Legenden des Krieges: Das blutige Schwert - David Gilman - E-Book
SONDERANGEBOT

Legenden des Krieges: Das blutige Schwert E-Book

David Gilman

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der erste Band von David Gilmans packender Romanserie «Legenden des Krieges» England, 1346. Der junge Steinmetz Thomas Blackstone wird vor die Wahl gestellt: Entweder der Tod durch den Strick – für einen Mord, den er nicht begangen hat. Oder er schließt sich der englischen Armee an, für die König Edward dringend weitere Bogenschützen sucht. Die Entscheidung fällt ihm nicht schwer. Doch in der Normandie lernt Thomas die bittere Realität des Krieges kennen. Ritterlichkeit ist ein Kodex für bessere Zeiten. Gnade gibt es nicht – schon gar nicht in der Schlacht von Crécy, dem blutigen Kessel des Hundertjährigen Krieges …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 783

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



David Gilman

Legenden des Krieges: Das blutige Schwert

Historischer Roman

Aus dem Englischen von Anja Schünemann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Der erste Band von David Gilmans packender Romanserie «Legenden des Krieges»

 

England, 1346. Der junge Steinmetz Thomas Blackstone wird vor die Wahl gestellt: Entweder der Tod durch den Strick – für einen Mord, den er nicht begangen hat. Oder er schließt sich der englischen Armee an, für die König Edward dringend weitere Bogenschützen sucht. Die Entscheidung fällt ihm nicht schwer. Doch in der Normandie lernt Thomas die bittere Realität des Krieges kennen. Ritterlichkeit ist ein Kodex für bessere Zeiten. Gnade gibt es nicht – schon gar nicht in der Schlacht von Crécy, dem blutigen Kessel des Hundertjährigen Krieges …

Über David Gilman

David Gilman, aufgewachsen in Liverpool, kutschierte schon als 16-Jähriger in einem zerbeulten Ford Bauarbeiter durch den afrikanischen Busch. Verschiedenste Jobs überall auf der Welt folgten: als Feuerwehrmann, Waldarbeiter und Werbefotograf, als Marketingmanager eines Verlags und Fallschirmjäger in der British Army. Seit 1986 widmet er sich vollständig dem Schreiben. Er ist erfolgreicher Radio- und Drehbuchautor, seine Kinder- und Jugendromane wurden in 15 Länder verkauft. Heute lebt er in Devonshire und fährt einen störrischen alten Landrover.

Für Suzy, wie immer

Erster TeilDie Bluttaufe

KapitelEins

Das Schicksal und seine Reisegefährten, das Unglück und das Elend, klopften am kalten, dunstigen Morgen des Sankt-Wilhelms-Tages 1346 an Thomas Blackstones Tür.

Simon Chandler, Reeve von Lord Marldons Landsitz und selbsternannter Mittelsmann, wollte dem Freisassen seines Herrn nichts Böses. Indem er den jungen Steinmetzen warnte, dass gegen seinen Bruder ein Haftbefehl erlassen worden war, erwies Chandler Seiner Lordschaft einen Gefallen und erschien zugleich weniger raffgierig, als er war. So hatte der Junge noch eine Chance, zu fliehen, ehe man ihn hängte. Denn hängen würde man ihn zweifellos für die Schändung und Ermordung von Sarah, der Tochter von Malcolm Flaxley aus dem Nachbardorf.

«Thomas?», rief Chandler, während er sein Pferd anband. «Wo steckt dein Bruder, die Missgeburt? Thomas!»

Das Haus war aus Lehmweller gebaut, einem Gemisch aus Stroh, Lehm und Tiermist. Es war etwas mehr als zwanzig Fuß breit und bestand aus einem einzigen Raum. Durch eine Öffnung in dem steilen, von Moos überzogenen Rieddach stieg Rauch auf. Chandler hämmerte an die eisenbeschlagene Tür, als aus dem Dunst neben der Hütte eine Gestalt auftauchte.

«Ihr seid schon früh unterwegs, Master Chandler.» Der junge Mann, der einen Armvoll Holzscheite trug, blickte Lord Marldons Verwalter argwöhnisch an. Dass er zu dieser Stunde hier auftauchte, verhieß sicher nichts Gutes.

Thomas Blackstone war etwas über sechs Fuß groß, und da er schon mit sieben Jahren seine Lehre im Steinbruch begonnen hatte, besaß er die Statur eines Mannes, der an schwere Arbeit gewöhnt war. Das wettergegerbte, von dunklem Haar umrahmte Gesicht, das hager war wie sein Körper, hatte fast dieselbe Farbe wie sein ledernes Wams und ließ den Sechzehnjährigen älter erscheinen, als er war.

«Ich bin hier, um dich zu warnen. Gegen deinen Bruder wurde ein Haftbefehl erlassen. Die Männer des Sheriffs sind auf dem Weg hierher. Euch bleibt nicht viel Zeit.»

Blackstone spähte in den Dunst, lauschte auf das Geräusch von Hufeisen auf dem steinigen Weg, doch in der Stille krähte nur ein Hahn. Die Hütte stand außerhalb des Dorfes; wenn er flüchten wollte, konnte er mit seinem Bruder ungesehen in den Wald und über die Hügel entkommen.

«Was wird ihm vorgeworfen?»

«Die Schändung und Ermordung von Sarah Flaxley.»

Blackstones Magen krampfte sich zusammen, doch sein Gesicht verriet keine Regung.

«Er hat nichts Unrechtes getan. Wir haben keinen Grund, davonzulaufen. Danke für Eure Warnung», sagte Blackstone.

«Herrgott, Thomas, ich bin mir sicher, Seine Lordschaft würde nicht wollen, dass euch beiden etwas zustößt. Du bist der Vormund deines Bruders, auch du wirst zur Rechenschaft gezogen werden. Man wird euch beide hängen.»

«Hat Euer Cousin immer noch die Absicht, sich hier niederzulassen? Da käme es ihm wohl ganz gelegen, wenn Richard und ich in die Berge flüchteten und er unsere zehn Morgen Land übernehmen könnte.»

Blackstone hatte ins Schwarze getroffen, und Chandler brauste auf. «Du bist ein Narr! Diesmal kann Lord Marldon dich nicht beschützen.»

«Der Lord hat immer gesagt, wer unschuldig ist, hat nichts zu befürchten.»

Chandler band sein Pferd los und schwang sich in den Sattel. «Du kennst doch Henry Drayman?»

Der Mann hatte sich in einem halben Dutzend Dörfern überall in der Grafschaft unbeliebt gemacht. Ein brutaler Kerl in den Zwanzigern, der stets auf schnelles Geld aus war, sei es beim Hahnenkampf oder beim Würfelspiel. Blackstones Bruder hatte ihn mehrmals beim Bogenschießen besiegt und ihn vergangene Ostern sogar im Ringkampf geschlagen. Das war für den fast zehn Jahre älteren Drayman der Gipfel der Schande gewesen, und er hatte Rache geschworen. Jetzt schien der Zeitpunkt gekommen.

«Dein Bruder wird schon morgen am Strick baumeln. Er wird brüllen wie ein Stück Vieh, der tumbe Schwachkopf.»

Blackstone trat einen Schritt vor, packte die Zügel des Pferdes und verdrehte sie so, dass Chandlers Hände schmerzhaft eingequetscht wurden.

«Ich achte Euer Amt, Master Chandler. Ihr dient Seiner Lordschaft gewissenhaft, aber versichert ihm bitte, dass weder ich noch mein Bruder irgendwelche Schande über seinen edlen Namen gebracht haben.»

Er ließ die Zügel los. Chandler wendete sein Pferd.

«Bei Drayman wurden Bänder von ihrem Kleid gefunden. Ihre Leiche lag im Kornfeld ihres Vaters. Da hast du es doch immer mit ihr getrieben, oder nicht? Und dein Bruder? Herrgott, das halbe Dorf hat mit ihr gevögelt. Aber Drayman hat als Kronzeuge ausgesagt, bevor er gestern gehängt wurde.»

Blackstone wusste, dass es damit kein Entrinnen mehr vor der Gerichtsbarkeit gab. Ein zum Tode Verurteilter hatte die Möglichkeit, als Kronzeuge einen anderen der Mittäterschaft zu beschuldigen. Folter war unter König Edward III. rechtswidrig, aber die Gesetzeshüter vor Ort scheuten sich dennoch nicht, sie einzusetzen, um ein Geständnis zu erzwingen. Nachdem Drayman eine Woche lang nackt an einen Pfahl gebunden war, ohne Nahrung und Wasser, von seinem eigenen Unrat besudelt, hatten die Schläge schließlich seine Zunge gelöst. Sein eigenes Leben war verwirkt, aber in seiner Verschlagenheit wollte er noch seinen Widersacher, der ihn so beschämt hatte, mit in den Tod reißen.

Chandler lächelte. «Der Wollpreis steigt. In einer Woche werden die Schafe meines Cousins auf deinem Land weiden.»

Er trieb sein Pferd an.

Holzrauch kringelte sich durch den Dunst, als suchte er nach einem Ausweg. Es gab keinen. Blackstone wusste, dass der Tote seine Rache bekommen würde. Hufschläge näherten sich.

Es war zu spät, um zu fliehen.

 

Blackstone hatte noch Zeit, seinem Bruder einzuschärfen, er solle den bewaffneten Männern keinen Widerstand leisten. Der Junge gab einen kehligen Laut von sich zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Sein Bruder und Vormund war der einzige Halt im Leben des taubstummen Jungen. Für alle anderen war er kaum mehr als ein Tier, sie quälten ihn und trieben ihre Späße mit ihm. Wäre Thomas nicht gewesen, dann hätte der hünenhafte Richard Blackstone seine Peiniger womöglich umgebracht. Die Größe des Jungen und sein gewaltiger kantiger Schädel, der nur von leichtem Flaum bedeckt war, bestätigten alle in der Ansicht, dass er eine Missgeburt war. Sein verwachsener Kiefer verlieh seinem Gesicht ein unablässiges idiotisches Grinsen.

Man hatte seine Mutter aufgeschnitten, um ihn auf die Welt zu holen, und sie war an dem Blutverlust gestorben. Das Kind, schon bei der Geburt außergewöhnlich groß, hatte keinen Laut von sich gegeben und nicht auf das Licht der Fackel reagiert, die vor seinem Gesicht geschwenkt worden war. Die Hebamme riet, das stumme Neugeborene in der kalten Nacht sterben zu lassen, und Henry Blackstone, erschüttert durch den Verlust seiner Frau, stimmte zu. Er hatte bereits einen Zweijährigen zu versorgen. In jenem Herbst des Jahres 1332 wehte ein scharfer Ostwind. Die Gerste war wieder einmal auf den Feldern verdorrt, und der verfrühte Nachtfrost ließ die Glieder der hungernden Menschen erstarren. Doch als der Vater gegen Mitternacht im Mondschein auf das Stoppelfeld hinausging, fand er seinen Sohn lebend vor. Um den Mond schimmerte ein Kranz aus Licht, ein Zeichen der Vereinigung von Himmel und Erde. Henry Blackstone hob das Kind von der kalten Erde auf. Seine Frau hatte den Krieger mit ihrer Liebe von der Brutalität des Krieges entwöhnt und ihn gelehrt, dass Zärtlichkeit keine Schwäche war. Er drückte den kalten Kinderleib an seine nackte Brust, wickelte ihn in eine Decke und legte Holz im Feuer nach.

Es war sein Kind. Es hatte ein Recht, zu leben.

 

Die Männer des Sheriffs legten die Brüder in Fesseln und brachten sie auf einem Karren durch Weiler und Dörfer in die Marktstadt. Die eisenbeschlagenen Räder rumpelten über den unebenen Marktplatz hinweg zum Gefängnis, vorbei an dem Galgen, an dem noch Draymans Leichnam baumelte. Die Krähen hatten ihm die Augen ausgehackt und das Fleisch stellenweise bis zum Knochen abgefressen. Auch seine Zunge war gierigen Schnäbeln zum Opfer gefallen.

Die Soldaten stießen die Brüder in hölzerne Käfige im kältesten Winkel des Hofes, den die Sonne nie erreichte. Der Jüngere wimmerte leise, fast wie ein Tier, und sah seinen Bruder dabei fragend an.

Über die Jahre hatten Blackstone und sein Vater eine einfache Zeichensprache entwickelt, um den tauben Bruder zu beruhigen und ihm Dinge zu erklären. Wohin er gehen, was er tun sollte und warum Fremde ihn anstarrten und Kinder ihn am Hemd zupften. Die Dörfler hatten aufgehört, ihn zu quälen, nachdem der Reiz des Neuen verflogen war und der Junge auf den Jahrmärkten seine Kraft und Geschicklichkeit im Bogenschießen unter Beweis gestellt hatte. Zwar nannten sie ihn den Dorftrottel, aber er war ihr Dorftrottel, und er errang Siege für sie. Diese Menschen lebten in armseligen Hütten, sie starben früh durch Krankheit, harte Arbeit und den Krieg – aber Richard Blackstone, die Missgeburt, machte sie durch seine Erfolge zu etwas Besonderem.

So schwerfällig der Junge äußerlich wirkte, seine Augen und sein Verstand waren doch scharf wie eine Pfeilspitze. Er konnte weder hören noch sprechen, aber er beobachtete seinen Bruder aufmerksam, ging stets einen Schritt hinter dessen linker Schulter und folgte seinen Anweisungen.

Jetzt verhöhnten ihn die Wachen, stießen mit ihren Speeren durch die Gitterstäbe nach ihm und zwangen ihn in den hintersten Winkel des Käfigs, wo er zusammengekauert erdulden musste, dass ein Wachmann auf ihn urinierte. Er sah, wie Thomas mit wutverzerrtem Gesicht an den Stäben seines eigenen Käfigs rüttelte.

«Lasst ihn in Ruhe, ihr Dreckskerle!», schrie Blackstone und bekam dafür einen Stoß mit dem stumpfen Ende eines Speers.

Doch die Wachen verloren bald den Spaß daran, ihren Gefangenen zu quälen, und gingen wieder auf ihre Posten. Der nach Pisse stinkende Junge blickte zu seinem Bruder hinüber und erkannte dessen gequälten Gesichtsausdruck, seine Hilflosigkeit. Das Grinsen von Richards verwachsenem Kiefer wurde breiter – was hier geschah, war nichts Neues für ihn. Er ließ die Hosen herunter und zeigte den Wärtern verächtlich seinen nackten Hintern.

Thomas Blackstone lachte.

 

«Ihr steckt in der Scheiße, und weder ich noch Seine Lordschaft können viel tun, um euch vor dem Galgen zu retten. Die Gerichtsverhandlung ist heute», sagte Lord Marldons Waffenknecht Sir Gilbert Killbere. «Du weißt so gut wie ich, dass dein Bruder häufiger mit Sarah Flaxley gevögelt hat als irgendwer sonst in der verdammten Grafschaft.» Sir Gilbert stand vor den Käfigen. «Ich will sehen, was ich erreichen kann, aber Seine Lordschaft wird nicht die Bürgschaft – besser gesagt, das Bestechungsgeld – für eure Freilassung zahlen, und soweit ich weiß, besitzt ihr selbst kaum einen Penny.»

Sir Gilbert rückte seinen Gürtel mit der Schwertscheide zurecht und zog die gefütterte Jacke, die seine Schultern noch breiter wirken ließ, fester um sich. Der Soldat war fast so groß wie Blackstone, allerdings weniger ansehnlich, was ihm selbst ganz recht war – sein pockennarbiges Gesicht machte ihn furchteinflößender. Mit seinen sechsunddreißig Jahren war Sir Gilbert als hervorragender Schwert- und Lanzenkämpfer bekannt, und so wagte es auch jetzt niemand, sich ihm in den Weg zu stellen, obwohl er ohne die Erlaubnis des Sheriffs mit den Gefangenen sprach.

Blackstone schüttelte den Kopf. «Mein Bruder ist unschuldig. Er hat Sarah Flaxley nicht getötet, das wisst Ihr, Sir Gilbert.»

«Henry Drayman hat als Kronzeuge vor Gericht ausgesagt, dein Bruder sei bei dem Mord dabeigewesen. Um Gottes willen, Junge! Sei nicht so verdammt naiv. Es geht nicht um Schuld oder Unschuld, sondern darum, jemanden zu finden, dem man die Tat anlasten kann. Irgendjemanden. Seiner Lordschaft gefällt das auch nicht – die Südmauer muss fertiggestellt werden, und statt Steine zuzuhauen, vergammelst du hier im Gefängnis. Außerdem gibt es noch andere Belange, von denen du nichts zu wissen brauchst – noch nicht. Du sitzt jetzt seit einer Woche hier, und ich habe auch Besseres zu tun, als mich mit dieser Angelegenheit herumzuschlagen.»

«Es tut mir leid, Sir Gilbert. Ich weiß, Ihr wart gerade dabei, für Seine Lordschaft die Pacht einzutreiben.»

«Glaub ja nicht, ich würde es dir danken, dass du mich hinter meinem Tisch hervorgeholt hast, wo ich mir von lumpigen Bauern wie dir alle erdenklichen Ausreden anhören durfte, warum sie ihre Schulden nicht bezahlen.»

«Ich bin ein freier Mann, Sir Gilbert. Ich bedaure, wenn Euch das Unannehmlichkeiten bereitet.» Blackstone wagte ein Lächeln. Der Ritter hatte seinen Vater gekannt, die beiden hatten mit Lord Marldon gegen die Schotten gekämpft.

«Du wirst noch ganz anders grinsen, wenn sich erst die Schlinge um deinen Hals zuzieht, noch bevor dieser Tag zu Ende geht. Herrgott, ich will gar nicht wissen, wie oft dein Bruder seinen Speer versenkt hat. Wie viele Male hat der Vater des Mädchens Leyrwite gezahlt?» Die Geldstrafe, die vom Lehnsherrn oder dem örtlichen Abt von armen Frauen für Unzucht erhoben wurde, nannten manche eine Steuer. «Der Vater dieser Schlampe hat wohl die Rute zu sehr geschont. Die ganze verdammte Grafschaft wusste, dass sie eine Hure war – und du und dein Bruder, ihr wart ihre Freier.»

«Könnt Ihr uns helfen, Sir Gilbert?»

Der Ritter schüttelte den Kopf. «Ich wüsste nicht, wie. Vergewaltigung und Mord … Und da ihr Freisassen in Lord Marldons Herrschaftsbereich seid, ist es für seine Widersacher die Gelegenheit, ihm einen Schlag zu versetzen. Hier geht es wohl kaum um die entgangenen Abgaben von der Hure, wie?»

«Mein Bruder hat Drayman beim Osterjahrmarkt besiegt, darum geht es. Er verdient es nicht, dafür zu sterben.»

«Du als sein Vormund wirst mit zur Rechenschaft gezogen. Möglicherweise gelingt es mir, dich zu retten, aber nicht ihn. Diese Leute würden ihn doch am liebsten von Hunden zerreißen lassen. Da ist der Galgen noch ein gnädiges Ende.»

Ein halbes Dutzend Wachen näherten sich; bei dem riesenhaften Burschen wollten sie kein Risiko eingehen.

«Die beiden sollen jetzt vorgeführt werden, Sir Gilbert», sagte einer der Männer.

Sir Gilbert blickte über die Schulter. «Wartet, ich bin noch nicht fertig.»

Der Wachmann wollte etwas erwidern, aber ein finsterer Blick brachte ihn zum Schweigen. Dann richtete Sir Gilbert seine Aufmerksamkeit wieder auf Thomas Blackstone.

«Kannst du lesen?»

«Sir Gilbert?»

«Du bist mit sieben in eine verdammte Lehre eingetreten; dein Vater hat gutes Geld dafür bezahlt. Da muss man dir doch das Lesen beigebracht haben.»

An wie viele geschriebene Wörter konnte Blackstone sich erinnern? Er verstand einiges von Geometrie, aber Lesen war für ihn kaum von Bedeutung. Um Steine zu meißeln, brauchte er nichts als einen guten Blick, ein Schnurlot und zwei geschickte Hände.

«Ein wenig», antwortete er.

«Hat der Pfaffe in der Schule dir als Kind nichts beigebracht?»

In der Dorfschule hatte er nur gelernt, seinen Namen und ein paar Buchstaben zu schreiben. Arbeit war wichtiger als Lernen.

Blackstone schüttelte den Kopf.

«Herr im Himmel! Was für eine Zeitverschwendung.» Sir Gilbert trat frustriert gegen die Gitterstäbe des Käfigs. «Wäre deine Mutter noch am Leben, dann hätte sie dir etwas Bildung mitgegeben. Ich kann dir nicht helfen. Aber ich werde für dich und deinen grunzenden Bruder sprechen.»

Blackstone hatte darum gebetet, Sir Gilberts Erscheinen möge ein Zeichen der Hoffnung sein, aber jetzt wurde ihm klar, dass er und sein Bruder wahrscheinlich vor einer schaulustigen Menge am Strick zappeln würden, noch ehe die Sonne über den Turm des Gefängnisses gestiegen wäre. Der Ritter nickte den Wachen zu und trat zurück, während die Brüder grob aus den Käfigen gezerrt und unter Stößen und Tritten vor das Sheriff-Gericht geführt wurden, zu dem eigens ein Richter angereist war, um schwere Vergehen zu verhandeln. Milde Urteile waren in den Akten dieses Gerichts nur selten zu finden.

Als die Brüder sich unter den Türbogen duckten, sahen sie, wie zwei Soldaten ein Mädchen abführten, das kaum älter als zehn Jahre war. Der eine Soldat wandte sich lachend an den anderen. «Wenn sie noch so klein sind, zappeln sie länger am Strick.»

Blackstone empfand Mitleid mit dem verstörten Kind – mehr als mit sich selbst und seinem Bruder.

«Was hat sie verbrochen?», hörte er sich fragen. Hängen war eine häufige Strafe, und der Wachmann schien überrascht, dass er überhaupt danach fragte.

«Sie hat ihrer Herrin ein Stück Spitze gestohlen», antwortete er und stieß die Brüder in den Gerichtssaal.

 

Der gewohnte Spott über Blackstones Bruder nahm die ersten Minuten der Verhandlung in Anspruch. Es folgte ein anklagender Monolog: Diese unverständlich grunzende Kreatur sei eine Beleidigung und Gefahr für die anständigen Menschen in der Grafschaft. Im Übrigen trage Thomas Blackstone als sein Vormund die Verantwortung für ihn.

Dann blickte sich der Richter in dem überfüllten Saal um. Er hatte an diesem Tag noch mehr als ein Dutzend Fälle zu verhandeln, ehe er in die nächste Grafschaft weiterreisen konnte. «Spricht jemand für die Angeklagten?»

Sir Gilbert drängte sich nach vorn. «Ich bin Sir Gilbert Killbere, diese Männer sind Freisassen aus dem Dorf Sedley, das im Hoheitsgebiet meines Herrn, Lord Ralph Marldon, liegt, und sie stehen in seiner Gunst. Er heißt es nicht gut, dass sie aufgrund der Aussage eines Abschaums wie Drayman bestraft werden sollen.»

Man konnte den Richter bestechen oder ihm drohen, aber es war nicht an Lord Marldon, das zu tun, und alle wussten, dass Sir Gilbert ein besitzloser Ritter war, der sich allein durch seine Loyalität und seine Fähigkeiten als Krieger in seiner Position hielt.

«Es liegen keine Hinweise darauf vor, dass diese Kreatur nicht an dem Verbrechen beteiligt war», entgegnete der Richter, der wusste, dass der Sheriff bereits vergeblich versucht hatte, Bestechungsgeld zu kassieren. Bestechung und Erpressung waren gängige Praxis bei den Gesetzesvertretern, gleich welchen Ranges, und konnten Leben retten. Doch Sir Gilberts Auftritt hier diente lediglich dazu, Lord Marldons Wohlwollen gegenüber seinen Pächtern zu zeigen. Er machte keine Anstalten, sie freizukaufen.

«Gibt es einen triftigen Grund, weshalb diese Männer nicht hängen sollten?», fragte der Richter Sir Gilbert.

«Ihr kennt gewiss die Proklamation, nach der jeder Mann, der einen Morgen oder mehr Land besitzt und mehr als fünf Pfund im Jahr an Einkünften hat, einen Bogenschützen für den geplanten Feldzug des Königs stellen muss», erwiderte Sir Gilbert. Er schaute zu Blackstone, der seinen Blick überrascht erwiderte. Er hatte in den vergangenen Monaten Gerüchte gehört und wusste, dass die Männer des Königs Getreide und Vieh aufkauften. Doch von dieser Proklamation hörte er zum ersten Mal – die Stadtausrufer kamen nicht in die Dörfer, und schriftliche Bekanntmachungen blieben unbeachtet, wenn nicht der örtliche Pfarrer sie vorlas. Wollte Sir Gilbert sie mit Hilfe dieser Proklamation retten?

«Dies sind freie Männer. Sie sind nicht an Seine Lordschaft gebunden, aber mein Herr braucht Waffenknechte und Bogenschützen, um dem Aufruf des Königs Folge zu leisten. Thomas Blackstone ist gelernter Steinmetz mit einem Einkommen von fünf Shilling im Jahr. Zusammen mit seinen Woll- und Ernteerträgen kommt er auf die geforderte Summe. Damit steht er in der Pflicht. Er muss sein Leben in den Dienst des Königs stellen», erklärte Sir Gilbert.

«Es gibt genügend Bogenschützen und berittene Krieger in der Gegend, um die Forderungen des Königs zu erfüllen. Ich sehe keinen Grund, ihm einen Dorftrottel anzubieten, dessen bloße Anwesenheit eine Beleidigung für Seine Majestät wäre. Wenn das alles ist, was Ihr vorzubringen habt, so ist Eure Verteidigung abgelehnt.»

So einfach ließ sich Sir Gilbert nicht von einem warzigen, dickbäuchigen, bestechlichen Richter abweisen. «Der Junge ist kein Trottel. Er hat von klein auf im Steinbruch gearbeitet, er ist stärker als so mancher gestandene Mann und in drei Grafschaften als hervorragender Bogenschütze bekannt. Der König sähe es sicher gern, wenn sein Können dazu eingesetzt würde, Feinde des Reiches zu töten.»

Der Richter zeigte mit seinem dicken Finger auf Sir Gilbert. Waffenknechte hatten ihm in seinem Amt schon oft das Leben schwergemacht. Krieger, für die es zum Alltag gehörte, auf Feldzügen zu plündern und zu vergewaltigen, wurden nach ihrer Heimkehr oft zu Räubern und Mördern. Er ließ sie alle aufknüpfen. Dieser hier war gefährlich. Der Richter kannte Sir Gilberts Ruf als fähiger und gnadenloser Kämpfer und wünschte, er könnte auch diesem Mann irgendein Verbrechen anlasten. «Die fünf Pfund beziehen sich allein auf Erträge aus dem Grundbesitz. Und der Trottel hat kein Einkommen – er wird wie Vieh gehalten und zur Arbeit im Steinbruch eingesetzt. Dass er mit dem Mädchen Unzucht getrieben hat, ist allgemein bekannt. Sein Leben ist verwirkt.»

Sir Gilbert sah den Taubstummen an, dann richtete der Ritter seinen Blick auf den älteren Bruder und schüttelte den Kopf. Er erkannte, dass Blackstone drauf und dran war, sich auf den Richter zu stürzen. Sir Gilbert hielt den Jungen unauffällig am Arm zurück – es hätte ihm gerade noch gefehlt, dass Blackstone bei dem Versuch, diesen Mistkerl von einem Richter anzugreifen, niedergemetzelt wurde.

«Denk nach!», flüsterte Sir Gilbert eindringlich. «Denk daran, was dein Vater dich gelehrt hat! Er war ein Soldat, um Himmels willen! Lord Marldon hat deinen Vater gelehrt, dein Vater muss dich gelehrt haben! Denk an das Benefizium!»

Panik über seinen eigenen Mangel an Bildung schnürte Blackstone die Kehle zu. Sir Gilbert hatte ihm eine Chance aufgezeigt, sein Leben zu retten.

«Ich spreche jetzt das Urteil über diese beiden Männer», verkündete der Richter.

Blackstone machte sich von Sir Gilbert los. «Ich beanspruche das Benefizium des Klerus!», rief er. Sir Gilbert lächelte. Jetzt lag Blackstones Leben in seinen eigenen Händen.

Ein Mönch oder Priester, der eines Verbrechens angeklagt war, konnte sein Leben retten, indem er das Benefizium beanspruchte, und ein des Lesens kundiger Mann konnte sich auf dasselbe Recht berufen. Es war ein gewaltiges Risiko: Wenn der Angeklagte nicht in der Lage war, aus der Bibel zu lesen, die ihm vorgelegt wurde, dann war sein Todesurteil besiegelt. Im Fall eines Freispruchs hingegen wurde er der Obhut des Klerus überantwortet und vor ein geistliches Gericht gestellt. Gerüchten zufolge ließen die Gerichte besonders häufig den 51. Psalm lesen, das Miserere. Das war Blackstones einzige Chance. Sein Vater hatte ihn mit einer Weidenrute geschlagen, bis er die Verse Wort für Wort auswendig konnte. Doch das lag mehr als drei Jahre zurück. Jetzt fiel es ihm schwer, sich zu erinnern.

«Thomas Blackstone kann lesen. Es ist sein Recht, sich auf das Benefizium zu berufen», erklärte Sir Gilbert.

Dieses Recht konnte man ihm nicht verwehren.

«Holt die Bibel. Wo ist der Geistliche?», wollte der Richter wissen.

Ein junger Mönch in schwarzer Kutte trat aus dem Schatten der Säulen hervor, eine große aufgeschlagene Bibel mit Messingbeschlägen in den Händen. Er zeigte sie dem Richter, der einen Blick auf die ausgewählte Textstelle warf und nickte. Der Mönch ging zu Blackstone, hielt ihm die Bibel hin und wartete.

Blackstones Blick wanderte über das Pergament, den farbigen, kunstvoll verschnörkelten Anfangsbuchstaben. Nichts kam ihm bekannt vor. Er konnte Französisch lesen, nicht Latein. Der Mönch verdeckte mit seinem schmutzigen Daumen die Nummer des Psalms.

Blackstone forschte verzweifelt in seinem Gedächtnis. Sein Meister hatte ihn gelehrt, vor seinem inneren Auge die Struktur eines Gebäudes zu sehen, die Zahlen in den Skizzen in konkrete Formen zu übersetzen. Wenn du es im Geiste siehst, wird es erstehen, hatte der grauhaarige Steinmetz mit der zerquetschten Hand ihm eingeschärft.

Blackstone rief sich die Worte vor Augen, die sein Vater ihm eingebläut hatte. Seine Panik legte sich – und dann gab der Daumen des Mönchs die Nummer des Psalms frei: 51.

«Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Wasche mich wohl von meiner Missetat und reinige mich von meiner Sünde. Denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir …»

Und so rezitierte er Vers für Vers den Bußpsalm im Tempo eines Mannes, der aus der Heiligen Schrift las. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Täuschung wirkte und der Gerichtsschreiber sich fragend an den Richter wandte. Blackstone wagte weder, den Richter anzusehen, noch den Mönch, der sein Gesicht musterte. Hatte er durchschaut, dass der Beschuldigte die Worte nur aus dem Gedächtnis rezitierte? Blackstone glaubte aus dem Augenwinkel ein schwaches Lächeln zu erkennen, dann wandte der Mönch den Blick ab und zog sich in den Schatten zurück.

«Der ältere Bruder wird nicht schuldig gesprochen und in die Obhut der Mönche von St. Edmund’s überstellt. Der Narr wird gehängt», entschied der Richter.

Während Blackstone dem Gericht den 51. Psalm vortrug, war Sir Gilbert unbemerkt an den Richter herangetreten. Jetzt beugte er sich vor und flüsterte mit eisiger Stimme.

«Wenn du den Trottel aufknüpfen lässt, schneide ich dir den Schwanz ab, brate ihn und stopfe ihn dir ins Maul, bevor ich dich umbringe. Schick ihn zu den Mönchen von St. Edmund’s.»

Dann trat er zurück und wartete.

Der Richter erbleichte. Sir Gilbert war kein Mann von leeren Drohungen. Einem verarmten Ritter ohne Grundbesitz blieben nur gewaltsame Methoden, um Wohlstand und Einfluss zu erlangen. Der Richter wischte sich mit einem Taschentuch aus teurem Leinen den Schweiß vom Gesicht.

«Allerdings … wird es dem Gemeinwohl dienlicher sein, wenn wir auch ihn in die Obhut der Mönche von St. Edmund’s geben, die den Stummen in Gottes Namen zu nützlicher Arbeit anhalten werden. Die Verhandlung ist geschlossen.»

Sir Gilbert führte die Brüder Blackstone aus dem kalten Gerichtsgebäude. Richard reckte sein Gesicht der Sonne entgegen und stöhnte wonnevoll.

«Er ist ein verdammter Esel in Menschengestalt. Dein Vater hätte ihn sterben lassen sollen», sagte Sir Gilbert, während er sich in den Sattel schwang.

«Auch Ihr hättet die Möglichkeit dazu gehabt, Sir Gilbert», bemerkte Blackstone.

«Und wem hätte das genutzt? Im Übrigen habe ich schon zwei Gäule herbringen lassen in der Hoffnung, dass du deinen Verstand einsetzt.»

Der Mönch führte zwei Zelter mit durchhängenden Rücken heran und übergab Blackstone die Zügel des einen.

«Gut rezitiert, Master Blackstone», sagte er lächelnd.

Sir Gilbert wendete sein Pferd. «Der eine hat ein hervorragendes Gedächtnis, der andere ein hervorragendes Gemächt. Beide bringen Ärger, aber mein Herr, Lord Marldon, will sie lebend. Ich habe meine Pflicht getan. Und ich danke Euch, Bruder Michael. Überlasst Ihr sie meiner Obhut?»

«Gewiss, Sir Gilbert.»

«Dann wird das Geld wie versprochen in St. Edmund’s eintreffen.»

Sir Gilbert trieb sein Pferd an und schlug den Weg zu Lord Marldons Landsitz ein. Blackstone und Richard folgten ihm.

 

Der Pfad wand sich zwischen mächtigen Eichen und Kastanienbäumen hindurch. Die Reiter folgten dem mäandernden Fluss, der zweihundert Fuß unter ihnen durch das bewaldete Tal strömte. An den Südhängen am anderen Ufer mähten ein halbes Dutzend Männer Gras. Ihre Stimmen klangen zu den Reitern herauf, wenn sie sich gelegentlich grobe Scherze zuriefen. Blackstone schätzte unwillkürlich die Entfernung und den Winkel, in dem man einen Pfeil abschießen müsste, um sie zu treffen. Es war ein Instinkt, mit dem er schon in seiner Kindheit gesegnet war, als sein Vater ihm seinen ersten Bogen geschenkt hatte. Mit der Zeit, als seine Kraft und Geschicklichkeit wuchsen, wurde auch der Bogen größer und schwerer zu handhaben. Sein Vater hatte ihn gelehrt, sich beim Ausziehen der Sehne mit seinem ganzen Körper in die Krümmung des Bogens hineinzulehnen, denn die hundertsechzig Pfund Zuggewicht immer wieder zu spannen, erforderte mehr als einen kräftigen Arm. Als durch königlichen Erlass alle Spiele, die Männer vom Bogenschießen abhielten, bei Gefängnisstrafe verboten wurden, hatte Blackstone bereits den kostbaren Kriegsbogen seines Vaters geerbt. Die ideale Länge für die Waffe des Bogenschützen, das tödlichste Kriegsgerät seiner Zeit, betrug vier Zoll mehr als die Körpergröße des Schützen, und der Bogen seines Vaters war sechs Fuß und vier Zoll lang. Blackstone als Erstgeborener war der rechtmäßige Erbe. Und wie sein Vater wusste, war er auch ein besserer Schütze als sein Bruder. Trotzdem hatte der Vater den Älteren gebeten, bei Wettkämpfen stets Richard mit dem letzten Pfeil den Sieg zu überlassen. Es war die einzige Möglichkeit, wie das taubstumme Kind in der Gemeinde Anerkennung finden konnte. Niemand sonst hatte je von der geheimen Vereinbarung zwischen Thomas und seinem Vater erfahren.

Seit dem Tod seines Vaters spürte Blackstone jedes Mal dessen Energie im Bogen, wenn er die Hanfsehne über die hörnernen Nocken spannte und die Hand um das Griffstück legte. Der Bogen war aus Eibenholz gefertigt; am Rücken das elastische Splintholz, an der Bauchseite das dunkle Kernholz, das dem Druck besser standhielt. Manchmal sah er im Geiste die Schlachten vor sich, in denen sein Vater gekämpft hatte. Dann durchfuhr ein Schauder seine Lenden, und er zweifelte, ob er den Mut seines Vaters hätte, wenn es von ihm verlangt würde. Jetzt schien es, als würde sich das bald zeigen.

Wiesenblumen säumten die fernen Felder und lenkten den Blick zur letzten Biegung des Flusses, wo die Türme von Lord Marldons Herrenhaus die Baumwipfel überragten. Sie ritten jetzt ohne Eile. Seit sie die Stadt verlassen hatten, schwieg Sir Gilbert, und auch Blackstone hatte kein Bedürfnis, zu plaudern. Die Schönheit der Landschaft sprach etwas tief in seinem Inneren an, eine Sanftheit, die beinahe an mütterliche Liebe denken ließ. Allen Härten ihres Lebens zum Trotz hatte sein Vater immer gesagt, sie seien Gottes Kinder, und die Natur sei ihre Trösterin.

Sir Gilbert schaute ihn an, als könnte er seine Gedanken lesen. «Deine Mutter hat einen guten Krieger verdorben», sagte er. «Sie hat ihm den Kampfgeist ausgesogen wie das Mark aus den Knochen. Er hat dem Krieg den Rücken gekehrt und stattdessen tagein, tagaus geschuftet, um bei ihr zu sein, und dann, nachdem sie gestorben ist, hat er dich und den Esel großgezogen.» Der Ritter sah Zorn in Blackstones Augen aufblitzen, erkannte aber, dass der Junge sich beherrschen konnte. Bald würden die Brüder aus der Sicherheit ihres Dorfes und ihrer Umgebung herausgerissen werden; dann würden Fremde den Jüngeren verhöhnen, und Blackstone würde seinen Bruder verteidigen müssen. Doch dazu brauchte er einen kühlen Kopf, denn er würde es mit Männern zu tun haben, für die Töten zum Tagesgeschäft gehörte.

Blackstone überging die Beleidigung. «Warum hat mein Vater das getan?»

Sir Gilbert spuckte aus. «Weil er sie mehr liebte, als jemals ein Mann eine Frau lieben sollte.»

Das Tor des Herrenhauses kam in Sicht. Sir Gilbert trieb sein Pferd an.

Blackstone hoffte, sie hätten das Unglück nun hinter sich gelassen. Doch das Elend sollte erst noch seine giftigen Krallen nach ihm ausstrecken.

 

Nachdem sie durch die gewaltigen Torbögen geritten waren, saßen sie ab und übergaben einem Stallknecht die Zügel. Im Hof liefen Diener geschäftig hin und her. Sir Gilbert ging voraus und sprach kurz mit Chandler, der sie zur großen Halle winkte. Blackstone hatte zwar bei Instandsetzungen an Lord Marldons Mauern und Brücken mitgearbeitet, das Herrenhaus jedoch noch nie betreten.

Die Brüder blickten zu dem hohen Deckengewölbe aus Eichenholz empor. An den Wänden hingen Banner und Wandteppiche, und der Steinboden war mit frischem Ried bedeckt. Zwei Wolfshunde und ein halbes Dutzend weitere Hunde unterschiedlicher Rassen erhoben sich von ihren Plätzen vor der riesigen Feuerstelle, in der trotz des warmen Wetters Scheite brannten. Die Hunde knurrten und bellten, doch als Sir Gilbert sie nicht beachtete, beruhigten sie sich wieder. Lord Marldon saß am Feuer, in seinen Mantel gehüllt, das Gesicht abgehärmt von den Schmerzen, die ihn seit zwanzig Jahren plagten und die er nur selten mit kräftigem Rotwein von seinen Gütern in der Gascogne zu betäuben vermochte.

Blackstone neigte respektvoll den Kopf, und sein Bruder folgte seinem Beispiel. Seine Lordschaft musterte die beiden eine Weile, und Blackstones Blick glitt unwillkürlich zu dem Beinstumpf, der auf einen gepolsterten Schemel gelagert war. Er wusste nur, was in der Gegend allgemein bekannt war: dass Lord Marldon in den Grenzkriegen gegen die Schotten gekämpft und eine Streitaxt ihm das Bein am Kniegelenk abgetrennt hatte. Wie durch ein Wunder hatte er überlebt. Die Verletzung hatte ihn nie daran gehindert, über seine Ländereien zu reiten, den Beinstumpf am Steigbügelriemen befestigt, um das Gleichgewicht zu halten. Ein- oder zweimal hatte Blackstone beobachtet, wie Lord Marldon an der Grundstücksgrenze seines Vaters angehalten und leise mit ihm gesprochen hatte.

«Ihr habt sie also vor dem Henker bewahrt, Sir Gilbert.»

«Letztendlich hat er sich selbst gerettet, Herr.»

Blackstone war zwar ein freier Mann, doch ihm war klar, dass Lord Marldon trotzdem die Macht besaß, entscheidend in sein Leben einzugreifen. Es konnte nicht schaden, ihm mehr als nur den nötigsten Respekt zu erweisen. «Herr, Ihr wart es, der uns heute das Leben gerettet hat. Sir Gilbert sagte, Ihr hättet meinem Vater erklärt, wie wichtig es ist, das Miserere zu lernen.»

Lord Marldon lachte. «Dein Vater hat recht daran getan, sich so hingebungsvoll um dich zu kümmern. Du besitzt einen scharfen Verstand, und etwas von der Schönheit deiner Mutter hast du auch abbekommen. Ein so gut aussehender junger Bursche wie du sollte niemals für die Gunst einer Frau bezahlen. Dein Vater hätte dich dafür geprügelt. Vielleicht sollte ich es tun, nach den Scherereien, die du mir bereitet hast.»

«Ich bitte um Verzeihung, Herr. Ich hatte nicht im Sinn, mich verhaften zu lassen», erwiderte Blackstone, und auf die Gefahr hin, dreist zu erscheinen, fügte er hinzu: «Und ich habe ihr nie Geld gegeben, Herr.»

Lord Marldon lachte wieder. «Ich vermisse deinen Vater. Vielleicht hätte ich mich besser mit seinem Sohn bekannt machen sollen.» Als Lord Marldon den Blick auf Blackstones Bruder richtete, wich das Lächeln einem Ausdruck des Bedauerns. «Wenigstens mit dem Sohn, der mir antworten kann, wenn ich das Wort an ihn richte.»

Sir Gilbert hatte sich vom Feuer abgewandt und streichelte einen der Jagdhunde, der an seiner Seite saß. Blackstone warf ihm einen raschen Blick zu, unsicher, wie er auf die Bemerkung reagieren sollte, aber Sir Gilberts Miene verriet nichts. Blackstone hatte das Gefühl, auf die Probe gestellt zu werden.

«Herr, mein Bruder ist stark und arbeitet von früh bis spät, da ist es für Eure Lordschaft von Vorteil, dass er nicht sprechen kann – er arbeitet, ohne sich zu beklagen.»

«Eine gute Antwort. Aber sein unablässig forschender Blick beunruhigt mich.»

Blackstone berührte seinen Bruder an der Schulter. Als der Junge sich ihm zuwandte, tippte Blackstone mit einem Finger unter sein eigenes Auge und machte dann eine beruhigende Geste mit der flachen Hand. Der Junge nickte.

«Du wirst in den Krieg ziehen, Blackstone. König Edward stellt eine Armee auf. Anwerber ziehen durchs Land, Verträge mit Rittern und Waffenknechten werden geschlossen, und freie Männer müssen sich in den Dienst ihres Königs stellen. Sir Gilbert wird die Männer von meinen Ländereien rekrutieren, und auch du wirst meine Livree tragen.»

Die direkten Worte Seiner Lordschaft überraschten Blackstone. Damit veränderte sich auf einen Schlag seine ganze Welt. «Gegen wen werden wir kämpfen?», fragte er plump.

«Wenn du den Bekanntmachungen des Sheriffs mehr Aufmerksamkeit geschenkt hättest, wüsstest du es. Der König und das Parlament haben entschieden, dass die Franzosen ihm das Recht auf seine Besitzungen in Frankreich verwehren wollen. Noch wurde der Krieg nicht erklärt, aber es wird gegen die Franzosen gehen. Wie immer.» Er räusperte sich. «Es gibt etwas, das du über deinen Vater wissen solltest, Blackstone. Ich habe seine Familie unter meinen Schutz gestellt. Das war ich ihm schuldig, und mehr hat er nie verlangt. Als die Axt mir damals mein Bein abtrennte, hat er es abgebunden und mir so das Leben gerettet. Er hat mich meilenweit getragen, um mich in Sicherheit zu bringen. Ich war kaum mehr bei Bewusstsein. Er war es auch, der heißes Pech auf den Stumpf gegossen hat, um die Wunde zu verschließen. Und ich habe ihn dafür geliebt. Ich glaube, es gab im ganzen Reich keinen treueren Gefolgsmann als ihn.»

Blackstone fand seine Stimme wieder. «Davon hat er mir nie erzählt.»

«Weil er geschworen hatte, Stillschweigen zu bewahren. Wäre bekannt geworden, dass eure Familie in meiner Gunst steht, dann hätte das die Feindseligkeit gegen deinen Bruder nur noch verstärkt.»

Blackstones Herz schlug heftiger, geradezu panisch – es war ein Gefühl wie damals im Steinbruch, als ein Mann angerannt kam, um ihm von dem Felssturz zu berichten. Seine Gedanken rasten, entsetzliche Bilder stürmten auf ihn ein; er sah wieder vor sich, wie sein Vater zerschmettert unter den Gesteinsbrocken lag. «Er hat Euch immer hoch geachtet, Herr, und Euch in seine Gebete eingeschlossen», erwiderte Blackstone, der spürte, wie die Bürde der Loyalität schwerer auf ihm lastete.

Lord Marldon nickte, und aus seiner Stimme klang jetzt tiefe Zuneigung. «Und ich habe ihn so hoch geachtet wie keinen anderen. Ich habe ihn zum Freisassen gemacht, und wann immer der König seine Veteranen zum Krieg einzog, habe ich dafür bezahlt, dass er freigestellt wurde. Ich habe dafür gesorgt, dass dein Vater für seine Wolle einen guten Preis erzielte, damit er deine Lehre bezahlen konnte. Auch als er im Steinbruch ums Leben kam, habe ich mein Versprechen an ihn weiter gehalten und seine Söhne vor jenen beschützt, die nach ihrem Land trachteten.»

Blackstone stand jetzt ebenso sprachlos da wie sein stummer Bruder.

«Aber nun musst du dein Schicksal selbst in die Hand nehmen, Thomas. Dein König braucht dich. Mein Ende ist nah, ich habe meine Pflicht getan. Jetzt musst du die deine tun.»

Blackstone warf erneut einen Blick zu Sir Gilbert, und diesmal nickte der Ritter. Der Lord, der schützend die Hand über sie gehalten hatte, würde bald sterben.

«Wir werden Euch treu dienen, Herr, so, wie mein Vater es getan hätte», versicherte Blackstone.

Lord Marldon schüttelte den Kopf. «Nur du, Thomas. Dein Bruder wäre im Krieg zu nichts nutze. Wir werden ihn zu den Mönchen schicken, sie können ihm Arbeit geben und ihn vor Spott bewahren.»

«Die Franziskaner sind gut zu tumben Tieren», fügte Sir Gilbert hinzu.

Der jüngere Bruder erschrak, als Blackstone ihn am Arm packte. «Er kann kämpfen. Er ist der beste Bogenschütze in drei Grafschaften.»

«Herrgott noch mal, er ist erst vierzehn», widersprach Sir Gilbert. «Und er ist taubstumm!»

Blackstone legte Richard eine Hand auf die Brust, um die Angst zu lindern, die er im Gesicht des Jungen las. «Er hört auf seine Weise, Sir Gilbert. Herr, er spürt den Klang der Trommeln und Trompeten, die Schwingungen von lauten Stimmen in der Luft. Er hat mit meinem Vater und mir zusammen gearbeitet, seit er laufen konnte. Ich kenne niemanden, der so stark ist wie er, und keinen Mann, der mehr Pfeile in einer Minute verschießen kann.»

«Wir können niemanden in den Krieg schicken, der jünger als fünfzehn Jahre ist», versetzte Sir Gilbert unwirsch. Blackstones Beharrlichkeit ging ihm auf die Nerven.

«Ich bin sein Vormund, Herr. Er steht unter meinem Schutz, so, wie Ihr meinen Vater und seine Söhne unter Euren Schutz gestellt habt.» Er erkannte, dass ihm die Argumente ausgingen. «Seht ihn doch an, sieht er etwa so jung aus, wie er ist? Bis die Ernte eingebracht ist, wird er alt genug sein. Und bei seiner Größe wird auch niemand daran zweifeln.»

Lord Marldon und sein Waffenkecht schwiegen einen Moment lang.

«Er hat keine Spur von Bartwuchs», stellte Sir Gilbert schließlich fest.

«Und auf dem Kopf hat er Gänsedaunen», entgegnete Blackstone. «Aber die anderen werden sich an ihn gewöhnen und ihn nehmen, wie er ist. Es ist immer noch besser für ihn, bei mir zu sein und den Spott von Kriegskameraden zu erdulden, als von Mönchen dafür geschlagen zu werden, dass er ihr Möhrenbeet nicht gründlich genug geharkt hat.»

Lord Marldon bekam einen heftigen Hustenanfall. Sir Gilbert goss rasch Wein in einen Kelch und half seinem Herrn, ihn mit zitternder Hand an den Mund zu führen.

«Herr im Himmel! Ich wünschte, deinem Vater und mir wäre ein würdigeres Ende beschieden gewesen», keuchte der alte Krieger, als er wieder zu Atem kam. «Wartet draußen auf meine Entscheidung. Gott segne dich, Thomas Blackstone. Denke immer daran, wer dein Vater war, und halte sein Andenken in Ehren. Und jetzt geh.»

Blackstone neigte den Kopf, und sein Bruder tat es ihm gleich.

Während die Türen sich hinter ihnen schlossen, wischte Lord Marldon sich Wein und Blut von den Lippen. «Soll ich den Jungen mit seinem Bruder gehen lassen?»

Sir Gilbert schenkte sich selbst Wein ein. «Er ist stark wie ein Ochse. Und ich glaube, wenn man ihn reizt, kann er ziemlich kampflustig sein.» Er trank einen Schluck und fragte sich, ob er offen sprechen sollte. Er entschied sich dafür. «Der Trottel kann ganz gut mit dem Bogen umgehen, aber Blackstone lügt. Ich habe ihn üben sehen – er ist der bessere Schütze. Er könnte allein eine kleine Armee erledigen.»

Lord Marldons Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. «Er stellt sein eigenes Licht unter den Scheffel, um seinen Bruder zu schützen.»

«Jedenfalls würde der stumme Ochse eine ganze Menge dreckige Franzmänner abschlachten. Ich würde ihn gehen lassen.» Er zögerte. «Aber Thomas? Dass er eine Zielscheibe aus Stroh trifft, besagt nicht viel. Er kann seinem Vater nicht das Wasser reichen. Er hat nicht den Instinkt, zu töten, er ist schwach. Er scheut sich vor Gewalt. Er ist verweichlicht, wie seine Mutter seinen Vater verweichlicht hat. Ich nehme an, nach der ersten Schlacht ist er entweder tot oder desertiert.» Er trank seinen Wein.

Lord Marldon nickte. Henry Blackstone hatte den Jungen nicht hart genug angefasst. Im Gemetzel des Krieges brauchte man unerschütterlichen Mut. Wie oft hatte er mit seinem Vasallen über das sanfte Wesen des Jungen gesprochen? Der Vater hatte argumentiert, ein Edelmann würde schließlich nicht nur in der Kriegskunst unterwiesen, sondern lerne auch Schönheit und geistige Tugenden zu schätzen; warum nicht auch ein gemeiner Mann?

«Tut, was Ihr könnt. Selbst das zarteste Herz kann auf den Krieg eingestimmt werden», sagte Lord Marldon. «Und wenn sie sterben, dann soll es mit Zorn im Blut geschehen und mit Liebe zu ihrem König im Herzen.»

KapitelZwei

Blackstone und sein Bruder ritten mit Sir Gilbert und vierzig weiteren Bogenschützen, die über ihren rötlich braunen Tuniken Lord Marldons Livree trugen. Die Wappenröcke, die einen schwarzen Falken auf blauem Grund zeigten, waren vom jahrelangen Tragen und wiederholten Waschen ausgeblichen. Verblasste Flecken waren darauf zu sehen: Blut von früheren Schlachten.

An den ledernen Gürteln der Bogenschützen hingen ihre Pfeilsäcke aus gewachstem Leinen, das die Pfeile vor Feuchtigkeit schützte – ein Pfeil mit nassen Federn flog nicht mehr gerade. Der Sack war mit Weidenruten versteift, damit die Befiederung aus Gänsefedern keinen Schaden nahm. Außerdem trug jeder Bogenschütze ein Kurzschwert, wie man es im nächsten Ort für sechs Pence bekam – das billigste Schwert, das es zu kaufen gab. Abgesehen davon waren ein langer Dolch und der Bogen, der sicher in seiner Lederhülle steckte, ihre einzigen Waffen. Ein kleiner Beutel enthielt eine Ersatzsehne aus Hanf, die zum Schutz vor Feuchtigkeit mit Bienenwachs behandelt war, sowie dünnen Faden, um beschädigte Befiederungen zu reparieren, einen ledernen Fingerschutz für die rechte Hand, damit die Sehne nicht einschnitt, und einen Armschutz für den linken Arm. Wie alle Bogenschützen entspannten die Brüder ihre Bogen für den Transport, um das Holz zu schonen. Jeder Mann trug auch einen kleinen Proviantbeutel bei sich. Sie waren die beweglichsten, am leichtesten bewaffneten Krieger auf dem Schlachtfeld, und mit sechs Pence am Tag bekamen sie doppelt so viel Sold wie die unberittenen Bogenschützen.

Lord Marldon war gegenüber dem König verpflichtet, vierzig berittene Bogenschützen und ein Dutzend Waffenknechte aufzubringen, die alle unter den Befehl von Sir Reginald Cobham gestellt wurden, einem Veteranen von fünfzig Jahren.

Als sie sich Portsmouth näherten, wo die Flotte für die Invasion vor Anker lag, verstopften immer mehr Lastkarren die Straßen, wo sich bereits Reiter und Fußsoldaten drängten. Es ging auf Ende Juni zu, und Hitze und Staub erschwerten das Vorankommen. Blackstone hatte noch nie so viele Menschen und solche Betriebsamkeit gesehen. Handwerker, Fuhrleute und Soldaten drängten sich zwischen Rittern auf Zeltern und ihren Pagen, die die Streitrosse führten, kräftige, reizbare Hengste, die unvermittelt ausschlugen, wenn jemand sie von hinten bedrängte. Es gab Zankereien, hitzige Flüche flogen zwischen Männern gleichen Ranges, während die Edelmänner und die Bannerherren unter den Rittern verächtlich auf das gemeine Volk hinabsahen. Ihre Banner flatterten in der erfrischenden Brise. Blackstone wusste, dass ein besitzloser Ritter wie Sir Gilbert kein eigenes Banner führen durfte; stattdessen war sein Wappen auf seinen Schild aufgemalt, ein schwarzes Schwert, wie ein Kruzifix, das sich klar vor einem azurblauen Hintergrund abzeichnete. Dasselbe Zeichen war auf seinem Wappenrock zu sehen.

Sir Gilbert hatte wenig gesprochen, seit sie von dem Herrenhaus aufgebrochen waren, wo sich die Bogenschützen der Grafschaft versammelt hatten. Blackstone kannte viele von ihnen von Markttagen und Wettkämpfen im Bogenschießen. Die meisten dieser jungen Männer, die in Dörfern und Weilern rekrutiert worden waren, zogen bereitwillig in den Krieg, zufrieden mit ihrem Sold und stolz, dass ihr Herr sie mit Pferden und Waffen ausgestattet hatte. John Nightingale, der nicht viel älter als Blackstone war, unterhielt die anderen auf dem Tagesritt zur Küste mit launigen Geschichten über seinen trunksüchtigen Vater, seine Mutter, die jedes Jahr ein Kind bekam, und die Mädchen, die er schon gehabt hatte.

Neben all den Achtzehn- und Neunzehnjährigen gab es auch drei oder vier Waffenknechte von Mitte zwanzig, die bereits in den Niederen Landen gekämpft hatten. Diese Veteranen hielten sich abseits von den begeisterten, abenteuerlustigen jungen Männern, und Sir Gilbert sprach mehr mit ihnen als mit den anderen. Blackstone spürte, dass er von dieser Kameradschaft ausgeschlossen war, er teilte jedoch auch nicht die fieberhafte Erregung der Jüngeren. Wie, so fragte er sich, konnte er seinen Bruder im Tumult der bevorstehenden Schlachten beschützen? Das ruhige, ereignislose Leben, das sie zu Hause geführt hatten, war zwar entbehrungsreich gewesen, hatte ihnen aber doch eine gewisse Sicherheit geboten; äußere Ereignisse waren nur selten in ihre Welt eingedrungen. Der Juni war der Monat der Heumahd, des zweiten Pflügens und der Schafschur. Jetzt hatte der Krieg eine tiefe Furche in ihr Leben gepflügt.

Sein Bruder hingegen ritt sorglos dahin. Die Sonne wärmte ihn, und der erfrischende Südwestwind wehte ihm ins Gesicht. Von der zermürbenden Arbeit im Steinbruch befreit, genoss er die Freiheit, über die Kreidehügel zu reiten, wo die Brise den verheißungsvollen Geruch des Meeres herantrug, wie ein Lebenselixier. Die Männer aus der Grafschaft, die ihn kannten, störten sich nicht an seinen freudigen Grunzlauten, ein Ritter jedoch schlug ihn auf die Schulter und befahl ihm, still zu sein.

Blackstone wusste nicht recht, wie er darauf reagieren sollte. Es stand ihm nicht zu, sich gegen den Ranghöheren aufzulehnen, er fühlte sich aber dennoch verpflichtet, seinen Bruder zu verteidigen.

«Er kann nicht hören, er versteht es nicht, wenn Ihr ihn schlagt.»

«Dann sollte ich ihn wohl fester schlagen, vielleicht versteht er dann. Sorg dafür, dass er dieses Grunzen lässt. Das ist ja schlimmer, als ein Schwein am Strick mitzuführen. Wobei ein Schwein wenigstens noch zu etwas nutze wäre.»

Blackstone konnte es sich nicht erlauben, einen erfahrenen Krieger gegen sich aufzubringen, und ein mulmiges Gefühl hinderte ihn daran, unbedacht zu reagieren. Sir Gilbert, der ein Stück vor ihnen ritt, wandte sich im Sattel um und sah Blackstone an, als wartete er auf dessen Reaktion.

«Er ist zwar taub und stumm, aber was ihn wertvoll macht, ist sein Bogenarm. Er wird für die Ritter zu Fuß noch von großem Nutzen sein, wenn schwere Reiterei angreift.» Und nach einer kurzen Pause fügte Blackstone hinzu: «Herr.»

Sir Gilbert nickte und wandte sich wieder nach vorn. Der Vater des Jungen musste ihm erzählt haben, wie damals in den Kriegen gegen die Schotten, als Ritter und Waffenknechte Seite an Seite zu Fuß der feindlichen Reiterei gegenüberstanden, englische und walisische Bogenschützen die Schotten abgeschlachtet hatten. Die englische Streitmacht hatte aus ihren Niederlagen gelernt und den Wert der Kriegsbogen erkannt, deren eine Tuchelle lange Pfeile mit Ahlspitzen sogar Rüstungen durchschlagen konnten. Männer wie Blackstones Vater waren es gewesen, die in vergangenen Schlachten Männer wie diesen arroganten Ritter gerettet hatten. Und ähnliche Männer würden es wieder tun.

Der Ritter trieb sein Pferd an. «Eure Bogenschützen sind geradezu unverschämt, Gilbert.»

«Ich selbst habe sie ausgebildet», entgegnete Sir Gilbert – als guter Anführer verteidigte er seine Leute gegen Außenstehende. In diesem Moment empfand Blackstone eine tiefe Loyalität zu dem verarmten Waffenknecht.

 

Als der lange Tag zu Ende ging, erreichten die Reiter die Anhöhe hinter Portsmouth. An den Hängen brannten Tausende kleine Feuer, und unten im schützenden Hafen lag, von Laternen beleuchtet, die Kriegsflotte. Blackstone hatte noch nie das Meer gesehen – eine riesige, dunkle Wasserfläche, die sich bis zum Horizont erstreckte. Im letzten Tageslicht waren in der Bucht Hunderte schwarzer Schiffsrümpfe zu erkennen, die auf den Wellen schaukelten. Blackstone lenkte sein Pferd neben das von Sir Gilbert, der angehalten hatte.

«Lieber Himmel, offenbar geht es in die Gascogne», sagte Sir Gilbert.

Blackstone sah ihn verständnislos an.

«Schau hin, Thomas. Offensichtlich will unser König seine Besitzungen im Südwesten Frankreichs sichern. Dort unten liegen gewiss fünfhundert Schiffe.»

Mit dem Augenmaß eines Steinmetzen, das ihm zur zweiten Natur geworden war, hatte Blackstone den Hafen im Geiste bereits in gleich große Abschnitte unterteilt, um besser schätzen zu können. «Eher an die achthundert», erwiderte er, ohne zu bedenken, dass er damit Sir Gilbert widersprach. Dieser sah ihn an und bemerkte seinen unbeirrten Blick.

«Dann also achthundert.»

Er ritt zwischen Männern hindurch, die sich zur Nacht niederließen, auf ein Banner zu, das einen Löwen in schwarz-weißem Hermelinmuster und mehrere kleine Kreuze auf rotem Grund zeigte: das Banner von Sir Reginald Cobham.

Die Brüder legten sich gemeinsam mit den anderen Bogenschützen ihres Trupps auf das niedergetrampelte Gras. Am nächsten Morgen würden sie steif von der Kälte sein, die vom Meer heraufzog, aber das konnte ihre Laune nicht trüben. Während Lord Marldons Männer ihre Suppe kochten und den Stockfisch aßen, den einer von Sir Reginalds Hauptleuten ausgab, winkte Sir Gilbert Blackstone und seinen Bruder zu sich heran.

«Ich werde mit den Männern reden, um sicherzustellen, dass niemand über Nacht desertiert. Ihnen versprechen, dass sie ihren Sold bekommen. Sie vorwarnen, wer an ihrer Seite kämpfen wird.»

«Sie vorwarnen?», wiederholte Blackstone fragend.

«Ja.» Der Ritter gab keine weitere Erklärung.

«Und was sollen ich und mein Bruder tun?»

«Nichts. Ich will diese verlausten Kerle mit euch bekannt machen. Ich tue nur, was Lord Marldon mir aufgetragen hat, Blackstone. Wenn wir erst einmal in Frankreich gelandet sind, kann ich nicht mehr das Kindermädchen für euch spielen.»

Sie gingen zwischen den Lagerfeuern hindurch bis dicht ans Ufer. Dann wandte Sir Gilbert sich zu den Männern um, die gemeinsam den Gefahren der Schlacht begegnen sollten.

«Ich bin euer Hauptmann, Sir Gilbert Killbere. Manche kennen mich vielleicht schon und können den anderen etwas über mich erzählen.»

In einiger Entfernung erhob sich eine Stimme.

«Ich war mit Euch in Morlaix, Sir Gilbert! Da haben wir es ihnen gezeigt und ihnen die Bäuche aufgeschlitzt!»

«Ein Bogenschütze?», rief Sir Gilbert zurück, der den Mann nicht sehen konnte.

«Will Longdon aus Shropshire.»

«Ich erinnere mich an dich, Will Longdon aus Shropshire! Ich dachte, du hättest dir die Pocken geholt, als du mit dieser französischen Hure durchgebrannt bist. Muss ich die anderen warnen, dass sie nicht mit dir vom selben Löffel essen?»

Die Männer lachten.

«Kannst du noch einen Bogen spannen, oder ist dein Arm schon lahm vom Wichsen?», fragte Sir Gilbert.

Gelächter und Gejohle.

«Mein Arm ist noch stark genug, um einer französischen Hure an die Titten zu packen, Sir Gilbert.»

«Dann sollst du Gelegenheit dazu bekommen, Will Longdon – und du weißt, ich halte mein Wort.»

«Das weiß ich, Herr.»

«Gut, denn was ich euch jetzt sage, kommt vom König selbst. Mut wird belohnt werden, der Sieg wird euch mehr als nur Ehre einbringen. Euer Herr, Sir Reginald Cobham, hat es nicht nötig, dass die Geschichten um ihn ausgeschmückt werden. Es gibt keinen besseren Edelmann auf dem Schlachtfeld. Er ist euer Befehlshaber, und wir werden gemeinsam mit der Einheit des Prinzen kämpfen. Wir, der Earl of Northampton, Godefroy d’Harcourt, Marschall der Armee, und der Earl of Warwick. Wir sind die Vorhut, Männer! Wir treffen als Erste auf die französischen Bastarde, und wir werden in ihrem Blut waten!»

Die Männer grölten begeistert. «Und in der Beute!», rief einer.

«Genau!», rief Sir Gilbert zurück. «Die Franzosen lieben Schmuck und horten Schätze wie die Geldverleiher. Nach eurer Heimkehr werdet ihr leben wie die Könige! Auch wenn ihr stinken werdet wie Hurensöhne, die in einem Schweinestall geboren wurden!»

Wieder lachten die Männer und riefen Beifall. Das Ale und ihre vollen Bäuche trugen zur guten Stimmung bei, auch wenn es nicht viel mehr zu essen gab als Hafer, Gerste oder Bohnen, die mit Bärlauch und Wildkräutern gekocht wurden. Nahrhaft und leicht zu transportieren, war das die tägliche Ration. Brot war jenen vorbehalten, die es sich leisten konnten, und Fleisch gab es nur für Edelmänner.

«Ich habe hier zwei Männer an meiner Seite», fuhr Sir Gilbert fort. «Sie sind Bogenschützen, und ich wette, kaum einer von euch hätte die Kraft, ihre Bogen zu spannen. Dieser hier …» – er wandte sich zur Seite und zog Blackstone zu sich heran – «… ist Thomas Blackstone, der den Kriegsbogen seines Vaters trägt. Er ist der Vormund seines taubstummen Bruders.» Dabei zog er Richard nach vorn, sodass sie jetzt alle drei Schulter an Schulter im Feuerschein standen. Richard überragte die beiden anderen. «Nach Gottes weisem Ratschluss muss er diese unvollkommene Schöpfung in Schweigen erdulden. Ihr alle sollt wissen, dass diese beiden meine Gefolgsmänner sind. Wer sich gegen sie wendet, der wendet sich gegen mich.»

Die Männer verstummten. Niemand johlte oder höhnte über den großen, plumpen Jungen mit dem verwachsenen Kiefer.

«Damit wäre das geklärt.» Sir Gilbert schwieg einen Moment lang, ehe er weitersprach. «Eines noch: Auf der anderen Seite des Hügels dort lagern ein paar tausend Speerkämpfer. Sie werden mit uns in die Schlacht ziehen.» Er hielt kurz inne, um die Wirkung seiner Worte zu steigern. «Walisische Speerkämpfer.»

Einige Männer riefen Beleidigungen und Flüche.

Sir Gilbert hob eine Hand, um für Ruhe zu sorgen. «Und wie ich hörte, haben sie sich geweigert, ihre Heimat zu verlassen, ehe sie nicht ihren vollen Sold erhalten hatten. Wir wollen nicht vergessen, dass wir Engländer sind. Diese Sumpfratten würden euch die Stiefel von den Füßen klauen, ohne dass ihr es merkt. Und wenn ihr euch unbedacht bückt, nehmen sie euch von hinten wie Schafe.» Diese Schmähung lockerte die feindselige Stimmung ein wenig auf.

«Wohin gehen wir, Sir Gilbert?», rief einer der Männer.

«Spielt das eine Rolle?», fragte Sir Gilbert zurück. «Ihr werdet dafür bezahlt, die Feinde des Reiches zu töten, wo immer es dem König beliebt. Ich weiß es nicht, Männer, aber wenn ich sehe, wie hier Hunderte Säcke Getreide verladen werden und unzählige Bündel Pfeile, dann denke ich, es wird ein langer Feldzug. Und ich habe mir sagen lassen, in der Gascogne gibt es guten, starken Wein!»

Ein Mann mit harten Zügen nahm seine Lederkappe ab und rieb sich den Schweiß vom Kopf.

«Alles schön und gut, Sir Gilbert, aber ich war vor sechs Jahren mit dem König in den Niederen Landen, und damals war seine Kasse leer. Er musste sich vor Ort Geld leihen, um uns Bogenschützen zu bezahlen. Meint Ihr, diesmal wird es anders sein?», fragte er.

«Wage es nicht, etwas gegen den König zu sagen», entgegnete Sir Gilbert mit eisiger Stimme.

Der Mann machte einen Rückzieher. «Ich meine ja nur, ich will für meine Treue auch entlohnt werden. Ich will Blut vergießen, aber ich habe eine Familie zu ernähren.»

Ehe sich weiterer Widerstand regte, sagte Sir Gilbert abschließend: «Wir werden unseren Sold bekommen. Seht nur zu, dass ihr ihn euch auch verdient. Wir werden denen zeigen, wozu ein Engländer fähig ist, wenn er für seinen König kämpft. Und wie viel Beute er tragen kann!»

«Gott segne Euch, Sir Gilbert», rief jemand, und Beifall wurde laut.

«Und euch auch, Männer», erwiderte der Ritter.

Nachdem sie sich ein paar Schritte von den anderen entfernt hatten, wandte Blackstone sich an Sir Gilbert. «Geht es darum? Um Geld?»

«Dachtest du, es ginge um Ehre? Um Ritterlichkeit?»

Blackstone wusste selbst nicht recht, was er dachte, aber er spürte, dass es ein Unrecht geradezurücken galt. «So etwas in der Art. Der König verteidigt das, was rechtmäßig ihm gehört. Oder fordert es zurück.»

Sir Gilbert blieb stehen und überblickte die Lagerfeuer an den Hängen. «Alle sind wegen des Geldes hier. Die Banken sind zusammengebrochen, die Steuern sind hoch. Der König braucht einen Krieg. Ich selbst muss einen Edelmann gefangen nehmen, um Lösegeld zu erpressen, dann kann ich als einigermaßen wohlhabender Mann heimkehren. Wenn du überlebst, gehst du zurück in deinen Steinbruch und wartest, bis du wieder einberufen wirst, denn der Krieg ist unser Leben.»

«Aber es muss dabei doch auch um Ehre gehen. Mein Vater hat Lord Marldon das Leben gerettet.»

«Das war etwas anderes. Da kämpften Männer füreinander.»

«Und Ihr seid hier, um für Euren König zu kämpfen.»

Blackstone hatte an Sir Gilberts Ehre gerührt. Der Ritter ging nicht darauf ein. «Leg dich jetzt schlafen. Bei Tagesanbruch gehen wir an Bord der Schiffe.»

Er wandte sich ab. Blackstone ließ den Blick über das versammelte Heer schweifen, hörte das Stimmengemurmel der fünfzehntausend Männer, ein Bienenschwarm an einem Sommertag. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie groß seine Angst war. Wenn sie erst in Frankreich gelandet waren, würde Töten sein täglich Brot sein. «Lieber Gott, hilf mir, tapfer zu sein, und vergib mir, dass ich Richard in diese Sache hineingezogen habe. Ich hätte ihn zu Hause lassen sollen – da hätte er zwar viel zu leiden gehabt, aber er wäre in Sicherheit gewesen», flüsterte er den sich auftürmenden Wolken zu.

Er bekreuzigte sich und wünschte, es gäbe eine Kapelle, wo er beten könnte.

Du brauchst keine Kapelle, um zu Gott zu sprechen, hatte sein Vater einmal zu ihm gesagt, aber Blackstone sehnte sich nach der stillen Zuflucht, die er dort finden könnte, danach, dem Gedränge der Leiber zu entkommen, dem Gestank nach Scheiße und der aufsteigenden Flut der Gewalt, die ihn bald verschlingen würde.

 

Der Wind pfiff gnadenlos durch die Takelage und übertönte das gequälte Stöhnen der Männer. Die Koggen der englischen Flotte konnten nicht hart am Wind segeln, und so hielten die auffrischenden Südwestwinde vom Atlantik sie fast zwei Wochen lang im rauen Wasser des Solent fest. Auf den schwankenden Kähnen eingepfercht, hätten die Männer ihre Seele wahlweise Gott oder dem Teufel verkauft, wenn einer von beiden ihnen ruhigeres Wasser beschert hätte. Erbrochenes lief über die Decks und über die Beine der Männer, denen es zu schlechtging, um sich überhaupt darum zu scheren.

Das Elend triumphierte.

Blackstone konnte kaum noch den Kopf heben, um sich zu erbrechen. Was er an Essen im Magen gehabt hatte, war ohnehin längst Fischfutter geworden. Nur einem Mann konnte all das nichts anhaben. Er ging zwischen den anderen umher, trug sie zur Reling, wo sie Blut und Galle spien, und hielt sie in den Wind, sodass die Gischt ihnen ins Gesicht schlug und ihre Übelkeit linderte. Blackstone, hilflos wie die anderen und schwach wie ein Kind, sah, wie sein Bruder, der grunzende Taubstumme, sich in diesen Tagen die Kameradschaft der Männer verdiente.

Und dann drehte der Wind. Angeführt vom königlichen Flaggschiff, der George, segelte die Flotte von der Küste in den Kanal. Blackstone stand breitbeinig an der Reling, das salzverkrustete Haar verfilzt wie ein Kettenpanzer. Die Schiffe mit ihren flatternden Bannern boten einen erregenden Anblick – ein Kriegerkönig führte seine Armee in die Schlacht. Sir Gilbert blickte lächelnd zum Himmel auf, betrachtete die Banner. Dann wandte er sich an Blackstone.

«Wir fahren nicht in die Gascogne, Junge! Das kann ich dir sagen!» Sein Gesicht leuchtete vor wilder Freude. «Ich hatte mich schon gefragt, warum Godefroy d’Harcourt zum Marschall der Armee ernannt wurde.»

«Ich verstehe nicht, Sir Gilbert.»

«Dafür wirst du auch nicht bezahlt. Godefroy ist ein normannischer Baron, der für König Philipp nichts übrighat. Unser edler Landesfürst versetzt dem König einen Schlag ins Gesicht. Wir fahren in die Normandie.»

Einen Tag später, am 12. Juli, verdunkelte die riesige Flotte den Horizont, als die ersten Schiffe in die Bucht von Saint-Vaast-la-Hougue einfuhren. Mit ihrem geringen Tiefgang konnten sie dicht am Ufer auf Grund laufen. Sir Gilbert führte seine Männer, mit Blackstone an seiner Seite und Richard einen Schritt dahinter, durchs flache Wasser an Land. Lautes Gebrüll erhob sich von der Vorhut aus Bogenschützen und unberittenen Waffenknechten. Blackstone hörte sich selbst einstimmen, während er aus Leibeskräften rannte. Entlang der ganzen Strandlinie sah er um die tausend englische Bogenschützen über den nassen Sand auf die hundertfünfzig Fuß hohe Klippe zulaufen. Doch es prasselten keine gegnerischen Pfeile auf sie nieder. Er spürte, wie mit jedem Atemzug die Kraft in seine Beine zurückkehrte. Alles war so kristallklar, jedes Schiff zeichnete sich deutlich auf dem Meer ab, der Wappenrock jedes einzelnen Mannes, ganz gleich, wie ausgeblichen, erschien ihm als leuchtender Farbfleck.

Strahlend vor Begeisterung, wandte Blackstone den Kopf und sah, dass sein Bruder mühelos mit ihm Schritt hielt. Als sie den höher gelegenen Grund erreichten, rannten etwa ein Dutzend Franzosen um ihr Leben – wahrscheinlich zum Kriegsdienst eingezogene Fischer oder Städter –, doch Augenblicke später nahte der Tod zischend durch die Luft. Die altgedienten Bogenschützen hatten die erste Salve abgeschossen, ehe Blackstone die Gefahr überhaupt erkannt hatte.

«Blackstone! Dort und dort!», rief Sir Gilbert und zeigte auf zwei Stellen an der Oberkante der Klippe. «Töte alles, was nach einer Bedrohung aussieht.» Denselben Befehl erteilte er fünfzig weiteren Männern und brachte sie in Stellung.

Nicholas Bray, der die Kompanie der Bogenschützen befehligte, stieß einen Fluch aus. Der Aufstieg hatte die Lunge des fünfundvierzigjährigen Centenars strapaziert.