Lebendige Vergangenheit - Dr. Wolfgang Retting - E-Book

Lebendige Vergangenheit E-Book

Dr. Wolfgang Retting

0,0

Beschreibung

Die Autobiografie von Dr. Wolfgang Retting stellt die ebenso beeindruckende wie auch ergreifende Lebensgeschichte des Autors dar- mit allen Facetten, die das Leben zu bieten hat, angefangen von der Grausamkeit und den Schrecken des Zweiten Weltkrieges über das Physikstudium und die anschließende Promotion, gefolgt von Eheschließung und Kindersegen bis hin zu zahlreichen interessanten Aufenthalten und Reisen in die nahe und ferne Welt. Dabei zeigen sich in jeder Lebensphase der ausnehmende Optimismus und das imponierende Durchhaltevermögen des heute Neunzigjährigen - komme, was da wolle! Eine ganz und gar lesenswerte Lektüre für Jung und Alt!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 104

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Meine Kindheit in Estland

2. Unsere Umsiedlung aus Reval und das erste Jahr im „Warthegau“

3. Meine Zeit in der NPEA

3.1 Die ersten Jahre

3.2 Unser 7. Zug 1943

3.3 Mein Abitur

4. Besuch in Polen 1985

5. Beim Reichsarbeitsdienst

6. Bei der Kriegsmarine

7. Der Krieg

8. In Hönnersum

9. Studienbeginn in Göttingen

10. Wie ich meine spätere Frau Heede kennenlernte

11. Mein Exodus nach Darmstadt und Bonn

12. Bad Godesberg und der kleine Cornelius

13. Umzug nach Bonn – Geburt unserer kleinen Sabine

14. Die letzte Zeit am Mineralogischen Institut in Bonn – Meine Promotion

15. Meine erste Stelle bei Leitz in Wetzlar

16. Unsere Zeit in Berlin

17. Unser Umzug und das erste halbe Jahr in Ludwigshafen

18. Umzug nach Frankenthal

19. Unser Urlaub in Italien 1961

20. Die Jahre in Frankenthal

21. Meine Operation

22. Meine Arbeit in der BASF

23. Unser Umzug nach Eisenberg-Steinborn

24. Unsere letzten Jahre bis jetzt (2017)

Über den Autor

Wolfgang Retting

Lebendige Vergangenheit

Erinnerungen von 1927-2017

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2018 FRANKFURTER LITERATURVERLAG

Ein Unternehmen der

FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE

AKTIENGESELLSCHAFT

Mainstraße 143

D-63065 Offenbach

Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

E-Mail [email protected]

Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

Websites der Verlagshäuser der

Frankfurter Verlagsgruppe:

www.frankfurter-verlagsgruppe.de

www.frankfurter-literaturverlag.de

www.frankfurter-taschenbuchverlag.de

www.publicbookmedia.de

www.august-goethe-von-literaturverlag.de

www.fouque-literaturverlag.de

www.weimarer-schiller-presse.de

www.deutsche-hochschulschriften.de

www.deutsche-bibliothek-der-wissenschaften.de

www.haensel-hohenhausen.de

www.prinz-von-hohenzollern-emden.de

Dieses Werk und alle seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Nachdruck, Speicherung, Sendung und Vervielfältigung in jeder Form, insbesondere Kopieren, Digitalisieren, Smoothing, Komprimierung, Konvertierung in andere Formate, Farbverfremdung sowie Bearbeitung und Übertragung des Werkes oder von Teilen desselben in andere Medien und Speicher sind ohne vorgehende schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und werden auch strafrechtlich verfolgt.

Lektorat: Alexandra Eryiğit-Klos

ISBN 978-3-8372-2135-0

Dieses Buch widme ich meiner lieben, verstorbenen Frau Heede

Dreifach ist der Schritt der Zeit:

Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,

Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,

Ewig still steht die Vergangenheit.

Friedrich von Schiller

Doch sie lebt – die Vergangenheit, denn:

Die Erinnerung ist das einzige Paradies,

aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Jean Paul

Vorwort

Im September 2008 sind meine Frau Heede und ich zu unserer Tochter und unserem Schwiegersohn ins Saarland gezogen, unserer vermeintlich letzten Station. Beide haben uns liebevoll aufgenommen. Trotzdem haben wir unseren Wohnort noch einmal gewechselt, weil wir uns zu sehr in unserer Selbstständigkeit eingeschränkt fühlten.

Wir wohnen jetzt wieder nach fast 20 Jahren in Eisenberg in der Pfalz in einer Wohnung mit betreutem Wohnen in einem Seniorenheim.

Ich war 83, als ich zu schreiben begann. Grund genug, um mich mit meinem Leben auseinanderzusetzen. Als Junge habe ich den Nationalsozialismus erlebt und war von dieser „Idee“ überzeugt, besonders nach vier Jahren als „Jungmann“ einer „Nationalpolitischen Erziehungsanstalt“ (abgekürzt NPEA und salopp „Napola“ genannt). Andererseits entsprach ich zwar äußerlich dem damaligen nordischen Menschenvorbild, doch in meinem Wesen kaum. Ich war kein kämpferischer, sportlich begabter Junge und bin auch jetzt als erwachsener Mensch nicht anders. Damals habe ich darunter gelitten. Mit 17 Jahren machte ich als Einziger das Abitur an meiner Schule, der Napola. Danach war ich noch zu jung, um eingezogen zu werden, obgleich ich mich, wie es damals selbstverständlich war, „freiwillig“ zur Kriegsmarine gemeldet hatte. Nach einem Gastsemester als Physikstudent an der Universität Posen wurde ich zuerst – nicht freiwillig – für sechs Wochen zum „Reichsarbeitsdienst“ eingezogen.

Im Herbst 1944 kam ich, immer noch 17-jährig, endlich als Offiziersanwärter auf die Schwedenschanze nach Stralsund.

Leider brach bei mir wie auch bei anderen Kameraden, die mit mir zusammen im Arbeitsdienst waren, eine Gelbsucht (Hepatitis A) aus, die ich im Marinelazarett Stralsund auskurieren musste.

Danach hatte ich die Grundausbildung auf dem Dänholm zu wiederholen. Der Krieg näherte sich seinem Ende und ich wurde mit vielen anderen zur Infanterie abkommandiert. Was dann folgte, war ein Albtraum! Ich erlebte mit knapp 18 das Ende des Krieges in einer sehr schlimmen Form. Anders kann ich es nicht sagen: Ich bin dadurch traumatisiert für mein Leben. So berichte ich hier als Zeitzeuge über meine Kindheit im Baltikum und über meine Jugend als „Nazi“, über meine Nachkriegszeit-Erlebnisse am Ende des Krieges, meine weitere Jugend in einem Zustand der Orientierungslosigkeit und über mein späteres Leben als Erwachsener.

1. Meine Kindheit in Estland

Meine Eltern haben 1924 in Lettland geheiratet und am 25. Januar 1927 wurde ich in Riga geboren. Die Fotos unten zeigen unsere Familie 1929 (rechts) und mich vorher als Kleinkind (links).

Im selben Jahr 1927 zogen wir nach Reval (heute Tallinn) in Estland. Der ältere Bruder meiner Mutter, mein Onkel Oskar, hatte dort eine Vertretung einer technischen Gummiwaren-Fabrik gegründet und legte auf die Mitarbeit meines Vaters als seinen Vertreter großen Wert. Onkel Oskar war für uns mehr als ein Verwandter und auch mein Patenonkel, daher habe ich meinen zweiten Vornamen „Oskar“. Am 10. Oktober 1928 wurde mein Bruder Hans-Walter in Reval geboren. Er hieß Walter nach einem Bruder meines Vaters, der nach seiner Auswanderung nach Amerika als Elektriker von seinem Hauswirt erschossen wurde, weil er im Hof des Grundstücks eine Sicherung auswechseln wollte. Das gab es schon damals!

Wir haben zuerst in Reval in mehreren Mietwohnungen gewohnt. 1933 ließen meine Eltern in Baltischport, westlich von Reval gelegen, ein kleines Sommerhaus bauen. Unser Vater hatte die Möbel dieses Hauses auf dem Dachboden eines Miethauses angefertigt. Er war ein geschickter Handwerker und hat auch für uns Kinder wunderbares Spielzeug gebaut. Baltischport war eine verträumte kleine Stadt an der Ostsee in einer Umgebung mit typischer Kalkstein-Vegetation: Viel Wacholder und noch mehr Thymian, ein Duft der Kindheit! Wir hatten ein sehr großes Grundstück mit vielen Kalksteinen, mit denen wir herrlich spielen konnten. Zum Beispiel legten wir mit diesen Steinen die Konturen eines Schiffs, das zu verlassen unweigerlich unseren Tod durch Ertrinken bewirkt hätte! Unsere Eltern unternahmen oft Ausflüge mit ihren Fahrrädern und nahmen uns Kinder auf ihren Gepäckträgern mit. Unsere Mutter hatte uns rote Strandanzüge genäht. Einmal gerieten wir in eine Rinderherde, die von einem Stier angeführt wurde. Unsere Mutter hatte schreckliche Angst, der Stier würde uns Kinder für Toreros halten.

Anfang 1935 ließen meine Eltern ein Wohnhaus in Nömme bei Reval bauen. 1936 zogen wir ein. Unser Grundstück hatte zuerst reinen Sandboden und unsere Eltern ließen viele Kubikmeter gute Erde anfahren, um einen schönen Garten mit Beerensträuchern und Obstbäumen zu schaffen. Ein schon vorhandenes kleines Kiefernwäldchen blieb besonders für uns Kinder erhalten. Dort spielten wir gerne Indianer. – In unserem Hause in einer kleinen Dachwohnung wohnte eine estnische Frau mit einer Tochter in unserem Alter. Sie war sehr hübsch, was wir aber noch nicht bemerkten. Sie kam uns aber als Indianersquaw gerade recht. Sie hieß Öie, was auf Estnisch „Blüte“ bedeutet. – Viele Jahre später haben wir, meine Frau und ich, nach einer Tagung in Helsinki meine alte Heimat und auch „unser“ Haus in Nömme besucht. Wir konnten sogar in unsere alte Wohnung, weil die jetzigen Bewohner verreist waren und ein sehr gut Deutsch sprechendes Mädchen die Wohnung hütete. Wir waren schon dabei, das Grundstück zu verlassen, als eine Frau aus dem Hause kam, in dem noch ihre Mutter wohnte, und uns ansprach: „Ich war Schneeflocke! Bist du Wolfgang?“ Es war Oie, die durchaus nicht mehr das ehemalige schlanke Mädchen war. Aber das war bald vergessen und wir sprachen über die schönen alten Zeiten.

Schon in Reval hatte ich die ersten Klassen einer deutschen Vorschule besucht. In Estland hatten wir im Einverständnis mit der estnischen Regierung mehrere deutsche Schulen, sogenannte Vorschulen, ein Gymnasium, ein Mädchen-Lyzeum und eine Oberrealschule, in der ich später die Quarta und die Quinta besuchte. In den höheren Schulen war allerdings Estnisch unsere erste „Fremdsprache“. – Als wir nach Nömme umzogen, wechselte ich für die letzte Klasse zur dortigen Vorschule. Dort hatte unsere Klasse in den Pausen ein Lieblingsspiel: Der abessinische Negus – das war der Größte und Stärkste von uns – wurde von allen anderen – außer von mir – regelmäßig als „Italiener“ verprügelt. Es war die Zeit, als Mussolini Abessinien als Kolonie in Besitz nahm. Dazu muss man wissen, dass die Baltendeutschen, wie die meisten Auslanddeutschen, Hitler und Mussolini noch als Befreier sahen. Das änderte sich später für die Älteren nach unserer Umsiedlung unter der Losung „Heim ins Reich“.

Mit zehn Jahren besuchte ich, wie gesagt, die ersten Klassen der deutschen Oberrealschule.

Dort war, außer Estnisch, Englisch die zweite obligatorische Fremdsprache. Außerdem konnten wir Französisch oder Russisch wählen. Unsere Eltern rieten mir zu Russisch, weil sie damals noch annahmen, dass die Sprache unseres großen Nachbarn einmal wichtig für uns alle sein würde. Sie sprachen beide sehr gut Russisch, weil sie viele Jahre in Petersburg bzw. in Moskau zugebracht hatten. Sie benutzten diese Sprache, wenn wir Kinder sie nicht verstehen sollten. Ich habe noch die Stimme unserer Mutter im Ohr, wenn sie sagte „On ustal“ – „Er ist müde“, wenn sie unseren Vater, der recht zornig sein konnte, beschwichtigen wollte.

2. Unsere Umsiedlung aus Reval und das erste Jahr im „Warthegau“

Unsere Umsiedlung hat eine Vorgeschichte, ohne die sie nicht zu verstehen wäre. Nach dem sogenannten „Polenfeldzug“ schloss Hitler mit Stalin und der Sowjetunion einen „Nichtangriffspakt“ ab, um die Hände für den beginnenden Krieg im Westen frei zu haben.

Dazu gab es einen Geheimvertrag, der die Gebietsansprüche der beiden Staaten im Westen bzw. Osten regelte. Deutschland machte weiter unter der Bedingung, dass die Deutschstämmigen aus den „Ostgebieten“ in deutsche Gebiete versetzt werden sollten. Die nebenstehende Grafik zeigt die beabsichtigte Aufteilung. Die mittelgrauen Gebiete sollten von Deutschland besetzt werden, während die hellgrauen Gebiete an Russland fielen. Das stolze Polen sollte also wieder einmal geteilt werden.

Von diesem Zusatzabkommen wussten wir Deutschbalten natürlich nichts. Es hatte sich jedoch herumgesprochen, dass die Russen voraussichtlich bald ins Baltikum einmarschieren würden. Als uns angeboten wurde, nach Deutschland umzusiedeln, haben die meisten und auch unsere Eltern beschlossen, dieses Angebot anzunehmen. Die Vorbereitung bei uns übernahm bei uns die Deutschbaltische Landsmannschaft, in Deutschland natürlich die „Partei“.

Unsere Häuser wurden von Deutschland an den estnischen Staat verkauft. Dafür sollten wir nach der Umsiedlung entschädigt werden. Wir wurden mit „KDF“-Schiffen in deutsche Häfen gebracht. KDF bedeutet „Kraft durch Freude“ – eine Organisation, die werktätigen Parteigenossen einen preiswerten Urlaub ermöglichen sollte.

Unser Handgepäck hatten wir bei uns. Das große Gepäck und unsere Möbel wurden gesondert transportiert.

Für die Älteren war es sicher nicht leicht, die alte Heimat zu verlassen, in der sie meistens seit vielen Generationen lebten. Für uns Kinder war es ein großes Abenteuer. Allein die Schifffahrt war ein besonders Erlebnis. Als wir in Stettin ankamen, war es Abend. Wir warteten auf einen Zug nach Posen. Rote-Kreuz-Schwestern verteilten Tassen mit Maggi-Suppe. Nie hat mir eine einfache Suppe so gut geschmeckt!

In Posen wurden wir in einem Massenquartier auf Strohsäcken untergebracht: Jede Familie für sich, aber sonst eng nebeneinander. Wir blieben dort mehrere Tage, in denen wir von Parteijunkern, die unsere Mutter als „Kanarienvögel“ bezeichnete, in den Nationalsozialismus „eingeführt“ wurden.

Nach und nach wurden die Familien auf unterschiedliche Orte verteilt. Wir kamen nach Lissa zwischen Posen und Breslau, wo unser Vater im Wirtschaftsamt die Verteilung von Lebensmittelkarten übernehmen sollte. Wir wohnten in der Comeniusstraße über der Wohnung unseres ehemaligen Turnlehrers aus Reval. In seine Tochter habe ich mich das erste Mal verliebt. Ich bekam Masern und war danach kein Kind mehr, sondern ein heranwachsender Junge. 

In Lissa besuchte ich das Kant-Gymnasium, wo ich in die Tertia aufgenommen wurde. In Estland begann unser Schuljahr nach den Osterferien. Ich hatte dort also die Quinta weitgehend abgeschlossen. Wir Baltendeutschen waren unseren „volksdeutschen“ Mitschülern, die Schulen in Polen besucht hatten, schulisch weit überlegen. Mein einziges Problem das Latein. Mithilfe eines älteren Schülers war ich aber bald „auf dem Laufenden“. Als das Schuljahr zu Ende ging, wurden wir baltendeutschen Schüler eine Klasse vorversetzt. Ich kam also in die Obersekunda statt in die Sekunda. Das sollte später für mich ein Problem werden.

3. Meine Zeit in der NPEA

3.1 Die ersten Jahre

Ich weiß nicht, wer mich für die Nationalpolitische Erziehungsanstalt in Reisen bei Lissa vorgeschlagen hat, ich nehme aber an, es war unsere Schule. In diesem schönen Barockschloss habe ich vier Jahre meiner Jugend erlebt.