Leonardos Geheimnis - Klaus-Rüdiger Mai - E-Book

Leonardos Geheimnis E-Book

Klaus-Rüdiger Mai

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Beschreibung

Leonardo da Vinci gilt als das Urbild des Universalgenies der Renaissance, als der große Magier, der erste Naturwissenschaftler, der geniale Künstler. Er war eine Ausnahmeerscheinung in einer Zeit voller Ausnahmeerscheinungen. Und Leonardos Leben bleibt wie das Lächeln der Mona Lisa geheimnisvoll. Es entzieht sich, wenn man sich ihm nähern will. Also muss man neue Wege wählen, um ihm nachzuspüren. Der Renaissance-Experte Klaus-Rüdiger Mai folgt dem Universalgenie auf bisher unbekannten Wegen. Er entdeckt einen Menschen, der wie wenige andere für seine Zeit steht und doch seiner Zeit weit voraus war. Im Florenz der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aufgewachsen, beeinflusst Leonardo da Vinci der ungeheure geistige, philosophische, künstlerische und technische Aufschwung, den die Stadt erlebt. Obwohl mit den Mitgliedern der Platonischen Akademie verbandelt, schlägt Leonardo einen anderen, neuen Weg des Denkens und Forschens ein. Er will der Natur ihre Geheimnisse entlocken. Er überwindet den Neuplatonismus der Renaissance und wird, wenn man so will, zum ersten modernen Naturforscher Europas.

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KLAUS-RÜDIGER MAI

Leonardos Geheimnis

DIE BIOGRAPHIE EINES UNIVERSALGENIES

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Weiterverarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Anja Haß, Leipzig

Coverbild: © Heritage Images / Fine Art Images / akg-imagesInnengestaltung und Satz: Friederike Arndt · Formenorm, Leipzig

ISBN 978-3-374-05786-3

www.eva-leipzig.de

Gewidmet Maria Angela Magnani und Matteo Giardini, den italienischen Freunden.

»Beschreibe, wie die Wolken sich bilden und wie sie sich auflösen, was die Wasserdämpfe in die Luft steigen lässt und was die Nebel und die Verdichtung der Luft verursacht und warum diese manchmal blauer oder weniger blau erscheint als ein andres Mal. Beschreibe auch die Luftregionen und die Ursachen des Schnees und des Hagels, warum das Wasser sich zusammenzieht und zu Eis verhärtet …«

»Da werden riesige Gebilde in menschlicher Gestalt erscheinen; aber je näher du ihnen kommst, desto mehr werden sie ihre ungeheure Größe verlieren.«

»In der Nacht von Sankt Andreas fand ich das Ende der Quadratur des Kreises, und zu Ende waren das Licht und die Nacht und das Papier, auf das ich schrieb, und zu Ende die Stunde.«

»Enthülle nicht, wenn dir die Freiheit lieb ist, dass mein Angesicht ein Kerker der Liebe ist.«

Aus den Notizbüchern von Leonardo da Vinci

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog: Die Entdeckung des Johannes im Bacchus

I.VINCI UND FLORENZ (1452–1482)

1.Der Erbe in Reserve

2.Milan und Weihe

3.Platons Taufe am Arno und Leonardos Initiation

4.Ingenium: Die Werkstatt als Tor zur Welt

5.Frühe Werke

6.In der Florentiner Gesellschaft

7.Die Bluttat

8.Ankunft in der Krise

9.Die Flucht

II.MAILAND (1482–1499)

10. Bei Hofe

11. Was ist Majestät?

12. Die Maske des schwarzen Todes

13. Der Bau des Lebens

14. Der Zauberer

15. Baumeister der Welt

16. Das Ballett der Perspektiven

17. Der Sturz

III.DIE ZEIT DER WIRREN (1499–1515)

18. Hofkünstler in einer Republik

19. In Diensten eines Monsters?

20. Die Schlacht der Giganten

21. Das Bild der Familie

Epilog: Ich, Johannes

ANHANG

Endnoten

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Personenregister

PROLOG: DIE ENTDECKUNG DES JOHANNES IM BACCHUS

Die Bibel beginnt mit dem wuchtigen und doch so lakonischen Satz: »Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe.« Aus dieser tiefen Finsternis erscheint urplötzlich ein Mensch als Verkörperung des göttlichen Befehls: »Es werde Licht« (1. Mose 1,3). Die halbnackte Gestalt, von deren linker Schulter ein Fell herabfließt, das die rechte Schulter und den rechten Arm freigibt, weist unterstützt von der Kraft der Drehung des gesamten Körpers in einer entschiedenen Geste, die durch den ganzen Arm bis in die Spitze des Zeigefingers reicht, himmelwärts (siehe Abb. oben und Tafelteil Abb. 16). So, wie Leonardo immer noch und immer wieder aus dem Dunkel der Geschichte hervorleuchtet, markant und doch nicht mit ganzer Kraft – denn die Finsternis gibt eben nicht die ganze Gestalt preis –, wird auch sein »Johannes der Täufer« von einem Geheimnis eingehüllt. Dank einer unendlichen Skala von Schattentönen entschwindet Johannes ins immer Schwärzere, das wohl nie ganz aufgehellt werden kann. Denn die Zeit, die Zeitepochen und nicht zuletzt Leonardo selbst haben an dem einzigartigen »Sfumato« seiner Persönlichkeit gearbeitet.

Das Tafelbild Johannes der Täufer verdankt seine expressive Kraft genau dem Sfumato, das von Leonardo in eine einzigartige Perfektion getrieben wurde. Bei dieser Technik, die zugleich auch eine ästhetische Botschaft und Weltanschauung ist, werden immer wieder blasse Lasuren – Lösungen mit wenig Farbe und mit geringem Deckungsvermögen – in exzessiver Folge auf das Bild aufgebracht, die fließende Übergänge zwischen dunklen und hellen Bereichen des Bildes ermöglichen. Die Maltechnik erzeugt eine starke Plastizität der Bildelemente wie Figuren oder Gegenstände, eine Plastizität, die Giorgio Vasari in seiner Leonardo-Vita »Relief« nannte. Vasari war beeindruckt von der Körperlichkeit, der Illusion der Dreidimensionalität, die Leonardo auf einer Fläche hervorzurufen wusste, so dass ihm hierfür nur der Begriff »Relief« zur Verfügung stand. Leonardo selbst hätte den Vergleich mit den aus der Bildhauerei stammenden Reliefs allerdings abgelehnt und eher von Natürlichkeit gesprochen, von lebendiger Gestaltung oder einer wahren Geschichte, die er zu erzählen beabsichtigte.

Sein Johannes, der aus der Dunkelheit kommt, leuchtet nicht selbst, sondern wird angeleuchtet, er reflektiert und verstärkt nur das Licht, das auf ihn fällt. Interessanterweise entsteht nicht der Eindruck, dass mittels des Lichtes etwas aus der Dunkelheit hervorgeholt wird, sondern dass Figur und Licht sich aufeinander zubewegen, sich treffen. Was Leonardo hier glückt, ist die Darstellung der Dialektik. Der Glaube, also das Licht, kommt zum Menschen, erleuchtet ihn, so, wie der Mensch sich zum Glauben, zum Licht bewegt, das er auch sucht. Johannes ist erleuchtet, er hat das Licht gefunden und das Licht ihn. Diese Dialektik, den Weg des Glaubens darzustellen, gelingt Leonardo in einer Bewegung, der ungemein kunstvollen Drehung des Körpers, die das Geschehen dynamisiert. Leonardos Johannes ist ein Bewegter, bewegt, um andere zu bewegen. Beim Evangelisten Johannes heißt es: »Es war ein Mensch von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis, damit er von dem Licht zeuge, auf dass alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht.« (Joh 1,6–8)

Kein Zweifel existiert über die Quelle des Lichts, denn der Zeigefinger des letzten Propheten weist nach oben, zu Gott. Allerdings gehört die Frage, woran und wie er glaubte – wenn er überhaupt an etwas glaubte – zu den großen Geheimnissen des Leonardo da Vinci. Mancher würde ihn gern als Agnostiker, als einen sehr, sehr frühen Freigeist oder als Häretiker ansehen, was einige für dasselbe halten mögen. Wenn der Humor, der neben der Fähigkeit des Mitleids vielleicht als die menschlichste aller menschlichen Eigenschaften gelten darf, ein Geschenk und eine Gnade Gottes ist, dann war Leonardo reich beschenkt und begnadet. Und so verbindet sich die Frage nach Leonardos Religiosität mit der nach seinem Humor. Humor fußt letztlich auf einem fröhlichen Einverständnis mit der Einsicht in die eigene menschliche Endlichkeit. Zumindest zeugt die Beziehung, die Leonardo zwischen dem Propheten Johannes – dem Täufer – und dem Evangelisten Johannes – Jesu Lieblingsjünger – assoziiert, von einem feinen Humor. Im berühmten »Abendmahl«, worauf zurückzukommen sein wird, hat er sich intensiv mit Johannes Evangelista auseinandergesetzt und es wird zu fragen sein, wie viel Johannes Baptista im Johannes Evangelista des Abendmahls zu finden ist.

Im Evangelium des Johannes heißt es, dass der letzte Prophet, Johannes der Täufer, bekannte: »Ich bin nicht der Christus.« (Joh 1,20) Im Tafelbild geht das Licht nicht vom Täufer aus, sondern er reflektiert und verstärkt es. Er macht durch seine ganze beeindruckende Gestalt und durch die Nachdrücklichkeit, mit der die kraftvolle Drehung des Körpers die Botschaft vertritt, erst auf das Licht aufmerksam, das er gleichsam verkündet. Er begreift sich – und wird von Leonardo auch so in Szene gesetzt – als »Prediger in der Wüste« (Joh 1,23), womit vor allem die geistliche Wüste gemeint ist. Mehr noch: Deutlich fordert er alle Menschen auf: »Ebnet den Weg des Herrn!« (Joh 1,23) Aber das alles ist noch die Vorgeschichte, die man kennen muss. Die Aussage des Bildes liegt nicht in ihrem Inhalt, sondern in der Art und Weise, wie der Inhalt erzählt wird. Sie lautet: »Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. Der wird nach mir kommen und ich bin nicht wert, dass ich seine Schuhriemen löse.« (Joh 1,26–27)

Doch Johannes der Täufer ist so voller Anmut und Würde, so voller Eindeutigkeit und Überzeugungskraft dargestellt, so stark, dass man nur ahnen kann, was da für ein mächtiger und anmutiger, menschlicher und über den Menschen hinausgehender Nachfolger kommen muss, wenn Johannes meint, dass er es nicht einmal wert sei, ihm die »Schuhriemen« zu lösen. Johannes wurde in Leonardos Bild zum »Ecce Homo«, zum Urbild des Menschen, der sich hin zu Jesus bewegt, von Jesus, vom göttlichen Licht ganz erfasst wurde und durchdrungen ist. So sehr, dass man meint, er strahle selbst. Und in der Tat wurde seine Seele zu einem Spiegel des göttlichen Lichts. Mehr noch: Was das göttliche Licht auf so einzigartige Art verstärkt, dass man versucht sein könnte, von einem Mit-Strahlen zu sprechen, ist der Glaube des Johannes, denn seine linke Hand legt sich in einer einfachen, ungezwungenen und deshalb überzeugenden Geste ans Herz, die zeigt: Dass Christus der Erlöser der Welt ist, der Messias, daran glaubt Johannes von ganzen Herzen.

Und Leonardo? Es scheint, dass die Figur des Johannes Baptista für ihn zu einer Art Alter Ego geworden ist. Das »Ecce Homo«, der leidende Mensch, der der Erlösung bedarf, scheint zur tieferen Dimension von Leonardos Glauben zu führen. Ob er dazu der Kirche bedurfte, soll einstweilen nicht erörtert werden. Christus jedoch, den er nie in einem Gemälde als Schmerzensmann, nie als Gekreuzigten malen sollte, wurde für ihn zum Inhalt des Glaubens; Christus, der Messias, dem er sich nur wie Johannes Baptista oder Johannes Evangelista zu nahen vermochte. Aber Gott wird sich nur nahen können, wer den Menschen, die Natur, die Schöpfung versteht. Und so scheint Leonardos Religion nur über die Erkenntnis der Schöpfung, der Werke Gottes begreifbar zu werden. In Leonardos »Felsengrottenmadonna« segnet das Christuskind den Johannesknaben. Johannes ist also ein Gesegneter – und Leonardo hofft es zu sein.

Ein weiteres Gemälde steht als das letzte Werk des Meisters in der Diskussion. Es trägt den Titel »Bacchus«. Anhaltend wird darüber disputiert, wie viel von Leonardo eigenhändig und wie viel von einem Mitarbeiter gemalt worden ist, ja, Leonardos Mitarbeit an dem Gemälde wird in Zweifel gezogen. (Bacchus, Tafelteil Abb. 16)

Statt einem Kreuz hält Bacchus einen Thyrsos in der Hand, einen Stab, der zu den Attributen des heidnischen Gottes gehört, und trägt einen Efeukranz. Bacchus ist fast nackt, nur um des Decorums Willen liegt über seinen Lenden ein Tigerfell, gerafft, gerade eben die Männlichkeit des griechischen Gottes verhüllend. Dass dieses Bild wenigstens von Leonardo inspiriert ist, steht außer Frage. Doch weder er noch einer seiner Mitarbeiter noch ein anderer Zeitgenosse haben dem Bild Thyrsos, Tigerfell und Efeukrone hinzugefügt. Die Attribute des Bacchus stammen von einem unbekannten Maler des 17. Jahrhunderts, der Bacchus erst zu Bacchus machte. Nimmt man diese späten Übermalungen weg, kommt man zu der Figur, die sie zu Leonardos Zeiten war: Johannes Baptista. Man macht es sich entschieden zu einfach, wenn man die eigenmächtige Übermalung als grundlos kritisiert, denn Leonardos Bild – nennen wir es im Weiteren so, ohne Spekulationen über die Anteile verschiedener Maler anzustellen – gab selbst Anlass dazu. Dieser kraftvolle Johannes, der zudem unüblicherweise vollkommen nackt war, trägt unverkennbar bacchantische Züge. Was aus heutiger und uninformierter Sicht als Sakrileg wirken muss, besitzt durchaus seinen Zusammenhang mit der Zeit der Renaissance, denn damals wurde Christus sehr wohl mit antiken Figuren verglichen, so mit Orpheus, aber eben auch mit Bacchus. Da mag erstaunen, aber in der Verbindung von Wein und heiliger Trunkenheit sah mancher Zeitgenosse der Renaissance auf beinahe häretische Weise in Bacchus einen Vorläufer von Christus.

Man wird also die beiden Bilder Johannes des Täufers nur verstehen, wenn man sich in die längst untergegangene und oft missverstandene Welt der Renaissance versetzt. Der Weg zu Leonardo führt über die Entdeckung des Johannes im Bacchus. Die Reise dorthin stellt ein geistiges Abenteuer dar. Sie führt in das Mysterium, das Leonardo immer noch umfängt, in die verschiedenen Töne der Dunkelheit, wie wir sie aus dem Johannes-Bild kennen.

KAPITEL 1:

VINCI UND FLORENZ (1452–1482)

1. Der Erbe in Reserve

Als Leonardo da Vinci am 2. Mai 1519, drei Wochen, nachdem er seinen 67. Geburtstag gefeiert und sein Testament aufgesetzt hatte, im Schloss Clos Lucé in Amboise starb, hatte die Legende vom großen Renaissancemagier längst ihren Siegeszug durch die Geschichte angetreten. Mochte Leonardos sterbliche Hülle zerfallen – sein Geist und sein Geheimnis, das ihn nach wie vor umweht, haben die Welt bis auf den heutigen Tag nicht mehr verlassen.

Franz I., König von Frankreich, der Leonardo dieses Refugium der letzten Jahre aus wahrer Bewunderung für den göttlichen Künstler und zum Beweis seiner eigenen Ritterlichkeit zur Verfügung stellte, weilte an diesem Tag weit von dem sterbenden Universalgenie entfernt in Saint-Germain-en-Laye. »Il re è lontano« (der König ist weit weg), wie der gutinformierte Carlo Vecce schrieb.1 Dagegen behauptete ein früher Biograph, Giorgio Vasari, dass der alte Meister in den Armen des französischen Königs seinen letzten Seufzer tat.2 Diese Leonardo-Legende gewann im Laufe der Zeit derart an Bedeutung, dass sie schließlich im 19. Jahrhundert geradezu eine sakrale Höhe erklommen hatte. Doch dann erwies sie sich schließlich nicht als Tatsache, sondern als Topos. Aber die Entfernung von 200 Kilometern zwischen Amboise und Saint-Germain-en-Laye stand in keinem Verhältnis zu jener, die den toskanischen Meister von seiner Geburtsstadt Vinci trennte. Über 1 000 Kilometer lagen in der Stunde seines Todes zwischen seinem Alterssitz und seiner Heimat, zwischen Clos Lucé und Florenz, zwischen Amboise und Mailand. Ein außergewöhnliches Leben ging zuende.

Man weiß nicht, wann diese Idée fixe von ihm Besitz ergriffen hat, aber Leonardo mühte sich, bei all seinem Tun stets die Nachwelt fest im Blick zu haben. Eine unstillbare Sehnsucht durchdrang ihn, in die Geschichte einzugehen. Nur das Gedächtnis der Nachwelt vermochte ihn zu retten: vor der Zeit, der »Verzehrerin der Dinge«, vor der »schnelle(n) Rafferin der geschaffenen Dinge«, die »viele Könige«, »viele Völker« »schon vernichtet« hat. Staaten haben, notierte Leonardo, sich gewandelt und »allerlei Zustände sind erfolgt«.3 Schon sehr früh schaute Leonardo mit der Melancholie, die man in der Renaissance als die Gefährdung, zugleich aber auch als die Bedingung für das Genie, genauer für das Ingenium, angesehen hatte, auf das Vergehen seines Lebens, das wie ein Fluss im Meer erstirbt. Bereits das Problem XXX,1 der Problemata, die dem Werk des Aristoteles zugerechnet wurden, behandelte die Frage, warum alle außergewöhnlichen Menschen Melancholiker seien, wie auch Cicero in den Disputationes Tusculanae behauptete. Der Florentiner Philosoph Marsilio Ficino, ein Zeitgenosse Leonardos, vertrat in seinem Buch De vita libri tres die aus der Antike stammende Auffassung, dass die Melancholie vom Übermaß an schwarzer Galle herrühre. Wenn sich die schwarze Galle im Menschen erhitze, dann rufe sie im Menschen kreative Kräfte herkulischen Ausmaßes hervor, erkalte sie jedoch, dann senkten sich auf die menschliche Seele Lust- und Antriebslosigkeit. Ficino galt nicht zuletzt als Autorität in diesen Fragen, weil er auch Medizin studiert hatte. Angetrieben von erhitzter schwarzer Galle erkannte Leonardo in der Zeit auch folgende Kraft: »Du gibst den geraubten Leben, indem du sie in dir verwandelst, neue und verschiedene Behausungen.«4 Ließe sich eine »neue Behausung« in der Zukunft finden, würde es ihm gelingen, mit der Zeit einen Pakt zu schließen? Ging es nicht um ständigen Wandel und Verwandlungen, wie Ovid es in seiner großen Dichtung Metamorphosen nicht müde wurde zu zeigen? Es kam dem Versuch gleich, stets die Welle zu reiten. Manche Geste gewinnt ihre volle Bedeutung erst vor diesem Hintergrund. Man versteht Leonardo nur, wenn man mitbedenkt, dass vieles von dem, was er unternahm, nicht allein für seine Zeitgenossen getan wurde, sondern zugleich auch für die Späteren, für uns und für die, die nach uns kommen.

In der ersten Ausgabe der Vite von 1550 schrieb Vasari noch schwungvoll über Leonardo: »Dafür hat er in seinem Geist so ketzerische Gedanken entwickelt, die keiner Religion mehr nahekamen, weil er es weit höher schätzte, Philosoph statt Christ zu sein.«5 In der Ausgabe von 1568 hatte der vorsichtiger gewordene Vasari diesen Satz jedoch gestrichen, denn nach dem Konzil von Trient und der einsetzenden katholischen Reform erwiesen sich Sätze dieser Art als gefährlich – für die Bewertung Leonardos, aber auch für den Autor selbst. Zwar hatte Papst Paul III. mit der Bulle Licet ab initio am 4. Juli 1542 die Heilige Römische und Allgemeine Inquisition gegründet, deren Hauptaugenmerk auf der Häresie und auf der Abweichung vom katholischen Glauben lag, doch wusste man erst nach dem Konzil von Trient verbindlich, was katholisch war. Vasari, den Biographen Leonardos und Michelangelos, mahnte zur Vorsicht, dass bereits 1564 durch den Erlass Pictura in Capella Apostolica cooprinatur die Darstellung der Nacktheit in der Bildenden Kunst verboten und Daniele da Volterra damit beauftragt worden war, die anstößigen Stellen in Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle zu übermalen. Dem armen Daniele da Volterra brachte dieser unehrenhafte Auftrag den Beinamen Braghettone (Hosenmaler) ein. Bei aller Ambivalenz in seiner Einschätzung Leonardos stand es nicht in Vasaris Absicht, sich selbst oder das Ansehen Leonardos für die Nachwelt zu beschädigen.

Dem Menschen des 21. Jahrhunderts, der sich dem Konzept der Nachwelt entfremdet hat und ganz in der Ars vivendi, reduziert auf eine Ars consumendi, aufgeht, mag es schwerfallen, diese Motivation angemessen zu würdigen. Leonardo aber lebte früh schon in zwei Welten: in seiner Gegenwart und in der Zukunft, die aus seiner Perspektive gesehen die Ewigkeit schlechthin bedeutete. Für ihn galt das Konzept der Nachwelt in sogar noch weitaus höherem Maße als für seine Zeitgenossen. Vielleicht war die Nachwelt sogar die Form, wie er sich das Paradies vorstellte, zumindest in der Zeit, bevor er in Amboise lebte.

Georg Wilhelm Hegel kalauerte einmal, Friedrich Schiller zitierend, dass die Weltgeschichte das Weltgerichte6 sei. Vieles spricht dafür, dass sich Leonardo stärker vor der Weltgeschichte als vor dem Jüngsten Gericht fürchtete, zumal die Tiefe seines christlichen Glaubens in Zweifel stand, wofür Vasari einen prominenten, aber nicht den einzigen Beleg lieferte. Es mag als allzu moderner Gedanke erscheinen, aber der Meister des Abendmahls und der Mona Lisa erblickte in der Erinnerung der Menschen das ewige Leben im Paradies, im Vergessen-Werden hingegen die Hölle. Nur zu gut wusste er, dass darüber, ob seine Erdentaten bleiben oder in den nachfolgenden Zeiten verwehen, einzig und allein die Nachwelt entschied. Doch wie konnte man sie beeinflussen, ihr beikommen? Wie ließe sie sich zwingen, seine Taten für immer im Gedächtnis zu bewahren?

Wer sich dem Leben Leonardos nähern will, muss stets im Blick haben, dass gelebtes Leben und versuchte Legendenbildung die zwei Seiten seiner Existenz ausmachen, mehr noch, dass Biographie und Legende nicht strikt getrennt voneinander sind, sondern ineinander übergehen. Und selbst wenn seine Biographen in dem einen oder anderen Falle einer von Leonardos Lebensdichtungen, einer seiner Mystifikationen aufsaßen, so schadet das nicht, weil sie einen so innigen Teil seines Lebens bilden. Leonardo jedenfalls befeuerte bewusst und kalkuliert die Legendenbildung um seine Person.

Nicht weniger wichtig ist es auch, zu beachten: Es existiert ein Davor und ein Danach. Zwischen Leonardos Zeit und heutiger Gegenwart tut sich ein Abgrund auf, der gewaltige Umbruch vom späten Mittelalter zur Neuzeit. Man könnte die Zäsur symbolisch mit den Jahren 1517 und 1563, mit der Reformation und der katholischen Reform, mit den Orten Wittenberg und Trient in Zusammenhang bringen, denn seither wurden die Moral- und Sittennormen zu einer bindenden, auch durchgesetzten Norm für das Leben der Menschen, zu einer Norm, die kontrolliert wurde und an die man sich zumindest öffentlich zu halten hatte. Das Maß an Sozialkontrolle erhöhte sich in der Neuzeit spürbar. In Rom nahm die Inquisition die Arbeit auf und stellte nach dem Trienter Konzil den Index der verbotenen Bücher zusammen, während die Calvinisten die regelmäßige Inspektion der Haushalte durch die calvinistischen Ortspfarrer verfügten. Moral und Orthodoxie wurden zur gefährlichen Angelegenheit und die Herrschaft des modernen Rechts bedurfte zu ihrer Durchsetzung der Folter.

In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass Christopher Kolumbus am 12. Oktober 1492 Amerika erreichte und die vierte Globalisierung damit ihren Anfang nahm.

Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts aber wurde sexuelle Freizügigkeit öffentlich ausgelebt, und das beileibe nicht nur von den berühmt-berüchtigten Renaissancepäpsten. So hatte, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, der Mainzer Domherr und Stadtkämmerer Graf Johann von Eberstein7 die Wände seiner Wohnung mit den frivolsten Szenen des Wiesbadener Badelebens freskieren lassen, ein Reihung pornographischer Wandbilder in leuchtenden und kräftigen Farben. Stolz präsentierte der Domherr die allerfreizügigsten Darstellungen von Festen, Bacchanalien und Orgien allen Besuchern, so auch Heinrich von Langenstein, der eine Professur an der Universität von Paris innehatte und der darüber unter der Überschrift De voluptate carnali (Über die Fleischeslust) im Kapitel V seines Tractatus berichtete:8 »Sobald man angekommen ist, finden sich Gruppen, die Gesellschaft von Weibern wird gefordert, das Bad betreten, die Körper gereinigt, die Seelen befleckt. Man geht und die Trompeten erschallen, die Flöten singen, Reigen entstehen. Dort werden die Schauspiele der Verderbtheit, die von beiderlei Geschlechtern und in unersättlich unkeuscher Haltung ausgeführt werden, vor den keuschen Augen der Zuschauer verborgen. Bei den Weibern wird die Nacktheit der Brüste beschaut, bei den Männern die Unbedecktheit der Hintern und überall werden unschuldiger Sinn und Fruchtbarkeit beleidigt.«9 Die Ausführlichkeit der Schilderung des Pariser Professors lässt nichts zu wünschen übrig.

Das späte Mittelalter verfügte über eine erstaunliche Freiheit. Homosexualität galt zwar offiziell als Verbrechen, doch wurde sie nur verfolgt, wenn jemand ein persönliches Interesse daran hatte, demjenigen zu schaden, der sie praktizierte. Ansonsten nahm man sie nicht zur Kenntnis. In gewissen Kreisen wurde sie sogar sehr intensiv gepflegt. So kann man beispielsweise von Baudri, dem Erzbischof von Dol in der Bretagne, lesen:

»Ja, man wirft mir wohl vor, ich hätte nach Weise des Jünglings Liebesverse gesandt Mädchen und Knaben zumal. Schrieb ich doch gar manches, worin von Liebe gesagt wird; Meinen Gedichten gefällt ein und ein anderes Geschlecht.«10

Wie man ohnehin an Texten der Kleriker sehen kann, erfreute sich die Knabenliebe im Mittelalter entgegen den Klischees einer hohen Verbreitung und man schämte sich auch nicht, öffentlich darüber zu sprechen oder gar zu schreiben. Sanktionen waren theoretisch möglich, hielten sich aber im Allgemeinen eher an den Grundsatz: wo kein Kläger, da kein Richter. Der italienische Humanist Antonio Beccadelli, genannt Panormita (1394–1471), veröffentlichte 1425 als Hofdichter des Herzogs von Mailand, Filipo Maria Visconti, eine Sammlung von Epigrammen obszönen Inhaltes, die unter den Gebildeten die Runde machte und so manchen Herrscher, Bischof, Kardinal und auch Papst erfreute – und nicht selten umso mehr, je stärker ihre heimlichen Leser sie öffentlich verurteilten. In Parnomitas Werk unter dem sprechenden und vielversprechenden Titel Hermaphrodites finden sich ausnahmslos Verse dieser Art:

»Si tot habes scapula penes, quot sorpseris ano, Et perfers, vincis, Mamuriane, boves.

(Trügst du so viele der Schwänze als schon du im Hintern gehabt hast Fort auf den Schultern, du wärst stärker fürwahr als ein Ochs.«)11

Als Leonardo geboren wurde, schlummerte der nicht allzu bedeutende Filipo Maria Visconti bereits seit fünf Jahren in Gottes Schoß, während seit zwei Jahren dessen Schwiegersohn Francesco Sforza über Mailand herrschte. Und Hermaphrodites erfreute sich einer ungebrochenen Lektüre und Verbreitung.

Zwar stellte es einen Makel dar, wenn man unehelich auf die Welt kam, doch wog er nicht allzu schwer. Im Gegenteil, der große Renaissanceforscher Jacob Burckhardt beschreibt diese Epoche als goldenes Zeitalter der Bastarde.

Leonardos Großvater Antonio da Vinci jedenfalls notierte an einem Frühlingstag in dem bereits von seinem Großvater und seinem Vater ererbten Notizbuch, das sich im Laufe der Jahrzehnte zu einer Familienchronik in Daten entwickelt hatte, auf der letzten Seite: »1452. Mir ist ein Enkel geboren worden, der Sohn meines Sohnes Ser Piero, am 15. Tag des Aprils, einem Samstag, um die dritte Nachtstunde. Er trägt den Namen Lionardo.«12Lionardo ist die alte toskanische Form für Leonardo, und der Maler sollte später selbst zwischen beiden Formen alternieren. Doch weil im letzten schriftlichen Zeugnis, dem Testament, Messer Leonardo steht und sich im Laufe der Zeit auch diese Form durchgesetzt hat, soll sie im Folgenden durchweg Verwendung finden.

Die dritte Nachtstunde alter florentinischer Zeiteinteilung entspricht übrigens der heutigen Uhrzeit 22.30 Uhr. Leonardo wurde entgegen anderslautender Behauptungen im Haus der Familie geboren. Es lag am südlichen Ende der Burgmauer in der Nähe des Zentrums des Städtchens und es gehörte ein kleiner Garten dazu. Unter Hinweis auf Leonardos uneheliche Geburt wurde darüber spekuliert, ob der Bastard, wie er in der Terminologie der Zeit genannt wurde, statt im Hause Antonio da Vincis in einem kleinen Bauernhaus, das an der Straße von Vinci nach Anchiano lag, das Licht der Welt erblickte. Dieses Haus gilt heute als Geburtshaus, es befindet sich ein Museum darin. Dort besaß der mit Antonio befreundete Piero di Malvolto einigen Landbesitz. Er hatte bei Piero di Antonio da Vinci Pate gestanden und sollte nun auch bei dessen Sohn Leonardo einen Tag nach der Geburt Pate stehen. Zudem wohnte Piero di Malvoltos Mutter in der Nähe und könnte sich um das gebärende Bauernmädchen gekümmert haben. Doch diese Argumente überzeugen wenig. Ein dem heutigen Verständnis nahekommendes Argument der Schicklichkeit, es gehöre sich nicht, dass die unverheiratete Mutter das uneheliche Kind im Elternhaus des Vaters zur Welt bringt, hat weitaus mehr mit der Welt nach dem 16. Jahrhundert als mit den vorangegangenen Säkula zu tun und berührt zumindest die Grenze des Anachronismus. Doch vor allem sprechen gegen die These von der diskret gehandhabten Geburt in dem Haus an der Landstraße nach Anchiano der öffentliche Umgang mit dem Kind und die große Feier der Taufe, die als gesellschaftliches Ereignis begangen wurde. Wäre Leonardo heimlich in der Nähe von Anchiano zur Welt gekommen, wäre eine andere Kirche für die Taufe zuständig gewesen, die man dann auch aus Gründen der Diskretion in dieser Entfernung gewählt hätte. Mit der Taufe hatte man es in diesen Zeiten hoher Kindersterblichkeit eilig, denn ungetauften Seelen war die Aufnahme in das Himmelreich verwehrt.

Fest steht jedoch, dass Leonardo in eine Juristenfamilie hineingeboren wurde, denn sowohl Urgroßvater und Großvater als auch der Vater hatten sich erfolgreich als Advokaten betätigt, wenngleich der Großvater sich nach Vinci in das Haupthaus der Familie zurückgezogen hatte und als Privatier von den Einkünften aus Landbau und Pacht lebte.

Nach dem Studium der Rechte, wahrscheinlich in Pisa, trat Leonardos Vater Ser Piero di Antonio da Vinci in eine Florentiner Kanzlei ein, die ihren Sitz in der Via Ghibellini hatte. Für den jungen Notar folgte eine Zeit des Reisens, so vertrat er zum Beispiel Florentiner Kaufleute in Pisa.

Zumindest im Sommer des Jahres 1451 weilte er im elterlichen Haus in Vinci und vertrieb sich die Zeit damit, in einem Anfall aus Lust und Verlangen eine Affäre einzugehen, die ihn vorzeitig und ungeplant zum Vater machen sollte. Später notierte Leonardo auf die Rückseite eines Blattes mit anatomischen Zeichnungen, dass Kinder eines Mannes, der den Geschlechtsakt widerstrebend und mit Unlust vollzieht, jähzornig und unzuverlässig werden, während derjenige, der sich dem Akte mit Liebe und auf gegenseitigen Wunsch unterzieht, Nachkommen von großer Intelligenz zeugt, die geistvoll und liebenswert sind.13 Da er sich selbst als geistvoll und liebenswert ansah, ging er selbstverständlich davon aus, dass seine Eltern einander in Liebe zugetan waren, zumindest eine Zeitlang und im Akte. So erweckte der uneheliche Sohn das Bild einer Sommerromanze zwischen seinen Eltern. Von dieser Vorstellung ausgehend entstehen wie von selbst romantische Vorstellungen, die man sich von der Beziehung des jungen Mannes und der jungen Frau machte. Der Vater jedenfalls zählte noch ganze vier Tage lang 25 Jahre, denn er war am 19. April 1426 geboren worden, die Mutter 16 Lenze, eine für diese Zeit nicht unübliche Konstellation. Da die Identität von Leonardos Mutter sehr lange im Dunklen lag, blieben die abenteuerlichsten Hypothesen nicht aus. Das Interesse schuf sich seine eigenen Bilder, die zu dem geheimnisvollen Renaissancemagier scheinbar so vortrefflich passten. Es wurde sogar über eine chinesische oder eine arabische Sklavin spekuliert. Die von Martin Kemp und Giuseppe Parranti entdeckte Wahrheit erwies sich jedoch als schlichter,14 und in ihrer Schlichtheit als interessanter und geheimnisvoller, weil nicht im Fremden, sondern im Bekannten das wahre Mysterium steckt, nämlich die Frage nach dem Grund der Abweichung. Bei dem Kind einer arabischen Sklavin ließe sich phantasiereich über allerlei mögliche exotische Einflüsse räsonieren, stattdessen bleibt nur das viel schwierigere Geschäft übrig, Leonardos erstaunliche Originalität in der Gewöhnlichkeit seiner Herkunft zu finden.

Die Mutter erblickte 1436 als Caterina Lippi das Licht der Welt. Sie war das Kind armer Bauern. Das Dunkel um ihre Person resultierte schlicht aus ihrer gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit, denn warum sollte ihr jemand größere Aufmerksamkeit zugewendet haben. Über ihre Mutter weiß man nichts, über ihren Vater Bartolomeo Lippi, Meo genannt, wenig. Nach dem frühen Tod des Vaters, der mit etwas mehr als 40 Jahren verstarb, kümmerte sich die Großmutter um die 15-jährige Caterina und um ihren jüngeren Bruder Papo, der 1449 auf die Welt gekommen war. Doch die Großmutter starb bereits im Jahr 1451. Es scheint, dass Orso, der Sohn des Vaterbruders, Papo in seine Familie aufnahm. Er hatte bereits zwei Söhne im Alter von Papo, Giovanni und Antonio. Reich konnte man Orso Lippi nicht nennen, doch arm wohl auch nicht.

Papo blieb sein kurzes und klägliches Leben lang auf die Hilfe von Orso und dessen Söhnen Giovanni und Antonio Lippi angewiesen.15 Er starb, kaum dass er sein 30. Lebensjahr hinter sich gelassen hatte. Dass Caterinas älteste Tochter den Namen Sandra von Orsos Ehefrau bekam, kann man als Hinweis darauf verstehen, dass auch Caterina bei Orso und Sandra unterkam, zumal sie in einem Alter war, in dem sie in der Wirtschaft kräftig mitanpacken konnte. Allerdings ließe sich die Namensgebung auch als Dankbarkeit ihrem Cousin und ihrer Cousine gegenüber deuten, denn sie kümmerten sich um ihren Bruder. Plausibler indes scheint es, dass Caterina »in Stellung« zu Antonio di Ser Pietro da Vinci ging, zu Leonardos späteren Großvater, zumal als einzige Frau in dessen Haus nur seine über 50-jährige Ehefrau lebte.

So kam wohl die 16-jährige Caterina in das Haus Ser Antonios und traf dort den im Hause des Vaters weilenden Ser Piero, den im toskanischen Frühling der Hafer stach. Jung und unerfahren mag sie sich Hoffnungen auf eine vorteilhafte Ehe gemacht haben. Ob Liebe im Spiel war, lässt sich trotz der kryptische Andeutung des 55-jährigen Leonardo nicht sagen, wohl eher Wollust, wie man es damals ausdrückte, denn dieser Ser Piero war bei Lichte gesehen ein nüchterner Geselle, der seine Karriere fest im Blick hatte. Unter seinem Stand würde er nicht heiraten, zumal er Verbindungen und eine gute Mitgift benötigte, um sich in Florenz fest zu etablieren. Entweder hatte er sich zum Zeitpunkt der Geburt des Sohnes bereits mit Albiera, der 16-jährigen Tochter des reichen Florentiner Schuhmachers Giovanni Amadori, verlobt, oder er stand zumindest in Eheverhandlungen mit dem gutsituierten Bürger.

Doch um das schwangere Mädchen in Vinci kümmerte sich der Familienvorstand, Pieros Vater Antonio, persönlich. Er verheiratete die Kindesmutter nach Niederkunft und Stillzeit mit dem Bauern und Ziegelbrenner Antonio di Piero Butio del Vacca, der den beunruhigenden Beinamen Achattabriga trug, was so viel wie Streithammel, Zänker, Stänkerer heißt.

Die Taufe am Weißen Sonntag in der Pfarrkirche Santa Croce richtete Leonardos Großvater als großes gesellschaftliches Ereignis aus. Nicht weniger als zehn angesehene Bürger standen für den unehelichen Sohn Pate. Unter ihnen Arrigo di Giovanni Tedesco, der auch della Magnia genannt wurde und der das große Gut der Ridolfi verwaltete. Der Name des Verwalters weist bereits darauf hin, dass dieser Pate aus Deutschland, genauer, aus der Diözese Mainz stammte.16

Für seine eigenen Kinder hatte Antonio nur vier bis sechs Bürger gebeten, die Patenschaft zu übernehmen. Es fällt auf, dass Leonardo, dessen Namen übrigens aus der Reihe der Antonios und Pieros heraussticht, der erste Enkelsohn, ja überhaupt das erste Enkelkind Antonios war. Natürlich ging der Familienvorstand davon aus, dass seine Söhne noch Nachkommen und vor allem Erben zeugen werden, doch was die Zukunft bringt, wusste man nicht. Zwar war Leonardo ein illegitimer Sohn, doch er war eben ein Sohn und, wenn man so will, ein Erbe in Reserve. Um keinen Zweifel an Leonardos Abkunft von Piero und somit auch von Antonio aufkommen zu lassen, wurde der große Aufwand getrieben, den unehelichen Sohn an einem Sonntag in überfüllter Kirche vor dem gesamten Sprengel unter Mitwirkung von fünf Paten und fünf Patinnen, die der gehobenen Gesellschaft angehörten, taufen zu lassen. Damit wurde der Enkel so ehrbar als möglich gemacht und der Makel der Unehelichkeit in den Hintergrund gedrängt. Deshalb stand auch von Anfang an fest, dass der Sohn Pieros nicht bei der Mutter, sondern in Antonios Haus aufwachsen sollte. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb die Taufe in Abwesenheit der Mutter und des Vaters stattfand, wie Carlo Vecce behauptet hat.17 Trotz einer gewissen Laxheit in diesen Dingen hätte deren gemeinsamer Auftritt die etwas überspielte Wahrheit allen Taufgästen im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt. Hinzu kommt, dass die junge Mutter noch im Kindbett lag und der Vater sich mit den Hochzeitsvorbereitungen einer standesgemäßen Ehe beschäftigte. Antonio jedenfalls scheint stolz auf den Jüngsten seiner Sippe gewesen zu sein und eine echte Freude über das Kind empfunden zu haben.

Anders der Vater. Blickt man auf die weitere Geschichte, so bleibt fraglich, ob er seinen Sohn zu sich genommen hätte, wenn der Großvater nicht diesen Spross vor aller Welt als Familienmitglied anerkannt hätte. Eine Woche nach der Taufe befand sich Ser Piero bereits wieder in Florenz und beglaubigte in seiner Kanzlei die Urkunden seiner Klienten. Zunächst blieb Leonardo in der Obhut der Mutter, die aber zumindest für die Zeit, in der er gestillt wurde, und bis zu ihrer Hochzeit im Haus am Borgo verblieb. Acht Monate später heiratete Ser Piero di Ser Antonio da Vinci die Florentinerin Albiera,18 während Caterina die Ehe mit Antonio di Piero Butio del Vacca, dem Bauern und Ziegelbrenner, einging und mit ihm ein Haus zwischen Anchora und Vinci bezog. So hatte Leonardos Großvaters alles aufs Trefflichste arrangiert und sowohl er als auch Piero blieben Caterina und ihrem Mann verbunden, wie aus wechselseitigen Beurkundungen hervorgeht. Sogar noch Jahre später pachtete Piero einen Brennofen für Caterinas Mann. Caterina brachte im Laufe der nächsten Jahre vier Töchter und einen Sohn zur Welt.

Kurz nach Leonardos erstem Geburtstag ereignete sich eine Katastrophe für die Christen, die allerdings angekündigt war und dereinst großen Einfluss auf den Lebensweg des Kindes ausüben sollte.

Am 29. Mai 1453 vermochte Konstantinopel dem Ansturm der Heerscharen Mehmeds II. nicht mehr standzuhalten. Bald schon mordeten, brandschatzten und plünderten die Truppen des türkischen Sultans die Stadt Konstantins des Großen, der das Christentum nobilitierte. In Konstantinopel hatte das römische Reich noch 1 000 Jahre nach dem Untergang der westlichen Reichshälfte Bestand. Nicht zu Unrecht wurde der Islam als Bedrohung empfunden und einer der klügsten Männer des Zeitalters, Enea Silvio Piccolomini, damals Sekretär Kaiser Friedrichs III., eines achtbaren Mannes, dem aber die Befähigung zum Kaiser recht eigentlich abging, betonte auf dem Reichstag zu Frankfurt am Main am 15. Oktober 1454 in einer Rede, die nach Humanistenbrauch Cicero, dem Ur-Redner schlechthin, und seiner De imperio Cn. Pompei nachempfunden war: »Wenn wir die Wahrheit gestehen wollen, hat die Christenheit seit vielen Jahrhunderten keine größere Schmach erlebt als jetzt. Denn in früheren Zeiten sind wir nur in Asien und Afrika, also in fremden Ländern geschlagen worden, jetzt aber wurden wir in Europa, also in unserem Vaterland, in unserem eigenen Haus, an unserem eigenen Wohnsitz aufs Schwerste getroffen.«19 Übrigens wurde Europa in dieser Rede zum ersten Mal seit der Antike als politischer Begriff benutzt und die Patria mit Europa in Verbindung gebracht. Wie man Eneas Worten nachempfinden kann, saß der Schock tief. Viele Griechen flohen nach Europa, vor allem nach Italien. In der Nähe von Siena, der Heimat Eneas, und in Venedig bildeten sich große Kolonien griechischer Emigranten, darunter Gelehrte und Wissenschaftler. Da einige von ihnen Manuskripte und Bücher mitbrachten, gelangten Werke der griechischen Antike nach Italien, die teils noch gar nicht oder allenfalls vom Titel her bekannt waren.

Doch parallel zur epochalen Niederlage erlebte Europa in diesen Jahren den größten Triumph. Er gehörte zu den Gründen für Europas Modernitätsschub und ohne ihn wäre die imposante Entwicklung des Kontinents nicht vorstellbar: Johann Gutenberg erfand in Mainz den Buchdruck mit beweglichen Lettern. Auch davon erfuhr Enea Silvio Piccolomini und schrieb am 12. März 1455 dem spanischen Kardinal und Freund Juan de Carvajal, dass er von einem vir mirabilis, einem wunderbaren Mann, gehört habe, der zur Herbstmesse 1454 Quinterionen eines Bibeldruckes als Muster mit sich geführt habe. Leider war es Enea nicht gelungen, eine Bibel für den Spanier zu erwerben, weil alle Exemplare bereits durch Subskriptionen vergriffen waren. Der Buchdruck breitete sich aus wie ein Lauffeuer: 1467 entstand die erste Druckerei in Rom, genauer in Subiaco, und 1468 hatte bereits eine Offizin ihre Arbeit in Venedig aufgenommen. Der Humanist Aldus Manutius gründete 1496 eine Druckerei, die nicht nur lateinische, sondern auch griechische Werke druckte, wofür natürlich ein anderer Letternsatz notwendig war. In Mailand ging der Erstdrucker 1469 ans Werk und in Florenz 1471. Nun konnten die vielen Texte, die oft nur als handschriftliche Kopien in begrenzter Anzahl vorhanden gewesen waren, gedruckt werden – und Leonardo, der über eine erstaunlich große Bibliothek verfügte, wurde zum Nutznießer dieser Entwicklung.

Im Alter von fünf Jahren wird Leonardo in der Steuerliste des Großvaters genannt. Offiziell hieß der Familienvorstand in der Steuerliste Antonio di Ser Piero di Ser Ghuido da Vinci, also Antonio, der Sohn des Notars Piero, der wiederum der Sohn des Notars Ghuido aus Vinci war. In dieser Zeit entstanden die Nachnamen, denn es wurde immer dringender – aus Gründen der entstehenden modernen Verwaltung, für das Anlegen von Akten und durch das Bevölkerungswachstum in den Städten –, die vielen Giuseppes, Giovannis, Antonios und Pieros auseinanderzuhalten. So wurden die Nachnamen zunächst als bestimmende Beinamen nach der Abstammung oder dem Beruf oder der Herkunft oder besonderen körperlichen oder geistigen Charakteristika gewählt und gingen dann auf die nachfolgenden Generationen über. Seit 1427 hatten die Florentiner Bürger Steuererklärungen abzugeben.20 Als Vorstand der Familie, als pater famiglia, erstellte Antonio dieses Dokument. Antonio, der 1457 im Stadtteil von Santo Spirito im Gonfalone des Drachen gemeldet war, listete seinen Immobilienbesitz auf, worunter sich auch »con orto apicchato con detta casa«21 befand: »Mein Haus, in dem ich wohne, steht im Pfarrsprengel von Sancta Croce, in der Gemeinde von Vinci, Landbezirk (contado) von Florenz, bei der Burgmauer des genannten Kastells, zu besagtem Haus gehört ein Garten mit 3 Scheffeln Land.«22 Als steuermildernd galten diejenigen Personen, die der Familienvorstand zu versorgen hatte, also alle, die zur »Familie« gehörten, die sogenannten Münder, die Bocche. Pro Person wurden ihm 200 Scudi von der Steuerschuld erlassen. Antonio zählte sechs Personen auf, die in seinem Haushalt lebten: außer ihm, dem 85-Jährigen, seine Frau Monna Lucia mit ihren 65 Jahren – wobei Monna nur die toskanische Kurzform von Madonna ist. Leonardos später gemalte Mona Lisa bezeichnete folglich die Madonna Lisa. Es folgen in der Auflistung der 30-jährige Sohn Ser Piero und der 22-jährige Sohn Francesco. Es fällt auf, dass bei Piero die Berufsbezeichnung des Notars Erwähnung fand, während es von dem jüngeren Sohn nur trocken und sibyllinisch hieß, dass er sich im Haus aufhält und ansonsten nichts tut, sich mit nichts beschäftigt, keiner Arbeit nachgeht: »Francesco mio figliuolo, stassi in villa e non fa nulla, d’anni«. Schließlich folgen Albiera, die Frau des besagten Ser Piero und Schwiegertochter Antonios, und »Lionardo figliuolo di detto Ser Piero non legiptimo, nato di lui et della Chateri(n)a, al presente donna d’Achattabriga di Piero del Vacca da Vinci.«23 Und damit war über das Kind Leonardo alles gesagt, nämlich, dass er der nicht legitime Sohn besagten Ser Pieros, das natürliche, also uneheliche Kind von ihm und der inzwischen mit Achattabriga von Piero del Vaccha aus Vinci verheiratete Caterina war.

In der Familiengeschichte zeichnen sich zwei charakterliche Bestimmungen ab, die sich beide in Leonardo vereinigten: der Fleißige, Ruhelos-Tätige und derjenige, der den kontemplativen und beschaulichen Müßiggang – nicht im Sinne von Faulheit, sondern im Sinne des Lebens in der Muße – genoss. Während Leonardos Großvater Antonio, der sich als Privatier vornehmlich in Vinci von den Einkünften aus der Pacht finanzierte, und Leonardos Onkel Francesco zu den göttlichen Müßiggängern der Familie zählten, hatte Leonardos Vater die Strebsamkeit von seinem Großvater Ser Piero dem Älteren geerbt, dessen Namen er so sinnreich trug. Dass Leonardos Eltern in der Steuererklärung des Großvaters auftauchten, bedeutet nicht zwingend, dass sie in Vinci lebten. Als weitaus wahrscheinlicher darf gelten, dass Piero mit seiner Frau bereits in Florenz wohnte, wo er mit wachsendem Erfolg seiner Tätigkeit als Notar nachging. Im Jahr der Steuerklärung zog er von der Via Ghibellina in den noch zentraler gelegenen Borgo di Greci. Es ging also mit ihm voran. Er hatte sich als Klient des inoffiziellen Herrschers von Florenz, Cosimo de’ Medici des Älteren, etabliert. Als Spross einer Notarsdynastie besaß er zwar eine ausgezeichnete Ausgangsposition, doch die musste er nutzen, denn in dem unruhigen politischen Gebilde Florenz galt es ständig, seinen stato zu sichern, indem man ihn ausbaute. Denn der stato, der gesellschaftliche Status, das Geflecht von Patronen, Verbündeten und Klienten, bot Schutz und sicherte die Existenz. Auf allen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Bereichen fand ein rücksichtslos geführter Konkurrenzkampf statt. Der gelingenden Karriere folgte mitnichten der familiäre Erfolg, denn vier Jahre nach der Heirat hatten er und Albiera immer noch kein Kind. Sein einziger Nachkomme war der ungeliebte Knabe in Vinci, den er in einer selbstvergessenen Stunde gezeugt hatte.

2. Milan und Weihe

Früh von der Mutter getrennt, wuchs Leonardo in der Welt des Großvaters und des Onkels auf, in einer erstaunlicherweise milden Männerwelt, in der die stets etwas verbummelte Lebensart des Onkels und des Großvaters vorherrschte. Über die Großmutter, die sich sicher liebevoll um den Erstgeborenen, der lange Zeit auch der einzige Enkel bleiben sollte, kümmerte, erfahren wir nur, dass sie mit Pieros Bruder und Leonardo nach dem Tod ihres Mannes nach Florenz zu Piero di Antonio zog. Überhaupt ist das Bild, das oft von Leonardos Kindheit gezeichnet wird, dass der Vater seinem unehelichen Sohn keine Liebe entgegenbringt, so roman- wie zweifelhaft. Man gewinnt eher den Eindruck, dass die emotionale Entfernung zum Vater von der Liebe des Großvaters, der Großmutter und des Onkels mehr als aufgewogen wurde. Zwar bekommt er nicht den traditionellen Namen Antonio, auch nicht den Namen Piero, dafür aber einen sehr starken Namen: Leonardo. Dieser Name stammt aus dem Althochdeutschen oder aus dem Altfränkischen und bedeutet »stark wie ein Löwe«. Stark wie ein Löwe sollte er werden. Man dürfte es bei Leonardo weniger mit Minderwertigkeitskomplexen zu tun haben als mit dem Drama des begabten Kindes. Später wird er in einer eleganten Spielerei oder spielerisch-melancholischen Meditation seinen Namen etymologisch von blutenden Löwen herleiten.

Das nackte Nützlichkeitsdenken des Vaters wurde geachtet, aber nicht geliebt. Um als Notar Karriere zu machen, entwickelte Leonardos Vater einen beeindruckenden Ehrgeiz und Fleiß, dem wurden auch die Ehen untergeordnet, die er einging, weshalb eine Verbindung mit Leonardos Mutter nicht in Frage gekommen wäre. Sie hätte weder Geld noch gesellschaftliche Beziehungen in den Ehebund eingebracht.

Man muss sich den Knaben nicht unbedingt als unglückliches Kind vorstellen, sondern unter den gegebenen Umständen, also weitgehend ohne Mutter und Vater aufgewachsen, vielleicht sogar als glücklich. Die Stunden, die er mit dem mußeliebenden Onkel oder auch allein durch die Umgebung von Vinci streifte, ausgiebig die üppige Natur der hügeligen Landschaft um Vinci beobachtend, prägten ihn grundlegend für das Leben. So hat er sich später als »disscepolo della sperientia«, als Schüler der Erfahrung, bezeichnet und die Erfahrung als Voraussetzung für gutes Schreiben definiert. Doch die Erfahrung wiederum entstand aus seiner Sicht aus der Fülle der Wahrnehmungen, denn »Unser ganzes Wissen beruht auf Wahrnehmung.«24 So schöpfte er aus der Erfahrung seines Lebensweges, und in Erinnerung an das, was ihm seine frühe Kindheit mitgab, notierte er: »Erwirb dir in der Jugend etwas, was dich für den Verlust im Alter entschädigen kann. Und wenn du der Ansicht bist, dass das Alter von der Weisheit zehrt, dann sei schon in der Jugend drauf bedacht, damit es dir im Alter nicht an solcher Zehrung fehlt.«25 Leonardo war tatsächlich darauf bedacht, denn die für uns heute selbstverständliche Vorstellung, dass wissenschaftliche Erkenntnis mit Beobachtung der Realität, mit Analyse von Daten, mit Messungen und Experimenten beginnt, galt zu Leonardos Zeiten mitnichten. Der Siegeszug grundsätzlicher Empirie in der naturwissenschaftlichen Arbeit sollte erst mehr als ein Jahrhundert später mit Galileo Galilei und Johannes Kepler einsetzen. Diese Gedanken, die Leonardo der Nachwelt hinterließ, äußerte sonst niemand in seinem neoneuplatonischen Zeitalter. Diese ursprüngliche Empirie wurde von Bildern hervorgebracht, die ihm die Natur präsentierte. Die Kraft, die seit Kindertagen auf ihn wirkte und ihn faszinierte, war die Bildkraft der Natur. Die Natur bildete ihn mittels der Bilder, die sie im sich bildenden Bewusstsein Leonardos erzeugte.

Später hat er Fensterflächen im Hintergrund seiner Porträts nicht ungenutzt gelassen, sondern in die blinden Flecken faszinierende Ausblicke hineingezaubert. Der Blick in die Welt, der zuallererst ein Blick in die Natur war, begann beim Fenster. Das Rechteck des Fensters fing wie ein Sucher Bilder ein. Schon als Kind, wenn er stundenlang vor dem Fenster saß und hinausschaute oder später in der Landschaft unterwegs war, trieben ihn die Neugier und die Leidenschaft herauszufinden, was dahinterliegt – in der Ferne und noch über die Ferne hinaus in der Tiefe. Von Anfang an mag er die Welt als ein Rätsel erfahren haben, das sich nur dem enthüllt, der sie mit nie erlahmender Geduld und großer Genauigkeit immer wieder betrachtet.

Ob er von seinem Onkel in diesem Beobachten der Natur bestärkt wurde, weiß man nicht. In seinen Bildern, auch später in den Porträts, gingen die Menschen immer ein Spannungsverhältnis mit der Natur ein. Es ist dieselbe Spannung, die er in seiner Kindheit empfand, das Glück, sich ganz in die Anschauung der Natur hineinfallen zu lassen, das bald schon dadurch eingeschränkt wurde, dass Leonardo die Schule zu besuchen hatte.

Auf der Rückseite eines Blattes, das sich im Codex Arundel (Ar. 155-r) befindet, äußerte er sich in einem kurzen Text über die Erforschung einer Höhle. Selten erlaubte Leonardo einen Blick in seine Seele wie in diesem Text. Der Maler beschrieb, wie er sich in einer wilden Gegend dem Eingang einer Höhle näherte, umtost von geradezu apokalyptischen Naturgewalten:

»Ein so gewaltiges Brausen und Tosen erzeugt nicht einmal das sturmgepeitschte Meer, wenn der rauhe Nordwind es mit schäumenden Wellen zwischen der Szylla und Charybdis hin und her wirft, und auch nicht der Stromboli oder Ätna, wenn die schwefelgelben Flammen, die dort eingeschlossen sind, gewaltsam den mächtigen Berg durchbrechen und zerreißen, so dass er Steine und Erde zugleich mit den hervorschießenden, ausgespienen Flammen durch die Luft schleudert, oder wenn die Gluthöhlen des Ätna das kaum zu bändigende Element (der Feuers) von sich geben, es wieder ausspeien und in seine Region zurückschleudern, so dass es jedes Hindernis, das sich seiner rasenden Gewalt wiedersetzt, ungestüm überwältigt …«26

Der Text ist raffinierter und vor allem mehrschichtiger, als es auf den ersten Blick scheint, und geht weit über einen Erlebnisbericht hinaus. Es drängt sich die Erinnerung an Petrarcas Text »Die Besteigung des Mont Ventoux« auf, der überwältigt von dem Ausblick, der sich ihm von der Bergesspitze bot, aus den Confessiones des Augustinus zitierte:

»Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne, und vergessen darüber sich selbst.«27

Während jedoch für Petrarca das Erlebnis der Natur zur Mahnung wurde, sich nicht an die Außenwelt zu verlieren, sondern sich im Sinne des »Erkenne dich selbst« auf sich selbst, auf die Seele zu konzentrieren, schlug Leonardo die entgegengesetzte Richtung ein: In der Erkenntnis der Natur lag für ihn der Weg zu sich selbst. Nicht mit dem Pinsel malte er die Naturgewalten, sondern allein mit Worten schuf er dieses Gemälde. Doch durch die Worte hindurch spürt man das Verlangen nach Dreidimensionalität, die er beim Malen suchte.

Man kann Leonardos Malerei als eine einzige Flucht vor der Zweidimensionalität des Bildes begreifen. Dann werden die vielen Abbrüche und Fragmente erklärlich.

Ein Bild ist begrenzt, wie das Fenster gerahmt ist. Dennoch besitzt der Ausschnitt der Wirklichkeit, der Welt, durch seine Tiefe Drei-, vielleicht sogar Vierdimensionalität. Ohne es schon begriffen oder gar verstanden zu haben, teilte sich dem Kind, das vor dem Fenster in dem Haus am Borgo in Vinci saß, die Dimension der Tiefe mit. Alle Bilder Leonardos stellen Expeditionen in die Tiefe und die Suche nach den verborgenen Dimensionen der Natur dar. Aber damit nicht genug: Leonardo beschrieb die Natur in ihrer ständigen Veränderung, in ihren Wandlungen und fügte somit die Dimension der Zeit hinzu, die Immanuel Kant Jahrhunderte später die Form des »inneren Sinns«28 nennen sollte. Leonardo spielte ziemlich kalkuliert auf die Ur-Elemente an, denn Feuer, Luft, Wasser und Erde sind nicht nur vertreten, sondern in Aktion als »Nordwind«, als »schäumende Wellen« und als »Flammen«. Das Feuer nannte er das »kaum zu bändigende Element« und die Elemente wurden nicht isoliert als starre Seinsgegebenheiten, sondern in ihrer Wechselwirkung angerufen als »sturmgepeitschtes Meer«, als »hervorschießende Flammen«, die mit Steinen und Erde durch die Luft geschleudert werden.29 Es ist wie Dante in der Commedia schreibt:

»Wie, wer der Meeresbrandung sich entrang, Am Strande, keuchend noch, sich rückwärts wendet Und starrt in des Gewoges wilden Drang«30

In die Naturbeschreibung ist der Mensch eingeschlossen – so, wie der Knabe in Vinci vor dem Fenster oder unterwegs im Umfeld der Stadt –, ist Teil des Ganzen.

Schließlich erscheinen durch die persönliche Erinnerung literarische Muster, wie man sie bei Boccaccio, aber auch im Morgante von Luigi Pulci, mit dem Leonardo später Freundschaft schließen sollte, und natürlich in Dantes Commedia findet, die Leonardo sehr gut kannte, wenn auch nicht so gut wie Michelangelo. Denn es geht eben nicht nur um die Natur, sondern auch um den Weg des Menschen, der Teil der Natur ist. Bei Dante heißt es:

»Mittwegs auf unsres Lebens Reise fand In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen …«31

Leonardo setzte seinen Text auf der Rückseite eines Blattes, auf dem er im Übrigen Muscheln und fossile Funde zeichnete, fort:

»Und da ich von unbändigem Verlangen dorthin gezogen wurde, stets begierig, die ungeheure Fülle von allerlei seltsamen Formen zu schauen, welche die findige Natur geschaffen hat, so gelangte ich, nachdem ich eine Weile zwischen den düsteren Klippen umhergewandert war, zum Eingang einer großen Höhle, vor der ich staunend eine Zeitlang stehen blieb, weil ich nichts davon wusste.«32

Sintflut über einer Stadt auf einem Hügel um 1515, Schwarze Kreide

Auch Dante, der Reisende der drei Welten, fand sich vor einer Höhle wieder. Panther, Löwe und Wolf drängten ihn schließlich, die Höhle, die zur Hölle wird, zu betreten. Aber die drei Tiere symbolisieren die Leidenschaften, allerdings als Hervorbringungen von Lastern, denn sie stehen für Sinneslust, Hochmut und Habgier, wobei zum Hochmut auch die Neugier, »mehr wissen zu wollen, als notwendig war«,33 zählte, der Forscherdrang also, der Leonardo antrieb.

Leonardo blieb wie der Reisende der drei Welten eine Weile vor dem Eingang der Höhle stehen, weil er nichts von ihr wusste, bevor er von der Leidenschaft, »vom unbändigem Verlangen … stets begierig, die ungeheure Fülle von allerlei seltsamen Formen zu schauen, welche die findige Natur geschaffen hat«, von der Neugier, die Teil des Hochmuts ist, getrieben, die Höhle betrat. Während Dante die jenseitige Welt als Memento mori, als Warnung für das Diesseits und als Darstellung der tatsächlichen, weil ewigen Welten von Hölle, Fegefeuer und Paradies darstellte, sah Leonardo in der diesseitigen Welt die wirkliche Welt, in der sich bereits Hölle, Fegefeuer und Paradies ereigneten, geschaffen von der »findigen Natur«. In Leonardo widerstritten wie bei Dante zwei starke Gefühle, die »Furcht vor der düster drohenden Höhle und (die) Begierde, zu erforschen, ob darin nicht etwas Wunderbares sei.«34 Der Erkenntnisdrang und die Angst vor dem Unbekannten leiteten beide Toskaner.

Leonardos kurzer Text paraphrasiert Dante nicht nur, sondern Leonardo stürzte sich geradezu in ein Duell mit der Endlichkeit, denn in der Höhle entdeckte er das Fossil eines Wals. Fasziniert beschrieb er die Kräfte des Tieres, die der Kreatur am Ende doch nicht halfen. »O gewaltiges einst lebendiges Werkzeug der findigen Natur! Auch du musstest also, da deine großen Kräfte dir nichts nützten, das Leben in der Stille lassen und dem Gesetz gehorchen, das Gott und die Zeit der schöpferischen Natur gegeben haben.« Letztlich stieß Leonardo genau wie Dante in der Höhle auf die Gesetze der Welt, nur sahen beide Männer verschiedene Gesetze. Für Leonardo befähigten sowohl Gott als auch die Zeit die Natur zu ihrer schöpferischen Tätigkeit, es war die allmächtige Zeit, die Leonardo zu überwinden suchte, und die findige Natur – nicht Gott –, die es aus seiner Sicht zu untersuchen galt, mochte Gott auch der erste Anreger und Schöpfer gewesen sein: Das ging ihn – Leonardo – nichts mehr an. Nunmehr kam es ihm darauf an, die Natur zu untersuchen, sie zu verstehen. Im Grunde schied er im naturwissenschaftlichen Sinne Glauben von Wissen.

Leonardo notierte diese Zeilen um 1490 herum, 28 Jahre nach seinem erzwungenen Weggang aus Vinci, nach den Katastrophen, die das Leben des Kindes in andere Bahnen lenkten. Doch finden sich in den Streifzügen durch die Umgebung von Vinci, in den Beobachtungen, in der aufbrechenden Leidenschaft zur Erkenntnis dessen, was sich hinter dem verbarg, was er sah, die Anfänge von Leonardos Forscherdrang. Er wollte wissen, warum es so war, wie es war, und wovon das bewirkt wurde, was er beobachtete. Er mochte nicht den üblichen und allzu ausgetretenen Weg der Spekulation und des Philosophierens beschreiten und nicht jene eitle Gelehrtheit bedienen, in der sich die Humanisten nur allzu gern sonnten. Nein, ihm bedeuteten die Beobachtung der Natur, die Wahrnehmung, die Empirie und die Erfahrung alles.

Man muss sich den kleinen Leonardo als ein etwas verwildertes Kind vorstellen, das nur widerwillig lernte, was ihm in der Schule vorgesetzt wurde. Wahrscheinlich hat er noch in Vinci die Elementarschule besucht, doch das raubte ihm die Zeit, hinaus ins Freie zu gehen. Vermutlich lernte er von Großvater, Großmutter und Onkel die Kunst des freundlichen Umganges, die Liebenswürdigkeit, die später an ihm gerühmt wurde – zumindest in ihren Urgründen. Aber zugleich genoss er das Alleinsein, den Zustand, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen, sondern sich ganz auf das zu konzentrieren, was ihn in diesem Augenblick mehr als alles andere interessierte, der immer mit dem Wunsch übereinging, etwas zu erfahren und zu entdecken. Dieses Verlangen darf man nicht mit dem Wunsch nach Einsamkeit oder mit der Einsamkeit selbst verwechseln.

Die Elementarschule, in der Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt wurde, besuchte Leonardo wohl von seinem sechsten bis zu seinem zehnten Lebensjahr, so war es zumindest die Regel. Doch denkbar ist auch, dass er erst mit sieben oder acht Jahren in die Schule ging. An die Elementarschule schloss sich die scuola d’ abaco, die Rechenschule an, in der es vor allem um das Erlernen des Rechnens im kaufmännischen Sinne ging, worin Buchführung eingeschlossen war. Wenn von Schulbildung jener Zeit gesprochen wird, ist die Rede von Bürgersöhnen, den Söhnen von einigen, das heißt wohlhabenden Handwerkern und den Söhnen bestenfalls des niederen Adels, denn adlige Kinder wurden von Hauslehrern unterrichtet und die Kinder von Bauern, armen Handwerkern und Tagelöhnern überhaupt nicht. Zum Lehrplan gehörten auch Religion und Ethik. Zudem wurde in eingeschränktem Maße italienische Literatur gelesen, so mit Sicherheit und allem anderen voran Dantes Divina Commedia, wie es sich eben für Toskaner gehörte, denn die Commedia hatte der große Florentiner, der den größten Teil seines Lebens im Exil zubrachte, in volgare, der toskanischen Volkssprache gedichtet. Es ist möglich, dass auch etwas Latein getrieben wurde.

Doch die glückliche Zeit in Vinci fand ein jähes Ende. Ser Piero zog mit Albiera 1462 an die Piazza di parte Guelfa. Im Juni 1463 gebar Albiera ihrem Mann endlich ein Kind, ein Mädchen, das nach dem Großvater Antonia genannt wurde. Wenig später erkrankte die Kleine und starb am 21. Juli 1463.35 Albiera folgte ihrer Tochter ein Jahr später am 15. Juni 1464, als sie ihr zweites Kind zur Welt bringen wollte. Nach dem Tod der Ehefrau und beider Kinder blieb dem aufstrebenden Notar wieder nur der uneheliche Sohn, gegen den er eine immer größere Abneigung empfand, war er doch der fleischgewordene Ausdruck – modern gesprochen – seines Kontrollverlustes.

Mochten den kleinen Leonardo die Florentiner Todesfälle nicht allzu sehr berühren, so wurde er vom Tod des Großvaters im selben Jahr tief getroffen, nicht nur weil dies sein kurzes Leben radikal ändern sollte, sondern weil er zu dem guten Geist seiner Kindheit eine tiefe menschliche Verbindung fühlte. Antonio, der pater famiglia, hatte als Familienvorstand durchgesetzt, dass das uneheliche Kind, Pieros »Fehltritt«, zur Familie gehörte. Nun, nach Antonios Tod stand Ser Piero der Familie vor und trug für alle die Verantwortung vor dem Gesetz, vor der Kirche und dem Staat.

Jungfrau mit Einhorn, um 1481, Feder und Tinte

Es dürfte so ganz und gar nicht Leonardos Wünschen entsprochen haben, das beschauliche Vinci zu verlassen und nach Florenz umzuziehen. Florenz war zu jener Zeit eine Großstadt mit immerhin 40 000 Einwohnern, halb so bevölkerungsreich wie Venedig zwar, doch in der Anzahl der Bewohner mit der wichtigsten deutschen Stadt, mit Nürnberg, zu vergleichen. Ser Piero fühlte zudem wenig Neigung zum Witwerdasein und nahm 1465 Francesca di Ser Guliano Manfredini zur Frau. Die Heirat erwies sich als günstig, denn Guliano Manfredini war nicht nur ein einflussreicher, sondern auch ein vermögender Notar, der einige Paläste in Santo Spirito besaß.

In der Steuererklärung von 1469 gab Ser Piero an, dass die Familie immer noch das Haus in Vinci besaß, dass er aber inzwischen ein halbes Haus in Florenz gemietet hatte. Hier wohnten seine Mutter, die 74-jährige Mona Lucia – Antonios Witwe –, er selbst, seine Frau Francesca, sein Bruder Francesco, der inzwischen geheiratet hatte, und sein illegitimer Sohn Leonardo. Es fällt auf, dass Ser Piero nicht das Geringste unternommen hat, was zur Legitimierung seines Sohnes hätte führen können. Obwohl es nicht einfach zu bewerkstelligen gewesen wäre, hätte zumindest die Möglichkeit dazu bestanden, die sich in Anbetracht von Pieros Beziehungen sogar noch vergrößerte. Aus allen Quellen spricht eine Reserviertheit dem unehelichen Sohn gegenüber, eine gewisse Abneigung sogar. Ser Piero hoffte immer noch auf im Ehebett gezeugte Erben. Was weder der Großvater noch der Onkel Leonardo spüren ließen, war seine Herkunft. Nie hatten sie ihn wie ein Kind, wie ein Familienmitglied zweiter Klasse behandelt, der Vater tat dies sehr wohl.

Die einzige Kindheitserinnerung, die sich erhalten hat, notierte Leonardo mit etwa 35 Jahren. Sie wurde bedauerlicherweise immer wieder in der Art eines interpretatorischen Zirkelschlusses gedeutet, so auch von Siegmund Freud. Da Leonardo homosexuell war, hat er Schlüsselworte des Textes entsprechend interpretiert. Andere Biographen versuchten den Text eher zu umgehen, doch herausgefordert hat er noch einen jeden, der sich mit Leonardos Leben beschäftigte, zumal die Kindheitserinnerung in ihrer Einmaligkeit nicht zu übergehen ist. Der Maler schrieb:

»Dass ich so genau über die Gabelweihe schreibe, muss mir vom Schicksal bestimmt sein, denn in der ersten Erinnerung aus meiner Kindheit schien es mir, als wäre, während ich in der Wiege lag, eine Gabelweihe zu mir gekommen und hätte mir mit ihrem Schwanz den Mund geöffnet und mich mit diesem Schwanz oftmals innen an die Lippen geschlagen.«36

Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass zunächst die Frage nach der Textsorte offenbleiben muss, also, ob es sich um einen Bericht, eine Allegorie oder ein Gleichnis handelt. Die zweite Schwierigkeit verwischt die Grenze zwischen Traum und Realität, denn das unentschiedene »schien es mir« lässt die Möglichkeit offen, dass kein Erlebnis, sondern ein Traum geschildert wird. Sich wie Freud und andere sofort auf eine sexuelle, letztlich homoerotische Interpretation festzulegen, hat – zumindest im Falle Freuds – mehr mit dem Psychoanalytiker als mit Leonardo zu tun. Das allerdings geht völlig in die Irre. Zuweilen hilft es, vom Bekannten zum Unbekannten vorzugehen. Der Rotmilan, oder auch Gabelweihe genannt, gehört zu den habichtsartigen Vögeln und ist in Europa häufig anzutreffen. Es gab ihn also auch in Leonardos Kindheit im ländlichen Vinci in Scharen, zumal er ein sehr geselliges Tier ist. Er fliegt und jagt stets im Verbund und lebt zudem eine Neigung zum Schabernack, zum Necken seiner Artgenossen aus. Dem Rotmilan wird ein »spielerisches« Verhalten nachgesagt. Fledermäuse, Krähen, Maulwürfe, Ratten gehören zu seiner Beute. Außerdem verteidigt er sein Revier. Wenn Leonardos Angaben stimmen, dann war er damals etwa zwei Jahre alt und hatte damit eine außergewöhnlich frühe Erinnerung, denn für gewöhnlich setzt die Fähigkeit sich zu erinnern ab drei Jahren ein. Zu jener Zeit vermochte