Leichenblässe - Simon Beckett - E-Book
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Simon Beckett

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Beschreibung

Bei seinem letzten Einsatz ist der forensische Anthropologe David Hunter nur knapp dem Tod entronnen. Von einer vollständigen Genesung ist er weit entfernt. Ihn quält die Frage, ob er seinem Beruf noch gewachsen ist. Zunächst sagt David alle neuen Aufträge ab, dennoch kommt er nicht zur Ruhe. Er beschließt, einen Forschungsaufenthalt auf der «Body Farm» in Tennessee einzulegen – einer bekannten Akademie für forensische Anthropologie, an der er vor vielen Jahren sein Handwerk erlernt hat. Dort trifft David seinen Mentor Tom Lieberman wieder. Tom bittet ihn, ihm bei einem schwierigen Fall zu helfen. Das Opfer wurde gefoltert, die Leiche ist bis zur Unkenntlichkeit zersetzt – weit stärker, als es der Fall sein dürfte. Am Tatort finden sich Fingerabdrücke, der Täter scheint festzustehen. Doch schon bald stellt sich heraus, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht… «‹Leichenblässe›, der neue Thriller von Simon Beckett, geht wie seine Vorgänger unter die Haut. Spannend und tiefgründig!» (Freundin)

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Simon Beckett

Leichenblässe

Thriller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Bei seinem letzten Einsatz ist der forensische Anthropologe David Hunter nur knapp dem Tod entronnen. Von einer vollständigen Genesung ist er weit entfernt, ihn quält die Frage, ob er seinem Beruf noch gewachsen ist. Zunächst sagt David alle neuen Aufträge ab, dennoch kommt er nicht zur Ruhe. Er beschließt, einen Forschungsaufenthalt auf der «Body Farm» in Tennessee einzulegen – einer bekannten Akademie für forensische Anthropologie, an der er vor vielen Jahren sein Handwerk erlernt hat. Dort trifft David seinen Mentor Tom Lieberman wieder. Tom bittet ihn, ihm bei einem schwierigen Fall zu helfen. Das Opfer wurde gefoltert, die Leiche ist bis zur Unkenntlichkeit zersetzt – weit stärker, als es der Fall sein dürfte. Am Tatort finden sich Fingerabdrücke, der Täter scheint festzustehen. Doch schon bald stellt sich heraus, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht ...

 

Über Simon Beckett

SIMON BECKETT arbeitete als Hausmeister, Lehrer und Schlagzeuger, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Als Journalist hatte er Einblick in die Polizeiarbeit. Dieses Wissen verarbeitet er in seinen Romanen. Seine ersten beiden Thriller um den forensischen Anthropologen Dr. David Hunter DIE CHEMIE DES TODES und KALTE ASCHE standen monatelang auf Platz 1 der Taschenbuch-Bestsellerliste. Für LEICHENBLÄSSE hat er auf der «Body Farm» in Tennessee recherchiert.

Simon Beckett ist verheiratet und lebt in Sheffield. Derzeit schreibt er an seinem nächsten David-Hunter-Roman.

Für meine Eltern, Sheila und Frank Beckett

KAPITEL 1

Die Haut.

Das größte Organ des Menschen ist zugleich das am wenigsten beachtete. Dabei macht es ein Achtel der gesamten Körpermasse aus und bedeckt bei einem durchschnittlichen Erwachsenen eine Fläche von etwa zwei Quadratmetern. Strukturell ist die Haut ein kunstvolles Geflecht aus Kapillargefäßen, Drüsen und Nerven, das sowohl regulierende als auch schützende Funktionen hat. Sie ist unsere sensorische Schnittstelle zur Außenwelt, die Grenze, an der unsere Individualität – unser Ich – endet.

Und selbst im Tod bleibt etwas von dieser Individualität erhalten.

Wenn der Körper stirbt, laufen die Enzyme, die das Leben unter Kontrolle gehalten hat, Amok. Sie zerstören die Zellwände und lassen deren wässrige Inhalte entweichen. Diese Flüssigkeiten steigen an die Oberfläche und sammeln sich unter den Hautschichten, die dadurch gelockert werden.

Haut und Körper, bis zu diesem Zeitpunkt zwei wesentliche Teile eines Ganzen, beginnen sich zu trennen. Blasen entstehen. Vollständige Hautabschnitte verrutschen und werden vom Körper abgeworfen wie ein überflüssiger Mantel an einem Sommertag.

Doch selbst tot und abgestreift behält die Haut Spuren ihrer früheren Identität. Noch jetzt kann sie eine Geschichte erzählen und Geheimnisse bewahren.

Vorausgesetzt, man weiß, wonach man schauen muss.

 

Earl Bateman lag auf dem Rücken, das Gesicht der Sonne zugewandt. Am blauen, wolkenlosen Himmel Tennessees kreisten Vögel, langsam löste sich der Kondensstreifen eines Flugzeuges auf. Earl war immer ein Sonnenanbeter gewesen. Er hatte es genossen, wenn sie ihm beim Angeln auf der Haut gebrannt hatte, und er hatte das Flimmern der Sonnenstrahlen geliebt, die allem, was von ihnen berührt wurde, einen neuen Glanz verliehen. In Tennessee herrschte kein Mangel an Sonnenschein, aber Earl stammte ursprünglich aus Chicago, und die Kälte der eisigen Winter dort hatte sich in seinen Knochen festgesetzt.

Nachdem er in den siebziger Jahren nach Memphis gezogen war, hatte er schnell gemerkt, dass ihm die schwüle Wärme wesentlich mehr behagte als die windigen Straßen seiner Heimatstadt. Als Zahnarzt mit einer kleinen Praxis, der für eine junge Frau und zwei kleine Kinder sorgen musste, hatte er natürlich nicht so viel Zeit in der Natur verbringen können, wie er gewollt hätte. Aber er war sich ihrer immer bewusst gewesen. Er mochte sogar die drückende Sommerhitze in Tennessee, wenn sich jede Brise wie ein heißer Umschlag anfühlte und er die Abende mit Kate und den Jungen in der Schwüle ihrer beengten Wohnung verbrachte.

Seitdem hatte sich einiges verändert. Die Zahnarztpraxis hatte floriert, und die kleine Wohnung war längst Vergangenheit. Zwei Jahre zuvor war er mit Kate in ein neues, geräumiges Haus in einer guten Gegend gezogen, das einen großen grünen Garten hatte, wo sich das frühe Morgenlicht im feinen Sprühnebel der Rasensprenger brach, sodass winzige Regenbogen zu sehen waren. Hier konnte die wachsende Anzahl der Enkel gefahrlos spielen.

Genau in diesem Garten, als er sich gerade schwitzend und fluchend damit abquälte, einen abgestorbenen Ast von dem großen alten Goldregen zu sägen, hatte ihn der Herzinfarkt ereilt. Er hatte die Säge im Baum stecken gelassen und noch ein paar taumelnde Schritte zum Haus geschafft, ehe der Schmerz ihn niedergestreckt hatte.

Im Krankenwagen, eine Sauerstoffmaske auf seinem Gesicht, hatte er Kates Hand gehalten und sich ein Lächeln abgerungen, um sie zu beruhigen. In der Klinik war er von einer ganzen Schar Schwestern und Ärzte in Empfang genommen und eilig an piepende Maschinen angeschlossen worden. Als sie schließlich verstummten, war es eine Erleichterung gewesen. Kurz darauf, nachdem die notwendigen Formulare ausgefüllt worden waren und die unvermeidliche Bürokratie, die uns von Geburt an begleitet, ihren Lauf genommen hatte, war Earl entlassen worden.

Jetzt lag er ausgestreckt in der Frühlingssonne. Er war nackt und lag auf einem niedrigen Holzgestell über dem Teppich aus Rispengras und Laub. Er befand sich seit über einer Woche dort, sodass sich das Fleisch bereits aufgelöst hatte und man unter der mumifizierten Haut Knochen und Knorpel erkennen konnte. Ein paar Haarbüschel hingen noch am Schädel, aus dem leere Augenhöhlen in den klaren blauen Himmel starrten.

Ich beendete meine Messungen und trat aus dem Maschendrahtkäfig, der die Leiche des Zahnarztes vor Vögeln und Nagetieren schützte. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es war später Nachmittag und schon sehr heiß, obwohl es noch früh im Jahr war. Alles stand kurz vor der Blüte; in ein oder zwei Wochen würde die Landschaft einen spektakulären Anblick bieten. Noch aber hielten die Birken und Ahorne der Wälder Tennessees ihr neues Wachstum zurück.

Der Hang, an dem ich stand, war nicht weiter bemerkenswert. Landschaftlich ganz schön, wenn auch nicht so spektakulär wie die imposanten Bergketten der Smoky Mountains, die sich in der Ferne erhoben. Es war allerdings ein völlig anderer Aspekt der Natur, der jeden Besucher hier in Bann schlug. Überall lagen menschliche Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung. Im Unterholz, der offenen Sonne ausgesetzt oder im Schatten; die jüngsten noch aufgebläht von den Gasen, die der Verwesungsprozess freigesetzt hatte, die älteren ausgedörrt, ledrig. Manche waren im Boden vergraben oder lagen in den Kofferräumen von Autos. Andere, wie die, die ich gerade untersucht hatte, wurden durch Netz- oder Drahtgitter geschützt und waren aufgebahrt wie Artefakte in einer schaurigen Kunstausstellung. Nur dass dieser Ort einen wesentlich ernsteren Zweck verfolgte. Und nicht für die Öffentlichkeit zugänglich war.

Ich verstaute Messgeräte und Notizblock in meiner Tasche und dehnte meine steif gewordene Hand. Dort, wo das Fleisch bis zum Knochen offen gelegen hatte, verlief ein schmaler, blasser Strich, der meine Lebenslinie genau in zwei Hälften teilte. Ziemlich passend, wenn man bedachte, dass das Messer letztes Jahr mein Leben beinahe beendet und es grundlegend verändert hatte.

Ich hängte mir die Tasche über die Schulter und streckte mich. Ein leichtes Zucken im Magen erinnerte mich daran, dass ich beim Tragen aufpassen musste. Die Narbe unterhalb meiner Rippen war vollständig verheilt, und in einigen Wochen würde ich die Antibiotika absetzen können, die ich in den letzten neun Monaten ständig hatte nehmen müssen. Für den Rest meines Lebens würde ich zwar für Infektionen anfällig sein, ich schätzte mich aber glücklich, außer meiner Milz nur einen Teil des Darms verloren zu haben.

Dafür gab es andere Verluste, mit denen ich wesentlich schwerer zurechtkam.

Ich überließ den Zahnarzt seiner langsamen Verwesung, ging an einer dunkel verfärbten und aufgeblähten Leiche vorbei, die teilweise von Sträuchern verdeckt war, und folgte dem schmalen Pfad, der sich durch die Bäume nach unten schlängelte. Eine junge Schwarze in grauem Klinikkittel und Hosen kniete neben einer halbverborgenen Leiche, die im Schatten eines umgestürzten Baumstammes lag. Mit einer Pinzette sammelte sie sich windende Larven von den Überresten und ließ sie in einen kleinen, verschraubbaren Behälter fallen.

«Hi, Alana», sagte ich.

Sie schaute auf und lächelte mich mit gezückter Pinzette an.

«Hey, David.»

«Ist Tom in der Nähe?»

«Das letzte Mal habe ich ihn unten bei den Gruben gesehen. Und pass auf, wo du hintrittst», rief sie hinter mir her. «Dahinten in der Nähe der Büsche liegt ein Staatsanwalt im Gras.»

Ich hob dankend meine Hand und folgte dem Pfad hinab. Er verlief parallel zu einem hohen Maschendrahtzaun, der gut achttausend Quadratmeter Waldgebiet umgab. Der Zaun war mit einer Stacheldrahtkrone versehen und durch eine zweite Umfassung aus Holz abgeschirmt. Der einzige Zugang war ein großes Tor, an dem ein Schild hing, auf dem in schlichten schwarzen Buchstaben die Worte Anthropology Research Facility standen. Die anthropologische Forschungseinrichtung war jedoch besser unter einem anderen, weniger offiziellen Namen bekannt. Die meisten Leute nannten sie nur die Body Farm.

 

Die Farm der Leichen.

 

Eine Woche zuvor hatte ich mit den gepackten Taschen zu Füßen im gefliesten Flur meiner Londoner Wohnung gestanden. Draußen in der trüben Frühlingsdämmerung zwitscherten die Vögel. Im Geiste ging ich noch einmal die Liste der Dinge durch, die ich nicht vergessen durfte, wohl wissend, dass ich bereits alles erledigt hatte. Die Fenster waren verschlossen, die Postlagerung war veranlasst, der Boiler war ausgestellt. Ich spürte eine tiefe, innere Unruhe. Das Verreisen war mir nicht fremd, aber dieses Mal war es etwas anderes.

Wenn ich zurückkam, würde niemand auf mich warten.

Das Taxi war unpünktlich, aber bis zum Abflug war noch genügend Zeit. Trotzdem sah ich ständig auf die Uhr. Mein Blick schweifte unwillkürlich zu den schwarzweißen viktorianischen Bodenfliesen wenige Meter vor mir. Sofort schaute ich wieder weg, aber da hatte das Schachbrettmuster bereits meine Erinnerung wachgerüttelt. Das Blut vor der Wohnungstür war längst weggewischt worden, genauso das von der Wand darüber. Der gesamte Eingangsbereich war neu gestrichen worden, während ich noch im Krankenhaus gelegen hatte. Äußerlich erinnerte nichts mehr daran, was sich im vergangenen Jahr dort abgespielt hatte.

Trotzdem kam augenblicklich Klaustrophobie in mir auf. Vorsichtig, um meine Narbe nicht zu sehr zu belasten, trug ich die Taschen nach draußen. Das Taxi kam, als ich gerade die Wohnungstür zumachte. Sie schloss sich mit einem dumpfen Knall, der sich endgültig anhörte. Ohne einen Blick zurück wandte ich mich ab und ging zum Taxi, das Dieselschwaden verströmte.

Ich ließ mich nur bis zur nächsten U-Bahn-Station fahren und nahm die Piccadilly-Linie nach Heathrow. Obwohl es noch zu früh für den morgendlichen Berufsverkehr war, saßen ein paar Leute in den Abteilen, die es mit der typischen Gleichgültigkeit der Londoner vermieden, die anderen Fahrgäste anzuschauen.

Ich war heilfroh, die Stadt verlassen zu können. Es war das zweite Mal in meinem Leben, dass ich das Bedürfnis verspürte, London den Rücken zu kehren. Anders als beim ersten Mal, als ich nach dem Tod meiner Frau und meiner Tochter vor den Ruinen meines Lebens regelrecht geflohen war, wusste ich, dass ich zurückkommen würde. Aber ich benötigte etwas Abstand zwischen mir und den jüngsten Ereignissen. Dazu kam, dass ich seit Monaten nicht gearbeitet hatte. Durch diese Reise hoffte ich, wieder einen Zugang zu meinem Beruf zu finden.

Und zu klären, ob ich überhaupt noch dafür geeignet war. Es gab keinen besseren Ort für diesen Zweck. Bis vor kurzem war die Forschungseinrichtung in Tennessee einzigartig gewesen; auf der ganzen Welt hatte es kein anderes Freiluftlaboratorium gegeben, in dem forensische Anthropologen die Verwesung an echten menschlichen Leichen studieren und wichtige Hinweise über Todeszeit und Todesart dokumentieren konnten. Mittlerweile war eine ähnliche Anlage in North Carolina aufgebaut worden, genau wie in Texas, nachdem man Bedenken wegen der dort lebenden Geier hatte entkräften können. Selbst in Indien sollte es eine geben, hatte ich gehört.

Aber egal, wie viele solcher Institute es geben mochte, in den Augen der meisten Menschen war allein die Anlage in Tennessee die Body Farm. Sie befand sich in Knoxville und gehörte zum Institut für Forensische Anthropologie der Universität von Tennessee. Ich hatte das Glück gehabt, zu Beginn meiner Karriere dort zu forschen. Mein letzter Besuch war jedoch lange her. Zu lange, wie Tom Lieberman, der Direktor und mein damaliger Lehrer, mir gesagt hatte.

Als ich in Heathrow in der Abflughalle saß und durch die Glasscheiben den langsamen und stummen Tanz der Flugzeuge beobachtete, fragte ich mich, wie es sein würde, wieder zurückzukommen. Während der Monate der schmerzhaften Genesung nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus – und den noch schmerzhafteren Nachwirkungen – hatte mir die Aussicht auf den einmonatigen Aufenthalt dort eine Perspektive gegeben. Ich hatte ihn als einen Neuanfang gesehen, den ich dringend benötigte.

Jetzt, da ich tatsächlich unterwegs war, fragte ich mich zum ersten Mal, ob ich nicht zu viel Hoffnung in die Reise gesetzt hatte. Die Zweifel verließen mich auch während des langen Fluges nicht.

Als die Maschine in Knoxville landete, grummelten noch die Ausläufer eines Unwetters, das sich aber schnell verzog. Nachdem ich mein Gepäck abgeholt hatte, zeigte sich am Himmel schon wieder die Sonne. Auf dem Weg vom Flughafenterminal zur Autovermietung atmete ich tief ein und genoss die ungewohnte Feuchtigkeit in der Luft. Die Straßen dampften und verströmten einen scharfen Geruch nach nassem Asphalt. Vor dem Hintergrund der sich langsam zurückziehenden blauschwarzen Gewitterwolken ließen die letzten Regentropfen das üppige Grün der Landschaft um den Highway beinahe flirren.

Ich spürte, wie sich meine Stimmung aufheiterte, als ich mich der Stadt näherte. Doch, die Reise würde mir guttun.

 

Jetzt, kaum eine Woche später, war ich mir nicht mehr so sicher. Ich folgte dem Pfad, der an einer Lichtung vorbeiführte, auf der ein hohes Dreibein aus Holz stand, das dem Gerüst eines Tipis ähnelte. In der Mitte lag eine Leiche auf einer Plattform und wartete darauf, hochgehoben und gewogen zu werden. Ich erinnerte mich an Alanas Warnung, verließ den Pfad, überquerte die Lichtung und ging zu einer Reihe geometrisch in den Waldboden eingelassener Betongruben. In ihnen waren als Teil eines Experiments, das die Wirkung von Bodenradar bei der Aufspürung von Leichen untersuchte, menschliche Überreste begraben.

Ein paar Meter weiter kniete ein hochgewachsener, schlaksiger Mann in hellen Baumwollhosen und mit einem Schlapphut, der ein Messgerät am Ende eines aus dem Boden stakenden Rohrs begutachtete.

«Wie läuft’s?», fragte ich.

Er schaute nicht auf und schielte durch seine Drahtgestellbrille auf das Messgerät, das er vorsichtig mit einem Finger antippte. «Man sollte doch annehmen, dass man einen so starken Gestank problemlos wahrnehmen müsste, oder?», gab er zur Antwort.

Die dumpfen Vokale verrieten seine Herkunft von der Ostküste, den breiten Südstaatendialekt Tennessees hatte er sich nie angeeignet. Solange ich ihn kannte, war Tom Lieberman auf der Suche nach seinem persönlichen heiligen Gral: Er analysierte Molekül für Molekül die bei der Verwesung entstehenden Gase, um dem Geruch des Verfalls auf die Schliche zu kommen. Wer jemals eine tote Maus unter seinen Dielenbrettern liegen gehabt hat, kann bestätigen, dass er existiert, und er existiert auch dann noch, wenn der Mensch ihn längst nicht mehr wahrnimmt. Hunde können darauf abgerichtet werden, den Geruch noch Jahre nach der Beerdigung einer Leiche zu erschnüffeln. Tom vertrat die Theorie, dass es möglich sein müsste, einen Sensor zu entwickeln, der diese Aufgabe genauso gut bewerkstelligen konnte, was das Aufspüren und die Bergung von Leichen erheblich vereinfachen würde. Doch wie bei allen Dingen lagen Theorie und Praxis auch in diesem Fall sehr weit auseinander.

Mit einem Brummen, das entweder Frustration oder Befriedigung bedeuten konnte, stand er auf. «Okay, ich bin fertig», sagte er und zuckte zusammen, als seine Kniegelenke knackten.

«Ich wollte gerade in die Cafeteria und etwas essen. Kommst du mit?»

Er lächelte wehmütig und packte sein Equipment ein. «Heute nicht. Mary hat mir ein paar Sandwiches mitgegeben. Huhn und Bohnensprossen oder irgendetwas anderes ekelig Gesundes. Und bevor ich es vergesse, du bist am Wochenende zum Essen eingeladen. Sie scheint es sich in den Kopf gesetzt zu haben, dass du eine anständige Mahlzeit brauchst.» Er verzog das Gesicht. «Dich will sie aufpäppeln, und ich kriege nur Hasenfutter. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?»

Ich lächelte. Toms Frau war eine großartige Köchin, und das wusste er. «Sag ihr, dass ich gern komme. Soll ich dir mit dem Kram helfen?», bot ich an, als er sich seine Tasche über die Schulter hängte.

«Nein, schon in Ordnung.»

Mir war klar, dass er sich Sorgen machte, ich könnte mich überanstrengen. Doch auch wenn er langsam zurück zum Tor ging, konnte ich sehen, wie er unter dem Gewicht der Tasche außer Atem geriet. Als ich Tom kennengelernt hatte, war er bereits Mitte fünfzig gewesen und hatte gern einen noch recht unerfahrenen britischen Anthropologen unterstützt. Das lag länger zurück, als ich mich erinnern mochte, und obwohl ich seitdem ein paarmal wiedergekommen war, war mein letzter Besuch eine Weile her. Wir erwarten, dass die Menschen so bleiben, wie wir sie in Erinnerung haben, aber natürlich ist das nie der Fall. Dennoch war ich bestürzt gewesen, wie sehr sich Tom verändert hatte, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte.

Offiziell hatte er noch nicht bekannt gegeben, wann er als Direktor des Instituts für Forensische Anthropologie zurücktreten wollte, jeder wusste jedoch, dass es wahrscheinlich vor Ende des Jahres geschehen würde. Selbst der Artikel über ihn, der vor zwei Wochen in der Regionalzeitung von Knoxville erschienen war, hatte sich eher wie ein Nachruf denn wie ein Interview gelesen. Er sah zwar noch aus wie der Basketballspieler, der er einmal gewesen war, das Alter aber ließ den immer schon schmalen Mann regelrecht ausgemergelt erscheinen. Und seine Wangen waren so hohl geworden, dass sie ihm in Verbindung mit den größer werdenden Geheimratsecken ein sowohl asketisches als auch beängstigend gebrechliches Aussehen verliehen.

Das Funkeln in seinen Augen war jedoch unverändert, ebenso sein Humor und sein Glaube an das Gute im Menschen, der trotz der jahrelangen Beschäftigung mit den dunkleren Seiten des menschlichen Wesens ungetrübt geblieben war. Und du bist selbst nicht völlig unversehrt, dachte ich, als ich die hässliche Narbe unter meinem Hemd spürte.

Toms Kombi stand auf dem Parkplatz, der direkt an die Anlage grenzte. Wir blieben am Tor stehen und zogen Schutzhandschuhe und Überschuhe aus, bevor wir hinausgingen. Nachdem sich das Tor hinter uns geschlossen hatte, ließ nichts mehr erahnen, was sich auf der anderen Seite befand. Die Bäume hinter dem Zaun raschelten harmlos in der Brise, an den kahlen Ästen waren die ersten grünen Knospen zu sehen.

Sobald wir draußen waren, nahm ich mein Handy aus der Tasche und schaltete es wieder ein. Obwohl es nicht verboten war, wäre es mir unangenehm gewesen, die friedliche Stille in der Forschungseinrichtung mit Telefonklingeln zu stören. Dabei erwartete ich nicht einmal Anrufe. Die Leute, die mich hätten anrufen können, wussten, dass ich außer Landes war, und der Mensch, mit dem ich am meisten hätte sprechen wollen, würde sich nicht melden. Trotzdem merkte ich, dass ich auf den Ton wartete, der ankündigte, dass ich eine Nachricht erhalten hatte. Doch das Handy blieb stumm.

Was hast du denn erwartet?

Ich steckte das Telefon weg, während Tom den Kofferraum öffnete und seine Tasche hineinschob. Er versuchte, sein Schnaufen vor mir zu verbergen, und ich bemühte mich, so zu tun, als würde ich es nicht bemerken.

«Soll ich dich zur Cafeteria mitnehmen?», bot er an.

«Nein danke. Ich werde zu Fuß gehen. Die Bewegung tut mir gut.»

«Bewundernswerte Disziplin. Du beschämst mich.» Sein Handy klingelte. Er zog es hervor und schaute auf das Display. «Entschuldige, ich muss rangehen.»

Ich ließ ihn allein und ging über den Parkplatz. Die Body Farm lag zwar auf dem Campus der medizinischen Abteilung der Universität von Tennessee, war aber völlig unabhängig von ihr. Versteckt am bewaldeten Rand des Geländes, war sie eine ganz andere Welt als die belebte Klinik, in deren modernen Gebäuden und parkähnlichen Grünanlagen es vor Patienten, Studenten und medizinischem Personal nur so wimmelte. Auf einer Bank lachte eine Krankenschwester mit einem jungen Mann in Jeans, eine Mutter schimpfte mit ihrem weinenden Kind, während ein Geschäftsmann eine lebhafte Diskussion am Handy führte. Als ich zum ersten Mal hier gewesen war, hatte ich den Kontrast zwischen den hinter dem Zaun versteckten Verwesungsprozessen und der geschäftigen Normalität davor schwer ertragen. Jetzt nahm ich ihn kaum noch wahr.

Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles.

Ich trabte eine Treppe hoch und ging dann den Weg entlang, der zur Cafeteria führte. Zufrieden bemerkte ich, dass ich kaum außer Atem war. Nach einer Weile hörte ich hinter mir heraneilende Schritte.

«Hey, David, warte!»

Ich drehte mich um und sah einen Mann auf mich zukommen, der ungefähr so alt und so groß war wie ich. Paul Avery war einer der neuen Hoffnungsträger des Instituts und wurde bereits als Toms Nachfolger gehandelt. Er war Spezialist für die menschliche Skelettbiologie, verfügte über ein enzyklopädisches Wissen und hatte die großen Hände und kräftigen Finger eines Chirurgen.

«Gehst du zum Essen?», fragte er, während er neben mir langsamer wurde. Sein gelocktes Haar war beinahe pechschwarz, und auf seinem Kinn wuchsen dunkle Stoppeln. «Was dagegen, wenn ich dich begleite?»

«Überhaupt nicht. Wie geht’s Sam?»

«Gut. Sie hat sich heute Morgen mit Mary getroffen, um noch ein paar Babysachen zu besorgen. Bestimmt ist die Kreditkarte im Dauereinsatz.»

Ich lächelte. Paul hatte ich vor dieser Reise nicht gekannt, aber sowohl er als auch seine schwangere Frau Sam hatten alles getan, damit ich mich hier wohl fühlte. Sie stand kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes, und während Paul sein Bestes gab, um gleichgültig zu wirken, unternahm Sam keinen Versuch, ihre Aufregung zu verbergen.

«Gut, dass ich dich getroffen habe», sagte er. «Einer meiner Studenten hat sich verlobt, deswegen wollen wir heute Abend mit ein paar Leuten in die Stadt fahren, um zu feiern. Keine große Sache, nur etwas essen und ein paar Drinks. Hast du Lust, mitzukommen?»

Ich zögerte. Ich wusste die Einladung zu schätzen, aber der Gedanke, mit Unbekannten auszugehen, behagte mir nicht.

«Sam kommt mit und Alana auch, du kennst also ein paar Leute», fügte Paul hinzu, als er mein Zögern sah. «Komm schon, es wird lustig.»

Mir fiel kein Grund mehr ein, nein zu sagen. «Na schön, okay. Danke.»

«Super. Ich hole dich um acht in deinem Hotel ab.»

In dem Moment ertönte eine Autohupe. Als wir uns umschauten, sahen wir Toms Wagen, der am Straßenrand anhielt. Tom kurbelte das Fenster herunter und winkte uns zu sich.

«Ich habe gerade einen Anruf vom Tennessee Bureau of Investigation bekommen. Sie haben in einer Berghütte in der Nähe von Gatlinburg eine Leiche gefunden. Klingt ganz interessant. Wenn du Zeit hast, Paul, könntest du mitkommen und dir die Sache ansehen?»

Paul schüttelte bedauernd den Kopf. «Heute Nachmittag geht’s nicht. Kann nicht einer von deinen Studenten mitkommen?»

«Könnte wohl schon.» Tom wandte sich ohne Eile an mich, aber das Funkeln in seinen Augen war nicht zu übersehen. «Wie sieht’s mit dir aus, David? Lust auf ein bisschen praktische Arbeit?»

KAPITEL 2

Auf dem Highway aus Knoxville hinaus herrschte zäh fließender Verkehr. Obwohl es noch so früh im Jahr war, war es bereits so warm, dass man im Wagen die Klimaanlage anschalten musste. Tom hatte das Navigationsgerät programmiert, damit wir uns nicht verfuhren, wenn wir die Berge erreichten. Er summte beim Fahren leise vor sich hin, ein Zeichen für seine Vorfreude, wie ich mittlerweile wusste. Die Realität der Body Farm war zwar grausam genug, aber die Menschen, die ihre Leichen der Forschung überlassen hatten, waren eines natürlichen Todes gestorben. Diese Sache war etwas anderes.

Nun wartete der Ernstfall auf uns.

«Es sieht also nach Mord aus?» Wahrscheinlich, sagte ich mir, denn sonst wäre das Tennessee Bureau of Investigation nicht eingeschaltet worden. Das TBI war praktisch das Landeskriminalamt des Staates Tennessee, eine Unterbehörde des amerikanischen Bundeskriminalamtes FBI, für das Tom als Berater arbeitete. Da der Anruf von den Staatsbeamten und nicht von der örtlichen Polizei gekommen war, konnte man davon ausgehen, dass die Sache ernst war.

Tom hielt seinen Blick auf die Straße gerichtet. «Scheint so. Viel hat man mir nicht erzählt, aber es hat sich so angehört, als wäre die Leiche in einem schlimmen Zustand.»

Ich begann unerklärlicherweise nervös zu werden. «Gibt es keine Probleme, wenn ich mitkomme?»

Tom sah überrascht aus. «Warum sollte es? Ich nehme oft jemanden als Hilfe mit.»

«Ich meine, weil ich Brite bin.» Ich hatte die üblichen Visa und eine Arbeitserlaubnis beantragen müssen, um herzukommen, aber mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Ich war mir nicht sicher, ob ich bei einer offiziellen Ermittlung willkommen war.

Er zuckte mit den Achseln. «Ich kann mir nicht vorstellen, warum das ein Problem sein sollte. Der Fall betrifft ja kaum die nationale Sicherheit, und wenn jemand fragt, bürge ich für dich. Oder du hältst einfach den Mund und hoffst, dass keiner deinen Akzent bemerkt.»

Lächelnd schaltete er den CD-Player ein. Was für andere Menschen Zigaretten oder Whiskey war, war für Tom Musik. Er behauptete, dass sie ihm nicht nur half, einen klaren Kopf zu kriegen, sondern auch seine Gedanken zu sammeln. Seine Lieblingsdroge war der Jazz der fünfziger und sechziger Jahre, und mittlerweile hatte ich die Handvoll Alben, die in seinem Auto lagen, oft genug gehört, um die meisten wiederzuerkennen.

Während ein Stück von Jimmy Smith rhythmisch aus den Lautsprechern drang, seufzte Tom leise auf und lehnte sich selbstvergessen zurück.

Ich betrachtete die Landschaft Tennessees, die am Wagen vorbeiglitt. Vor uns erhoben sich die Smoky Mountains, gehüllt in den bläulichen Dunst, nach dem sie benannt waren. Ihre bewaldeten Hänge erstreckten sich wie ein wogendes, grünes Meer zum Horizont und bildeten einen starken Kontrast zu den grellen, funktionalen Fastfoodrestaurants, Bars und Supermärkten, die den Highway säumten und über denen ein Netz aus Stromleitungen verlief.

London und England schienen weit, weit weg zu sein. Mit der Reise hierher wollte ich neuen Lebensmut schöpfen und ein paar der Fragen klären, die mir keine Ruhe ließen. Ich wusste, dass mir nach meiner Rückkehr einige schwere Entscheidungen bevorstanden. Mein Zeitvertrag an der Universität in London war während meiner Genesungszeit ausgelaufen. Man hatte mir eine feste Anstellung in Aussicht gestellt, zudem hatte ich ein Angebot von einer der besten schottischen Universitäten erhalten. Außerdem hatte die Forensic Search Advisory Group, eine interdisziplinäre Beratungsfirma, die der Polizei beim Aufspüren von Leichen half, vorsichtig Interesse an meinen Diensten bekundet. Das war alles sehr schmeichelhaft und hätte mich erfreuen sollen, doch ich konnte mich für keine dieser Möglichkeiten begeistern. Ich hatte gehofft, mein Aufenthalt hier würde das ändern.

Bisher war das noch nicht geschehen.

Ich seufzte und rieb unbewusst mit dem Daumen über die Narbe auf meiner Handfläche. «Alles in Ordnung bei dir?», fragte Tom und schaute mich von der Seite an.

Ich schloss meine Hand um die Narbe. «Ja.»

Er akzeptierte meine Antwort ohne Kommentar. «In der Tasche auf dem Rücksitz sind Sandwiches. Wollen wir uns die nicht teilen, bevor wir da sind?» Er lächelte schief. «Ich hoffe, du magst Bohnensprossen.»

Der Wald um uns herum wurde immer dichter, je näher wir den Bergen kamen. Wir fuhren durch Pigeon Forge, einen trubeligen Urlaubsort, der nur aus Bars und Restaurants zu bestehen schien. Ein Diner, an dem wir vorbeikamen, war bis zu den aus Plastik nachgebildeten Holzblöcken im Wildweststil gehalten. Ein paar Meilen weiter erreichten wir Gatlinburg, ebenfalls eine Touristenstadt, deren Atmosphäre im Gegensatz zu Pigeon Forge allerdings zurückhaltender wirkte. Sie lag direkt am Fuß der Berge, und obwohl die Motels und Läden um Aufmerksamkeit heischten, konnten sie mit dem sie umgebenden Naturschauspiel nicht mithalten.

Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, gelangten wir in eine andere Welt. Die Straße schlängelte sich steile, dicht bewaldete Hänge empor. Die Bäume warfen lange Schatten. Die Smoky Mountains, ein Teil der riesigen Appalachen, waren achthundert Quadratmeilen groß und erstreckten sich entlang der Grenze zwischen Tennessee und North Carolina. Sie waren zum Nationalpark erklärt worden, obwohl ich beim Blick aus dem Autofenster dachte, dass sich die Natur um solche Auszeichnungen wohl kaum scherte. Das hier war eine Wildnis, die selbst heute noch vom Menschen größtenteils unberührt geblieben war. Wenn man wie ich von einer dicht besiedelten Insel wie England kam, fühlte man sich angesichts dieser schieren Weite augenblicklich klein und nichtig.

Es herrschte immer weniger Verkehr. In ein paar Wochen würde die Gegend wesentlich belebter sein, doch noch war Frühling, und mit der Zeit begegneten uns kaum noch andere Fahrzeuge. Nach ein paar weiteren Meilen bog Tom auf eine Schotterstraße.

«Dürfte nicht mehr weit sein …» Er schaute auf das am Armaturenbrett installierte Navi und spähte dann nach vorn. «Aha, wir sind da.»

An einem schmalen Weg stand ein Schild, auf dem «Schroeder Cabins, Nr. 5–13» zu lesen war. Nachdem Tom abgebogen war, stöhnte das Automatikgetriebe unter der Steigung. Zwischen den Bäumen erkannte ich die flachen Dächer der Hütten, die in einigem Abstand voneinander im Wald lagen.

Vor uns säumten Polizeiwagen und Zivilfahrzeuge, die wohl zum TBI gehörten, beide Seiten des Pfades. Als wir näher kamen, stellte sich uns ein uniformierter Polizeibeamter in den Weg und legte eine Hand auf seine Waffe, die im Holster am Gürtel steckte.

Tom hielt an und kurbelte das Fenster herunter, doch der Polizist ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

«Sir, hier geht’s nicht weiter. Sie müssen umdrehen und wegfahren.»

Er sprach mit dem tiefsten Südstaatenakzent und benutzte seine Höflichkeit unerbittlich und unnachgiebig wie eine Waffe. Tom lächelte ihn an.

«Alles in Ordnung. Würden Sie Dan Gardner sagen, dass Tom Lieberman da ist?»

Der Polizist entfernte sich ein paar Schritte und sprach in sein Funkgerät. Was er zu hören bekam, schien ihn zu beruhigen.

«Okay. Parken Sie dort hinter den anderen Fahrzeugen.»

Tom tat, was ihm gesagt worden war. Die Nervosität, die in mir aufgekommen war, hatte sich zu einem tiefen Unbehagen verfestigt, als wir parkten. Ich sagte mir, dass ein paar Schmetterlinge im Bauch völlig verständlich waren; schließlich war ich nach meiner Genesung noch eingerostet und hatte nicht damit gerechnet, an einer Mordermittlung teilzunehmen. Aber ich wusste auch, dass das nicht der eigentliche Grund für meine Unruhe war.

«Bist du dir sicher, dass es in Ordnung ist, wenn ich hier bin?», fragte ich. «Ich möchte niemandem auf die Füße treten.»

Tom hatte offenbar keine Bedenken. «Mach dir keine Sorgen. Wenn jemand fragt, sagst du, dass du zu mir gehörst.»

Wir stiegen aus dem Wagen. Im Gegensatz zur Stadt war die Luft frisch und sauber und roch nach wilden Blumen und Lehm. Die tiefstehende Nachmittagssonne strahlte durch die Äste und ließ die grünen Knospen wie dicke Smaragde funkeln. In dieser Höhe und im Schatten der Bäume war es ziemlich kühl, was die Erscheinung des Mannes, der auf uns zukam, noch seltsamer machte. Er trug Anzug und Krawatte, hatte sich das Jackett jedoch über den Arm gelegt, sodass man die dunklen Schweißflecken auf seinem hellblauen Hemd sehen konnte. Sein Gesicht war rot und erhitzt, als er Tom die Hand schüttelte.

«Danke, dass du gekommen bist, Tom. Ich wusste nicht, ob du noch im Urlaub bist.»

«Nicht mehr.» In der Woche vor meiner Ankunft waren Tom und Mary gerade erst aus Florida wiedergekommen. Er hatte mir erzählt, dass er sich noch nie in seinem Leben so gelangweilt hatte.

«Dan, ich möchte dir Dr. David Hunter vorstellen. Er besucht gerade unser Institut. Ich habe gesagt, es wäre in Ordnung, wenn er mitkommt.»

Das war nicht als Frage formuliert. Der Mann wandte sich an mich. Ich schätzte ihn auf Ende fünfzig, sein wettergegerbtes, abgehärmtes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Das ergraute Haar war kurz geschnitten und wie mit einem Lineal gescheitelt.

Er reichte mir die Hand. Sein Griff war fest genug, um eine Herausforderung zu sein, die Haut fühlte sich trocken und schwielig an.

«Dan Gardner. Ich bin der verantwortliche Special Agent. Freut mich, Sie kennenzulernen.»

Ich vermutete, sein Titel entsprach dem eines leitenden Ermittlungsbeamten in England. Er sprach mit dem unverwechselbaren, nasalen Singsang Tennessees, seine Gelassenheit war jedoch trügerisch. Sein Blick war stechend und wachsam. Abschätzend.

«Und, was habt ihr?», fragte Tom und griff nach seinem Equipment im Heck des Kombis.

«Lass mich das machen», sagte ich und hob den Koffer für ihn heraus. Narbe hin oder her, ich war besser in Form als Tom. Dieses Mal entgegnete er nichts.

Der TBI-Agent wandte sich zum Pfad um, der durch die Bäume führte. «Die Leiche liegt in einer Ferienhütte. Der Verwalter hat sie heute Morgen gefunden.»

«Definitiv Mord?»

«Allerdings.»

Er beließ es dabei. Tom schaute ihn neugierig an, fragte aber nicht nach Einzelheiten. «Schon identifiziert?»

«Wir haben eine Brieftasche mit Kreditkarten und einen Führerschein gefunden, aber wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob sie dem Opfer gehörte. Die Leiche ist schon viel zu verwest, um irgendetwas mit dem Foto anfangen zu können.»

«Irgendeine Ahnung, wie lange sie schon hier ist?», fragte ich, ohne nachzudenken.

Gardner runzelte die Stirn, und ich erinnerte mich daran, dass ich nur hier war, um Tom zu helfen. «Ich hatte gehofft, das könnt ihr uns sagen», antwortete der TBI-Agent eher an Tom als an mich gerichtet. «Der Pathologe ist noch hier, aber er kann uns nicht viel erzählen.»

«Wer ist der Pathologe? Scott?», fragte Tom.

«Nein, Hicks.»

«Aha.»

In der Art, wie Tom es sagte, lag eine Fülle von Bedeutungen, von denen keine schmeichelhaft war. Aber im Moment beunruhigte mich eher, wie er sich den steilen Pfad hinaufquälte.

«Einen Augenblick», sagte ich, stellte seinen Koffer ab und tat so, als würde ich mir die Schnürsenkel binden. Gardner sah sich verärgert um, Tom holte jedoch erleichtert Luft, während er vorgab, seine Brille zu putzen. Dann betrachtete er vielsagend die dunklen Schweißflecken auf dem Hemd des Polizisten.

«Entschuldige, dass ich frage, Dan, aber ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst ein bisschen … na ja, fiebrig aus.»

Gardner schaute hinab auf sein durchnässtes Hemd, als würden ihm die Flecken erst jetzt auffallen. «Sagen wir mal, es ist ziemlich heiß dadrinnen. Wart’s ab.»

Wir marschierten weiter. Der Pfad wurde ebener und führte vom Wald auf eine Lichtung. Von einem mit Unkraut überwucherten Schotterweg zweigten Pfade zu den zwischen den Bäumen versteckten Hütten ab. Wir gingen zu einer Hütte am äußersten Rand der Lichtung, die ein gutes Stück abseits von den anderen lag. Sie war klein, die Holzwände waren verwittert. Der Weg, der zu ihrer Tür führte, war mit einem leuchtend gelben Flatterband abgesperrt, auf dem in großen schwarzen Buchstaben POLICE LINE, DO NOT CROSS stand. Überall herrschte Betriebsamkeit.

Dies war das erste Mal, dass ich an einem Tatort in den Vereinigten Staaten war. Größtenteils war es genau so, wie ich es von zu Hause gewohnt war, die feinen Unterschiede waren allerdings spürbar, was mir die Szenerie unwirklich erscheinen ließ. Neben der Hütte stand eine Gruppe der Spurensicherung des TBI, Beamte in weißen Overalls mit erhitzten und verschwitzten Gesichtern, die durstig aus Wasserflaschen tranken. Gardner führte uns zu einer jungen Frau in einem eleganten Kostüm, die mit einem übergewichtigen Mann sprach, dessen kahler Kopf wie ein poliertes Ei glänzte. Er war völlig unbehaart und hatte nicht einmal Augenbrauen oder Wimpern, wodurch er einerseits wie ein Baby und anderseits wie eine Schildkröte aussah.

Als wir näher kamen, drehte er sich zu uns um und öffnete beim Anblick von Tom seine schmalen Lippen zu einem Lächeln. Aber es wirkte humorlos.

«Hab mich schon gefragt, wann Sie auftauchen, Lieberman.»

«Ich bin gleich nach dem Anruf losgefahren, Donald», sagte Tom freundlich.

«Es überrascht mich, dass ein Anruf nötig war. Die Leiche müsste man bis nach Knoxville riechen.»

Er kicherte unbekümmert, auch wenn den Witz sonst niemand lustig fand. Ich vermutete, dass das Hicks war, der Pathologe, den Gardner erwähnt hatte. Die junge Frau, mit der er gesprochen hatte, war schlank, dabei athletisch wie eine Turnerin. Sie hatte eine beinahe militärische Haltung, die durch das marineblaue Kostüm und das kurzgeschnittene, dunkle Haar noch betont wurde. Sie trug kein Make-up und benötigte auch keines. Allein ihr Mund passte nicht zu ihrer klinischen Erscheinung: Die vollen und geschwungenen Lippen deuteten eine Sinnlichkeit an, die der Rest von ihr zu verbergen bemüht war.

Sie schaute mich kurz mit ihren grauen Augen an, ein Blick, der ausdruckslos und kühl taxierend zugleich war. Das Weiße in den Augen leuchtete im Kontrast zu ihrer leicht gebräunten Haut, wodurch sie einen unglaublich gesunden und frischen Eindruck machte.

Gardner stellte sie vor. «Tom, das ist Diane Jacobsen. Sie ist gerade erst zum Ermittlungsteam gestoßen. Das hier ist ihr erster Mordfall, und ich habe mit dir und dem Institut ordentlich angegeben, also enttäusche mich nicht.»

Offenbar ungerührt von Gardners Versuch, humorvoll zu sein, streckte sie ihre Hand aus. Auch Toms warmes Lächeln erwiderte sie mit einem undurchdringlichen Blick. Ich war mir nicht sicher, ob sie von Natur aus ein zurückhaltendes Wesen hatte oder ob sie sich nur sehr bemühte, professionell zu wirken.

Hicks’ Mund zuckte verärgert, als er Tom beobachtete. Dann bemerkte er, dass ich ihn anschaute, und deutete gereizt mit dem Kinn in meine Richtung.

«Wer ist das?»

Er sprach, als wäre ich nicht da. «Ich bin David Hunter», sagte ich, obwohl die Frage nicht an mich gerichtet war. Irgendwie war mir klar, dass es sinnlos gewesen wäre, ihm die Hand zu geben.

«David arbeitet zurzeit mit uns im Institut zusammen. Er ist freundlicherweise mitgekommen, um mir zu helfen», sagte Tom. «Arbeitet mit uns zusammen» war ein bisschen übertrieben, aber ich wollte nicht spitzfindig werden.

«Ein Engländer?», bemerkte Hicks, der anscheinend meinen Akzent erkannt hatte. Ich spürte, wie mein Gesicht glühte, als mich erneut der kühle Blick der jungen Frau traf. «Jetzt lassen Sie schon Touristen an den Tatort, Gardner?»

Ich hatte gewusst, dass meine Anwesenheit eine gewisse Unruhe verursachen würde, die auch ein Fremder bei einer britischen Ermittlung ausgelöst hätte. Dennoch ärgerte mich seine Reaktion. Doch da ich Toms Gast war, verkniff ich mir eine Entgegnung. Gardner selbst sah alles andere als glücklich aus, als sich Tom einschaltete.

«Dr. Hunter ist auf meine Einladung hier. Er ist einer der besten forensischen Anthropologen Englands.»

Hicks schnaubte ungläubig. «Ach, und Sie meinen, wir haben hier nicht genug davon, oder wie?»

«Ich schätze seine Fachkenntnis», entgegnete Tom ruhig. «So, wenn wir das geklärt hätten, würde ich jetzt gern anfangen.»

Hicks trat übertrieben höflich zur Seite. «Nur zu. Glauben Sie mir, diese Sache überlasse ich Ihnen gerne.»

Er marschierte davon. Tom und ich ließen die beiden TBI-Beamten vor der Hütte allein und gingen zu einem Klapptisch, auf dem Kartons mit Overalls, Handschuhen, Überschuhen und Masken standen. Ich wartete, bis wir außer Hörweite waren.

«Tom, vielleicht ist das doch keine gute Idee. Ich warte lieber im Wagen.»

Er lächelte. «Vergiss Hicks. Er arbeitet im Leichenschauhaus der Uniklinik, deshalb kommen wir uns manchmal in die Quere. Er hasst es, dass er sich uns in solchen Situationen unterordnen muss. Teilweise aus Neid auf unseren Job, aber hauptsächlich einfach deshalb, weil der Mann ein Arschloch ist.»

Obwohl mir klar war, dass er mich beruhigen wollte, fühlte ich mich nicht besser. Ich kannte die Situation an Tatorten, aber mir war deutlich bewusst, hier fehl am Platz zu sein.

«Ich weiß nicht …», begann ich.

«Es ist kein Problem, David. Du tust mir einen Gefallen, wirklich.»

Ich beließ es dabei, aber meine Zweifel blieben. Eigentlich hätte ich Tom dankbar sein sollen. Nur wenige britische Forensiker erhielten jemals die Gelegenheit, an einer Mordermittlung in den Staaten mitzuarbeiten. Doch aus irgendeinem Grund war ich nervöser denn je. Es lag auch nicht an Hicks’ Feindseligkeit, da hatte ich schon wesentlich Schlimmeres erlebt. Nein, es lag allein an mir. Irgendwann in den letzten Monaten hatte ich offenbar zu allem Überfluss auch noch mein Selbstvertrauen verloren.

Komm schon, reiß dich zusammen. Du darfst Tom nicht enttäuschen.

Gardner kam zu uns, als wir gerade die Plastikbeutel mit den Overalls aufrissen.

«Ihr solltet euch darunter besser bis auf die Unterhose ausziehen. In der Hütte ist es tierisch heiß.»

Tom schnaubte. «Seit ich in der Schule war, habe ich mich nicht mehr in der Öffentlichkeit ausgezogen. Und jetzt werde ich nicht wieder damit anfangen.»

Gardner schlug nach einem Insekt, das um sein Gesicht herumschwirrte. «Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.»

Ich teilte Toms Schamgefühl nicht, folgte aber dennoch seinem Beispiel. Mir war schon unbehaglich genug, ohne dass ich mich bis auf die Boxershorts auszog. Außerdem war erst Frühling, und die Sonne begann bereits unterzugehen. Wie heiß konnte es in der Hütte schon sein?

Gardner wühlte durch die Kartons, bis er ein Glas mit Mentholsalbe gefunden hatte. Nachdem er sich einen dicken Streifen unter die Nase geschmiert hatte, bot er sie Tom an.

«Die wirst du brauchen.»

Tom lehnte ab. «Nein danke. Mein Geruchssinn ist nicht mehr das, was er einmal war.»

Gardner reichte das Glas schweigend an mich weiter. Normalerweise verwendete ich auch keine Mentholsalbe. Wie Tom war mir der Geruch der Verwesung nicht fremd, und nach der letzten Woche auf der Body Farm hatte ich mich wieder voll und ganz daran gewöhnt. Trotzdem nahm ich das Glas und schmierte mir die parfümierte Salbe über die Oberlippe. Durch den stechenden Geruch tränten mir sofort die Augen. Ich holte tief Luft und versuchte, meine blankliegenden Nerven zu beruhigen. Was ist nur los mit dir? Du benimmst dich, als wäre das dein erstes Mal.

Die Sonne schien mir warm auf den Rücken, während ich darauf wartete, dass Tom fertig wurde. Sie stand bereits tief über den Baumkronen, blendete und sank langsam in Richtung Abend. Und morgen würde sie wieder aufgehen, egal, was hier passierte, sagte ich mir.

Tom zog den Reißverschluss seines Overalls zu und setzte ein vergnügtes Lächeln auf. «Dann schauen wir mal, was wir haben.»

Wir streiften uns die Latexhandschuhe über und folgten dem überwucherten Pfad zur Hütte.

KAPITEL 3

Die Tür der Hütte war verschlossen. Gardner blieb davor stehen. Er hatte sein Jackett auf dem Klapptisch liegengelassen und Plastikhandschuhe und -überschuhe angezogen. Nun setzte er eine weiße Operationsmaske auf. Ich sah ihn tief Luft holen, bevor er die Tür öffnete und wir hineingingen.

Ich hatte Leichen in allen möglichen Zuständen gesehen. Ich wusste, wie furchtbar die verschiedenen Stadien der Verwesung rochen, und konnte sie sogar am Geruch unterscheiden. Ich hatte Leichen vorgefunden, die bis auf die Knochen verbrannt waren oder nach Wochen unter Wasser nur noch aus suppigem Schleim bestanden hatten. Keiner dieser Anblicke war angenehm, aber das gehörte zu meiner Arbeit, und ich dachte, ich hätte mich daran gewöhnt.

Doch so etwas hatte ich noch nie erlebt. Der ekelig süße, an verdorbenen Käse erinnernde Gestank des verwesten Fleisches war beinahe greifbar. Er schien destilliert und konzentriert worden zu sein und drang durch den Mentholdunst unter meiner Nase, als hätte ich die Salbe gar nicht aufgetragen. In der Hütte wimmelte es von Fliegen, die aufgeregt um uns herumschwirrten, aber das war fast nebensächlich, verglichen mit der Hitze.

Die Hütte war wie eine Sauna.

Tom verzog das Gesicht. «Mein Gott …»

«Hab dir gesagt, zieh dich aus», brummte Gardner.

Der Raum war klein und spärlich möbliert. Einige Beamte der Spurensicherung hatten in ihrem Tun innegehalten und sich zu uns umgeschaut, als wir hereingekommen waren. Die Rollläden vor den Fenstern auf beiden Seiten der Tür waren hochgezogen worden, sodass das Tageslicht hereinschien. Der Boden bestand aus schwarzgestrichenen Dielenbrettern, auf denen abgetretene Läufer lagen. Über dem Kamin hing ein verstaubtes Geweih an der Wand, vor einer anderen standen eine schmutzige Spüle, Herd und Kühlschrank. Der Rest des Mobiliars – Fernseher, Sofa und Sessel – war an die Seite geschoben worden, sodass in der Mitte des Raumes nur noch ein kleiner Esstisch stand.

Darauf lag die Leiche.

Sie war nackt und lag auf dem Rücken, Arme und Beine hingen über die Tischkanten. Angeschwollen durch Gase, ähnelte der Torso einer zu voll gestopften Reisetasche, die aufgeplatzt war. Maden strömten aus der Leiche auf den Boden, und zwar derart viele, dass sie aussahen wie übergekochte Milch. Neben dem Tisch stand ein elektrischer Heizkörper, der rot glühte. Ich sah, wie eine Made auf das Gerät fiel und sich zischend und brutzelnd auflöste.

Vervollständigt wurde das Bild durch einen Stuhl, der neben den Kopf des Opfers gestellt worden war. Erst dachte ich mir nicht viel dabei, doch dann begann ich mich zu fragen, warum er dort stand.

Jemand hatte sich genau anschauen wollen, was er tat.

Wir waren alle auf der Türschwelle stehen geblieben. Selbst Tom schien sprachlos zu sein.

«Wir haben alles so gelassen, wie wir es vorgefunden haben», sagte Gardner. «Ich dachte, du willst die Temperatur selbst messen.»

Er stieg in meiner Achtung. Obwohl die Temperatur ein wichtiger Faktor bei der Bestimmung der Todeszeit ist, war ich noch nicht vielen Ermittlungsbeamten begegnet, die daran gedacht hätten. In diesem Fall wünschte ich mir jedoch beinahe, dass er nicht so pflichtbewusst gewesen wäre. Die Kombination aus Hitze und Gestank war unerträglich.

Tom nickte abwesend, sein Blick war bereits auf die Leiche konzentriert. «Würdest du das machen, David?»

Ich stellte seinen Koffer auf eine freie Fläche der Dielenbretter und öffnete ihn. Tom hatte noch immer das gleiche alte Equipment wie damals, als ich ihn kennengelernt hatte. Jedes Gerät war häufig benutzt worden und steckte ordentlich an seinem Platz. Doch während er tief im Inneren ein Wissenschaftler alter Schule war, erkannte er auch die Vorteile neuer Technologien an. Er besaß noch sein altes Quecksilberthermometer, eine elegante Konstruktion aus mundgeblasenem Glas und handgearbeitetem Stahl, aber daneben steckte ein neues, digitales Modell. Ich nahm es heraus, stellte es an und beobachtete, wie die Ziffern auf dem Display schnell zu steigen begannen.

«Wie lange brauchen deine Leute noch?», fragte Tom Gardner und schaute zu den im Raum arbeitenden, ganz in Weiß gekleideten Gestalten.

«Nicht mehr lange. Es ist zu heiß hier drinnen. Ein Beamter ist bereits umgekippt.»

Tom achtete darauf, nicht in das getrocknete Blut zu treten, und beugte sich über die Leiche. Er rückte seine Brille zurecht, um besser sehen zu können. «Haben wir schon eine Temperatur, David?»

Ich überprüfte die digitale Anzeige. Ich hatte bereits zu schwitzen begonnen. «43,5°.»

«Können wir dann jetzt diese gottverdammte Heizung ausstellen?», fragte einer der Beamten der Spurensicherung. Er war ein großer Mann mit einem kugelrunden Bauch, über dem sich sein Overall spannte. Was unter der Maske von seinem Gesicht zu sehen war, war rot und verschwitzt.

Ich schaute Tom fragend an. Er nickte.

«Die Fenster können wir auch aufmachen, damit ein bisschen frische Luft reinkommt.»

«Dem Herrn sei gedankt dafür», sagte der große Mann schnaufend, als er den Heizkörper ausschaltete. Während das Glühen des Gerätes abnahm, öffnete er die Fenster so weit wie möglich. Die anderen Beamten seufzten und brummten erleichtert, als frische Luft in die Hütte strömte.

Ich ging zu Tom, der konzentriert auf die Leiche hinabstarrte.

Gardner hatte nicht übertrieben. Es gab keinen Zweifel daran, dass wir es mit Mord zu tun hatten. Die Gliedmaßen des Opfers waren auf beiden Seiten des Tisches nach unten gezogen und mit Paketband an den Holzbeinen befestigt worden. Die Haut war gespannt wie ein Trommelfell und hatte die Farbe alten Leders, was allerdings keinerlei Hinweis auf eine ethnische Zugehörigkeit war. Helle Haut verdunkelt sich nach dem Tod, während dunkle Haut häufig heller wird. Wesentlich wichtiger waren die klaffenden Risse, die zu sehen waren. Dass die Haut im Verlauf der Verwesung aufreißt und durch Gase aufgebläht wird, ist ein natürlicher Vorgang. Doch diese Risse waren keineswegs natürlichen Ursprungs. Um die Leiche herum war der Tisch mit getrocknetem Blut verklebt, das auch den Läufer darunter verfärbt hatte. Ein solcher Blutfluss konnte nur durch eine oder mehrere offene Wunden verursacht worden sein, was darauf schließen ließ, dass die Epidermis zumindest teilweise bereits beschädigt worden war, als das Opfer noch gelebt hatte. Das könnte wiederum die Anzahl der Schmeißfliegenlarven erklären, denn die Insekten legen ihre Eier in jede Körperöffnung, die sie finden können.

Trotzdem konnte ich mich nicht erinnern, jemals zuvor derart viele Maden auf einer einzelnen Leiche gesehen zu haben. Aus der Nähe war der Ammoniakgestank unerträglich. Die Maden hatten sich in Augen, Nase, Mund und im Genitalbereich angesiedelt, sodass man auf den ersten Blick nicht mehr feststellen konnte, welches Geschlecht das Opfer gehabt hatte.

Mein Blick wurde besonders von dem klaffenden Loch im Bauch angezogen, in dem es von Maden nur so wimmelte. Die Haut darum bewegte sich, als wäre sie noch lebendig. Unwillkürlich legte sich meine Hand auf meine Narbe.

«David? Alles in Ordnung?», fragte Tom leise.

Ich riss mich von dem Anblick los. «Alles okay», erwiderte ich und machte mich daran, die Probengläser aus der Tasche zu holen.

Ich konnte seinen Blick spüren. Aber er beließ es dabei und wandte sich stattdessen an Gardner. «Was wissen wir?»

«Nicht viel.» Durch die Maske klang Gardners Stimme gedämpft. «Wer das getan hat, ist ziemlich methodisch vorgegangen. Es gibt keine Fußabdrücke im Blut, der Mörder wusste also genau, was er tat. Die Hütte war seit letzten Donnerstag an einen gewissen Terry Loomis vermietet. Es gibt keine Personenbeschreibung. Reservierung und Kreditkartenzahlung wurden übers Telefon gemacht. Eine Männerstimme mit hiesigem Dialekt. Der Typ hat gebeten, die Schlüssel unter die Matte vor der Hüttentür zu legen, weil er spät ankommen würde.»

«Wie praktisch.»

«Ja. Die Vermieter hier kümmern sich nicht groß um Papierkram, solange sie ihr Geld kriegen. Die Hütte war bis heute Morgen vermietet, und als der Schlüssel nicht an den Verwalter zurückgegeben wurde, ist er hergekommen, um nachzuschauen, ob nichts fehlt. Logisch, dass man hier Angst hat, dass etwas geklaut wird», fügte er mit einem Blick durch die heruntergekommene Hütte hinzu.

Aber Tom ging nicht darauf ein. «Die Hütte war erst ab Donnerstag vermietet? Bist du sicher?»

«Das hat der Verwalter gesagt. Das Datum stimmt mit seinen Büchern und der Kreditkartenquittung überein.»

Tom runzelte die Stirn. «Das kann nicht stimmen. Das war erst vor fünf Tagen.»

Ich hatte das Gleiche gedacht. Für einen so kurzen Zeitraum war die Verwesung zu weit fortgeschritten. Das Fleisch wies durch den Zerfall bereits eine geleeartige Konsistenz auf, und die ledrige Haut war verrutscht wie ein zerknitterter Anzug. Die elektrische Heizung hatte den Prozess in gewissem Maße beschleunigt, aber das erklärte nicht die ungeheure Menge der Larven. Selbst in der Hitze und Feuchtigkeit eines Sommers in Tennessee hätte es eher sieben Tage gedauert, um dieses Stadium zu erreichen.

«Waren die Türen und Fenster geschlossen, als die Leiche gefunden wurde?», fragte ich Gardner gedankenlos. Ich wollte doch den Mund halten.

Er schürzte missbilligend seine Lippen, antwortete aber trotzdem. «Alles war zu, und die Rollläden waren unten.»

Ich verscheuchte die Fliegen vor meinem Gesicht. Man hätte meinen sollen, dass ich mich mittlerweile an sie gewöhnt hatte, aber dem war nicht so. «Eine Menge Insektenaktivität für einen geschlossenen Raum», sagte ich zu Tom.

Er nickte. Mit einer Pinzette klaubte er vorsichtig eine Made von der Leiche und hielt sie ins Licht, um sie zu betrachten. «Was sagst du dazu?»

Ich trat näher. Fliegen haben drei Larvenstadien, in denen sie fortschreitend größer werden.

«Drittes Stadium», sagte ich. Das bedeutete, dass die Larve mindestens sechs Tage alt war, wahrscheinlich sogar älter.

Tom nickte und ließ die Larve in ein kleines Glas mit Formaldehyd fallen. «Und manche haben bereits begonnen, sich zu verpuppen. Demnach wäre der Tod vor sechs oder sieben Tagen eingetreten.»

«Jedenfalls nicht erst vor fünf», erwiderte ich. Meine Hand war wieder zu meinem Bauch gewandert. Ich nahm sie weg. Komm schon, konzentrier dich. Ich versuchte, mich voll und ganz der vor mir liegenden Leiche zu widmen. «Vielleicht hat der Mord woanders stattgefunden, und die Leiche wurde erst danach hierhergebracht.»

Tom zögerte. Ich sah, wie zwei der weißgekleideten Gestalten einen Blick austauschten, und war mir sofort meines Fehlers bewusst. Dümmer geht es nicht.

«Ziemlich unnötig, Arme und Beine an den Tisch zu binden, wenn das Opfer schon tot war», sagte der große Beamte der Spurensicherung und sah mich belustigt an.

«Vielleicht sind die Leichen in England lebendiger als hier», meinte Gardner trocken.

Die anderen lachten. Ich spürte, wie mein Gesicht glühte, aber es gab nichts, was ich hätte sagen können, um mich aus der Affäre zu ziehen. Idiot. Was ist nur mit dir los?

Tom schraubte mit bemüht teilnahmslosem Gesicht den Deckel auf das Glas. «Ist dieser Loomis deiner Meinung nach das Opfer oder der Mörder?», fragte er Gardner.

«Tja, in der Brieftasche, die wir gefunden haben, steckten Loomis’ Führerschein und seine Kreditkarte. Außerdem über sechzig Dollar in bar. Wir haben ihn überprüft: sechsunddreißig Jahre alt, weiß, Versicherungsangestellter aus Knoxville. Er ist ledig, lebt allein und ist seit mehreren Tagen nicht bei der Arbeit gewesen.»

Die Tür der Hütte ging auf, und Jacobsen kam herein. Wie Gardner trug sie Handschuhe und Überschuhe, sie sah aber selbst damit beinahe elegant aus. Eine Maske hatte sie sich nicht aufgesetzt, und als sie neben dem älteren Agenten stehen blieb, wirkte ihr Gesicht blass.

«Wenn also der Mörder diese Hütte nicht unter seinem Namen gebucht hat und so aufmerksam gewesen ist, seine Papiere liegenzulassen, ist das Opfer entweder Loomis oder ein anderer Mann, von dem wir nichts wissen», sagte Tom.

«So sieht’s aus», sagte Gardner. Er verstummte, als ein weiterer Agent in der Tür erschien.

«Sir, da möchte jemand mit Ihnen sprechen.»

«Ich komme gleich zurück», sagte Gardner und ging hinaus.

Jacobsen blieb in der Hütte. Sie war noch immer blass, verschränkte nun aber die Arme, als wollte sie jede Schwäche unterdrücken.

«Woher wissen Sie, dass es ein Mann ist?», fragte sie. Ihr Blick schweifte automatisch zu dem Madengewimmel im Schritt des Opfers, sie wandte ihn aber schnell wieder ab. «Ich kann nichts sehen, woran man das erkennen könnte.»

Ich hatte schon stärkere Akzente als ihren gehört, er war jedoch ausgeprägt genug, um sie als Einheimische zu entlarven. Ich schaute zu Tom, aber der war völlig von der Leiche in Anspruch genommen. Oder er tat zumindest so.

«Also, abgesehen von der Größe …», begann ich.

«Nicht alle Frauen sind klein.»

«Stimmt, aber nicht viele sind so groß. Und selbst eine große Frau würde eine feinere Knochenstruktur aufweisen, besonders was das Cranium betrifft. Das ist …»

«Ich weiß, was ein Cranium ist.»

Sie war wirklich verdammt empfindlich. «Ich wollte sagen, das ist normalerweise ein guter Indikator für das Geschlecht», beendete ich den Satz.

Sie reckte trotzig das Kinn, machte aber keine weitere Bemerkung. Tom hatte die klaffende Öffnung des Mundes untersucht und richtete sich auf.

«David, schau dir das mal an.»

Er trat zur Seite, als ich zu ihm kam. Der größte Teil des Gewebes war aus dem Gesicht verschwunden, in den Augenhöhlen und der Nase wimmelte es von Maden. Die Zähne waren fast vollständig entblößt, und wo das Zahnfleisch gewesen war, hatte das gelbliche Weiß des Zahnbeins eine deutlich rote Färbung.

«Rosarote Zähne», bemerkte ich.

«Hast du das schon mal gesehen?», fragte Tom.

«Ein-, zweimal.» Aber nicht häufiger. Und nicht in solchen Situationen.

Jacobsen hatte uns zugehört. «Rosarote Zähne?»

«Das wird durch das Hämoglobin im Blut verursacht, wenn es ins Zahnbein dringt», erklärte ich ihr. «Dadurch sehen die Zähne unter dem Schmelz rosafarben aus. Man hat das manchmal bei Ertrunkenen, die einige Zeit im Wasser gewesen sind, denn sie treiben meistens mit dem Kopf nach unten.»

«Irgendwie glaube ich nicht, dass wir es hier mit einem Ertrunkenen zu tun haben», sagte Gardner, als er mit schweren Schritten in die Hütte zurückkam.

Er brachte einen anderen Mann mit. Der Neuankömmling trug ebenfalls Überschuhe und Handschuhe, kam mir aber weder wie ein Polizeibeamter noch wie ein TBI-Agent vor. Er war Mitte vierzig und nicht wirklich dick, aber wohlgenährt und wirkte irgendwie aalglatt. Er trug helle Baumwollhosen und eine leichte Wildlederjacke über einem hellblauen Hemd. Seine runden Wangen waren mit einem Dreitagebart bedeckt.

Aber seine scheinbar lässige Erscheinung wirkte so gewollt, als hätte er sich nach dem Vorbild kerniger Dressmen aus Modemagazinen gestylt. Seine Kleidung war zu gut geschnitten und teuer, außerdem war das Hemd einen Knopf zu weit geöffnet. Und der Dreitagebart war wie das Haar eine Spur zu sorgfältig frisiert.

Er strahlte Selbstsicherheit aus, als er die Hütte betrat. Sein leichtes Lächeln verschwand auch dann nicht, als er die an den Tisch gebundene Leiche betrachtete.

Gardner hatte sich von seiner Maske befreit, vielleicht aus Rücksicht auf den Neuankömmling, der auch keine trug. «Professor Irving, ich glaube, Sie haben Tom Lieberman noch nicht kennengelernt, oder?»

Der Neuankömmling wandte sich mit seinem Lächeln an Tom. «Nein, leider haben sich unsere Wege noch nicht gekreuzt. Sie müssen entschuldigen, wenn ich Ihnen nicht die Hand gebe», sagte er und zeigte uns theatralisch seine Handschuhe.

«Professor Irving ist Psychologe und hat bereits bei einigen Ermittlungen des TBI als Profiler gearbeitet», erklärte Gardner. «Wir wollten bei diesem Fall den Blick eines Psychologen einbeziehen.»

Irving setzte ein selbstgefälliges Grinsen auf. «Eigentlich ziehe ich es vor, mich Verhaltensforscher zu nennen. Aber ich möchte nicht spitzfindig werden, was Bezeichnungen angeht.»

Genau das hast du gerade getan. Ich ermahnte mich, meine Laune nicht an ihm auszulassen.

Toms Lächeln wirkte freundlich, doch ich meinte zu erkennen, dass es reine Ironie war. «Freut mich, Sie kennenzulernen, Professor Irving. Dies ist mein Freund und Kollege Dr. Hunter», fügte er hinzu, um Gardners Versäumnis wiedergutzumachen.

Das Nicken, das Irving in meine Richtung schickte, war zwar höflich, aber es war offensichtlich, dass er mich nicht wirklich wahrnahm. Er richtete seine Aufmerksamkeit bereits mit einem breiten Lächeln auf Jacobsen.

«Ich glaube, Ihren Namen habe ich nicht ganz verstanden.»

«Diane Jacobsen.» Sie wirkte beinahe nervös, und als sie einen Schritt vortrat, war von ihrer bisherigen Reserviertheit nichts mehr zu spüren. «Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Professor Irving. Ich habe einige Ihrer Werke gelesen.»

Irvings Lächeln wurde noch breiter. Ob ich wollte oder nicht, mir fiel auf, wie unnatürlich weiß und ebenmäßig seine Zähne waren.

«Ich hoffe, sie sind auf Ihre Zustimmung gestoßen. Und, bitte, sagen Sie Alex zu mir.»

«Diane hat Psychologie studiert, bevor sie zum TBI gekommen ist», schaltete sich Gardner ein.

Die Augenbrauen des Profilers hoben sich. «Tatsächlich? Dann muss ich ja besonders vorsichtig sein, um mir keine Fehler zu erlauben.» Es hätte mich nicht gewundert, wenn er ihre Wange getätschelt hätte. Als er dann die Leiche betrachtete, wich sein Lächeln einem angeekelten Ausdruck.

«Hat schon bessere Tage gesehen, was?», sagte er und rümpfte seine Nase. «Kann ich noch etwas mehr Menthol haben, bitte?»

Die Bitte war an niemand Bestimmtes gerichtet. Nach einem Moment ging eine Beamtin der Spurensicherung widerwillig hinaus, um es zu holen. Mit wie beim Gebet aneinandergelegten Händen hörte Irving kommentarlos zu, während Gardner ihm den bisherigen Kenntnisstand mitteilte. Als die Beamtin zurückkam, nahm der Profiler ohne Dank die Mentholsalbe, schmierte sich einen ordentlichen Streifen über die Oberlippe und hielt ihr dann das Glas wieder hin.

Sie schaute einen Augenblick auf das Glas, bevor sie es ihm abnahm. «Gern geschehen.»

Sollte Irving den Sarkasmus bemerkt haben, dann ließ er es sich nicht anmerken. Tom warf mir einen amüsierten Blick zu, während er ein weiteres Probenglas aus der Tasche nahm und sich wieder der Leiche widmete.

«Es wäre mir lieber, Sie würden warten, bis ich fertig bin.»

Irving hatte ihn beim Sprechen nicht angesehen. Offenbar hielt er es für selbstverständlich, dass sich jeder seinen Wünschen beugte. Ich sah, wie Toms Augen vor Verärgerung funkelten, und einen Moment lang glaubte ich, er wollte etwas entgegnen. Doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr plötzlich ein Zucken durch sein Gesicht. Es war so schnell wieder vorbei, dass ich es mir auch eingebildet haben könnte, wenn er danach nicht ganz blass gewesen wäre.

«Ich glaube, ich brauche ein bisschen frische Luft. Verdammt heiß hier drinnen.»

Er machte einen unsicheren Eindruck, als er zur Tür ging. Ich wollte ihm folgen, aber er hielt mich mit einem Kopfschütteln zurück.

«Du musst nicht mitkommen. Du kannst anfangen, Fotos zu machen, sobald Professor Irving fertig ist. Ich gehe nur etwas Wasser trinken.»

«In der Kühlbox neben den Tischen sind kalte Flaschen», sagte Gardner ihm.

Besorgt schaute ich ihm hinterher, aber es war eindeutig, dass Tom kein Aufheben machen wollte. Von den anderen schien keiner bemerkt zu haben, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Er hatte sich, abgesehen von mir und Irving, von allen abgewandt, und der Profiler achtete sowieso auf niemanden. Irving stand mit einer Hand am Kinn da, während Gardner sein Briefing wiederaufnahm, und betrachtete versunken den toten Mann auf dem Tisch. Nachdem der TBI-Agent fertig war, rührte er sich nicht und sagte auch nichts und verharrte in einer Pose innerer Einkehr. Pose ist das entscheidende Wort. Ich ermahnte mich, nicht gehässig zu sein.

«Ihnen ist natürlich klar, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben, oder?», sagte er schließlich.

Gardner machte eine gequälte Miene. «Das können wir nicht mit Sicherheit sagen.»

Irving lächelte herablassend. «O doch, ich denke, das können wir. Schauen Sie sich an, wie die Leiche arrangiert