Lebendige Nacht - Sophia Kimmig - E-Book
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Lebendige Nacht E-Book

Sophia Kimmig

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Beschreibung

Faszinierendes Paralleluniversum: Sophia Kimmig entführt in die Dunkelwelt und öffnet die Augen für die Wunder der Nacht direkt vor unserer Tür.

Wenn die Sonne untergegangen ist, wird es bei den Wildtieren erst richtig interessant: Wo tagsüber Menschen auf Busse warten, durchwühlt eine Wildschweinfamilie den Mülleimer an der Haltestelle. Füchse suchen nach Futter, Glühwürmchen senden Blinksignale an potenzielle Partner, Waschbären durchstöbern das Gebüsch. Die Nacht ist nicht nur eine Zeit, sondern ein vielfältiger Lebensraum, über den wir immer noch zu wenig wissen. Die Wildbiologin Sophia Kimmig ist den Geheimnissen der Nacht auf der Spur. Sie stellt dabei nicht nur ihre wilden Bewohner vor, sondern zeigt auch, wie es ist, in dieser Parallelwelt zu leben: Wie sie entstand, wie es dort aussieht, sich anfühlt oder riecht. Eine faszinierende Reise zu den Wundern der Nacht.

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Das ist das Cover des Buches »Lebendige Nacht« von Sophia Kimmig

Über das Buch

Faszinierendes Paralleluniversum: Sophia Kimmig entführt in die Dunkelwelt und öffnet die Augen für die Wunder der Nacht direkt vor unserer Tür.Wenn die Sonne untergegangen ist, wird es bei den Wildtieren erst richtig interessant: Wo tagsüber Menschen auf Busse warten, durchwühlt eine Wildschweinfamilie den Mülleimer an der Haltestelle. Füchse suchen nach Futter, Glühwürmchen senden Blinksignale an potenzielle Partner, Waschbären durchstöbern das Gebüsch. Die Nacht ist nicht nur eine Zeit, sondern ein vielfältiger Lebensraum, über den wir immer noch zu wenig wissen. Die Wildbiologin Sophia Kimmig ist den Geheimnissen der Nacht auf der Spur. Sie stellt dabei nicht nur ihre wilden Bewohner vor, sondern zeigt auch, wie es ist, in dieser Parallelwelt zu leben: Wie sie entstand, wie es dort aussieht, sich anfühlt oder riecht. Eine faszinierende Reise zu den Wundern der Nacht.

Sophia Kimmig

Lebendige Nacht

Vom verborgenen Leben der Tiere

Hanser

Für meinen Vater

In liebevollem Gedenken

Schattengestalten

Gesprenkeltes Grau

Silbriges Weiß

Schimmerndes Blau

Leuchtende Pilze

Glühwürmchen-Funkeln

Mondlichtblumen

Augen im Dunkeln

Nächtliche Weber

Geflechte aus Sternen

Venus und Mars

Endlose Fernen

Sternenbilder

Kometengruppen

Mondstrahlenkranz

Spielende Schnuppen

Marsha Diane Arnold, Licht aus, sagte der Fuchs

Prolog

Nachts in der Stadt

Jahrelang ging ich durchs Leben, ohne sie zu bemerken — die Dunkelwelt. Ich hatte mir schlicht nie Gedanken darüber gemacht. Dabei ist sie nicht weit entfernt, nicht an entlegenem Orte zu finden. Sie liegt direkt vor unserer Nase. Stellen Sie sich eine Stadt oder ein Dorf vor — vielleicht den Ort, an dem Sie leben. Nachts sieht es dort völlig anders aus als am Tag. Während sich das Bühnenbild gleicht — lediglich etwas schwächer beleuchtet —, sind die Protagonisten völlig andere. Im Schutze der Dunkelheit und von uns unbemerkt erobern sie die Stadt. Lassen Sie uns einmal genauer hinsehen:

Es ist ein Uhr morgens im Berliner Botschaftsviertel, die Nacht ist mild, aber ein letzter Hauch von Winter liegt in der kühlen Luft. An einer Bushaltestelle der Linie M45 in Richtung Westend steht das kleine Haltestellenhäuschen verlassen im Licht einer Straßenlaterne. Der Lichtkegel fällt auf die leeren Bänke, beleuchtet das Kopfsteinpflaster und Werbeplakate, die jetzt in Grautönen erscheinen, und verliert sich im dunklen Blattwerk der dahinter wachsenden Hecken und Bäume des angrenzenden Parks.

Wenn man genau hinsieht, kann man im Schwarz der Sträucher einen dunklen Punkt ausmachen, an dem das Schwarz noch ein wenig tiefer ist. Genau dort kommt das Rascheln her, das nun die Stille der Nacht durchbricht. Zuerst leise, dann immer lauter werden Zweige bewegt, Blätter rascheln, und Äste knacken.

Aus dem Dunkel tritt eine gedrungene Gestalt in den Halbschatten und verharrt kurz, um zu lauschen. Dann schiebt sich eine große weiche Nase am Ende einer langen Schnauze ins Licht der Laterne. Im Vergleich zu dem großen, borstig bepelzten Körper wirkt der Kopf der Bache fast zu klein. Die Knopfaugen sind wach, die großen Ohren aufmerksam gespitzt, als sie gänzlich auf den Bordstein tritt. Hinter ihr schälen sich kleine Körper mit hellen Streifen aus dem Gebüsch. Zunächst einer, dann ein zweiter und ein dritter. Nach und nach füllt sich der Platz um das kleine Haltestellenhäuschen mit der Wildschweinrotte. Ziel der erfahrenen Bache, die sieben Frischlinge führt, ist der Abfalleimer an der Seite des Häuschens, den sie nun ansteuert, um nach Essbarem zu stöbern, während kleine Nasen den Boden nach Eicheln und anderem Nahrhaften absuchen. Aus dem Mülleimer werden die Reste eines belegten Brotes gezerrt. Unter lautem Schmatzen und Grunzen nimmt die Wildschweinfamilie ihr Abendbrot ein oder eigentlich ihr Frühstück, denn für sie hat der Tag gerade erst begonnen.

Sechseinhalb Stunden später, um sieben Uhr dreißig, herrscht Betriebsamkeit an der Haltestelle der Linie M45 in Richtung Westend. Auf der Bank des Haltestellenhäuschens sitzt ein Mann, der einen Rucksack auf seinem Schoß festhält, daneben sitzt eine Frau und schaukelt abwesend einen Kinderwagen. An der nun erloschenen Laterne steht ein Mann im Anzug und wirft seinen leeren Kaffeebecher in den Papierkorb. Auf dem Bordstein drängeln sich Menschen, deren Bus gerade eingetroffen ist. Menschen, die zur Arbeit fahren, Kinder zur Kita bringen, Erledigungen nachgehen, ihrer morgendlichen Routine folgen, Menschen, die nichts von den nächtlichen Besuchern an ihrer Haltestelle ahnen.

Was dort in dieser Nacht geschieht, ist nur ein kleiner Teil des Berliner Nachtlebens, das sich jenseits von Bars und Clubs abspielt. Es ist nur ein geringer Teil des tierischen Nachtlebens in unseren Dörfern und Städten und nur ein winziger Teil des Nachtlebens in der Natur. Wo tagsüber Menschen auf Busse warten, Rasen mähen oder Fußball spielen, sind auf leisen Pfoten und lautlosen Schwingen die Bewohner der Nacht unterwegs. Fledermäuse jagen nach Motten, Füchse stehlen Schuhe, Waschbären suchen in Gartenteichen nach Futter, und viele weitere wilde Nachbarn gehen ihrem Tagwerk nach. Wobei man eigentlich Nachtwerk sagen müsste, denn in der Nacht findet der Großteil ihres Lebens statt. Ob in der Stadt oder auf dem Land, die meisten Säugetiere sind nachtaktiv, aber nicht nur sie, auch andere Lebewesen haben die dunkle Seite des Tages gewählt.

Wir Menschen sind tagaktive Wesen und nehmen die Welt wie durch einen zeitlichen Filter war. Die meisten von uns erahnen vermutlich nicht mal, was sie dadurch verpassen. Und das ist eine Menge!

Schon während meiner Doktorarbeit über Füchse haben mich Eindrücke dieser geheimnisvollen Welt begleitet. Auf meinen vielen Touren durch die nächtliche Stadt ist mir immer wieder dieser Kontrast zwischen dem Berlin bei Tag und der Stadt, die ich in der Nacht erlebte, ins Auge gefallen.

Nicht nur die Füchse, auf deren Spuren ich wandelte, sondern auch viele andere Wildtiere bevölkern diese Welt. Ihr Leben findet in einer Parallelwelt statt, am selben Ort wie unseres, aber zu einer anderen Zeit.

Heute arbeite ich in einem Forschungsprojekt, das sich ganz der Dunkelheit und ihrem Erhalt verschrieben hat. Aber dazu später mehr. Durch mein Eintauchen in die Nacht hat sich meine Perspektive verändert — auf Berlin, auf meine Füchse und andere wilde Nachbarn, auf das Leben.

Kommen Sie mit auf eine Reise in diese Dunkelwelt, lernen Sie ihre Bewohner kennen und öffnen Sie Ihre Augen für die Wunder der Nacht.

Die dunkle Seite des Tages

Auf jeden Tag folgt eine Nacht. So weit, so normal. Aber haben Sie sich schon mal wirklich bewusst gemacht, was das bedeutet? Wir Menschen verschlafen einen nicht unerheblichen Teil des Tages. Aber wir verpassen nicht nur ein paar Stunden, eine Portion Zeit, die uns durch die Finger rinnt. Wir verpassen eine ganze Welt, eine Art Spiegeluniversum, in dem alles irgendwie gleich und dennoch völlig anders ist. Es ist, als wäre das Leben zweigeteilt. Zwei parallele Welten mit ihren eigenen Kreaturen und Regeln, mit ihrer eigenen Realität.

Von subjektiven Realitäten

Die Tatsache, dass wir überwiegend in nur einer dieser beiden Welten leben, mag zunächst nicht allzu wichtig erscheinen, aber sie hat weitreichende Konsequenzen. Das betrifft uns beispielsweise ganz direkt. So sind unsere Fähigkeiten, Gewohnheiten, unsere Physiologie und vieles mehr, das uns als Menschen ausmacht, eng mit unserer Lebensweise als Tagesbewohner verknüpft. Es fängt bei unserer Orientierung an, denn unsere Augen sind auf das Sehen bei Tageslicht spezialisiert. Sie lösen komplexe Szenen in wunderschönen, bunten und klaren Bildern auf und helfen uns so, uns in der Welt zurechtzufinden. Sobald die Nacht dämmert, sind wir dagegen auf Lichtquellen angewiesen, seien es natürliche, wie das Mondlicht einer klaren Vollmondnacht, Feuer, oder die Abermillionen von künstlichen Lichtern, mit denen wir uns heute die Nacht erhellen. Auch wenn wir in der natürlichen Dunkelheit selbstverständlich nicht völlig blind sind und unsere Augen sich durchaus an die schwachen Lichtverhältnisse in der Nacht gewöhnen, ist unser nächtliches Sehen im Vergleich zu anderen Säugetieren, die sich im Laufe der Evolution für die andere Seite des Tages entschieden, stark eingeschränkt.

Auch unser ganzer Schlaf-Wach-Rhythmus und der dazugehörige Hormonstoffwechsel sind darauf ausgelegt, dass wir überwiegend tagsüber aktiv sind und nachts ruhen. Im Gegensatz zu vielen anderen Lebewesen, die ihre Schlafperioden über den Tag verteilen, sind wir natürlicherweise Nachtschläfer und brauchen die Dunkelheit, um Melatonin auszuschütten und erholsam schlafen zu können. Gleichzeitig macht Licht uns wach und munter, hebt unsere Stimmung und verbessert unsere kognitiven Leistungen. Das gilt besonders für blaues Licht, das natürlicherweise im Farbenspektrum des sichtbaren Sonnenlichts vorkommt. Wir verdanken unsere Blau-Affinität einem Molekül namens Melanopsin, das Fotopigment in unserer Netzhaut reagiert besonders stark auf diese Lichtfarbe.1 Was uns am Tag munter macht, kann uns jedoch in der Nacht wach halten, zum Beispiel wenn wir durch blaues Licht von Computer und Handybildschirmen das über Jahrtausende entstandene Hormongefüge und damit unsere innere Uhr durcheinanderbringen.2 Leben und arbeiten wir gegen unseren natürlichen Rhythmus, macht uns das sogar krank, so sind bei Menschen, die regelmäßig nachts arbeiten, Risiken für Krebs-, Herzkreislauferkrankungen, Depressionen und weitere Erkrankungen erhöht.3

Unsere tagaktive Lebensweise beeinflusst jedoch nicht nur unseren Körper auf vielfältige Weise, sondern auch unsere Wahrnehmung der Welt. Zum Beispiel unser Wissen über die Natur, die uns umgibt. Machen wir ein kleines Experiment, um das zu verdeutlichen: Denken Sie an Schmetterlinge und erinnern Sie drei Namen für tagaktive Falter. Welche fallen Ihnen ein?

Vielleicht der Zitronenfalter, das Tagpfauenauge und der Admiral? Dann wären da beispielsweise noch Kohlweißling, Schwalbenschwanz, kleiner und großer Fuchs, Bläuling, Kaisermantel, Distelfalter, Trauermantel, Kleines Wiesenvögelchen, Aurorafalter oder Schachbrett. Welche sind Ihnen eingefallen? Auch wenn Ihnen diese Namen nicht durch den Kopf gegangen sein sollten, so kennen Sie doch vermutlich einige davon, oder? Nun wiederholen wir den Versuch, aber diesmal denken Sie an drei Nachtfalter …

Und? Sollte Ihnen keiner eingefallen sein, grämen Sie sich nicht, denn damit dürften Sie zur Mehrheit der Menschen gehören. Auch ich hätte vor nicht allzu langer Zeit vermutlich keine drei Namen zusammenbekommen. Dabei tragen die Falter der Nacht teils poetische Namen, wie Mondspinner oder Silbereule.

Mir persönlich war bis zu Beginn meiner Arbeit in einem Forschungsprojekt zur natürlichen Dunkelheit und ihren Bewohnern nicht einmal bewusst, wie wenig ich über das Thema wusste. Bei der Arbeit mit Füchsen im Rahmen meiner Doktorarbeit waren es vor allem Waschbär, Marder, Igel und Co., denen ich nachts begegnete. Viele weitere nächtliche Bewohner bemerkte ich nicht.

Von meiner Unwissenheit über Nachtfalter angestachelt, begann ich zu recherchieren und suchte unter anderem nach verschiedenen Faltern und ihren Namen, nur um festzustellen, dass manche Arten keinen eigenen, deutschen Namen tragen. Selbst in einem Kinderbuch entdeckte ich auf einer Seite mit Nachtfaltern neben den Namen von Mondspinner und Kaisermotte plötzlich gar nicht so kinderbuch-taugliche Namen wie Eumorpha labruscae oder Citheronia regalis. Das ist die für alle bekannten Lebewesen vorhandene, lateinische Artbezeichnung aus Gattung und Art (zum Beispiel Canis lupus für den Wolf oder Homo sapiens für den modernen Menschen). Niemand hat sich die Mühe gemacht, diese faszinierenden, teils wunderschönen Geschöpfe in unserer Alltagssprache zu benennen.

Nicht nur die Falter sind von unserem Tag-Filter getroffen. Viele wissenschaftliche Erkenntnisse über die Tier- und Pflanzenwelt und darüber hinaus sind am Tag entstanden, denn Forschungen mit Nachtfokus sind in der Wissenschaft unterrepräsentiert.4 Aber was macht das aus? Betrachtet man beispielsweise den Anteil nachtaktiver Tiere unter den gesamten Tierarten, die auf der »Roten Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten« der internationalen Weltnaturschutzunion IUCN stehen, fällt etwas auf. Sie scheinen weniger vom Rückgang betroffen zu sein als andere Arten.

Zu glauben, dass nachtaktive Tiere weniger bedroht sind, wäre jedoch vermutlich ein Trugschluss. Neben diversen Gefährdungskategorien von »nicht gefährdet« bis »ausgestorben« findet man bei vielen Arten auf der Roten Liste den Vermerk »DD« (data deficient). Für die Einstufung dieser Arten liegt also keine ausreichende Datengrundlage vor, und wir wissen schlicht zu wenig über sie, um ihre Gefährdung überhaupt beurteilen zu können.

Von den 583 Säugetierarten mit diesem Unwissenheitsvermerk sind über achtzig Prozent nachtaktiv. Zum Vergleich, bei den tagaktiven sind es nur etwa elf Prozent.5 Meist tappen wir also im Dunkeln darüber, wie es um die nachtaktiven Arten steht. Wir unterschätzen so möglicherweise das Risiko, dem sie ausgesetzt sind, handeln unzureichend und zu spät.

Welche Bereiche unserer wissenschaftlichen Forschung noch von unserem Tag-Fokus betroffen sind, wissen wir zum Teil gar nicht. Denken Sie beispielsweise an die Erforschung von Medikamenten. Jahrzehntelang — und immer noch zu häufig — wurden und werden Medikamente überwiegend an männlichen, jungen Probanden getestet. Erst viel später wurde uns bewusst, was das bedeutet: Ob die getesteten Wirkstoffe auch Frauen, älteren Menschen oder Kindern helfen, ist völlig unklar. Studien, die das im Nachgang gezielt überprüften, kamen dabei oft zu erschreckenden Ergebnissen. Ähnlich wie sich so manche Krankheit bei Frauen und Männern ganz unterschiedlich äußern kann, wirken auch Medikamente nicht für alle Menschen gleich, ihre Wirkung ist für bestimmte Gruppen kaum nachweisbar. Das ist ein großes Problem, über dessen Existenz wir uns lange gar nicht bewusst waren. Wer weiß daher schon, was ein blinder Fleck beim Thema Dunkelheit so alles für Auswirkungen haben könnte?

Es gibt noch viel über die Nacht zu lernen, und wenn wir die Natur bewahren wollen, müssen wir neben räumlichen vielleicht auch in zeitlichen Dimensionen denken. Einige Wissenschaftlerinnen und Naturschützer schlagen beispielsweise vor, Schutzgebiete in Zukunft nur zu bestimmten Tageszeiten für Menschen zugänglich zu machen. In einer immer dichter von Menschen besiedelten Welt könnte das den Schutz für viele Arten verbessern, vermuten die Forscher.6

Chris Kyba von der Ruhr-Universität Bochum plädiert sogar für ein eigenes Forschungsinstitut zur Nacht.7 Dessen Aufgabe wäre es, die physikalischen, chemischen und biologischen Aspekte der Nacht zu erforschen.8 Vom Einfluss künstlichen Lichts auf unsere Ökosysteme über die richtige Zeit für den Schulbeginn bis zur Frage der Zeitumstellung könnten sich so Wissenschaftler verschiedener Disziplinen der Nacht widmen. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und auch Gebiete der Philosophie, Kunst oder Anthropologie miteinschließen. Denn letztlich ist sogar unsere Kulturgeschichte von unserem Tag-Fokus geprägt. Der Physiker, Schriftsteller und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg beschrieb diesen Umstand schon im 18. Jahrhundert treffend: »Unsere ganze Geschichte ist bloß die Geschichte des wachenden Menschen. An die Geschichte des schlafenden hat noch niemand gedacht.«

Es gibt also eine ganze Reihe von Gründen, warum wir die Dunkelheit und alles, was sich in ihr verbirgt, stärker in den Blick nehmen sollten. Mir reicht jedoch der eine Grund, der mich einst dazu motivierte, Biologie zu studieren, und der mich jeden Tag aufs Neue bewegt, meine Nase in Dinge zu stecken: Es ist einfach spannend! Also lassen Sie uns gemeinsam eintauchen in dieses geheimnisvolle Leben. Gehen wir auf Expedition in die Anderswelt.

Die andere Welt

Die Geheimnisse nächtlicher Welten entziehen sich uns nicht nur durch den uns fremden Lebensrhythmus nachtaktiver Wesen. Ihre Geschöpfe verbergen sich im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln. Doch wie dunkel ist es eigentlich in der Nacht?

Wir Menschen beschreiben die Dunkelheit meist nicht direkt, wir begreifen sie mehr als die Abwesenheit von Licht. Dieses Licht kann in verschiedenen Einheiten gemessen werden. Das ist sogar nötig, denn es ist gar nicht so einfach, Licht zu quantifizieren. Wie hell ist es beispielsweise auf einem Fleckchen Wiese zu einem bestimmten Zeitpunkt? Messen wir das Licht dort, wo es am Boden ankommt? Klingt vernünftig, doch das ist nicht die Helligkeit, die wir wahrnehmen, spielt es doch auch eine Rolle, wie hell es über einem Boden ist und um ein Objekt herum. Vielleicht müssten wir fragen, wie hell es in einem Kubikmeter Luft über dem Boden ist? Und was ist mit dem Licht, das von Dingen reflektiert wird?

Kurzum, wer sich tiefergehend mit Licht beschäftigt, kommt um einen Wust an Einheiten wie Candela, Candela pro Bogensekunde, Lumen oder Lux nicht herum. Zum Glück müssen wir das aber gar nicht, um uns ein Bild von der Dunkelheit zu machen. Wir wollen für unsere Betrachtung der Lichtverhältnisse in der Nacht »Lux« nehmen, die internationale Einheit der Beleuchtungsstärke. Keine Sorge, weder die Einheit selbst noch die absoluten Werte spielen dafür eine Rolle, es geht lediglich darum, den Kontrast zwischen Tag und Nacht aufzuzeigen.

Ein sonniger Tag mit blauem Himmel, das sind gute 100.000 Lux. Dass das ziemlich hell ist, merken wir spätestens, wenn wir in Richtung Sonne schauen und die Augen zusammenkneifen müssen. Im Schatten eines Baumes kommen davon etwa 10.000 Lux an, nur ein Zehntel. An einem bewölkten Tag wird es nochmals deutlich dunkler, wir liegen bei 100 bis 2000 Lux. Nur noch einhundert statt einhunderttausend? Das klingt wenig. Aber in der Nacht ist es wesentlich dunkler. Das hellste natürliche Nachtlicht — bei Vollmond im Zenit — hat gerade mal eine Stärke von 0,25 Lux. Der Halbmond bringt es nur noch auf 0,01, das Licht aller Sterne auf 0,001.9 In einer ganz normalen, teilweise bewölkten Nacht herrscht also nicht mal ein Tausendstel Lux, ein extremer Kontrast zu den Hunderttausend eines sonnigen Tages. Kein anderer Gradient in der Natur dieses Planeten, sei es Säuregehalt, Luftfeuchtigkeit oder Temperatur, erstreckt sich auch nur annähernd über eine solch enorme Spanne. Ein klarer Fall fürs Guinnessbuch.

Dass es nachts so dunkel wird, hat auch mit der Position der Erde zu tun. Kennen Sie den Achtzigerjahre-Song von Corey Hart mit der Refrain-Zeile »I wear my sunglasses at night«? Nun, auf dem Merkur könnte Sie diese etwas merkwürdige Angewohnheit tatsächlich weiterbringen, denn dort herrschen auch in der Nacht um die 800.000 Lux.

Während wir Menschen bei den Lichtverhältnissen einer sternenklaren Nacht oder gar bei Vollmond wenig erkennen, sind andere Erdbewohner gewohnheitsmäßig in Dämmerung und Dunkelheit unterwegs. Sie leben, spielen, fressen und jagen sogar in ihr und bewegen sich teils in rasantem Tempo über Stock und Stein oder fliegend zwischen Baumstämmen. Mühelos navigieren sie durch Wälder und Dickichte. Würden wir es ihnen gleichtun, wäre es sicherlich nur eine Frage von Sekunden, bis wir gegen den ersten Baumstamm laufen würden. Doch wer sind diese ominösen Geschöpfe der Nacht? Welche Tiere sind es, die sich für die dunkle Seite des Tages entschieden haben?

Die heimliche Mehrheit

So manche Gruppierung oder Partei hat für sich schon in Anspruch genommen, die heimliche Mehrheit zu repräsentieren. Häufig basierend auf dem Irrglauben, alle anderen müssten genauso denken wie man selbst oder aber wer sich nicht äußere, stimme insgeheim zu. Der kleine Igel, der sich im Dunkeln aus der Hecke schält, oder die Nachtigall, die uns die Frühsommernächte mit ihrem Gesang versüßt, repräsentieren dagegen tatsächlich eine Mehrheit. Und heimlich ist sie auch — zumindest für uns Menschen. Denn obwohl wir am Tag, alleine schon wegen der vielen Singvögel, meist viel mehr Tiere sehen als in der Nacht, sind die Bewohner der Anderswelt in der Überzahl.

Schätzungsweise 62 Prozent, der Tierarten weltweit sind dämmerungs- und oder nachtaktiv.10 Das bedeutet, ein großer Teil ihres Lebens, ihrer Aktivitäten und sozialen Interaktionen spielt sich in dieser dunkleren Zeitspanne ab, während Ruhephasen überwiegend tagsüber stattfinden.

Die Trennung ist natürlich nicht schwarz-weiß. Wir Menschen sind eindeutig tagaktive Wesen, trotzdem können wir eine warme Sommernacht im Park genießen oder nachts um die Häuser ziehen. Viele Menschen stellen sogar, entgegen ihrer inneren Uhr, nachts ihre Arbeitskraft in den Dienst der Gesellschaft, zum Beispiel als Reinigungskräfte, bei der Abfallentsorgung, im Transportwesen, als medizinisches Personal und in vielen weiteren Berufen. Genauso mag man am Tag dem einen oder anderen Igel oder Steinmarder begegnen, obwohl er eigentlich dämmerungs- oder nachtaktiv ist.

Igel und Steinmarder kennen wir gut, aber wer versteckt sich noch hinter der heimlichen Mehrheit? Schauen wir uns die verschiedenen Gruppen im Tierreich einmal genauer an. Los geht’s mit unserer eigenen Mannschaft, den Säugern.

Bei den Säugetieren der Nacht denken viele Menschen bestimmt zuerst an Fledermäuse. Kaum ein anderes Tier assoziieren wir so sehr mit der Nacht. Tatsächlich sind etwas mehr als zwei Drittel der Säugetiere überwiegend nacht- oder dämmerungsaktiv.11 Vor unserer Haustüre sind das zum Beispiel Steinmarder, Biber, Iltis, Siebenschläfer, Waschbär, Haselmaus, Fuchs, Igel, Wildschwein und Dachs. Wenn wir uns auch auf anderen Kontinenten umschauen, kommen viele weitere, spannende Arten dazu. So sind fast alle Großkatzen, wie Tiger oder Löwe, nachtaktiv, ebenso die meisten Nagetiere, Beuteltiere und alle Fledertiere. Es sind wohlbekannte Arten wie das Nilpferd oder der Große Panda, aber auch weniger bekannte Tiere mit exotischen Namen wie Loris, Wickelbären oder Tenreks dabei.

Die Vogelwelt gehört zwar überwiegend zu den Tagbewohnern, aber wir alle wissen, dass es Ausnahmen gibt. Eulen sind wohl das Fledermaus-Pendant der Nachtvögel. Vom kleinen Raufußkauz bis zum großen Uhu bereichern sie unsere Nächte. Darüber hinaus gibt es Nachtschwalben, von denen bei uns zum Beispiel der Ziegenmelker vorkommt, und bei der Nachtigall steckt die Liebe zur Dunkelheit schon im Namen. Ihr wunderschönes Lied hat uns Menschen schon immer fasziniert, manche so sehr, dass sie gemeinsam mit ihnen singen, wie Sie später sehen werden.

Etwa ein Fünftel der Vogelarten singt, fliegt und lebt in der dunklen Tageshälfte, vom Nachtreiher bis zum Wappenvogel Neuseelands, dem Kiwi. Ähnlich ist der Anteil unter den Reptilien, so sind beispielsweise Krokodile und Geckos gleichermaßen Jäger der Nacht — wenn auch nicht gleichermaßen bedrohlich für unseresgleichen. Auch einige Fische bevorzugen die dunkle Tageshälfte, und bei den Amphibien, zu denen die Frösche, Kröten, Salamander und Molche gehören, sind mit über 90 Prozent besonders viele Vertreter nachtaktiv.

Die artenreichste Gruppe unseres Planeten — und das mit Abstand — sind die Insekten. Es gibt viel mehr Insektenarten, als es beispielsweise Pflanzenarten gibt, und ein Vielfaches der Wirbeltiere, zu denen alle zuvor genannten Tiergruppen gehören. Ob es ein Zufall ist, dass diese alte und große Gruppe sich zu etwa gleichen Teilen auf die helle und die dunkle Seite des Tages verteilt? Die Vielfalt der Insekten ist so immens groß, dass wir nur einen winzigen Bruchteil kennen. Von so mancher Artengruppe mit Tausenden von Spezies haben Menschen, die nicht gerade (Hobby-)Entomologen sind, vermutlich noch nie gehört. Doch auch bei den wohlbekannten und meist beliebten Schmetterlingen fliegen vier Fünftel nicht über sonnenbeschienene Wiesen, sondern tummeln sich im Sternenlicht.

Letztlich müssen wir uns jedoch eingestehen, dass dies nur grobe Schätzungen sind. Wie viele Weichtiere und andere Wirbellose sind nachtaktiv? Keine Ahnung. Kann man bei Pflanzen oder den Pilzen — die weder Pflanze noch Tier sind — überhaupt von so etwas wie Nacht-Aktivität sprechen?

Über einen großen Teil der Lebewesen dieses Planeten wissen wir nur sehr wenig, andere haben wir noch gar nicht entdeckt. Wieder andere kennt die Wissenschaft bereits — die einheimische Bevölkerung am Ort ihres Vorkommens ohnehin. Den meisten Menschen in unseren Breiten sind diese Arten jedoch bisher nie untergekommen.

Seit ich denken kann, liebe ich es, mir bei uns nur wenig bekannte Arten und ihre Lebensweise anzuschauen und dabei über kuriose Schätze zu stolpern — und, Sie ahnen es vermutlich schon, davon hat die Nacht so einige zu bieten.

Deswegen möchte ich an dieser Stelle ein paar meiner Fundstücke mit Ihnen teilen. Da wäre zum Beispiel der auf Neuguinea vorkommende Tüpfelkuskus. Schon bei dem Namen war ich aus dem Häuschen, spannend ist er aber auch! Der Tüpfelkuskus ist ein baumlebendes, bis zu sechs Kilogramm schweres Beuteltier mit wolligem, cremefarbenem und braun getupftem Fell und einem langen, kräftigen Schwanz, der ihn zu einem exzellenten Kletterer macht. Ein ungewöhnlicher und zugleich hübscher Anblick, wenn man ihn denn zu sehen bekäme. Wie man es aus manchem Comic oder Abenteuerfilm kennt, in dem allerlei Gerät mit Büschen und Zweigen versteckt wird, tarnt sich auch der Tüpfelkuskus mithilfe von arrangiertem Blattwerk. Vermutlich um während seiner Schlafphase am Tag nicht entdeckt zu werden. Die Tiere ziehen dafür mit den Pfoten umliegende Äste heran und stopfen sie unter sich, ähnlich wie wir eine Bettdecke feststecken würden.12

Bevor man sie sieht, hört man die meist im Grün der Bäume verborgenen Tiere eher — zumindest zur Paarungszeit. Denn dann rufen die Weibchen, die ganze Nacht hindurch. Angeblich ohne Pause und mit einem Ruf, der als irgendetwas zwischen einem Zischen und einem Eselsschrei beschrieben wird.13

Deutlich kleiner, aber ebenfalls mit langem Greifschwanz im Geäst unterwegs ist der Honigbeutler. Honigbeutler, das klingt ein wenig nach einer Hobbit-Familie aus J. R. R. Tolkiens Auenland. Das mausgroße Tier mit braunem Fell und Streifenmuster auf dem Rücken lebt in den Küstenregionen Südwestaustraliens. Es ist vor allem in der Morgen- und Abenddämmerung und um Mitternacht herum unterwegs. Die Tiere sind nicht nur niedlich anzuschauen, sondern auch ziemlich seltsam, denn ihre Lebensweise hat etwas von einem Eichhörnchen, einer Maus, einer Hyäne, und einer Wildbiene. Merkwürdige Kombination? Definitiv! Aber dennoch real: Die kleinen Tiere mit Spitzmausgesicht bauen Kobel wie Eichhörnchen, sie kommunizieren über Quiektöne wie Mäuse, und wie bei den Hyänen sind die Weibchen das dominante Geschlecht. Und die Wildbiene? Nun, wenn die kleinen Tiere um Mitternacht herum unterwegs sind, dann um von einer Baumblüte zur nächsten zu klettern, denn sie sind auf Nektar und Pollen spezialisiert. Diese bilden ihre wichtigste Nahrungsquelle, und umgekehrt sind die Honigbeutler die bedeutendsten Bestäuber der Familie der Silberbaumgewächse.

Ein weiteres ungewöhnliches Säugetier der Nacht ist der Taguan. Der Taguan ist das, was vielleicht dabei herauskäme, wenn Batman und Cat Women ein Wesen wären. Ein fliegendes oder vielmehr gleitendes Geschöpf im Pelzmantel. Das in Südchina, auf Sri Lanka, Borneo und Java vorkommende Tier gehört zu den Riesengleithörnchen. An die zwei Kilogramm und um die vierzig Zentimeter Körper — ohne den langen, wuscheligen Schwanz wohlgemerkt — gleiten dort in atemberaubendem Tempo durch den nächtlichen Wald.

Auch bei den nachtaktiven Vögeln gibt es einige skurrile Arten zu entdecken. Zum Beispiel den Kakapo, auf Neuseeland. Das Wort Kakapo kommt aus der Sprache der Maori und bedeutet Nacht-Papagei. Und genau das ist er, ein, im Gegensatz zu fast allen anderen Papageien, nachtaktiver Papageienvogel. Als ob das nicht genug wäre, ist der grüne und bis zu sechzig Zentimeter hohe Vogel auch noch die einzig lebende, flugunfähige Papageienart. Statt zu fliegen, hüpfen Kakapos auf dem Boden herum und können darüber hinaus hervorragend klettern. Leider sind die sehr neugierigen und intelligenten Vögel akut vom Aussterben bedroht. Genau wie der flugunfähige Kiwi, konnten sich in Neuseelands Ökosystem solch einzigartige Vogelarten entwickeln, da es dort keinerlei Säugetiere gab, bevor die Menschen sie mitbrachten. Nun machen eben diese ihnen zu schaffen.

Sechzig Zentimeter sind beeindruckend, jedoch nichts im Vergleich zu den 1,7 Metern, die ein ausgewachsener Helmkasuar erreicht. Die großen Laufvögel aus Neuguinea erinnern an einen Strauß, zumindest wenn man, von den großen Klauenfüßen ausgehend, mit dem Blick den nackten Laufbeinen nach oben über den pelzartig anmutend befiederten Körper folgt. Wer hier aufhört, verpasst jedoch etwas, nämlich den Teil, an dem der Vogel zunächst einen knallblauen Hals und Kopf mit leuchtend roten Hautlappen offenbart, nur um das Ganze dann mit einem dinosaurierhaften Hornschild auf dem Kopf abzurunden. Ja genau, ein riesiger Laufvogel mit nacktem blauem Kopf und Dino-Helm. Googeln Sie es, wenn Sie es mir nicht glauben.

Wenn Sie schon dabei sind, suchen Sie auch gleich mal nach Blattschwanzgeckos. Die bis zu dreißig Zentimeter großen, nachtaktiven Echsen sind allerdings selbst auf einem Foto gar nicht so einfach zu finden. Sie kommen nur auf Madagaskar vor und sind einfach fantastisch — das verrät schon der lateinische Artname eines ihrer Vertreter, Uroplatus phantasticus, der mit geschlossenen Augen wie ein welkes Laubblatt aussieht. Selbst der flache Schwanz endet in einem kunstvollen Gebilde, das verblüffende Ähnlichkeit mit Herbstlaub hat. Öffnet das Tier jedoch seine roten Augen, sieht es mit seinem geschwungenen Körper und den schlitzförmigen Pupillen wie ein waschechter Drache aus dem Märchen aus. Nur eben einer im Handtaschenformat.

In der Nacht verbergen sich nicht nur seltsam geformte oder geschmückte Tiere, es passieren auch merkwürdige Dinge. Für eine dieser Geschichten müssen wir einen kleinen Ausflug in den tropischen Regenwald Malaysias machen:

Es ist Nacht im Regenwald. Millionen von Palmblättern bilden ein Geflecht aus Grün und Schwarz vor dem dunklen Nachthimmel und den Tiefen des Dschungels. An einer zunächst gewöhnlich aussehenden Palme passiert nun etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Im Dunkeln der Nacht nicht leicht zu erkennen, ragen große braune zapfenartige Gebilde aus dem Gestrüpp. Die dichte Palme mit den riesigen, ausladenden Blättern bildet diese mannshohen Blütenstände aus. An einem der braunen Zapfen regt sich etwas. Ein leises Rascheln verrät den nächtlichen Besucher, der die Palme erklettert hat und dessen possierliches Gesicht mit den großen schwarzen Knopfaugen sich langsam hinter dem Blütenstand hervorschiebt. Fast könnte man die kleine Kreatur für einen Siebenschläfer halten, wäre da nicht der lange, nackte Schwanz, an dessen Ende eine lange große Quaste in Form einer Vogelfeder thront.14 Behände klettert der kleine Säuger zwischen den einzelnen Blüten hindurch. Dort leckt er einen weißen, dickflüssigen Saft auf, der aus der Blüte austritt. Kurz darauf verschwindet er im Blätterwerk. Er wird noch einige Male wiederkommen in dieser Nacht, der cremige Palmensaft zieht ihn anscheinend magisch an.

Was lässt das kleine Federschwanz-Spitzhörnchen immer wieder zu den Früchten der Bertrampalme zurückkehren? Nun, der Nektar der Palme hat es in sich. Durch Symbiose mit fermentierenden Hefen kommt der Saft auf einige Umdrehungen. Ganze 3,8 Prozent Alkoholgehalt enthält dieser natürlich hergestellte Palmenwein. Das kleine Hörnchen mit seinen etwa fünfzig Gramm Körpergewicht konsumiert so regelmäßig das Äquivalent zu etwa zwölf Gläsern Wein.

Interessanterweise finden sich im Blut der Tiere häufig Alkoholspiegel, die beim Menschen schwere Vergiftungssymptome und Organschäden hervorrufen würden. Dem Federschwanz-Spitzhörnchen hingegen scheint der Alkoholkonsum nichts anhaben zu können.15 Der gewohnheitsmäßige Trinker hat sich im Laufe der Evolution an seinen Konsum angepasst.

Im Übrigen besuchen gelegentlich auch andere Tiere die Blüten der Palme, darunter verschiedene Nagetiere und auch Plumploris, kleine nachtaktive Primaten. Und was hat die Palme davon? Vereinfacht könnte man sagen: In Malaysia gibt es eine Palme, die Tiere alkoholsüchtig macht, damit sie sie bestäuben. Ist Natur nicht einfach faszinierend?

Wenn wir schon in der Welt der Pflanzen sind, lassen Sie uns doch noch einmal kurz zu der Frage zurückkommen, ob Pflanzen nachtaktiv sein können. Vielleicht ist der Begriff nicht unbedingt der beste, dennoch gibt es Pflanzen, die sich auf die Nacht spezialisiert haben. Sei es, indem sie Nachtschwärmer auf Sauftour anlocken oder ihre Blühphasen in die dunkle Tageszeit verlegen.

Einen sehr poetischen Namen trägt zum Beispiel die »Queen of the night«, also die Königin der Nacht. Sie kommt in Mexiko und Guatemala vor und gehört zu den Kakteengewächsen. Ihre Blüten sind wunderschön. Am Ende trichterförmiger roter Gebilde öffnet sich eine strahlend weiße, dichte Blüte mit einem Durchmesser von etwa fünfzehn und einer Länge von bis zu dreißig Zentimetern.

Ihr Erblühen hat etwas von Aschenputtels Verwandlung aus dem Märchen, denn sie blüht nur sehr selten: Sie öffnet sich nur in der Nacht, gegen Mitternacht erstrahlt sie dann in voller Pracht, und ihre wunderschönen Blüten verwelken noch vor Tagesanbruch.

Nicht alle nächtlichen Blüher sind so geheimnisvoll und sparsam mit ihrer Blühkraft. Viele tragen zahlreiche, hübsche Blüten. Manche blühen auch am Tage, geben aber erst in der Nacht ihren intensivsten Duft ab. Gewöhnliche Nachtviolen mit ihren purpurnen Blüten, die weiße Mondwinde, die vielfältigen Nachtkerzengewächse oder der bunte Nachtphlox tragen ihre Spezialisierung bereits im Namen. Während die Pflanzen des Tages mit ihrer Formen- und Farbenpracht um Bestäuber konkurrieren, sind nachtblühende Pflanzen häufig weiß oder in anderen hellen Tönen gefärbt. Diese reflektieren das spärliche Licht bei Nacht besser. Vor allem aber setzen die Blumen der Nacht auf eine andere Technik, um Bestäuber zu bezirzen: ihren betörenden Duft.

Offenbar haben sich eine Menge Lebewesen im Laufe der Evolution in der dunklen Seite des Tages eingerichtet. Bei dem unfassbaren Reichtum der Natur, Millionen von Arten und den absonderlichsten Kreaturen ist es unmöglich, diese auch nur annähernd alle vorzustellen. Manche haben wir auf den vergangenen Seiten kurz gestreift. Zumindest einige wenige Tierarten der Nacht möchte ich jedoch gerne etwas näher beleuchten — beziehungsweise beschreiben —, denn beleuchtet zu werden würde diesen Kandidaten sicherlich nicht allzu sehr gefallen. Im Laufe des Buches werde ich Ihnen also zwischen den anderen Kapiteln ein paar dieser Bewohner der Anderswelt näher vorstellen. Neben Spannendem zu Aussehen, Lebensweise und Verhalten der Tiere, wird es auch um deren kulturelle Bedeutung und Beziehungen zu uns Menschen, Anekdoten oder persönliche Erlebnisse gehen.

Doch nun zurück zu den hier vorgestellten Geschöpfen der Nacht. Wenn wir zum Beispiel an all die Tiere denken, die in diesem Kapitel durch die Zeilen geschlichen, geflogen oder gekrochen sind, dann fällt es schwer, einen gemeinsamen Nenner zu erkennen, so vielfältig sind sie in Form und Lebensweise. Gibt es also etwas, das sie miteinander verbindet? Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir zunächst verstehen, wie ihre Umgebung, ihre Lebenswirklichkeit aussieht. Was unterscheidet ihre Welt von unserer?

Ein Leben im Dunkel

Betrachten wir eine Wiese am Rande eines kleinen Wäldchens irgendwo in Deutschland. Es ist dunkel. Die Sonne ist vor wenigen Stunden hinter dem Horizont verschwunden, und Wolken verdecken den Mond, der sich sonst als dünne Sichel vor dem Nachthimmel abzeichnen würde. Wo dunkle Wolken einen kleinen Ausschnitt des Himmels freigeben, öffnet sich der Blick in die Weite des Alls. Sterne, die teils schon lange vor dem Zeitalter der Menschen erloschen sind, leuchten als kleine helle Pünktchen im tiefen Schwarz. Willkommen in der Anderswelt. Es ist kühl. Es fehlen die Strahlen der Frühsommersonne, die am Tag zu dieser Jahreszeit bereits beachtliche Wärme produziert. Kaum zu glauben, dass es vor einigen Stunden noch hell und warm war, ja sogar ein Hauch erster Sommerhitze in der Luft lag. Es ist einer dieser Tage, an denen es sich in der Sonne bereits nach Sommer anfühlt, es uns im Schatten jedoch fröstelt.

Das Wäldchen, das wir betrachten, liegt nun im größten und tiefsten aller Schatten. Dem Schatten, den sich die Erde immerzu selbst wirft, während sie kreisend ihre Bahn zieht, und den wir Nacht nennen.

Ein leiser Wind trägt die Kälte mit sich und hilft ihr, in jede Ecke des Waldes zu kriechen. Etwas abseits des Waldrandes steht ein einzelner, großer Baum. Seine Abertausenden von grünen Blättern, die nun in Grautönen erscheinen, versorgen ihn am Tag mit Lebensenergie. Aus Luft und Licht stellt er die Zucker her, die es ihm in vielen Jahren ermöglicht haben, seinen starken Stamm und die mächtige Krone auszubilden. Nun hängen seine Blätter und Zweige schlaff herab, als würden sie schlafen und sich von ihrem Tagwerk erholen.16

Auch die Blumen auf der Wiese scheinen zu schlafen. Ihre Blüten sind geschlossen, und ihre kleinen Köpfe hängen sanft herab. Die bunten Farben, mit denen sie tagsüber Hummeln, Schmetterlinge, Fliegen und andere Bestäuber anlocken, haben in dieser Welt keine Strahlkraft. Das leuchtende Gelb des Löwenzahns, das Purpur der Ackerkratzdistel, das strahlende Blau der gewöhnlichen Ochsenzunge und all die anderen Farben und Schattierungen verlieren sich im Dunkel der Nacht. Was braucht es, um hier zu überleben?

In dieser Welt spielen Gerüche und Geräusche eine große Rolle, denn sie wirken unabhängig von Licht und Dunkelheit. Während die sichtbare Welt in den Schatten verschmilzt, transportieren Düfte Botschaften — und Geräusche scheinen umso klarer die Nacht zu durchdringen. Die Bewohner der Nacht haben daher nicht nur besonders gute Augen, sondern auch feine Ohren, Tasthaare, Vibrationssensoren, Fühler oder hervorragende Nasen, um in der Dunkelheit sicher zu navigieren.

Obwohl wir Menschen für Säugetiere und auch ganz allgemein ziemlich schlecht im Dunkeln sehen, erzählen unsere Augen etwas über unsere Vergangenheit als Geschöpfe der Nacht. Dass wir Tag und Nacht unterscheiden und unser Leben danach takten können, ist nicht erst der Fall, seit wir über Uhren verfügen. Lange bevor wir mithilfe des Sonnenstandes die Zeit sichtbar machten, hatten alle Menschen und auch diejenigen, die vor uns kamen, eine präzise Uhr zur Verfügung — die innere Uhr. Selbst wenn wir Menschen beispielsweise fernab von Zivilisation, Kalendern und Uhren leben, pendelt sich unser Wach- und Schlafrhythmus auf eine bestimmte Taktung ein. Die innere Uhr sorgt bei Tieren wie Pflanzen für einen geregelten Tagesrhythmus. Sie ist uns angeboren, wird jedoch durch äußere Einflüsse nachjustiert. So besitzen beispielsweise Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel Hautsensoren und Sinneszellen im Inneren ihres Schädels, die dabei helfen, die innere Uhr nachzustellen. Säugetiere scheinen sich hier jedoch gänzlich auf ihre Augen zu verlassen.1718 Dies könnte ein Überbleibsel unserer lichtempfindlichen Vorfahren sein.

Lichtempfindliche Augen sind in einer dunklen Welt ein entscheidender Vorteil, daher setzten die Säugetiere früh auf Lichtausbeute und verloren dabei Teile des Farbsehens: In der Netzhaut des Auges gibt es zwei verschiedene Sehzellen, die auf das Farbsehen spezialisierten Zapfen, und die Stäbchen, mit denen keine Farben erfasst werden können, die dafür aber bei deutlich schwächeren Lichtverhältnissen noch funktionieren. Die Mehrheit aller landlebenden Säugetiere hat nur noch zwei Zapfentypen und damit einige Farben dieser Welt eingebüßt, die ihre Vorfahren mit drei oder sogar vier Zapfentypen noch sehen konnten.19 Die seit jeher überwiegend tagaktiven Vögel besitzen beispielsweise heute noch vier.20 Die meisten, ebenfalls in spärlichen Lichtverhältnissen lebenden Meeressäugetiere haben nur noch einen Zapfentypen, und manche kommen sogar ganz ohne aus.2122

Im Gegensatz zu den meisten Säugetieren stellt sich uns Menschen die Welt jedoch in einem bunten Farbenrausch da. Warum also verrät ausgerechnet eine Fähigkeit, die uns von den noch heute nachtlebenden Säugern unterscheidet, dass unsere gemeinsamen Vorfahren aus der Dunkelheit kamen? Nun, dass wir heute wieder drei Zapfentypen besitzen, verdanken wir einer Mutation, dank derer wir im Laufe unserer Entwicklungsgeschichte die verlorenen Farben wiedererlangt haben. Nur so konnten wir uns auf das Farbsehen bei guten Lichtverhältnissen spezialisieren, unsere nachtaktiven Verwandten entwickelten dagegen gleich mehrere Anpassungen, die es ihnen ermöglichen, das spärliche Licht bei Nacht effektiver zu nutzen. Sie setzen nicht nur vermehrt auf Stäbchen — diese unterscheiden sich bei ganz genauem Hinsehen auch von unseren. Denn sie verfügen über einen speziellen molekularen Bauplan, der es ermöglicht, mehr Licht durch die Netzhaut des Auges hindurchzulassen.23 Generell sind die Augen der Bewohner der Nacht häufig deutlich größer, und ihre Pupillen lassen sich weiter öffnen, wodurch von vorneherein mehr Licht ins Auge fällt.

Eine weitere Anpassung der Augen nachtaktiver Säugetiere haben Sie bestimmt schon einmal selbst gesehen, und das ganz ohne Mikroskop. Zum Beispiel, wenn Sie nachts mit dem Auto oder Fahrrad unterwegs sind und das Licht der Scheinwerfer plötzlich leuchtende Augen im Dunkeln offenbart. Fällt Licht auf die Augen mancher Tiere, reflektieren sie es und werfen es zurück. Die Farbe des Lichtes unterscheidet sich zwischen den Tierarten und hängt von der Augenfarbe ab. Meist ist es gelb oder grün. Bei Katzen mit blauen Augen ist die Reflexion rot. Das fanden unsere abergläubischen Vorfahren im Mittelalter offenbar so unheimlich, dass sie glaubten, in den Augen der Katzen spiegelten sich die Feuer der Hölle. So dramatisch ist die Sache allerdings nicht. Das unheimliche Leuchten der Augen kommt von einer reflektierenden Schicht im Augenhintergrund, dem Tapetum lucidum. Dieser »leuchtende Teppich« reflektiert das Licht, ähnlich wie ein Spiegel. Dadurch verstärkt sich die Lichtmenge, die auf die Sehzellen fällt — das Auge holt also aus dem wenigen vorhandenen Licht mehr heraus. Offenbar eine sehr erfolgreiche Anpassung, denn es gibt sie im Tierreich in den unterschiedlichsten Varianten, vom Fisch bis zum Wolf. Sie ist im Laufe der Evolution mehrfach und unabhängig voneinander entstanden und, wie bei uns und den anderen Primaten, wieder verschwunden.24 Auch die meisten Vögel verfügen über kein Tapetum lucidum. Eulen dagegen besitzen die reflektierende Schicht, ebenso der Ziegenmelker und andere Nachtschwalben und der Fledermausaar. Der Greifvogel gehört zu den Habichtartigen, lebt in tropischen Wäldern und hat sich ausgerechnet auf die Jagd von Fledermäusen spezialisiert.

Auch andere Arten, die überwiegend im Dunkeln unterwegs sind, verfügen über Anpassungen des Sehsinns. So können Krill, die winzigen kleinen Krebse, die von Walen in großen Mengen verspeist werden, selbst in den Tiefen arktischer Gewässer noch feinste Lichtveränderungen erfassen. Ihr scharfer Sehsinn ermöglicht es ihnen sogar, in der monatelangen Dunkelheit der arktischen Polarnacht noch den Unterschied zwischen Tag und Nacht zu erkennen.25

Während einige Tiere also gut darin sind, schwache Lichtverhältnisse auszunutzen, um Hell-Dunkel-Unterschiede in der Nacht besser zu erkennen, haben andere sogar das nächtliche Farbensehen auf ein neues Level gebracht. Lange hatte man angenommen, dass so wie wir auch alle anderen Tiere nachts farbenblind sind. Inzwischen wissen wir jedoch, dass dies nicht für alle Lebewesen gilt und Weinschwärmer und vermutlich auch andere Nachtschwärmer