätig gewesen war.

SCHULE

Die Schule befand sich im ersten Haus auf der rechten Straßenseite in Mestlin, wenn man von Vimfow her kam. Wir Kinder mussten jeden Morgen von Vimfow nach Mestlin zur Schule laufen. Für uns waren das drei Kilometer. Da das Gutshaus, in dem wir wohnten, am anderen Ende von Vimfow lag,. mussten wir zuvor durch das ganze Dorf laufen Unterwegs trafen wir mit den anderen Kindern zusammen, die auf uns warteten.

1. Klasse bis 4. Klasse morgens; die Großen hatten nachmittags Unterricht. Im Sommer war das schön. Es war noch nicht so heiß und wir hatten den Nachmittag für uns zum Spielen und Baden. Im Winter war es gar nicht schön. Es war noch dunkel und oft ging ein eisiger Wind. Lag auch noch Schnee, gingen wir im Gänsemarsch. Der Größte von uns Kleinen ging so lange voraus und trat eine Spur, bis er müde war. Dann kam der Nächste dran.

Mittags ging es dann häufig bei Sonnenschein nach Hause. Das war angenehm. Weniger angenehm war es bei Ostwind, der meistens einige Tage nach den Schneefällen zu blasen begann. Dann trieb uns der Schnee in langen, zerrissenen, dünnen Schleiern auf der Straße entgegen. Der Wind biss uns gehörig in die Ohren und die Nase. Die Backen brannten und wurden rot. Der Wind biss durch die Hosen in die Beine. Im zweiten Winter konnte uns der Winter nicht mehr so viel anhaben. Mutter hatte uns aus einem schwarz gefärbten russischen Armeemantel Hosen und Jacken genäht, durch die kein Wind hindurch konnte. Aber der Stoff war so rau, dass er uns mächtig die Waden kratzte.

Die Hosen hatten noch einen Vorteil: Wenn man Unfug getrieben hatte und von Herrn Mense, unserem Lehrer, über das Pult gezogen wurde, da gab es nur eine Staubwolke, den Rohrstock spürte man fast überhaupt nicht, so sehr sich Herr Mense auch abmühte. Socken in den Unterhosen erübrigten sich da absolut. Mit einem Grinsen im Gesicht und mit Blick unter dem linken Arm hindurch auf die Klassenkameraden jammerten wir pflichtgemäß, damit Herr Mense das Gefühl hatte, dass seine Bemühungen auf fruchtbaren Hosenboden gelangt seien.

Das kam öfter vor. Schließlich bemühten sich die Jungen der 3. und 4. Klasse, den Unterricht durch besondere Leistungen abwechslungsreich zu gestalten. Das ging immer schön der Reihe nach. Jeder kam einmal dran und musste dann etwas tun, was Herrn Mense nicht gefiel und ihn richtig in Zorn versetzte. Wenn der Zorn nicht groß genug war, dann gab es eins auf die Finger, auf den Kopf oder eine Kopfnuss, und das tat weh. Wenn der Zorn groß genug war, dann wurde man über das Pult gezogen, und Herr Mense konnte sich so richtig austoben. Herr Mense hielt einen mit der Rechten am Kragen, während er mit der Linken den Rohrstock schwang. Hinterher atmete er schwer und war stets ruhiger.

Das Schulhaus in Mestlin und der Schulweg.

Ganz hinten hinter dem Hügel liegt Vimfow.

Auf dem Pult wusste man, wo die Schläge mit dem Rohrstock trafen. Da konnte man sich darauf vorbereiten. Wenn man an der Reihe, war Unfug zu machen, kam man schon morgens mit zwei Socken in der Unterhose in die Schule. Die Socken mussten genau postiert sein, damit der Rohrstock nicht daneben traf. Wenn Herr Mense, was sehr, sehr selten vorkam, den Schüler bei seinem flegelhaften Benehmen nicht bemerkte, dann musste man auf seinen Socken sitzen bleiben, und durfte am nächsten Tag noch einmal mit Socken in der Unterhose in die Schule kommen. Das war im Sommer bei der Hitze weniger angenehm.

Alles spielte sich in einem ganz bestimmten Zyklus ab: Hatte Herr Mense wieder einmal einen Schüler über das Pult gezogen und seine Wut ausgelassen, so war er hinterher freundlich und sanftmütig wie ein Lamm. Langsam von Tag zu Tag wurde er dann kratzbürstiger. Er zog an den Ohren, es gab Kopfnüsse, er schlug mit dem Lineal auf die Finger, es wurden Ohrfeigen verteilt und er war sehr wachsam. Es entging ihm fast nichts mehr. Beim kleinsten Anlass schlug er zu.

Oft traf es die Unschuldigen. Das war der Zeitpunkt für uns, etwas anzustellen, damit die Klasse ihren Spaß hatte und Herr Mense sich austoben konnte. Wenn der so richtig in Fahrt geriet und den Kandidaten über das Pult zog, kam es nur auf dessen Geschicklichkeit an, dass er selbst so wenig wie möglich abbekam.

Hinterher, in der Pause, ließ der Kandidat in der Toilette die Hosen runter und wir überzeugten uns davon, dass er keine oder fast keine roten Striemen abbekommen hatte. Für uns war der Spaß die Hauptsache. Unbewusst sorgten wir dabei für ein ausgewogenes Arbeitsklima in der Schule.

***

Nur einmal hat Herr Mense es versucht, an einem Vormittag zwei Schüler gleichzeitig zu verhauen. Die wollte er im Hof versohlen. Das war gefährlich, weil man nicht wusste, wo der Rohrstock einen traf.

Herr Mense hatte beide am Kragen gepackt; in der Linken dazu noch den Rohrstock, schob er die Missetäter im Laufschritt zur Tür hinaus. Noch in der Tür ließen sich die beiden fallen, als wenn sie über die Türschwelle gestolpert wären. Herr Mense fiel über die beiden, die zu jammern anfingen, als wenn sie sich furchtbar wehgetan hätten. Herr Mense jammerte überhaupt nicht, obwohl er in dem sehr engen Schulflur mit dem Kopf entsetzlich auf den Fußboden und gegen die Wand gedonnert war.

Das Gejammer der beiden Schüler war so überzeugend, dass Herr Mense von ihnen abließ und in seine Wohnung verschwand, um seinen lädierten Kopf zu kühlen. Das dauerte eine Weile. In der Klasse hatten wir unseren Spaß. Nur durften wir nicht zu laut sein, denn sonst hätte Herr Mense es in seiner Wohnung hören können. Die beiden Missetäter beteuerten, dass sie absolut nichts abbekommen hätten, was nicht ganz stimmen dürfte.

In den nächsten Tagen verfärbte sich die Stirn und die Glatze Herrn Menses sonderbar. Das kommt wohl davon, wenn man zwei Arbeiten gleichzeitig erledigen will.

BERNI

Berni war bereits in der 2. Klasse. Das sah man daran, dass er in der dritten Reihe saß. Für jede Klassenstufe gab es zwei Reihen. Berni hatte große Schwierigkeiten mit dem Zählen. Zusammenzählen ging überhaupt nicht.

Lehrer Mense schlug gerne zu. Bei Berni tat er das nicht. Für Berni brachte er eine bewundernswerte Geduld auf. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Berni war nie frech und lächelte immer freundlich, auch wenn er nichts verstanden hatte oder besonders dann.

Lehrer Mense hatte offensichtlich einen Gedankenblitz, wie er Berni das Rechnen dennoch beibringen könne. Er lächelte Berni freundlich an und sagte: „Berni, – du isst doch gerne Schinken?“ Berni strahlte: „Ja, Herr Mense.“

Berni klemmte die Unterlippe unter die Oberlippe und leckte danach die Oberlippe gründlich ab, als ob er gerade ein Stück Schinken gegessen hätte. Dann schaute er Herrn Mense erwartungsvoll an.

„Berni“, sagte Herr Mense, „was ist ein Schinken und noch ein Schinken?“

Berni strahlte über das ganze Gesicht, weil er endlich eine Antwort wusste. Dann stand er auf, holte tief Luft und sagte laut und deutlich, „ein Arsch, Herr Mense“, und setzte sich wieder. Er war so froh, endlich eine Rechenaufgabe richtig gelöst zu haben.

Lehrer Mense starrte Berni traurig an. Er sagte auch nicht, dass dieses Ergebnis nicht seinen Erwartungen entsprach. Er sagte gar nichts. – Und Berni, der strahlte die restliche Schulstunde vor sich hin.

DAS ZIELGEBIET

Das Toilettenhäuschen im Schulhof war weder schön noch besonders hygienisch. Es war eher ein Bretterverschlag mit einer Pinkelrinne und zwei Plumpsklos. Auch hatte man an der Höhe gespart. Aber es entsprach durchaus ländlichem Standard und war eben nur für Notfälle, und da auch nur für Schüler gedacht.

Jungen können grundsätzlich alles besser als Mädchen. Besonders dann, wenn es um das Pinkeln geht. Ein Schüler aus der 4. Klasse konnte das so gut, dass kein anderer Schüler mehr mit ihm in Konkurrenz zu treten versuchte. Er war eben einsame Klasse. So trainierte er auch nur noch für sich alleine. Eines Tages verkündete er stolz, dass er in die Dachrinne des Toilettenhäuschens pinkeln könne.

Die Schule und der Schulhof mit dem Toilettenhäuschen und dem Schultor

Das mussten wir sehen! Die Mädchen wurden von der Vorführung ausgeschlossen, beziehungsweise abgedrängt. Alles wartete gespannt. Der Hosenstall wurde geöffnet, der Piepmatz in Position gebracht. Gespannte Erwartung. Der Strahl stieg und stieg … senkrecht … in die Höhe … dicht an der Dachrinne vorbei, knickte dann ab … in die Dachrinne. Kein Tropfen ging daneben. Fast unglaublich. Als dann die Pause vorbei war, verzogen sich die Schüler immer noch staunend in die Klasse.

Auch die Mädchen hatten es erfahren und wollten einige Tage später sehen, was da geboten wurde. Alles lief wie beim ersten Mal. Gespannte Erwartung … der Strahl stieg und stieg … senkrecht … in die Höhe … dicht an der Dachrinne vorbei, … knickte dann ab, … aber nicht in die Dachrinne. Alles rieselte auf den Schüler hernieder. Kein Tropfen ging daneben. Fast unglaublich.

Die Mädchen fingen sofort an zu kichern. Dann lachten auch die Jungen. Mit der Zielgenauigkeit hatte es diesmal nicht ganz gestimmt. Wahrscheinlich waren die Mädchen schuld daran. Mädchen haben bei solchen Übungen eigentlich nichts zu suchen. Besonders dann, wenn es um das Pinkeln geht. Sie verstehen ja auch nichts davon.

BERTA

Wir hatten ein ukrainisches Hausmädchen, welches wir Berta nannten. Berta war Fremdarbeiterin. Berta war deportiert worden, um in Deutschland zu arbeiten.

Berta hatte ein eigenes Zimmer mit Tisch, Stuhl und Schrank. Berta war nicht besonders fleißig, aber sehr zuverlässig. Berta kümmerte sich besonders um meine kleine Schwester Heilwig. Berta besuchte von Zeit zu Zeit ihre ukrainischen Freundinnen in Mestlin im Lager.

Eines Tages hatten Heilwig und Jochen Läuse. Berta hatte auch welche. Weil es keine Mittel gegen Läuse gab, wurde nach russischer Methode verfahren. Zuerst wurden die Haare mit Petroleum eingerieben. Nach einiger Zeit wurde dann das Petroleum mit Kernseife gründlich ausgewaschen. Die Kernseife juckte in den Bissstellen der Läuse. Was aber noch unangenehmer war, das war, dass man immer etwas von der Seifenlauge in die Augen bekam. Das passierte spätestens beim Ausspülen. Diese Prozedur wurde jeden zweiten Tag wiederholt, so lange bis die letzten Läuse aus den Nissen, den Lauseeiern, ausgeschlüpft waren.

Dann bekamen wir Kinder die Krätze. Überall, hauptsächlich auf dem Kopf, juckte es ständig. Überall hatten wir rote Flecken. Krätze wird durch Milben verursacht.

Wir wurden mit einer nach Karboleum stinkenden Salbe auf den roten Flecken eingerieben. Ebenso die Kopfhaut. Die Krätze ging zurück. Berta durfte nicht mehr zu ihren ukrainischen Freundinnen ins Lager.

HEIMATERDE

Berta weinte oft. Berta weinte, wenn sie traurig war. Berta weinte, wenn sie glücklich war. Hatte Berta Heimweh, dann ging sie in ihr Zimmer. Dort knotete sie ein Tuch auf, in dem sich zwei Hände voll Heimaterde befanden, und ließ ihre Tränen dort hineinfallen. Nach einiger Zeit kam sie mit roten, verweinten Augen wieder heraus.

Meiner Mutter zeigte sie einmal das Tuch mit der Heimaterde. Etwas Russisch hatte meine Mutter sich selbst beigebracht. Manchmal sprach sie russisch mit Berta. Meine Mutter versuchte sie zu trösten und sagte auf Russisch: „Berta, du wirst bestimmt bald wieder nach Hause kommen, der Krieg ist bald zu Ende.“ Berta weinte nur noch mehr.

Wenn Berta genug geweint hatte, summte sie ukrainische Heimatlieder. Meine Mutter fragte sie: „Berta, warum singst du nicht?“ Berta sang. Meine Mutter griff den Text auf, den sie selbst nicht ganz verstand. Dann sangen beide und Berta wurde richtig fröhlich. Dann tanzte sie quer durch die Küche.

BERTAS FREUNDIN

Berta hatte eine Freundin, die ihrem kriegsgefangenen Freund nach Deutschland nachgelaufen war. Der Freund war schon lange in Gefangenschaft und Bertas Freundin war mit Berta gekommen. Sie wohnte jetzt mit anderen ukrainischen Frauen zusammen in einer Unterkunft für Fremdarbeiterinnen.

Die Kriegsgefangenen hatten keinerlei Kontakt zu den Fremdarbeiterinnen. Auch sonst waren jegliche Kontakte streng verboten. Für die Gefangenen galt: morgens antreten zum Frühstücken, zur Arbeit, zum Mittagessenfassen, zum Arbeiten, zum Abendessenfassen, zum Schlafen hinter verschlossenen Türen. Kontakte? – Unmöglich. Zu den Fremdarbeiterinnen? – Absolut unmöglich.

Bertas Freundin war ihrem Freund praktisch nicht umsonst nachgelaufen. In Deutschland ging es den Ukrainern besser als in der Ukraine. Dort gab es nicht genug zu essen. Man musste mit Verhaftungen rechnen, wenn die Partisanen wieder zugeschlagen hatten. Zumindest war das die Meinung von Berta. Also war die freiwillige Meldung ihrer Freundin als Fremdarbeiterin nicht ganz umsonst.

Morgens, wenn die Leute zur Arbeit eingeteilt wurden, konnte sie ihren Freund sehen. Das war alles. Viel Winken, das ging nicht. Da gab es Ärger.

Eines Tages fragte Berta, ob sie die kleine Blechbadewanne ausleihen könne. Dann fragte sie, ob meine Mutter die alten Bettlaken mit den Löchern noch brauche. Meine Mutter war von Berta allerlei gewohnt. Nur als die kleine Blechbadewanne für längere Zeit nicht wiederkam, fragte sie Berta nach deren Verbleib. Berta erzählte, sie habe sie ihrer Freundin ausgeliehen, weil die ihre Wäsche waschen wollte. Dort gäbe es keine richtige Waschmöglichkeit. Aber sie brächte sie bald wieder. Das „Bald“ dauerte. Meine Mutter fragte nach einiger Zeit nach. Ach ja. Berta hatte es ganz vergessen. Die Antwort Bertas ließ Schlimmes ahnen. Meine Mutter erkundigte sich in der Unterkunft. Dort wusste man zuerst auch nichts über den Verbleib der Wanne.

Dann fragte meine Mutter Berta auf Ehr und Gewissen, was sie mit der Wanne angestellt habe. Berta fing wieder an zu weinen. Es nützte nichts. Dann gestand Berta, dass sie die Wanne ihrer Freundin gegeben habe. Ihre Freundin bekäme ein Kind von ihrem Freund. Sie könne sich nicht mehr zusammen mit den anderen Fremdarbeiterinnen am Waschtrog waschen. Sie sei im neunten Monat.

Meine Mutter packte alle Babywäsche meiner kleinen Schwester zusammen. Am anderen Morgen ging Berta strahlend mit einem Paket nach Mestlin.

Die Blechwanne und die Betttücher waren unbemerkt nach Mestlin in die Unterkunft gelangt. Die Babywäsche war in der Unterkunft aufgefallen. Meine Mutter bekam aus Mestlin eine amtliche Aufforderung, keine Kinderwäsche oder Ähnliches an die Fremdarbeiter zu geben, mit „Heil Hitler!“ darunter.

Es gab andere Wege: Mutter gab Berta Babykleidung zum Waschen. Die Sachen waren nach der Wäsche von der Leine verschwunden, und niemand wusste wohin, auch Berta nicht!