Lenin - Wolfgang Ruge - E-Book

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Wolfgang Ruge

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Beschreibung

Lenin - Schlüssel zum Verständnis eines Jahrhunderts Lenin - ein Fanatiker und Putschist, ein Visionär und Held? Wolfgang Ruge geht in dieser außergewöhnlichen politischen Biografie dem Phänomen Lenin nach, zeigt ihn in seiner Widersprüchlichkeit und trifft damit nicht nur die persönliche Tragik des Revolutionärs, sondern die Tragik der sozialen Revolution überhaupt. Ruge zeigt, wie ein ursprünglich auf die Befreiung der arbeitenden Klassen gerichteter Vorsatz unter konkreten historischen Bedingungen immer unkenntlicher wird und schließlich in eine unvorstellbar opferreiche, repressive Herrschaftspraxis mündet. Ruge zieht eine Bilanz auch seiner eigenen Lebensträume und Irrwege - mit beinahe zerstörerischer Rücksichtslosigkeit. Ein Alterswerk, aus dem Nachlass von seinem Sohn Eugen Ruge und Wladislaw Hedeler herausgegeben, in dem es Wolfgang Ruge gelingt, die Spannung und Wucht des Geschichtsprozesses auf mitunter beklemmende Weise zu entfesseln.

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Wolfgang Ruge

LENIN. Vorgänger Stalins

Eine politische BiografieBearbeitet und mit einem Vorwortvon Eugen RugeHerausgegeben von Wladislaw Hedeler

Erste Auflage 2010

© 2010 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Göhrener Straße 7, 10437 Berlin, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Falk Nordmann, Berlin

eISBN: 978-3-88221-915-9

www.matthes-seitz-berlin.de

INHALT

Später Anlauf. Vorwort von Eugen Ruge

Wladimir Uljanow – zur Person

Lenins Partei – Konzept und Verwirklichung

Der lange Weg zur Macht

Machtkämpfe – nach der Machtübernahme

Das große Unvermögen

Warten auf die Weltrevolution

Lenin und der Terror

Im Bürgerkrieg

Das Ende des Kriegskommunismus

Die Neue Ökonomische Politik

Lenins Testament

Lenins Staat nach Lenin

Nachbemerkung zur Quellenlage

Anmerkungen

Bildnachweise

Wolfgang Ruge: Schriften zu Lenin 1990 bis 2002

Personenregister

SPÄTER ANLAUFVorwort von Eugen Ruge

Wer war Lenin – Putschist oder Revolutionär? Fanatiker oder Prophet? Heilsbringer oder Verbrecher? Mit diesen Fragen haben sich schon viele Lenin-Biografen beschäftigt. Je nach Geschichtsbild und weltanschaulicher Position sind sie zu sehr verschiedenen Ergebnissen gekommen. Marxistische Geschichtsschreiber neigten üblicherweise dazu, in Lenin den Revolutionär und Visionär zu sehen, der einer gesetzmäßigen Entwicklung zum Durchbruch verhalf, während bürgerliche Interpreten in Lenin den Putschisten ausmachten, der eine sich nachweislich nicht auf Mehrheiten stützende Diktatur mit brutaler, ja verbrecherischer Härte errichtete und verteidigte.

Zwischen diesen Extremen bewegen sich die unzähligen Veröffentlichungen über Lenin, und obwohl es inzwischen fast nichts gibt, was über Lenin nicht schon gesagt worden wäre, meine ich, dass es Wolfgang Ruge in der hier vorliegenden politischen Biographie gelungen ist, seine Auffassungen und Kenntnisse über Lenin und die Russische Revolution zu einer aufregenden und qualitativ neuartigen Synthese zu verdichten. Altersweisheit, jahrzehntelange wissenschaftliche Forschungen und nicht zuletzt die ganz persönlichen Lebenserfahrungen von Wolfgang Ruge verbinden sich in diesem Buch auf einzigartige Weise.

Sein Leben ist von Anfang an mit der Figur Lenins verbunden. Wenige Tage vor dem Oktoberumsturz 1917 geboren, wurde Wolfgang Ruge besonders durch seinen Vater, der als überzeugter Kommunist aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam, zum Marxisten erzogen. Die Figur Lenins erscheint in Wolfgang Ruges Leben zunächst in heroisierter, verklärter Gestalt.

Diese Verklärung betraf nicht nur die Figur Lenins, sondern auch und vor allem dessen Lebenswerk: Sowjetrussland. Voller Ideale flieht der Jungkommunist Wolfgang Ruge 1933 aus Hitlerdeutschland in die Sowjetunion, wo er – nach Abendschule und Abitur – an der Moskauer Universität Geschichte studierte. Er wurde Zeuge des sich zuspitzenden Machtkampfes zwischen Stalin und den engsten Kampfgefährten Lenins, erlebte die Moskauer Schauprozesse und schließlich das hysterische Umsichgreifen der Gewalt und des Großen Terrors. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die UdSSR wurde er – als »Deutschstämmiger« – zunächst zusammen mit seiner damaligen Ehefrau nach Kasachstan deportiert, und kam ein Jahr später in eines der sogenannten »Arbeits-Besserungs-Lager« im Nordural. Formal als sogenannter »Arbeitsarmist«, faktisch aber als GULag-Häftling, hat er die stalinistische Form der Industrialisierung und Modernisierung des Landes hautnah miterlebt. Von den 16.000 deutschstämmigen Insassen des Lagers 239 überlebten nach seinen Schätzungen zwischen 1941 bis 1944 kaum mehr als 600. Mehr muss an dieser Stelle nicht über den Charakter sowjetischer Arbeitslager gesagt werden. Trotz alledem glaubte Wolfgang Ruge zunächst, dass der Stalinismus nach dem Tode des Diktators prinzipiell überwunden werden könne. Gleichwohl fand sein Nachdenken über geschichtliche Fragen fortan vor dem Hintergrund seiner sowjetischen Erfahrungen statt.

Drei Jahre nach dem Tode Stalins (Wolfgang Ruge hat inzwischen 23 Jahre in der Sowjetunion verbracht, davon vier Jahre im Lager und elf Jahre in der Verbannung) durfte er nach Deutschland, genauer: in die DDR zurückkehren. Hier wird ihm – auch als Zeichen der »Wiedergutmachung« – sofort eine Stelle an der Akademie der Wissenschaften angeboten. Zu seinen ersten Aufgaben im Institut für Geschichte gehören Übersetzungen von noch nicht auf Deutsch erschienenen Werken Lenins.

Sein Arbeitsgebiet als Historiker wird die Zeit zwischen 1917 und 1933. Wenngleich er sich hauptsächlich der deutschen Geschichte widmet, gerät die Sowjetunion dabei niemals aus seinem Blickfeld. Bereits einige seiner ersten Veröffentlichungen befassen sich mit den deutsch-sowjetischen Beziehungen, so zum Beispiel mit der Stellungnahme der Sowjetunion zur Besetzung des Ruhrgebiets oder dem Vertrag von Rapallo, spätere Schriften befassen sich mit der deutschen Novemberrevolution, auf die Lenin seine Hoffnungen setzte, mit dem deutsch-russischen Separatfrieden von Brest-Litowsk und vielen anderen, die Sowjetunion unmittelbar betreffenden Fragen.

Gewiss muss sich auch Wolfgang Ruge in seiner aktiven Zeit im Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR in mancher Beziehung den Vorwurf gefallen lassen, ein »Blatt vor den Mund« genommen zu haben. Nicht immer hat sich der von jahrelanger Repression Geprägte – zumindest nicht öffentlich – zu all seinen Überzeugungen bekannt (wobei auch seine Überzeugungen keine statische Größe waren, sondern im Prozess einer langen Auseinandersetzung reiften). Zum Teil ist seine Zurückhaltung auf seine tief verwurzelte, antikapitalistische Einstellung zurückzuführen. Nur in den westlichen Medien hätte er die Möglichkeit gehabt, zum Beispiel über seine Erfahrungen in der Sowjetunion zu berichten. Gegen diese Möglichkeit sträubte er sich.

Insgeheim beginnt er jedoch in den achtziger Jahren seine Erinnerungen aufzuschreiben (die er erst 2001 zu Ende bringen wird). Er sammelt Material zum Problem des Stalinismus, überlegt, konzipiert. Auch hier kommt ihm seine Zweisprachigkeit zugute: Das immer umfangreichere Material, das durch den Gorbatschow’schen Aufbruch in der Sowjetunion verfügbar wird, ist ihm unmittelbar zugänglich.

Obwohl er die sogenannte »Perestroika« begrüßt, gehen ihm auch Gorbatschows Eingeständnisse und Einsichten hinsichtlich der sowjetischen Geschichte nicht weit genug. Erst recht zermürbt ihn die Stagnation in der DDR. Dennoch erlebt er die sogenannte »Wende« mit zwiespältigen Gefühlen. Der Traum von der sozialistischen Gesellschaft, den er seit seiner Kindheit in sich trägt, dem er einen großen Teil seines Lebens gewidmet, für den er teuer bezahlt hat (nicht nur mit Hunger und Arbeitslager, sondern auch mit dem ihm aufgezwungenen oder, schlimmer noch, selbstgewählten Schweigen) – dieser Traum scheint nun endgültig zerbrochen. Seine berufliche Heimat, das Akademieinstitut, wird abgewickelt. Die DDR-Geschichtsschreibung wird in toto als Geschichtsklitterung abgetan. Auch im persönlichen Leben treffen ihn harte Schläge, so der Tod seiner langjährigen Lebensgefährtin Taissja Ruge.

Zugleich aber wird die Wende zu einem neuen, zum letzten Aufbruch für Wolfgang Ruge: Plötzlich hat sich sein Leben, haben sich die Kämpfe, an denen er teilnahm, die Prozesse, in die er hineingeriet, in Geschichte verwandelt. Der Sozialismus sowjetischer Prägung findet nach siebzig Jahren seinen historischen Abschluss. Seine episodische Natur wird damit offenbar. Nun steht Wolfgang Ruge dem Phänomen Sozialismus nicht mehr als Teilnehmender, sondern als Historiker gegenüber, der gelernt hat, die Dinge im Nachgang zu sichten und zu analysieren.

Von der bürgerlichen Geschichtsschreibung und der bürgerlichen Presse ignoriert, von vermeintlichen »Marxisten« als Abtrünniger beschimpft, beginnt Wolfgang Ruge fieberhaft und vorbehaltlos die Themen abzuarbeiten, die ihn sein Leben lang bewegt haben. In den knapp zwölf Jahren, die ihm bis zu seiner Krankheit bleiben, verfasst er einen wichtigen, vielleicht den wichtigsten Teil seines Werkes.

So vollendet er u.a. die bereits erwähnte autobiografische Schrift über seine Jahre in der Sowjetunion. Dieses Buch gehört zu den bemerkenswertesten Berichten über die Jahre des Roten Terrors im Moskau der 1930er Jahre, insbesondere aber wirft es – aus der speziellen Perspektive des »deutschstämmigen Arbeitsarmisten« – einen Blick auf die unglaubliche Wirklichkeit der sowjetischen Arbeitslager in der Kriegszeit zwischen 1941 und 1945. »Ein Buch, unter das man wie unter die Räder gerät«, wird der Schriftsteller Hermann Kant darüber sagen. »Man denkt, man weiß nun langsam alles über Gefangenschaft, doch wartet dieser Autor, der ein Berichterstatter ist und kein Dichter, mit entsetzlichen Neuigkeiten auf. Wer sie nicht kennt, muss als lückenhaft unterrichtet gelten.«

Nebenbei legt Wolfgang Ruge 1991 eine kompakte Abhandlung mit dem Titel »Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte« vor, verfasst über 50 Artikel und Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften und schließlich, von Herbst 1995 bis Frühjahr 1996, den hier vorgelegten Vorlesungszyklus über Lenin.

Es ist symptomatisch für die politische Vereinsamung von Wolfgang Ruge, dass er die größten Schwierigkeiten hat, seine Schriften nach 1989 in angemessener Form zu publizieren, obwohl beispielsweise sein oben erwähntes autobiografisches Buch sogar von den etablierten Feuilletons mit großem Respekt zur Kenntnis genommen wird.

Seine zahlreichen Aufsätze, die sich thematisch immer mehr auf den Oktoberumsturz 1917 und die damit zusammenhängenden Fragen fokussieren, veröffentlicht Wolfgang Ruge zum größten Teil in der ehemaligen SED-Zeitung NeuesDeutschland. Augenscheinlich um Wandel und Toleranz bemüht, hält ihm die Geschichtsredaktion des ND die Treue, auch als es empörte Leserbriefe (und sogar Morddrohungen) hagelt, so zum Beispiel nach seinem bereits 1990 (!) erschienenen Beitrag mit dem vielsagenden, bereits auf Lenin abzielenden Titel: Wer gab Stalin die Knute in die Hand?

Für die geradezu in ihm angestauten Kenntnisse und Gedanken über das einstige Idol Lenin, versucht Wolfgang Ruge erst gar nicht, einen Verlag zu finden – ja er versucht nicht einmal, diese in einer Monografie zusammenzufassen. Dass er, was er über Lenin mitzuteilen hatte, dennoch in konzentrierter Form niederschrieb, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken, nämlich der Tatsache, dass eine gute Bekannte Wolfgang Ruges, Jutta Petersdorf, Anfang der Neunziger vor der Aufgabe stand, Vorlesungen zum Thema Lenin an der Berliner FU abzuhalten. Wolfgang Ruge, dem es schon längst nicht mehr um Anerkennung oder wissenschaftliches Prestige ging, nutzte die Gelegenheit, um – sich anonym im Hintergrund haltend – einen insgesamt vierhundert Schreibmaschinenseiten umfassenden Text zu schreiben, der die Grundlage für diese Vorlesungen bildete. Jutta Petersdorf wiederum hatte nach dem Tode Wolfgang Ruges keine Schwierigkeiten, mir gegenüber seine Urheberschaft anzuzeigen und mir den Text zur Verfügung zu stellen, wofür ich ihr an dieser Stelle herzlich danke.

In einer Mail schrieb mir Jutta Petersdorf: »Natürlich haben Wolfgang und ich sehr viel geredet und gestritten um das Thema Lenin. Im Endeffekt entstanden daraus seine Vorlesungen, die es ohne meine Anregungen und Herausforderungen vielleicht so nicht gegeben hätte. Sie bleiben aber sein geistiges Produkt, und ich erhebe nicht den Anspruch auf Mitautorenschaft. Allerdings würde ich mir bei der Veröffentlichung des Textes eine Fußnote wünschen, die auf unsere Zusammenarbeit in diesen Forschungsfragen verweist.«

MARXIST ODER KONVERTIT

Nach Erscheinen des schon mehrfach erwähnten autobiografischen Berichtes von Wolfgang Ruge über seine Erfahrungen im sowjetischen Arbeitslager, erschien in einem postkommunistischen Blatt eine Rezension unter der Überschrift »Wolfgang Ruge bleibt auf antikommunistischem Kurs«. An anderer Stelle warf ihm der Rezensent (ein ehemaliger SED-Funktionär, der gleich in mehreren Blättern seinem ungezügelten Hass freien Lauf ließ, und dessen Namen hier zu zitieren zuviel der Ehre bedeuten würde) vor, Ruge sei endgültig ins »Fahrwasser antisowjetischer Geschichtsfälscher« geraten. Zwar sei nicht zu bezweifeln, dass in seiner »Darlegung Realität steckt«, dass aber Wolfgang Ruge über diese Realität tatsächlich berichtete, schien das Fassungsvermögen des Rezensenten zu überfordern. Wolfgang Ruge, so könnte man die Auffassung des Rezensenten zusammenfassen, hätte die Realität, anstatt über sie zu berichten, in »marxistischer« Weise ausdeuten müssen. In freier Verunstaltung der 11. These über Feuerbach: Es kam nie darauf an, den real existierenden Sozialismus zu verändern, sondern darauf, ihn zweckmäßig zu interpretieren.

Es ist sinnlos, mit solchen Unbelehrbaren darum zu streiten, ob Wolfgang Ruge »noch« Marxist war oder nicht. Ganz gewiss hat sein Text über Lenin nichts mit einigen sogenannten marxistischen Schriften der Vorwendezeit zu tun, die Lenin systematisch glorifizieren und ihn als den Vollstrecker der durch Marx entdeckten Gesetzmäßigkeiten darstellen.

Deutlich grenzt Wolfgang Ruge sich aber auch vom Lager der enttäuschten Konvertiten ab, wie etwa von Dimitri Wolkogonow, welcher in seiner bekannt gewordenen Leninbiografie mit blasphemischer Freude die Demontage Lenins betreibt, wobei es zu seinen bevorzugten Mitteln gehört, Lenin als Person zu diffamieren.

Was aber ist das Neue, das Einzigartige an Wolfgang Ruges Lenin-Text, was unterscheidet ihn von den Darstellungen nichtmarxistischer Historiker? Warum lohnt es sich, ihn auch 15 Jahre nach seiner Niederschrift noch zu veröffentlichen?

Zur Frage der Quellen hat Wolfgang Ruge in der Nachbemerkung selbst Stellung genommen; es bleibt hier nur nachträglich zu bestätigen, dass seit 1995 an Quellen über Lenin nichts mehr hinzugekommen ist, was Ruges Sicht der Dinge in Frage stellen oder gar widerlegen würde. Aber auch die beiden vielleicht wichtigsten nach 1995 erschienenen Lenin-Biografien, die hier stellvertretend für die Lenin-Darstellung aus dem nichtmarxistischen Bereich betrachtet werden sollen, machen Wolfgang Ruges Text keineswegs überflüssig.

Hélène Carrère d’Encausse, deren Entdeckung darin besteht, Lenin als skrupellosen Taktiker und Paranoiden zu entmystifizieren, der den roten Terror begründete, konzentriert ihren Blick nach eigener Auskunft auf die Frage, wie es diesem »Diktator« im Gegensatz zu anderen Diktatoren des 20. Jahrhunderts (also besonders im Gegensatz zu Hitler, mit dem Lenin hier implizit verglichen wird) gelingen konnte, einen so »dauerhaften und unvergleichlich starken Staat und ein System zu errichten, das seinen Gründer um 65 Jahre überleben wird.« – Dies ist nicht die Fragestellung von Wolfgang Ruge.

Näher an Ruge ist der britische Historiker Robert Service, der sich die Aufgabe stellt, »die politischen und organisatorischen Zwänge … (zu beleuchten), die Lenin dazu brachten, das zu tun, was er tat« und darüber hinaus eine Analyse von Lenins Persönlichkeit verspricht, sich aber, den gelegentlichen Jähzorn des jungen Lenin psychologisch ausdeutend, schon in der Einführung des Buches zu so gewagten Schlüssen wie »Sein leidenschaftlicher Zerstörungsdrang war stärker als seine Liebe zum Proletariat« hinreißen lässt und damit prinzipiell den ursprünglich emanzipatorischen Charakter von Lenins Handeln verkennt.

Hier genau liegt der Ansatzpunkt Wolfgang Ruges, der gerade zeigt, wie dieser ursprünglich emanzipatorische, also tatsächlich auf die Befreiung der arbeitenden Klassen gerichtete Vorsatz unter den gegebenen Umständen immer unkenntlicher wird und schließlich in eine unvorstellbar opferreiche, repressive Herrschaftspraxis mündet. Hiermit trifft WolfgangRuge die eigentliche Tragik der Figur Lenins und die Tragik dersozialen Revolution überhaupt, die das gesamte linke Denken und die linke Bewegung bis heute überschattet.

Das heißt nicht, dass Ruge seinen Protagonisten zu schonen versucht. Schon gar nicht, dass ihm daran gelegen wäre, die Rolle der Persönlichkeit (und insbesondere dieser Persönlichkeit) in der Geschichte zu negieren. Ohne die spekulative Frage zu beantworten, ob die russische Revolution ohne Lenin denkbar gewesen wäre, beschreibt er eindringlich und auf eine Weise, die manchen, der Lenin als letzte Ikone im Schrein seiner Erinnerungen hütet, verstören wird, wie eng, ja wie untrennbar der Oktoberumsturz in Russland mit der Persönlichkeit Lenins verbunden war. Ruge zeigt aber zugleich, wie die konkreten materiellen, und zum Teil ja von den Bolschewiki selbstgeschaffenen sozialen und politischen Verhältnisse den Verlauf der Ereignisse, das Schicksal Lenins, der Bolschewiki und der jungen Sowjetunion bestimmten, ja sogar diktierten.

Wolfgang Ruges Blick richtet sich vor allem auf das Denken Lenins, auf dessen Entwicklung und Veränderung. Lenins persönliches Leben wird immer im Hinblick auf sein politisches Denken und sein politisches Handeln erzählt. Schon gar nicht lässt sich Wolfgang Ruge zu halbgewalkter Prosa hinreißen, wie Wolkogonow es etwa anlässlich des Todes von Inessa Armand tut: »Draußen dämmerte es schon … Lenin saß lange Zeit unbeweglich an seinem Schreibtisch und starrte mit abwesendem Blick auf das schreckliche Stück Papier mit den aufgeklebten Lettern …«

Wolfgang Ruges Text ist ein vergleichsweise kurzer, sich auf Wesentliches konzentrierender Text. Nicht nur deshalb entsteht der Eindruck von hoher Intensität und manchmal kaum verkraftbarer Dichte. Selbst da, wo Ruge vergleichsweise ausführlich wird, wenn er zum Beispiel – sehr viel ausführlicher als andere Autoren – die Hungersnot von 1921 schildert, wenn er hier, großräumig die Grenzen der Biografie überschreitend, die Wirkungen von Politik beschreibt, die Idee, die zur materiellen Gewalt wird – selbst da hat man den Eindruck von Atemlosigkeit und Dichte, was seinen Grund darin haben könnte, dass dieser Text, der sich nicht übermäßig mit Atmosphärischem und Privatem beschäftigt, doch ein sehr persönlicher Text ist. Es ist, bei aller wissenschaftlichen Distanz, der Text eines – hier sei das Wort erlaubt – Betroffenen, eines Menschen, für den die hier verhandelte Geschichte nicht nur Theorie ist, nicht einfach ein Gegenstand der Betrachtung. Es ist der Text eines Menschen, der die Wucht der Geschichte zu spüren bekommen hat, dessen Lebensdrama tatsächlich aufs Engste mit dem Drama der sozialen Revolution verknüpft ist. Es ist die – wie ich glaube – spürbare innere Erregtheit, es ist der Atem des Schreibenden, der sich auf den Text überträgt und die immanente Dramatik des Geschichtsprozesses hervortreten lässt.

BEARBEITUNG DES TEXTES

Lange und ausführlich haben Verleger und Herausgeber diskutiert, wie weit die Eingriffe in den Text gehen dürfen. Für diejenigen, die die Originaltexte einsehen wollen, sei gleich erwähnt, dass diese im Nachlass von Wolfgang Ruge in der Berlin-Brandenburgischen Akademie aufzufinden sein werden.

Die historische Figur, um die es hier geht, ist jedoch nicht Wolfgang Ruge, sondern Lenin. Es ging Verleger und Herausgebern nicht darum, ein Dokument des Lebens von Wolfgang Ruge vorzustellen und zu kommentieren, sondern darum, aus dem hinterlassen Material ein lesbares Buch zu gestalten. Bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit hat der Text nämlich die Chance, eine breite Leserschaft zu erreichen.

Dabei kommt es einer Buchveröffentlichung entgegen, dass Wolfgang Ruge nur eingeschränkt Erfahrungen mit Vorlesungen hatte, so dass er im Grunde – wenn auch nicht ganz konsequent – einen Lesetext geschrieben hat (der Jutta Petersdorf auch nur als Grundlage für eine Vorlesung gedient haben dürfte). Das trifft besonders auf die eindeutig schriftsprachliche, an Einschüben und Nebengedanken durchaus reiche Art und Weise, wie die Gedanken entwickelt werden, zu.

Bei allen Qualitäten, die der Text als Lesetext besitzt, ist ihm seine Entstehungsgeschichte jedoch anzumerken. Nicht nur, dass Wolfgang Ruge – eine Äußerlichkeit – im Text auf andere »Vorlesungen« Bezug nimmt oder von sich selbst, wenn er seine Texte zitiert, in der dritten Person spricht. Auffällig ist z.B. auch die Verteilung des Materials. Als Vorlesung gedacht, sind die Einzelteile ursprünglich gleich lang, so dass die stark thematische (i. Ggs. zur rein chronologischen) Ordnung nicht immer eingehalten werden kann. Mitunter schwankt die »Dichte« der Abschnitte stark. Hinzu kommt, dass der Text – als Vorlesung – Teil für Teil geschrieben wurde, ohne dass die Möglichkeit nachträglichen Eingreifens bestand. Obgleich natürlich im Ganzen konzipiert, entstanden verzichtbare thematische Doppelungen, die dem Hörenden entgegenkommen mögen, die der Leser aber als störend, mitunter als verwirrend empfinden würde. Ein Teil des Abschnitts über Lenins Verhältnis zur Kunst findet sich, offenbar weil es an zutreffender Stelle nicht unterzubringen ist, im Testaments-Kapitel. Obwohl Wolfgang Ruge dem Terror unter Lenin ein eigenes Kapitel widmet, ist er gezwungen, einen Teil der Betrachtungen über den Terror in andere Kapitel zu verlegen. Der Verlauf des Oktoberumsturzes wird relativ ausführlich zwei Mal geschildert. Dem Vorlesungscharakter der Texte ist es vermutlich geschuldet, dass Lenins Tod in recht allgemeinen Formulierungen (und zwar lediglich im Anfangskapitel) abgehandelt wird.

Auch ist der Text nicht nur unter dem allgemeinen Zeitdruck eines sich dem Ende neigenden Lebens, sondern auch, wie Jutta Petersdorf schreibt, unter dem konkreten »Zeitdruck meiner Lehrveranstaltung« entstanden. Hier und da ist diese Eile zu spüren. Die Argumentation, obwohl sie im Wesentlichen immer trifft, ist nicht immer hinreichend ausgeführt. Auch unterlaufen Wolfgang Ruge im Eifer hier und da Formulierungen, die er so, davon bin ich überzeugt, bei einer Buchveröffentlichung nicht stehen gelassen hätte. Überhaupt bin ich der festen Überzeugung, dass Wolfgang Ruge einer Buchveröffentlichung nur unter der Bedingung einer nochmaligen Bearbeitung des Textes zugestimmt hätte – und diese Bearbeitung habe ich versucht, ohne an der Substanz der Sache zu rühren. Wladislaw Hedeler, maßgeblicher Spezialist auf dem Gebiet der sowjetischen Geschichte, hat dabei nicht nur die Vervollständigung der zahlreichen fehlenden Quellenangaben übernommen, sondern den überarbeiteten Text außerdem redigiert und auf sachliche Richtigkeit geprüft.

Die Vorlesungsreihe von Jutta Petersdorf hieß: »Lenin und der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Theorie und Praxis« – kaum ein passender Titel für eine Buchveröffentlichung. Im Grunde ist der hier vorliegende Text eine – sehr ausführliche, faktenreiche und beweiskräftige – Wiederaufnahme jener Frage, die Wolfgang Ruge schon 1990 in seinem ND-Artikel gestellt hat: Wer gab Stalin die Knute in die Hand? Titel und Text haben viele, die in Lenin die letzte integre, große Figur des Sozialismus sehen wollten, entsetzt und verärgert. Wieder fürchte ich nun, einen bestimmten Teil der Leser (und vielleicht gerade die, für die dieses Buch am wichtigsten wäre) mit dem von mir gewählten Titel zu verärgern und abzustoßen. Andererseits ist es eine Frage der Lauterkeit, den Leser auf das hinzuweisen, was ihn erwartet. Wer die Augen verschließen will, wird dies ohnehin tun. Für den Fall aber, dass jemand im Buchladen steht und, noch unentschlossen oder verärgert oder auch neugierig in diesem Vorwort blättert, erlaube ich mir eine Ermutigung.

Möglicherweise gibt es in der Geschichte Lenins und des Oktoberumsturzes einen Aspekt, der über das Zeitgeschichtliche weit hinausgeht; schließlich geht es hier auch um die Logik der Macht, es geht um die Inhärenz von Zweck und Mittel – eine Frage, über die die Heutigen, wenn sie in die Geschichte zurückblicken, sich keineswegs im Klaren sind. (Das gilt nicht etwa bloß für lernunwillige Altlinke; wenn ich hier als Beispiel Quentin Tarantinos intelligenten und dabei haarsträubend dummen Film Inglorious Basterds nenne, dann in der – wohl vergeblichen – Hoffnung, dass künftige Leser nicht mehr wissen werden, wovon ich rede.)

Dennoch glaube ich nicht, dass Wolfgang Ruge diesen Text geschrieben hat, um etwa »Lehren aus der Geschichte« zu vermitteln. Mitte der neunziger Jahre waren die überkommenen soziale Utopien in der Nähe des Anrüchigen. Den Zeitpunkt, an dem man aus der Geschichte Lenins und des Oktoberumsturzes unmittelbare, handlungsrelevante Schlüsse hätte ziehen können, hatten die Sachwalter von Lenins Erbe verpasst. Wolfgang Ruge betrachtete sich – und den Sozialismus – definitiv als gescheitert. Er schrieb diesen Text nicht, um jemanden zu überzeugen oder gar zu belehren, er schrieb ihn vor allem um seiner selbst willen. Für ihn war diese Niederschrift – wie überhaupt große Teile seines in den letzten zwölf Jahren entstandenen Alterswerks – ein Akt der Befreiung, eine Sache der geistigen Hygiene. Er erschrieb sich, wenn man so will, seinen Seelenfrieden, was ihm, wie ich bezeugen kann, gründlich gelang. Worauf ich, kurz gesagt, hinweisen will, ist dieses »kathartische« Moment der vorliegenden Schrift.

Wozu brauchen wir die historische Wahrheit? Wozu zerstören wir die Ikonen, die wir anbeteten, wozu verneigen wir uns vor den Toten, deren Andenken wir durch unsere Ignoranz und unser Vergessen beschmutzt haben? Wir tun dies – zunächst – um unser selbst willen.

WLADIMIR ULJANOW – ZUR PERSON

Wladimir Iljitsch Uljanow, der als Lenin in die Geschichte einging, wurde 1870 in Simbirsk an der Wolga, dem unbedeutendsten Gouvernementzentrum am Ostrand des europäischen Russland, geboren. Dort, unweit der Grenze zu Asien, war der heute noch andauernde Prozess der Verschmelzung der kleinen turko-mongolischen Völker mit dem großen russischen Nachbarvolk seit Jahrhunderten voll im Gange. Es gab in dieser Region kaum eine russische Familie, unter deren Vorfahren nicht Tataren, Baschkiren, Mordwinen, Tschuwaschen oder Angehörige anderer im Wolgagebiet siedelnder Völkerschaften auszumachen waren. So taucht auch im Stammbaum der Uljanows (als Lenins Großmutter väterlicherseits) die Tochter eines im Wolgadelta ansässig gewordenen Kalmücken auf. Der Stich ins Mongolische, der auf einigen späten Fotos ihres Enkels erkennbar ist, geht wahrscheinlich auf diese Ahne zurück.

Unter den Vorfahren Lenins mütterlicherseits, bei denen es auch eine schwedische Linie gab, überwog indes das deutsche Element. Seine Großmutter, eine geborene Großkopf, hatte nicht einmal einwandfrei russisch gesprochen. Sie war in Petersburg in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie aufgewachsen, in der man sich des Deutschen als Umgangssprache bediente. Geheiratet hatte sie den als Russlanddeutschen geltenden, zarentreuen und gläubigen Alexander Blank, einen sich als liberal bezeichnenden Arzt, der, nachdem er zuletzt als Inspektor am Krankenhaus der staatlichen Rüstungsbetriebe tätig gewesen war, in den Ruhestand trat, den Titel Staatsrat erhielt, in den Adelsstand erhoben wurde und das Gut Kokuschkino im Gouvernement Kasan erwarb. Einige Jahre nach Lenins Tod fanden Historiker heraus, dass sein Großvater Alexander Blank nicht Deutscher, sondern Jude gewesen war. Lenins damals noch lebende Schwester Maria war über diese Entdeckung begeistert, dokumentierte sie doch, dass in den Adern ihres Bruders, in dessen Augen nur die Klassen-, nicht die »Rassen«-zugehörigkeit von Bedeutung war, auch ein paar Blutstropfen des von den Nationalisten am meisten geschmähten Volkes flossen. Gewissermaßen repräsentierte er also nicht nur von seiner Überzeugung, sondern auch von der Herkunft her den Internationalismus der revolutionären Bewegung. Stalin, dem Maria Uljanowa diese Neuigkeit mitteilte, verbot jedoch strikt, etwas über Lenins jüdische Vorfahren zu veröffentlichen. Er bereitete gerade die schon mit unterschwellig antisemitischer Stimmungsmache betriebene Liquidierung der alten bolschewistischen Garde vor (welcher, nicht zuletzt wegen der scharfen antisemitischen Repressionen im vorrevolutionären Russland, ein hoher Prozentsatz an Juden angehörte), so dass ihm nicht daran gelegen sein konnte, den zur Kultfigur aufgebauten Parteigründer abstammungsmäßig in die Nähe der anzuprangernden »Volksfeinde«, allen voran Leo Trotzki, zu rücken. Erst gegenwärtig, da Lenin als Kultfigur demontiert ist, wird die jüdische Linie in seiner Abstammung wieder thematisiert. So hebt Wolkogonow in seiner Lenin-Biografie1 hervor, dass Blank, ein »getaufter Jude aus Shitomir«, nicht – wie stets angegeben – Alexander Dimitriewitsch, sondern in Wirklichkeit Srul Mojschewitsch hieß. Daran knüpft er, einen im Russischen – zumindest zu Stalins Zeiten – antizionistisch besetzten Terminus verwendend, die Bemerkung, Lenin sei »im Grunde Internationalist und Kosmopolit« gewesen. Auch wenn die Erwähnung der jüdischen Linie in Lenins Ahnenliste legitim und richtig ist, muss man, um der Sachlichkeit genüge zu tun, dennoch feststellen, dass das jüdische Element weder in der Familie Lenins, noch in seinem Leben und Werk eine irgendwie erkennbare Rolle gespielt hat.

Auch Lenins Vater Ilja Nikolajewitsch, Lehrer und in den letzten Lebensjahren Gouvernementinspektor des Volksschulwesens, wurde wie der Großvater mit dem Titel Staatsrat, der dem Generalsrang entsprach, ausgezeichnet und in den Erbadel erhoben, zudem mit mehreren Orden dekoriert. Lenins Mutter, eine gebildete Frau, die drei Fremdsprachen beherrschte, hatte ebenfalls eine pädagogische Ausbildung erhalten, trat aber, da sie sich der Erziehung ihrer sechs Kinder widmete, nicht in den Schuldienst ein.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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