Lebendige Seelsorge 1/2024 - Verlag Echter - E-Book

Lebendige Seelsorge 1/2024 E-Book

Verlag Echter

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Beschreibung

Die Idee für meine Elternzeit vor zwei Jahren klang verlockend: Ein Jahr lang nur die Hälfte. Weniger Sitzungen, weniger E-Mails, weniger Bürokram. Das hörte sich irgendwie avantgardistisch an, nach neuen Vätern, New Work, Minimalismus und so. Damit das auch klappt, hatte ich sogar extra eine Coachin um Unterstützung gebeten. Sie stellte schon im ersten Gespräch eine einfache Frage: "Warum wollen Sie das eigentlich machen?" – "Um mal runterzukommen und weniger zu machen." Schon mit ihrem nächsten Satz war es allerdings mit der avantgardistischen Atmosphäre vorbei: "Weniger ist keine Motivation. Mehr ist eine Motivation. Sie müssen schon wissen, wovon Sie mehr wollen." Zack. Das war eine klare Ansage. Und eine wertvolle. Weniger ist nicht automatisch mehr. Gleichzeitig spüren viele, dass es eine Reduktion der Überfülle braucht, um zu Neuem zu kommen. Im Kopf und im Körper, im Kalender, in der Kirche und auf dem Planeten. Wie geht es, gepflegt kleiner zu werden? Unsere Autorinnen und Autoren nähern sich den verschiedenen Facetten dieser Frage. Den Auftakt machen mit Jan Loffeld, Björn Szymanowski und Jörg Seip drei Pastoraltheologen. Uwe Habenicht erzählt im Interview, wie er zu einer minimalistischen Spiritualität kam. Im Praxisteil finden Sie schließlich Erfahrungen mit dem Mehr im Weniger, zum Beispiel im Älterwerden, in der Architektur, im Fasten, in der Muße und im Ordensleben. Mittendrin erwartet Sie ein Schmankerl: Ursula Hahmann und Valentin Dessoy stellen mit dem Fokusfinder ein Werkzeug vor, mit dem man beispielsweise im eigenen Team an der Frage arbeiten kann, wovon es sich lohnt, Abschied zu nehmen. Lassen Sie sich inspirieren!

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INHALT

THEMA

Weniger ist völlig anders

Perspektiven zur Zukunft von Christentum und Kirche zwischen Romantisierung und Resignation

Von Jan Loffeld

Weniger ist nicht genug

Ein Plädoyer für eine ambitionierte kirchliche Transformation

Von Björn Szymanowski

Aussteigen aus der korrespondenztheoretischen Schaukel

Die Replik von Jan Loffeld auf Björn Szymanowski

Mehrwert für möglichst viele

Die Replik von Björn Szymanowski auf Jan Loffeld

Versuch über die Leere

Zum Mangel der Religion

Von Jörg Seip

PROJEKT

Fokusfinder

Ein einfaches Tool zum Freiraumschaffen

Von Ursula Hahmann und Valentin Dessoy

INTERVIEW

„Setze dir selbst ein Maß.“

Ein Gespräch mit Uwe Habenicht

PRAXIS

Wozu Fasten?

Ein empirischer Blick auf gegenwärtige Fastenpraktiken

Von Antonia Rumpf

Wenn die Grenzen enger werden, oder: Wenn das Leben ‚weniger‘ wird

Lernen mit den Erfahrungen alter Menschen

Von Peter Bromkamp

Freude an der Leere

Die Kirche Maria Geburt in Aschaffenburg

Von Markus Krauth

Muße lernen als Strategie der Gegenwart

Von Inga Wilke

„… die kommen werden bis zum Ende der Welt!“

Zwischen Zukunftsverheißung und Gegenwart des Ordensleben

Von Andreas Murk OFM Conv.

Neue Erkenntnisse aus der KMU 6 und kirchliche Wirkungspotentiale

Von Veronika Eufinger und Miriam Zimmer

FORUM

Faszination Passion

Populärkulturelle Rezeptionen des Leidens, des Sterbens und der Auferstehung Jesu

Von Beatrice Petrik

IN SERIE

Das Ringen um den Frieden

Warum es sich lohnt, Frieden anzuschauen

Von Nadja Waibel

NACHLESE

Buchbesprechungen

Impressum

POPKULTURBEUTEL

Wenn das Licht der Welt mal ausfällt

Von Matthias Sellmann

EDITORIAL

Bernhard Spielberg Herausgeber

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Idee für meine Elternzeit vor zwei Jahren klang verlockend: Ein Jahr lang nur die Hälfte. Weniger Sitzungen, weniger E-Mails, weniger Bürokram. Das hörte sich irgendwie avantgardistisch an, nach neuen Vätern, New Work, Minimalismus und so. Damit das auch klappt, hatte ich sogar extra eine Coachin um Unterstützung gebeten. Sie stellte schon im ersten Gespräch eine einfache Frage: „Warum wollen Sie das eigentlich machen?“ – „Um mal runterzukommen und weniger zu machen.“ Schon mit ihrem nächsten Satz war es allerdings mit der avantgardistischen Atmosphäre vorbei: „Weniger ist keine Motivation. Mehr ist eine Motivation. Sie müssen schon wissen, wovon Sie mehr wollen.“ Zack. Das war eine klare Ansage. Und eine wertvolle.

Weniger ist nicht automatisch mehr. Gleichzeitig spüren viele, dass es eine Reduktion der Überfülle braucht, um zu Neuem zu kommen. Im Kopf und im Körper, im Kalender, in der Kirche und auf dem Planeten. Wie geht es, gepflegt kleiner zu werden? Unsere Autorinnen und Autoren nähern sich den verschiedenen Facetten dieser Frage. Den Auftakt machen mit Jan Loffeld, Björn Szymanowski und Jörg Seip drei Pastoraltheologen. Uwe Habenicht erzählt im Interview, wie er zu einer minimalistischen Spiritualität kam. Im Praxisteil finden Sie schließlich Erfahrungen mit dem Mehr im Weniger, zum Beispiel im Älterwerden, in der Architektur, im Fasten, in der Muße und im Ordensleben. Mittendrin erwartet Sie ein Schmankerl: Ursula Hahmann und Valentin Dessoy stellen mit dem Fokusfinder ein Werkzeug vor, mit dem man beispielsweise im eigenen Team an der Frage arbeiten kann, wovon es sich lohnt, Abschied zu nehmen.

Lassen Sie sich inspirieren!

Ihr

Prof. Dr. Bernhard Spielberg

THEMA

Weniger ist völlig anders

Perspektiven zur Zukunft von Christentum und Kirche zwischen Romantisierung und Resignation

Angesichts des Übergangs in eine andere Sozialgestalt des Glaubens stellen sich für einen religiösen Monopolanbieter wie das Christentum viele Fragen. Allein die empirische Tatsache einer absehbaren Minderheitensituation klärt noch nicht, welche Bilder damit verbunden werden könnten. Verschiedene Vorstellungen sind zu diskutieren, wie dieses ‚Anders‘ konkret aussehen und gestaltet werden sollte. Jan Loffeld

„Kirche und Religion bedeuten zunehmend einen Mehrwert für Wenige, die immer weniger werden.“ So resümierte die Gesprächsleitung die erste Beiratssitzung der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6), nachdem die Ergebnisse der für ganz Deutschland repräsentativen Forsa-Umfrage im März 2023 vorlagen. Zuvor war es zu einer offenen Aussprache gekommen, in der man sich über Erwartetes und Unerwartetes der Studienergebnisse ausgetauscht hatte. Dazu zählte unter anderem die große Reichweite kirchlichen Handelns und ihrer Präsenz in der Gesellschaft, die unverändert hohe Bekanntheit von Seelsorgenden (im Vergleich war seit 1972 die Bekanntheit der evangelischen Pfarrperson sogar noch gestiegen) oder die Wertschätzung kirchlichen Engagements auf der Basisebene – trotz der desaströsen Vertrauenswerte, gerade der katholischen Kirche. Ebenso erstaunte, dass es bezüglich der Unterschiede zwischen evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern eigentlich keinerlei Wertschätzung oder Relevanz konfessioneller Identitätsmarker mehr gibt. Für den Großteil evangelischer und katholischer Christ:innen ist die eine Konfession nicht besser oder wahrer als die andere. Zur Sprache kam auch ein interessanter Vergleich: Kurz bevor die Ergebnisse bekannt gemacht wurden, hatten alle Beiratsmitglieder prospektiv einige Testfragen ausgefüllt, mit denen sie die Ergebnisse prognostizieren sollten. Das Ergebnis: Fast alle hielten die deutsche Gesellschaft für weniger säkular, als es die Ergebnisse später zeigten. Die erfreuliche Relevanz kirchlicher Präsenz wurde durch die geringe Bedeutung christlichreligiöser Kernitems kontrastiert. Daher kam es zu der Schlussfolgerung: Kirche und Religion bleiben ein Mehrwert, allerdings für immer weniger Menschen in Deutschland. Skandale beschleunigen und verstärken diesen Prozess, insbesondere in der katholischen Kirche.

Jan Loffeld

Dr. theol. habil., Prof. für Praktische Theologie an der Tilburg University School of Catholic Theology in Utrecht/Niederlande.

DAS ‚WENIGER‘ DESKRIPTIV, NICHT NORMATIV VERSTEHEN

Bei der Feststellung des ‚Weniger‘ muss man allerdings sehr aufpassen, welche Konnotation sich damit verbindet. Das oft in solchen Zusammenhängen gebrauchte geflügelte Wort „Weniger ist mehr“ impliziert, dass Qualität die Quantität übertrifft. Etwa in dem Sinne: Endlich sind wir wenige, denn dann sind wir auch besser. Dabei kommt nicht selten ein elitarisierender Zungenschlag hinzu. Bisweilen wird eine Diaspora- oder dörflich-übersichtliche Gemeinderomantik aufgemacht, die von einer reinen Entscheidungskirche träumt, die es wahrscheinlich in Reinform so nie gegeben hat. Manche reden sogar vom „Gesundschrumpfen“, als sei eine Mehrheits- oder Volkskirche eine pathologische Form von Kirche und Christentum gewesen. Sicherlich stimmt das etwa bei Zwangsvollzügen oder unhinterfragbaren Konventionen, die sich nicht selten als hoch missbrauchsanfällig erwiesen haben. Zugleich bot die Volkskirche vielen eine Heimat im Glauben, deren Auflösung von nicht wenigen betrauert wird. Insgesamt kann es beim ‚Weniger‘ daher nicht um eine normative Aussage gehen, in dem Sinne, dass es positiv oder negativ wertend aufgeladen und verstanden wird. Es war gerade in der Beiratssitzung eher die Deutung nach einer nüchternen Analyse dessen, was ist. Die Daten markieren tatsächlich einen Kipppunkt (vgl. EKD 2023). Das ‚Weniger‘ sollte daher immer deskriptiv und analytisch, keinesfalls qualitativ verwandt werden. Und im Sinne einer neuen Art von Alternativlosigkeit, wie sie alle empirischen Studien – auch international – nahelegen: Die Frage ist nicht, ob Kirche und Christentum weniger werden, sondern wie sie weniger werden. Die Alternative lautet somit nicht, Diaspora ja oder nein, sondern welche Diaspora, sprich mit welchem Selbstbild, welcher Vision, welchem Apostolat.

Die Frage ist nicht, ob Kirche und Christentum weniger werden, sondern wie sie weniger werden.

Es gibt in diesem Zusammenhang allerdings noch eine andere Weise, das Weniger zu qualifizieren. Der ehemalige Bischof von Portiers, Albert Rouet, hat es als „Angst, wenige zu sein“ beschrieben (vgl. Rouet 2022). Die Angst vor einer Minderheitensituation besteht, weil man sich dann womöglich allein oder einsam fühlen könnte. Man fürchtet also ihre Andersheit, die unübersehbare Transformation, die sie bedeuten wird. Oder weil von lieb Gewordenem Abschied zu nehmen ist. Dann geht es um die inneren Bilder, die man loslassen oder revidieren muss. Dies ist vermutlich der komplexeste Prozess innerhalb von Organisationsentwicklungen allgemein und in der Kirchenentwicklung im Besonderen. Was aber fürchtet man genau, wenn die Bedeutung des Glaubens und der Kirche abnimmt? Die Position des gesellschaftlichen Mittelfeldspielers? Denken kirchlich Hochverbundene vielleicht, ‚der Welt‘ und ‚den Menschen‘ müsse es doch weniger gut gehen, wenn Kirche und Glaube in ihrem Leben nicht vorkommen? Hat man aber dann diese Welt und diese Menschen innerlich wirklich frei gelassen? Oder bleibt in solchen Haltungen noch ein Rest von Paterbzw. Maternalismus zurück, es doch besser zu wissen, was für Menschen heute das Richtige sei, als sie selbst? Auch wenn solche Haltungen noch so gut gemeint sind, ihnen kann ein letzter Rest metaphysisch begründeter Allzuständigkeitsfantasie beigemischt sein. Oder ist es die eigene Bedeutungseinbuße und damit die Kränkung, nicht (mehr) gebraucht zu werden und damit letztlich Macht, gesellschaftlichen Einfluss und politische Bedeutsamkeit einbüßen zu müssen?

EINE INKLUSIV GEDACHTE MINDERHEIT

Angesichts der Situation einer immer stärker säkularen und entkirchlichten Gesellschaft und den damit verbundenen Diskursen kann ein Blick in die Urkirche lohnen. Der 2018 verstorbene Würzburger Kirchenhistoriker Franz Dünzl hat 2015 mit dem Band Fremd in dieser Welt (Dünzl 2015) vor dem Hintergrund der Debatten um die ‚Freiburger Rede‘ von Papst Benedikt XVI. das Entweltlichungstheorem historisch untersucht. Als Patristiker analysiert er insbesondere die ersten Jahrhunderte des Christentums und kommt zu folgender interessanter Schlussfolgerung: Je stärker die Christ:innen im römischen Reich zu einer Mehrheitsreligion wurden, desto inklusiver stellten sie sich bezüglich ihrer Selbstkonzepte und konkreten Praktiken auf. Unter anderem wurden sie deshalb im 4. Jahrhundert zu einer politisch nicht mehr zu leugnenden gesellschaftlichen Größe im römischen Weltreich. Umgekehrt galt allerdings auch: Je kleiner die Kirche war, desto exklusiver und elitärer fielen ihre Selbstkonzepte aus. Interessant ist, dass die Befürchtung, dass dies wieder so kommen könnte, in manchen Köpfen bis heute vorherrscht. Vielleicht wird daher der Streit, etwa um die korrekte und angemessene Deutung empirischer Forschungsdaten, so intensiv geführt.

Tobias Kläden hat in einem aktuellen Feinschwarz-Artikel zur KMU 6 zwei Reaktionen säkularisierungstheoretischer Lesarten auf die Ergebnisse skizziert (vgl. Kläden 2023): Einmal eine elitäre bzw. identitäre („Wir schotten uns ab als kleine Herde“) und zugleich eine resignativ-restaurative („Wir lassen alles beim Alten, weil wir eh nichts ändern können“). Beide Reaktionen gibt es und beide ziehen erhebliche kirchenpolitischen Konsequenzen nach sich, bis dahin, dass Positionierungen, die eine säkularisierungstheoretische Deutung verfolgen, als ‚konservativ‘ und Individualisierungstheoretiker:innen („Religion wandert aus der Institution aus und privatisiert sich“) als ‚liberal‘ etikettiert werden. Nicht nur die Objektivität der Daten, sondern auch der Ausschluss theoretischer Vorannahmen verbietet allerdings solche Kategorisierungen und Festlegungen (vgl. Erichsen-Wendt/Wischmeyer/Wunder 2023). Faktisch gibt es nämlich mindestens noch ein drittes Reaktionsmuster, das quer zu den zwei oben Beschriebenen liegt: dasjenige eines ‚säkularen Inklusivismus‘ bzw. einer ‚inklusiven Minderheit‘. Diese Position versucht die Realität – soweit als möglich – empirisch ungeschönt wahrzunehmen und weiß sich zugleich des ‚Weltauftrags‘, sprich der Ekklesiologie des Konzils verpflichtet. Sie liegt inmitten des Duals von Kulturpessimismus und -optimismus, indem sie zu unterscheiden versucht, wo die hiesige Kultur tatsächlich Lebens- und Lernorte des Evangeliums außerhalb verfasster Religiosität bietet und zugleich prophetisch die Stimme dieses Evangeliums stark macht, wo Menschen verzweckt werden, strukturelle Ungerechtigkeiten herrschen, die Schöpfung ausgebeutet wird etc. Dabei versucht sie realistisch zu sehen und zu akzeptieren, wo und wie das Christentum aus dem kulturellen Gedächtnis verschwindet und vergessen wird, bleibt gleichzeitig aber neugierig auf Ereignisse, wo es sich wieder aufs Neue zeigt oder diverse Erinnerungsprozesse stattfinden. In all dem bleibt sie dienend und bringt die Perspektive etsi deus daretur in ihre Umwelt ein. Dies lässt sich an einem Beispiel aus dem Bistum Magdeburg illustrieren: Als eine Pfarrei und ihre Kirche in der brandenburgischen Diaspora aufgegeben werden musste, hat das Bistum doch dafür gesorgt, dass es in der Region einen caritativen Anlaufpunkt (Kleiderkammer und Obdachlosenhilfe) geben konnte. Es geht also nicht in erster Linie darum, ‚Kirche‘ präsent zu halten, sondern das Evangelium. Dort, wo das eine eher institutionellen Bedingungen gehorchen muss, ist das andere freier von festlegenden Unterscheidungen wie Priestern und Lai:innen, Haupt- und Ehrenamt etc. Dabei kann es niemals darum gehen, die eine gegen die andere Seite des Engagements auszuspielen, sondern die Pluralität dessen, was christliches Leben heißt, jeweils situationsangemessen zu realisieren.

Es geht also nicht in erster Linie darum ‚Kirche‘ präsent zu halten, sondern das Evangelium.

Kirchenpoltisch bedeutet eine solche Position schließlich, dass eine Arbeit an der Sozialgestalt des Glaubens absolut notwendig ist, aber nicht hinreichend. Die Transformation der Kirchengestalt bleibt eine unabdingbare Aufgabe, allerdings sind Erosionsprozesse nicht ausschließlich institutionell bedingt. Vielmehr ist in der westlichen Kultur eine säkularisierende Unterströmung feststellbar, die einerseits unabhängig von der Sozialgestalt des Glaubens erfolgt und zugleich durch deren Dysfunktionalität verstärkt wird. Bei Entkirchlichungs- und Säkularisierungsprozessen wirkt also eine gegenseitige Verstärkung, wobei der Grundimpuls säkularisierend in dem Sinne ist, dass Religion im Lebensvollzug von immer mehr Menschen ersatzlos verzichtbar ist. Struktur- und Kirchenreformen sind zugleich unverzichtbar, um dem inklusiven Grundauftrag des Konzils innerhalb veränderter gesellschaftlicher Koordinaten eine Gestalt zu geben und somit nicht in sektiererische oder separatistische Züge zu verfallen. Falls es irgendwann tatsächlich zu einer ‚Rückkehr der Religion‘ kommen sollte, wären solche Bilder wiederum anzupassen. Allerdings steht dies aller Voraussagekraft nach in naher Zukunft nicht zu erwarten.

‚INKLUSIVE MINDERHEIT‘ ALS „VICARIOUS RELIGION“ – MIT EINSCHRÄNKUNGEN

Wenn es nun neue Bilder für eine Kirche in der Minderheit braucht, kann die Position einer ‚inklusiven Minderheit‘ unter anderem vom Konzept der „Vicarious Religion“ der britischen Religionssoziologin Grace Davie lernen. Davie hatte in den 1990er-Jahren mit ihrer These eines „Believing without Belonging“ Bekanntheit erlangt und steht daher für die erwähnte Individualisierungsthese. Diese hat sie allerdings mittlerweile aufgrund aktuellerer empirischer Daten relativiert (die KMU 6 drehte die Annahme sogar teilweise um) und kommt nun unter anderem zu einem neuen interessanten Konzept, dass angesichts der obigen ekklesiologischen Überlegungen weiterführen könnte. Es ist jenes einer „Vicarious Religion“. Dies definiert sie wie folgt: „Mit Vicarious Religion meine ich die Vorstellung von Religion, die von einer aktiven Minderheit ausgeübt wird, aber im Namen einer viel größeren Zahl, die (zumindest implizit) nicht nur versteht, sondern ganz klar gutheißt, was die Minderheit tut“ (Davie 2008, 169; Übersetzung J. L.) Das Christentum wird zu einer Minderheit, die allerdings für das Gesamt einen Auftrag behält und von daher von diesem Ganzen weiterhin geschätzt wird. Auch wenn nicht mehr alle Menschen religiös sind bzw. dies praktizieren, die Funktion der Religion bleibt erhalten, wandelt sich allerdings mehr und mehr in diejenige einer Stellvertreterreligion.

Das Christentum wird zu einer Minderheit, die allerdings für das Gesamt einen Auftrag behält und von daher von diesem Ganzen weiterhin geschätzt wird.

Allerdings muss man hier für das obige Konzept einer ‚inklusiven Minderheit‘ zwei Einschränkungen bzw. Ergänzungen zur Vision Davies vornehmen. Einerseits kann man angesichts der jungen und schnell wachsenden Gruppe der „Säkular Geschlossenen“ in der KMU 6 (37 Prozent im Jahr 2022; vgl. EKD 2023, 21) nicht mehr von einer uneingeschränkt religionsfreundlichen Atmosphäre für Deutschland ausgehen. Religion gleich welcher Couleur wird durch einen Großteil der Deutschen als mittlerweile etwas kulturell Fremdes erlebt, das deutlich mehr Nach- als Vorteile für ein gesellschaftliches Zusammenleben bedeutet. Sie sehen den Mehrwert von Religionsgemeinschaften für das Ganze nicht mehr und daher ist fraglich, ob sie Davies’ Vision zustimmen würden.

Der zweite Einwand bezieht auf das Thema religiöse Alphabetisierung: Man kann säkularisierende Prozesse auch anhand der Fähigkeit von Einzelnen beschreiben, überhaupt noch religiöse Codes bzw. Sprache zu verstehen und mit ihnen eine Bedeutung zu verbinden. Säkularisierung wäre dann als ein Prozess zu verstehen, innerhalb dessen das Christentum, also seine kulturgeschichtliche Bedeutung, seine Inhalte und Codes innerhalb des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft immer stärker verblassen. Kirchengebäude werden nicht mehr als solche gelesen, die Kenntnis über den Inhalt von Festtagen schwindet und damit das Bewusstsein, was eine Religion wie das Christentum überhaupt an positiven Inhalten für das Ganze einer Gesellschaft bedeuten bzw. hinzufügen kann.

Beide Einschränkungen, die das Konzept einer „Vicarious Religion“ in seiner Rezeption nicht einfacher machen, müssen allerdings für das Bild einer ‚inklusiven Minderheit‘ bedacht werden. Sie helfen, Romantisierungen zu vermeiden und ein, soweit als möglich, realistisches Szenario für das Christentum hierzulande zu entwerfen. Dies könnte so aussehen, dass man in die Haltung eines „demütigen Selbstbewusstseins“ hineinwächst, wie es Joachim Wanke, der ehemalige Bischof von Erfurt, bereits vor vielen Jahren genannt hat. Es meint, sich nicht an jedem Strohhalm gesellschaftlicher Bedeutsamkeit festzuhalten, sondern anzuerkennen, dass auch ohne Religion und Kirche in der Gesellschaft vieles gut funktioniert und beispielsweise der Humanismus – zumindest auf absehbare Zeit – nicht zwingend religiös verwurzelt sein muss. Zugleich kann es heißen, die eigenen Ressourcen und Erinnerungspotentiale an die ‚große Erzählung Christentum‘, für die eine ‚inklusive Minderheit‘ stehen möchte, auf vielfältige Weise zur Verfügung zu stellen: Im Bereich des Spiritual Care, bei gesellschaftlichen Anlässen, zu denen man gefragt wird, im Bereich von Kunst und Kultur. Eine in diesem Sinne kulturelle Diakonie wäre somit ein konstruktiver Bestandteil einer solchen ‚inklusiven Minderheit‘ (vgl. Diakonia 4/2021; Schwemmer